Zeitsprung - Noemi Lina - E-Book

Zeitsprung E-Book

Noemi Lina

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Beschreibung

Arabellas Familie besitzt eine mittelalterliche Burg, in der Familien ihre Ferien verbringen können. Nur hat Arabella davon gar nichts gewusst, bis sie eines Tages geheimnisvolle Briefe von ihrem Vater findet, der schon vor Jahren verschwunden ist. Doch als sie beschließt, die Burg mit eigenen Augen zu sehen, ist nicht nur ihre Großmutter alles andere als begeistert. Und dann ist da auch noch der dunkelhaarige Nick, der es irgendwie auf sie abgesehen zu haben scheint... Ohne es zu wollen, stolpert Arabella in ein Familiengeheimnis, das mehr Überraschungen mit sich bringt, als ihr lieb ist. Als sie plötzlich in einer anderen Zeit landet, muss sie alles daran setzen, die Nerven zu behalten. Oder ist das vielleicht ihre Chance, endlich ihren Vater wieder zu sehen?

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Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Als Abschied und als Neubeginn

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Rosige Aussichten

Ruf aus der Vergangenheit

Der Aufbruch

Familiengeschichte

Ein Plan

Zeitsprung

Das Leben als Magd

Eine Vertraute

Katzenbabys und Badetag

Ein Hoffnungsschimmer

Hoheitliche Einladung

Stellung am Hofe

Besuch aus der Gegenwart

Verheiratet

Aufklärung

Angriff und Aufbruch

Zurück in der Gegenwart

Danksagung

Prolog

A ls Nick den Stall verließ, strich er sich den Dreck seiner Stiefel am frisch gemähten Gras ab. Die Sonne war bullig heiß, so wie schon die letzten Tage und der Innenhof bot nur wenig Schatten. Um die Mittagszeit war es besonders schlimm und er hoffte sehr, dass es sich jetzt gegen Nachmittag etwas abkühlen würde.

Der einzige Platz, an dem es draußen halbwegs auszuhalten war, befand sich unter den Bäumen am Brunnen. An dem kam er nun auch vorbei, als er sich auf den Weg zurück in die Burg machte. Er hatte gerade eben die Pferde versorgt und heute würde er noch drei Reitstunden geben müssen. Auch wenn es ihm Spaß machte, fühlte er sich danach ziemlich kaputt.

Und dieses Mal kamen zu seiner normalen Erschöpfung und der Hitze auch noch die Gedanken dazu, die er sich machte. Schon fünf Tage war sie da und schlich herum, auf der Suche nach Dingen, die sie nichts angingen, zumindest wenn es nach ihm ginge. Einfach so war sie aufgetaucht und wollte nicht mehr verschwinden.

Es war doch alles schon geplant gewesen. Und jetzt konnte sie vielleicht alles umschmeißen. Und das Schlimmste war, dass niemand etwas über sie wusste, nicht einmal die Fürstin selbst. In seine dunklen Gedanken vergraben, fiel ihm zunächst der Schuh nicht auf, der einsam in dem Wasser des Springbrunnens trieb. Erst als er genauer hinsah, erkannte er den geblümten Regenstiefel und runzelte die Stirn. Nick fischte ihn aus dem Wasser und sah sich suchend um.

Wie war der denn hierher gelangt? Ob den wohl einer der Gäste verloren hatte? Er beschloss, ihn mitzunehmen und betrat die Burg durch die Tür, die durch die Burgküche führte. Sie befand sich noch immer genau dort, wo sie sich auch im Mittelalter befunden hatte und Nick war immer noch fasziniert, sobald er sie betrat. Natürlich war die Küche stark modernisiert worden, aber man konnte noch immer erahnen, wie Küchenmägde und Köche über Jahrhunderte hier mit den einfachsten Mitteln großartige Mahlzeiten gezaubert hatten.

In der Küche herrschte reger Betrieb, da das Kuchenbuffet für die Gäste in ein paar Minuten aufgetischt und das Abendessen vorbereitet wurde. Über einen Gang kam man von der Küche, über die Vorhalle direkt in das Restaurant und dann den alten Rittersaal der Burg, durch den auch Nick verschwand, nachdem er ein paar seiner Kollegen begrüßt hatte.

„Nick!“, rief ihn plötzlich eine vertraute Stimme von hinten. Als er sich umdrehte, erblickte er Jenny, die mit ihren wehenden Haaren auf ihn zu eilte.

„Die Fürstin fragt nach dir. Sie ist in ihrem Büro.“

„Will sie schon wieder meinen Stundenplan umwerfen?“, er schmunzelte. Jenny zuckte mit den Schultern.

„Weiß nicht. Ist wohl wichtig.“ Jetzt warf sie einen Blick auf den Gummistiefel in seinen Händen.

„Warum schleppst du den denn mit dir herum?“, doch Nick ging nicht darauf ein.

„Hat sie irgendwas gesagt?“ Jenny sah sich kurz um.

„Nicht direkt. Aber ich glaube es könnte um … na du weißt schon gehen.“

„Um sie?“, fragte er und sein Blick verdunkelte sich sofort.

„Irgendetwas scheint nicht zu stimmen, aber ich habe keine Ahnung, was.“

„Wahrscheinlich hat sie schon Vorkehrungen getroffen, uns alles wegzunehmen“, spottete er.

„Das glaube ich nicht. Sie ist eigentlich ganz in Ordnung.“

„Ja, bis sie uns alle rausschmeißt“ - und ihre Pläne zerstört, fügte er gedanklich hinzu. Nick machte sich mit einem merkwürdigen Gefühl auf den Weg zur Bibliothek. Dort wartete Margarete von Felsbach bereits und saß hinter ihrem Schreibtisch. Sie sah auf, als er den Raum betrat.

„Ah, Nick. Gut, dass Sie da sind.“

„Guten Tag. Worum geht es denn? Ist etwas vorgefallen?“ Es war ungewöhnlich, dass er mitten am Tag den Auftrag erhielt, zu ihr zu kommen. Normalerweise gab es Besprechungen, an denen das ganze Personal teilnahm und an denen Aufgaben verteilt oder Neuigkeiten verbreitet wurden.

„Um ehrlich zu sein, ja.“ Jetzt setzte er sich der Dame gegenüber.

„Was haben Sie denn da?“, fragte sie sofort, als sie den Gummistiefel sah.

„Ach, den habe ich im Springbrunnen gefunden. Ich habe keine Ahnung wie der da hineingelangt ist. Bestimmt gehört er einem der Gäste.“

„Ich fürchte nein.“, sagte Margarete von Felsbach mit ernstem Blick.

„Nein? Wissen Sie denn, wem dieser Stiefel gehört?“ Die alte Frau seufzte.

„Genau so ein Stiefel, vermutlich der andere, wurde heute Morgen von einem der Gäste gefunden. Er steckte in der Tür des Ostturms.“

Dieser Turm führte direkt bis in den zweiten Stock. „Er steckte in der Tür?“

„Ohne ersichtlichen Grund, ja.“, Nick runzelte die Stirn und betrachtete den Schuh in seiner Hand. „Merkwürdig. Also gehören sie keinem der Gäste?“ Sie schüttelte den Kopf.

„Und das ist auch der Grund, weshalb ich Sie hergebeten habe.“ Sein Herzschlag beschleunigte sich etwas. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass er sich in einer schlechten Lage befand. Etwas stimmte nicht.

„Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Und zwar nur Sie.“

„Nur mich? Was für einen Gefallen?“ Die Fürstin atmete laut aus und er merkte, dass sie ihre Worte sorgfältig wählte.

„Ich vertraue Ihnen mit am meisten. Ich würde sie nicht behelligen, wenn es nicht von unsagbarer Wichtigkeit wäre.“ Nick wurde unruhiger.

„Worum geht es denn?“, fragte er ungeduldig.

„Sie müssen schwören, Stillschweigen über alles zu bewahren.“ Niemals wurde etwas dergleichen von ihm verlangt.

„Stillschweigen über was?“ Unruhig fuhr er sich durch die dichten Haare, hielt aber inne, als er den nächsten Satz der Dame vernahm, der so leise war wie ein Windhauch.

„Nick, glauben Sie an Zeitreisen?“

Rosige Aussichten

„Er war der unzuverlässigste Mensch der Welt. Ich hätte wissen müssen, dass er uns irgendwann verlässt.“

„So, dass war es jetzt.“ sagte Arabellas Mutter, als sie ihre Pumps auszog und in die Ecke pfefferte. Geradewegs zu den anderen Schuhen, die sich stapelten, ohne dass sich jemand die Mühe machte, sie aufzuräumen.

Arabella schloss die Wohnungstür hinter sich und folgte ihrer Mutter in die Küche.

„Ich brauch jetzt erstmal was zu trinken.“ Ihre Mutter steckte ihren Kopf in den Wandschrank und versuchte, eines der Weingläser zu erreichen. Kurz darauf öffnete sie die bereits angebrochene Flasche Rosé und genehmigte sich einen großen Schluck.

„Auch was?“, fragte sie mit ihrem unüberhörbaren Berliner Dialekt und einem Blick auf die Flasche.

„Nein.“, wehrte Arabella ab. Sie setzte sich auf den Hocker vor der kleinen Kücheninsel und sah ihre Mutter mitleidig an.

„War es denn so schlimm?“

Ihre Mutter schnaubte als Antwort. „Schlimm ist gar kein Ausdruck. Es war absurd.“

„Berlin hat nun mal seine komischen Vögel.“

„Ja, aber nicht so einen. Bringt der einfach seine Mutter mit. Auf das erste Date! Pah.“ Sie leerte ihr Glas und füllte sich nach. „Ich hab´die Schnauze voll, dass sag ich dir. Hätte gar nicht auf dich hören sollen. Dating App… Schnapsidee!“

Arabella verkniff sich ein Seufzen, während sie ihre Mutter betrachtete. Sie verstand nicht, wie sie so ein Pech haben konnte. Ihre Mutter war eine tolle Frau und sah wirklich gut aus für ihr Alter, mit ihren blonden, kurzen Locken, dem schmalen Gesicht und den wachen Augen. Besonders in ihrem roten Kleid, das sie gerade trug, sah sie umwerfend gut aus.

Aber sie geriet ständig an die falschen Kerle. Entweder an Spinner, die ihr auf der Tasche lagen und sich von ihr durchfüttern lassen wollten, oder an Snobs, die nie da waren und überhaupt nicht ihren Lebensstil teilten. Und ihr heutiges Date hatte seine Mutter mitgebracht, ohne Vorwarnung.

„Hätte ich mir ja Denken können, dass keiner so perfekt ist, wie er sich präsentiert. Es gibt immer einen Haken und auf ein Muttersöhnchen kann ich sehr gut verzichten, besten Dank.“

Ihre Mutter kam um die Kücheninsel herum und setzte sich auf das orangene Sofa, das überhaupt nicht zur restlichen Einrichtung des Zimmers passte. Aber eigentlich passte in ihrer Wohnung nichts so richtig zusammen. Arabella und ihre Mutter hatten die Deko und die Möbel aus den unterschiedlichsten Ecken gekramt und an den unmöglichsten Orten gekauft. Das machte die Wohnung zwar chaotisch, aber auch wahnsinnig gemütlich.

„Ich glaube, ich bin einfach zu anspruchslos geworden.“, seufzte ihre Mutter.

„Ach Quatsch, Mama! Du hast Ansprüche. Zum Beispiel hast du dem Schildkröten-Typen direkt abgesagt, als du von seiner Sammlung erfahren hast.“

„Stimmt.“, gluckste sie.

„Eigentlich kann man darüber nur noch lachen. Oder weinen. Da kann ich mich jetzt gar nicht entscheiden.“ Arabella schmunzelte und kuschelte sich zu ihrer Mutter auf die Couch.

„Vielleicht abwechselnd.“, schlug sie vor. Ihre Mutter betrachtete sie lächelnd.

„Du wirst nie diese Probleme haben, das kann ich dir versprechen. Dich werden sie mir schon bald wegschnappen.“

„Mama!“

„Es stimmt aber. Du hast alles. Du bist nicht nur wunderschön, sondern auch intelligent, mitfühlend und schlau.“

„Du hast schon gesagt, dass ich intelligent bin. Das ist das Gleiche wie schlau.“

„Dann eben clever.“

„Ist auch nur ein anderes Wort für intelligent!“

Ihre Mutter grinste. „Ich mache doch nur Spaß.“ Sie schaltete den Fernseher an. „Glaub mir, mit mir wird heute nicht mehr viel anzufangen sein. Ich denke, ich fahre später nochmal bei Nadi vorbei.“

Arabella nickte. Nadi war die beste Freundin ihrer Mutter, die zusammen mit ihr in einer Zahnarztpraxis am Empfang arbeitete. Immer wenn ihre Mutter gestresst war, so wie nach dem katastrophalen Date an diesem Abend, halfen nur noch Wein und die Ablenkung ihrer besten Freundin. Arabella lehnte sich zurück und betrachtete die Decke, an der die Farbe abzublättern begann. Die Türen der Wohnung waren sehr hoch, genauso wie die Fenster und die Decke. Und der braune Holzboden knarrte mindestens alle zwei Schritte, aber sobald man sich daran gewöhnt hatte, hörte man es gar nicht mehr. Arabella und ihre Mutter, waren schon einige Male innerhalb von Berlin umgezogen und wohnten nun seid zwei Jahren hier. Für die Umzüge hatte es nie einen konkreten Grund gegeben, außer den, dass ihre Mutter erneut einen Tapetenwechsel gebraucht hatte. Und da Arabella an den Lebensstil ihrer Mutter gewöhnt war, kannte sie es nicht anders.

Tatsächlich hatte sie ihrer Mutter die Idee mit der Dating App vor einer Weile vorgeschlagen. Das lag nicht daran, dass sie auf der Suche nach einem Vaterersatz war oder so, sondern einfach, weil sie glaubte, dass ihre Mutter nicht gut allein zurechtkam.

Sie war unordentlich, unorganisiert und neigte dazu, Autounfälle zu bauen. Gleichzeitig war sie aber auch superlustig und liebenswert und, wie Arabella fand, wunderschön. Sie brauchte nur jemanden, der ein wenig auf sie aufpassen konnte und Arabella würde nicht ewig zu Hause wohnen bleiben. Sie war jetzt siebzehn Jahre alt und sie hatte nicht vor, in dieser Wohnung alt und grau zu werden.

Arabella dachte über die Worte ihrer Mutter nach, sie würde nie eine Dating App benutzen müssen. Sicher war sie sich da ganz und gar nicht.

Andererseits waren sie schon sehr verschieden. Arabella fiel es nicht so schwer, Ordnung zu halten oder sich an ihre Termine zu erinnern. Außerdem hatte sie ein anderes Gesicht als ihre Mutter. Ihres war eher oval und sie hatte vollere Wangen und Lippen. Außerdem buschigere Augenbrauen und eine kleinere Nase.

Dennoch war sie genauso blond wie ihre Mutter, hatte auch lockige, aber sehr lange Haare. Es tat ihr leid, dass sie ihre Mutter auf ein so ätzendes Date geschickt hatte. Ein bisschen gedrängt hatte sie sie schon, aber man konnte ja wirklich nicht ahnen, dass er seine Mutter mitbringen würde. Das war völlig unpassend. Ihre Mutter hatte noch nie ein glückliches Händchen für Männer gehabt. Arabellas Vater war abgehauen, als sie gerade vier Jahre alt gewesen war und sie erinnerte sich nur noch schemenhaft an ihn.

Wo er jetzt war, wusste sie nicht, denn er hatte sich nie mehr wieder gemeldet. Und ihre Mutter sprach nicht über ihn. „Er war der unzuverlässigste Mensch der Welt. Ich hätte wissen müssen, dass er uns irgendwann verlässt. Dachte damals nur, ich würde die Anzeichen erkennen.“, hatte sie einmal gesagt.

Aber es hatte keine Anzeichen gegeben. Arabella war sich sicher, dass ihre Mutter wirklich an die Liebe der beiden geglaubt hatte und dass sie tiefer getroffen war, als sie zugab.

„Aber dass er dich einfach verlassen hat, das werde ich ihm nie verzeihen.“ Ihre Augen hatten dabei so traurig ausgesehen, dass Arabella schnell schlucken musste.

„Viele Kinder wachsen ohne Vater auf.“, wollte sie ihre Mutter trösten, aber diese wehrte ab.

„Du musst das jetzt nicht klein reden. Keinen Papa zu haben ist scheiße und ich weiß, ich war kaum gut genug, dich alleine großzuziehen.“

Arabella hatte vehement widersprochen, doch sie wusste, dass ihre Mutter dabei blieb. Seitdem hatten sie kaum noch ein Wort über ihren Vater verloren.

„Oder vielleicht frag ich Nadi auch, ob sie herkommt.“, riss ihre Mutter Arabella aus ihren Gedanken. „Sie hat bestimmt nur Saft im Haus, das ist irgendwie nicht das, was ich jetzt brauche.“

Ihre Mutter griff zur Weinflasche und ließ die letzten paar Tropfen in ihr Glas laufen. Traurig schaute sie in die Flasche.

„Hm, das war‘s wohl.“

„Soll ich dir eine neue-“, begann Arabella, als es plötzlich an der Tür klingelte.

„Ich geh schon.“ Sie stand auf, durchquerte den vollgestopften Flur und warf einen kurzen Blick durch den Spion, bevor sie die Tür stürmisch aufriss.

„Marie!“ Vor der Tür stand eine ihrer ältesten Freundinnen in einem triefenden Regenmantel, der eine Pfütze auf der Fußmatte hinterließ. Als Arabella an ihr vorbei linste, konnte sie sehen, dass auch die Treppenstufen nasse Fußabdrücke und damit eine echte Gefahr zum Ausrutschen boten.

„Was machst‘n du hier?“

Marie schob ihre nasse Kapuze nach hinten und trat vorsichtig ihre Schuhe ab. „Ich übernachte hier.“ Damit quetschte sie sich an Arabella vorbei und hinein in die Wohnung. Rasch schloss Arabella die Wohnungstür wieder und drehte sich zu ihrer Freundin um.

„Du übernachtest hier?“ Marie nickte. Dabei zog sie ihre Schuhe aus, stellte sie auf die Heizung und drehte an dem Rad, damit diese sich erhitzen konnte.

„Und gibt es dafür auch einen besonderen Grund?“, fragte Arabella, während sie Maries nassen Mantel aufhängte.

„Marie Schatz, bist du das?“, rief Arabellas Mutter aus dem Wohnzimmer, um die Geräusche des Fernsehers zu übertönen.

„Ja, ich bin´s Frau Felsbach!“, rief Marie zurück und betrachtete ihre kurzen, zerzausten braunen Haare im Spiegel.

„Das ist ein Sauwetter da draußen.“, stellte sie fest. Dabei stemmte sie ihre Hände in die Hüften als Zeichen der Empörung über das unbeständige Wetter im Berliner Sommer.

„Hab gar nicht mitgekriegt, dass es angefangen hat zu regnen. Sag mal, bist du mit dem Fahrrad hier?“, sagte ich und Marie nickte. Sie wohnte nur ein paar Blocks entfernt und verbrachte mindestens genauso viel Zeit bei Arabella wie in ihrer eigentlichen Wohnung bei ihren Eltern. Gemeinsam gingen die Mädchen ins Wohnzimmer.

„Marie, Liebes, ich hatte keine Ahnung, dass du kommen wolltest.“, sagte ihre Mutter, während sie sich ein hartes Stück Schokolade in den Mund schob, das einen unheilvollen Ton von sich gab, als sie drauf biss.

„Ist mehr ´ne spontane Sache. Ich bleibe heute Nacht hier.“

Gedankenverloren nickte ihre Mutter nur und widmete sich wieder dem Fernseher. „Ist gut. Weißt ja, wo alles ist. Viel Spaß euch zwei.“

Arabella war sich unsicher, was sie jetzt tun sollte. Einerseits war sie sehr neugierig zu erfahren, warum Marie beschlossen hatte, bei ihnen zu schlafen, ohne ihr vorher Bescheid zu geben. Andererseits wollte sie ihre Mutter auch nicht in ihrem aktuellen Gemütszustand allein lassen.

Sie hatte diesen besonderen, weggetretenen Blick drauf, den sie immer bekam, wenn sie sich am Rand einer depressiven Verstimmung befand.

„Mama, kommst du denn klar soweit?“

Seufzend erhob sie sich und schaltete den Fernseher aus. „Ich? Na logisch. Mach dir um mich mal keine Gedanken. Wie wäre es, wenn ich euch die Wohnung für den restlichen Abend überlasse und mich auf zu Nadi mache? Ihre Kinder schlafen bestimmt schon und Tobias arbeitet heute lange, also haben wir das Haus mehr oder weniger für uns.“

Geschäftig schnappte sie sich ein paar Dinge, die sie in ihre Tasche stopfte.

„Fahr aber vorsichtig. Es regnet wie aus Eimern.“, warnte Arabella schnell.

„Na klar. Ich fahr wie immer.“ Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete sie sich von Arabella.

„Das ist es ja, was mir Sorgen macht.“

Das Lachen ihrer Mutter klang bemüht heiter. „Bis nachher, ihr Süßen!“

Kurze Zeit später drehte sich Marie, die sich inzwischen ein Glas Saft eingeschenkt hatte zu Arabella um.

„Was hat sie denn?“

Arabella ließ sich seufzend auf das Sofa fallen. „Ein schreckliches Date gehabt.“

Marie riss die Augen auf. „Etwa wieder ein Dating-App-Date? Wie war er dieses Mal? Hat er wieder den ganzen Abend nur von sich gesprochen oder einen Haufen Schildkröten zu Hause?“

Arabella gluckste. „Nee. Er hat seine Mutter mitgebracht.“

„Doch nicht etwa ins Restaurant?!“

„Doch.“ Marie brach in schallendes Gelächter aus.

„Das ist ja wirklich zu komisch. Aber deine arme Mutter! Die erwischt doch wirklich nur die Falschen. Oder sind bei diesen Apps einfach nur schmierige Typen drin? Dabei könnte sich jeder Mann mit ihr glücklich schätzen.“

Arabella nickte. „Das habe ich ihr auch gesagt. Ich glaube, sie ist frustriert, weil sie seit meinem Vater keine richtige Beziehung mehr gehabt hat, sondern nur Spinner.“

„Ja, aber dein Vater war ja schließlich auch ein Spinner, oder?“

Arabella lenkte das Thema wieder auf den Grund von Maries Besuch, den sie immer noch nicht verraten hatte: „Sag mal, warum bist du eigentlich hier? Gibt es irgendeinen Grund für deinen Überraschungsbesuch?“

Eigentlich war es nichts unnormales, dass Marie unangemeldet auftauchte. Ihre Eltern hatten eine sehr ambivalente Beziehung. In der einen Sekunde liebten sie sich innig und planten die nächsten drei Ausflüge als ganze, harmonische Familie, in der nächsten Sekunde verwarfen sie alle Pläne, aufgrund irgendeiner dummen Auseinandersetzung, wieder und standen so gut wie kurz vor der Scheidung.

Dass Marie darunter zu leiden hatte und häufig mal raus musste, war die logische Konsequenz. Arabella hatte oft darüber nachgedacht, wie es wäre, zwei Elternteile zu haben, aber wenn sie so unberechenbar wären wie Maries Eltern, dann verzichtete sie lieber darauf und gab sich mit ihrer zerstreuten Mutter vollkommen zufrieden.

Marie stellte ihr Glas auf der Kücheninsel mit solch einem Rums ab, dass Arabella kurz zu sehen glaubte, wie sich kleine Risse am Glasrand bildeten.

„Wie gut, dass du mich daran erinnerst. Ich hatte kurz vergessen, mich in meiner schlechten Laune zu suhlen.“

Dabei machte sie ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, was Arabella dazu brachte, das Fenster zu öffnen und die kühle, nasse Abendluft hereinzulassen. Es plätscherte ordentlich und das Geräusch ließ das Innere der Wohnung noch gemütlicher erscheinen.

„Meine Eltern haben allen Ernstes vor, zu verreisen.“ Sie sagte es mit einer dramatischen Geste und wartete offenbar auf eine Reaktion Arabellas, die sie aber nur fragend anschaute.

„Ja und? Das Planen die doch dauernd. Und dann funktioniert es doch nicht, wegen irgendeiner Kleinigkeit. Außerdem, es sind doch jetzt Sommerferien, was wäre denn so blöd daran, mal wegzufahren?“

Marie starrte sie an.

„Also erstmal, wäre wegfahren mit den beiden, die sich ständig an die Gurgel gehen, die reinste Folter. Aber ein einfacher Italienurlaub, bei dem ich innerhalb einer Woche wieder zu Hause sein würde, wäre ja noch auszuhalten. Aber die wollen nach Afrika! Löwen, Giraffen, das volle Programm. Und das die ganzen Ferien!“

„Nach Afrika? Die ganzen Ferien?“

„Hab ich doch gerade gesagt.“

„Ja, schon aber-“

„Die wollen endlich mal Natur sehen und das ganz weit weg von zu Hause. Ich glaube die denken, wenn die nur weg aus ihrem gewohnten Umfeld sind, bleiben auch deren Probleme hier.“ Sie schnaubte. „Als ob die sich einen ganzen Monat zusammenreißen könnten.“

Marie blickte gequält auf. „Und außerdem hatten WIR doch schon geplant, diese Ferien zusammen wegzufahren.“

„Naja, so richtig geplant hatten wir das ja noch nicht.“, musste Arabella zugeben.

„Aber so gut wie!“

„Das wäre doch eh darauf hinausgelaufen, dass du die ganzen Ferien bei uns gewohnt hättest.“

„Und was wäre daran so schlimm? Hier ist es immer so gemütlich und irgendwie eine verurteilungsfreie Zone. Ganz anders als bei mir.“

Dabei sah sich Marie in dem hohen Raum um. Von der Decke baumelte der alte Leuchter, der den gesamten Raum in ein behagliches Licht tauchte. Um die Fenster hingen hellblaue Vorhänge und vor dem orangenen Sofa und dem roten Sessel lag ein weißes, sehr weiches Kunstfell. Auch das Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand passte perfekt in den Raum, der in seinem Chaos eine perfekte Harmonie bildete.

Bei Marie hingegen war alles ständig aufgeräumt, sauber und sehr modern. Es fuhr immer ein Saugroboter auf dem glatt gefliesten Boden und es stand keine einzige benutzte Kaffeetasse unaufgeräumt herum.

„Ich hätte auch nichts dagegen, versteh´ mich nicht falsch.“, versuchte Arabella sich zu erklären, „aber nicht jeder hat die Chance nach Afrika zu gehen! Ich fänd‘ das eigentlich ziemlich toll.“

Marie schnaubte wieder. „Aber nicht mit meinen Eltern! Die zwingen mich ja sogar, mitzukommen. Bevor ich nicht achtzehn bin, habe ich praktisch keine eigenen Rechte.“

„Vielleicht wollen die einfach nur nochmal gemeinsame Zeit mit dir verbringen, bevor du deine Drohung wahr machst, mit achtzehn postwendendend auszuziehen. Vielleicht haben die langsam gecheckt, dass du nicht ewig bei ihnen sein wirst und versuchen jetzt die Zeit, die ihr noch als Familie habt, auszunutzen.“

Arabella betrachtete Maries Gesicht, das sich immer mehr zusammenzog. Es sah so aus, als wollte sie gleich laut anfangen zu schimpfen, als sie doch in sich zusammensackte.

„Warum musst du eigentlich immer sowas sagen? Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, statt sauer auf meine Eltern zu sein, die mir immerhin meine letzten Sommerferien verdorben haben!“ Arabella hob einen Mundwinkel, während sie aufstand und zum Gefrierfach ging.

„Tiefkühlpizza?“

Marie nickte und zwickte Arabella in die Seite. Die zuckte zusammen und verkniff sich ein Lachen.

„Jetzt hör mal auf, darüber nachzudenken und freu dich, dass du hier bist. Mit mir. An diesem wunderschönen Regenabend, den wir jetzt genießen werden. Pizza und Netflix?“

„Na wenigstens kommt doch noch etwas Vernünftiges aus dir raus.“

Der Abend wurde sehr gemütlich. Der alte Backofen verströmte einen wunderbaren Duft von Salamipizza, die sie vor dem Fernseher verspeisten. Marie hatte keine Schlafsachen dabei, aber das war kein Problem, da sie ihre eigene Zahnbürste bei Arabella hatte und es nicht das erste Mal war, dass sie sich ihre Klamotten lieh.

Irgendwann zogen sich die beiden in Arabellas kleines Zimmer zurück, das mit seiner gelben Wand, den hellrosa Vorhängen und den farbenfrohen Bildern, nahtlos in das chaotische Deko-Konzept der Wohnung überging. Arabellas Bett war gerade groß genug für zwei Personen und die einzige Möglichkeit, zu zweit in dem Raum zu schlafen, weil auf dem Boden nicht genug Platz für eine zweite Matratze war. Der dunkle Kleiderschrank und der antike Schreibtisch nahmen zu viel Platz ein, obwohl sie schon so platzsparend standen wie möglich.

Marie kuschelte sich an die Wand unter Arabellas Decke und strich mit ihrer Hand über eine der Macken, die immer auf unerklärliche Weise in den Wänden auftauchten. Arabella setzte sich auf die Bettkante und warf noch einen kurzen Blick auf ihr Handy. Ihre Mutter war noch nicht zu Hause und angerufen hatte sie auch nicht.

Schnell machte sie ihren Klingelton an und legte es auf den Nachttisch. Dann kuschelte sie sich zu Marie in die Kissen und knipste das Licht aus. Durch den Mond und die Straßenlaternen konnte man noch immer genug sehen, obwohl es bereits stockdunkel war und durch das gekippte Fenster waren der Straßenlärm und das Gehupe des Berliner Stadtverkehrs nicht zu überhören.

„Arabella?“, fragte Marie als gerade ein Krankenwagen mit lautem Geheule vorbeifuhr, nur um kurz darauf immer leiser zu werden.

„Hm?“

„Das, was du heute über meine Eltern gesagt hast, ist vielleicht gar nicht so dumm.“

„Wirklich?“

„Hm. Ich schätze, ich habe mich in letzter Zeit nicht gerade von meiner besten Seite gezeigt, was man mir aber auch nicht verübeln kann.“

Arabella stimmte ihr zu.

„Vielleicht fahr ich doch mit. Namibia soll wunderschön sein.“

„Namibia.“ Ein wenig Sehnsucht schwang in Arabellas Stimme mit. Sie selbst hatte noch so gut wie nie Urlaub gemacht und war sehr selten mit ihrer Mutter weggefahren. Die weiteste Reise, die sie je gemacht hatte, war auf der Klassenfahrt in der Zehnten nach Portugal gewesen.

Noch nie hatte sie etwas so Unberührtes und Zauberhaftes wie das Meer und den Strand gesehen. Insgeheim sehnte sie sich danach, etwas Neues zu entdecken, die Welt zu erkunden und einfach mal aus ihrem täglichen Trott rauszukommen. Aber sie wusste ganz genau, dass ihre Mutter sich das nicht leisten konnte.

Manchmal war es so schon schwierig genug, die Wohnung zu bezahlen, da die Mieten in Berlin in den letzten Jahren extrem in die Höhe geschossen waren. Für Urlaub, so sehr Arabella es sich auch wünschte, war kein Platz. Plötzlich schnappte Marie nach Atem.

„Ich hatte gerade die beste aller Ideen! Wie wäre es, wenn du mitkommst? Du und ich im Urlaub, in Namibia? Das wäre der Hammer! Meine Eltern wären zufrieden, weil ich ohne Gejammer mitkäme und wir beide könnten uns ausklinken, wenn es uns zu blöd wird. Es wäre der perfekte Kompromiss!“

Arabella sagte erstmal nichts, sondern schaute nur nachdenklich aus dem Fenster direkt in das gegenüberliegende, hellerleuchtete Nachbarfenster. Dann seufzte sie, weil Marie mal wieder aussprach, was sie gedacht hatte.

„Das geht leider nicht.“

„Was? Warum?“, fragte Marie verständnislos.

„Ich kann Mama nicht allein lassen. Jetzt erst recht nicht. Du hast doch gemerkt, dass sie vorhin ein wenig durch den Wind war und so ist sie in letzter Zeit ständig. Ich glaube, sie fühlt sich allein.“

Marie schwieg. „Aber du bist doch bei ihr. Ihr zwei seid doch ein Power-Team.“

„Schon. Aber das kann nun mal keine Beziehung ersetzen.“

„Hm.“ Marie drehte sich Arabella zu, die sie im Dunkeln nur schemenhaft erkennen konnte. „Meinst du echt, sie packt es nicht allein?“

„Natürlich packt sie es allein, aber ich will nicht, dass es ihr schlecht geht. Wer wäre sonst da, wenn sie nach einem katastrophalen Date zurückkommt?“

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht verärgern.“, sagte Marie und Arabella seufzte.

„Ist schon gut. Ich muss hier für sie da sein. Ich werde schließlich auch nicht immer hier wohnen. Sie braucht mich noch.“

Schweigsam beobachtete Arabella ihre Zimmerdecke und stellte sich vor, wie es wäre, ganz weit weg zu sein. Ohne Sorgen. Weg aus ihrem Alltag. Weg aus Berlin. Kurz darauf konnte Arabella Maries leises und regelmäßiges Schnarchen hören, während sie noch lange wach lag. Maries Angebot, mit ihr zu fahren, hatte sie mit einer Welle der Aufregung durchflutet, die aber sofort durch ein schlechtes Gewissen gestoppt wurde. Sie konnte ihre Mutter nicht allein lassen, nicht jetzt, so toll Namibia auch klang.

Am nächsten Morgen wachte Arabella mit den ersten Sonnenstrahlen auf, die das Zimmer zum Leuchten brachten. Wohlig rekelte sie sich, bis ihr einfiel, dass noch eine zweite Person mit ihr im Bett lag.

Um Marie nicht zu wecken, schlich sie leise aus dem Zimmer. Vor dem Zimmer ihrer Mutter angekommen sah sie, dass die Tür einen spaltbreit offen stand. Arabella konnte den blonden Lockenschopf ihrer Mutter unter der Bettdecke erkennen. So leise es ging, tapste sie in die Küche und machte sich eine Milch warm. Während diese in der Mikrowelle war, öffnete sie die großen Fenster und ließ das fröhliche Vogelgezwitscher herein.

Von dem Regen der letzten Nacht war nichts mehr zu sehen. Stattdessen stand die Sonne am Himmel und es war kein einziges Wölkchen zu entdecken. „Du bist ja schon wach!“

Bei dem Klang der Stimme ihrer Mutter, drehte sich Arabella um.

„Seit gerade eben erst. Haben dich meine Schritte auf den Dielen geweckt?“

„Ach, ich war bestimmt schon wach.“, gähnte ihre Mutter herzhaft. Dann ging sie zum Kaffeeautomaten und stellte ihre Tasse darunter. Die dampfende Flüssigkeit verbreitete einen vertrauten Geruch im Raum.

„Schläft Marie noch?“ Arabella nickte.

„Ich hoffe ihr hattet gestern Spaß.“ Sie fragte nicht, warum Marie spontan da war oder ob ihre Eltern Bescheid wussten. Aber das tat sie eigentlich nie. Genüsslich nahm sie einen Schluck und setzte sich auf das Sofa.

„Klar. Und du? Geht es Nadi gut?“

„Ja, es geht ihr gut. Sie ist zwar ein wenig gestresst wegen der Kids, aber Tobias hilft ihr da gut aus.“ Sie stellte die Kaffeetasse ab. „Wir zwei hatten einen tollen Abend, der mich voll und ganz für das Date davor entschädigt hat. Du weißt schon, Wein, Reden und Salzbrezeln sind echte Wundermittel.“

Sie lächelte, aber Arabella traute der Stimmung ihrer Mutter noch nicht ganz. Sachte lehnte sie sich gegen die Fensterbank, die mit ein paar Kissen ausgestattet war. Sie überlegte, ob sie sagen sollte, was sie dachte, auch wenn sie die Antwort darauf bereits kannte.

„Vielleicht sollten wir einfach mal wegfahren.“, schlug sie vor und hielt gespannt den Atem an.

„Wegfahren? Wohin denn?“

„Weiß nicht. Vielleicht ans Meer. Das ist doch eine tolle Gelegenheit, neue Männer kennenzulernen.“ Arabella setzte sich mit ihrer Milch zu ihrer Mutter auf das Sofa.

„Ach weißt du, ich glaube, ich habe erstmal wirklich die Schnauze voll. Ich weiß gar nicht, wieso ich dem ganzen Dating überhaupt zu gestimmt hab. Ich meine, es war doch alles toll so wie es war, bis-“ Sie unterbrach sich. „Naja und überhaupt, bin ich ja auch eigentlich viel zu beschäftigt für eine Beziehung. Da ist die Arbeit, da bist du… Und irgendwo muss man sich ja auch mal um sich selbst kümmern. Ich könnte ein neues Hobby anfangen. Klavier spielen wäre toll.“

Arabella hatte sofort ein Bild von ihrer Mutter vor Augen, die sich ein nagelneues Klavier bestellte, das die Hälfte ihres Wohnzimmers in Beschlag nahm, genau drei Mal darauf spielte, bis sie die Lust verlor und es ab da an nur noch ein weiteres Möbelstück war, das nicht regelmäßig abgestaubt wurde.

„Ja, aber das ist jetzt nur die erste Idee.“, stellte Arabella schnell klar.

„Aber für einen Urlaub-“

„Schatz, ich weiß, dass du dir das so einfach vorstellst mit den Männern, aber so ist das nicht. Finde erstmal einen guten, mit einem ordentlichem Job, der uns beide gut behandelt, keine langen Nasenhaare hat und sich dann auch noch eine Zukunft mit mir vorstellen kann. Ich suche etwas Festes und nichts Halbes. Ich meine, in meinem Alter…“

„Morgen.“, gähnte Marie herzhaft, während sie ins Wohnzimmer geschlappt kam. Ihre Haare waren gänzlich verstrubbelt und ihr Gesicht zeigte genau, dass sie auf einer Kante gelegen hatte. Ihre Mutter richtete sich auf und lächelte herzlich.

„Guten Morgen, Marie. Gut geschlafen?“

„Milch?“, fragte Arabella.

„Danke ja und nee, Kaffee.“ Marie bediente die Maschine und wartete auf das dampfende Gebräu. Arabella versuchte die Enttäuschung über das Gespräch mit ihrer Mutter zu verdrängen und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Marie setzte sich ihnen gegenüber in den roten Sessel.

„Hatten Sie gestern noch einen schönen Abend Frau Felsbach?“

Arabellas Mutter lächelte. „Ja, aber so gut wie eurer war er dann bestimmt doch nicht, wie ich mir vorstellen kann.“

„Da geh ich mit, wir hatten Pizza und Netflix … das Übliche halt. Sagen Sie mal, stimmt es eigentlich, dass man sich für Afrika auf bestimmte Dinge impfen lassen muss?“

Arabellas Gedanken schweiften ab, während Marie sich mit ihrer Mutter unterhielt. Ihr wurde bewusst, dass sie ganze sechs Wochen Ferien vor sich hatte, die sie ohne Marie und ohne eine Hoffnung auf Urlaub verbringen musste. Außerdem war da noch ihre Mutter, der sie vermehrt Aufmerksamkeit schenken musste, damit sie sich nicht so einsam fühlte. Vielleicht schaffte Arabella es ja endlich, einen geeigneten Kandidaten für ihre Mutter zu finden, denn so konnte es nicht weiter gehen. Das waren wirklich rosige Aussichten für die nächsten Wochen.

Ruf aus der Vergangenheit

„Wenn sie ihren Vater kennenlernen würde, dann könnte sie endlich herausfinden was damals geschehen war.“

„Was hältst du davon, wenn wir uns eine Haushälterin anschaffen?“, fragte Arabellas Mutter im Scherz, während sie ihren Blick über die chaotische Küche schweifen ließ.

„Gute Idee, wie wär´s noch mit ´nem Butler und ´nem Chefkoch?“

Sie lachte. „Mir gefällt deine Denkweise.“

Arabella kramte den Staubsauger aus dem kleinen Stauraum im Flur und ihre Mutter begann, das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen. Der Vormittag verging schnell, da beide mit Putzen und Aufräumen beschäftigt waren. Gegen Nachmittag musste ihre Mutter arbeiten gehen.

„So, ich glaube wir haben soweit ganz gute Arbeit geleistet.“, bekannte sie zufrieden. Arabella stimmte ihr zu, denn so ordentlich wie jetzt, war ihre Wohnung höchstens einmal die Woche.

„Ich muss jetzt los. Bin heute Abend wieder da. Dann koche ich uns was Nettes.“

Mit einem Blick auf die leeren Flaschen, die sich an der Küchentür sammelten fragte sie: „Kannst du die noch rasch in den Keller bringen? Ich schmeiße beim Rausgehen den Müll unten ein.“

„Klar, mach ich. Ich habe ja jetzt Zeit.“

Skeptisch beobachtete ihre Mutter sie durch den Spiegel, während sie ihren Lippenstift nachzog. „Irgendwie gefällt es mir nicht, dass du diese Ferien nichts zu tun hast, jetzt wo Marie weg ist. Unternimm doch etwas! Geh raus und triff neue Leute!“

„Wo soll ich denn hingehen?“

„Schatz, du bist hier in Berlin! Dir stehen alle Türen offen. Mach doch diese Ferien mal was ganz Verrücktes, etwas von dem du nicht dachtest, dass es möglich wäre. Spring über deinen eigenen Schatten, erweitere deinen Horizont, nutze deine Freiheit!“

„Bist du fertig mit deiner Motivationsrede? Du müsstest nämlich mal langsam los.“, verkündete Arabella mit einem Blick auf die Uhr.

„Hast recht, du findest schon was. Küsschen!“

Damit verschwand sie aus der Tür und Arabella genoss die eingetretene Stille für einen Moment. Sie musste ein wenig über ihre Mutter schmunzeln. Sie wollte vielleicht, dass Arabella loszog, um sich zu entdecken, aber darüber vergaß sie die Konsequenzen.

Sie selbst wäre dann oft bis spät am Abend allein und niemand wäre da, um ihre Geschichten von der Arbeit anzuhören, mit ihr zu essen und in dem Wissen ins Bett zu gehen, dass der andere direkt nebenan war. Nein, ihre Mutter hatte das nicht zu Ende gedacht. Wie immer. Seufzend schnappte sich Arabella die paar leeren Flaschen und klemmte sich sogar eine unters Kinn, um nicht zweimal gehen zu müssen. Dann lief sie die Stufen hinunter und bog in den langen Kellergang ein. An dem Stauraum angekommen, der zu ihrer Wohnung gehörte, schob sie die quietschende Tür auf.

Ganz allein in dem dunklen Keller hatte sie es noch nie sehr behaglich gefunden, aber da es erst Nachmittag war, wirkte es nur ungefähr ein Drittel so gruselig. Sie drückte auf den Lichtschalter und surrend wurde der Kellerraum erleuchtet. Da standen Kisten und Kartons mit altem Kinderspielzeug, der Wäschekorb mit ungewaschener Wäsche vor der Waschmaschine, ihr altes Fahrrad und viele Wasser und Weinkästen, die teilweise übereinander gestapelt waren.

Zielstrebig ging Arabella auf den Kasten mit den Wasserflaschen zu, stellte die alten Flaschen hinein und nahm gleich eine neue heraus.

„Hier sollte man auch mal aufräumen.“, stellte sie fest, als sie an den Kistenstapeln hochblickte. Aber das war schließlich immer so. Jedes Mal, wenn man den Keller betrat, merkte man, wie unordentlich er war, aber sobald man ihn wieder verlassen hatte, war es, als betrete man wieder eine andere Welt, in der unordentliche Stauräume nicht existierten und deswegen auch nicht geordnet werden mussten.

Gerade als sie sich wieder aufrichten wollte, fiel ihr Blick plötzlich auf eine Kiste, die hinter einen Weinkasten gefallen war. Der Deckel lag ein wenig entfernt und ein Teil des Inhalts versteckte sich in der dunklen Ecke.

Ihre Mutter hatte bestimmt mal wieder an etwas herumgezerrt, wobei sie nicht gemerkt hatte, dass die Kiste heruntergefallen war. Seufzend stellte sie die Wasserflasche neben sich ab und bückte sich hinunter zu der Kiste. Vorsichtig hob sie diese aus der Ecke heraus. Unter dem Deckel, der noch auf dem Boden lag, hatten sich ein paar Papierumschläge und Postkarten versteckt, die Arabella zusammenklaubte und zurück in die Kiste legte.

Nach einem kurzen Blick auf den Absender stutzte sie: „Matteo von Felsbach, Burg Felsbach, Hessen“

Matteo war der Name ihres Vaters. Seinen Familiennamen hatte ihre Mutter übernommen und so hieß auch Arabella von Felsbach.

Marie neckte sie manchmal mit ihrem Nachnamen, der wie ein Adelstitel klang, aber für Arabella war es nichts weiter als ein gewöhnlicher Nachname. Mit schnellen Fingern durchflog sie die Box und staunte nicht schlecht, als auf sämtlichen Briefen der Name ihres Vaters zu lesen war. Vorsichtig setzte sie sich auf den kalten Steinboden.

Ein Gefühl der Aufregung durchlief sie. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass es noch Dinge von ihrem Vater gab, die sie noch nicht gesehen hatte. Neugierig riss sie den ersten Brief auf, der ihr in die Finger fiel. Ein gefalteter Zettel kam zum Vorschein und als sie ihn entfaltete, konnte sie einen kurzen Text sehen, der in einer sehr vornehmen Schrift und engen Zeilen verfasst worden war.

Geliebte Luisa,

Arabella stockte schon nach der ersten Zeile. Geliebte Luisa! Der Brief war an ihre Mutter gerichtet. Dem Datum nach, das oben in die rechte Ecke geschrieben worden war, stammte der Brief vom Juli 2008. Das war das Jahr, in dem ihr Vater sie verlassen hatte. Sie begann zu lesen.

Geliebte Luisa,

Du ahnst nicht, wie sehr ich dich vermisse. Dein strahlendes Lachen, deine glänzenden Augen und deine wilden Locken. Jeden Tag betrachte ich das Foto von uns. Ich glaube, Arabella wird um einiges gewachsen sein, wenn ich wieder komme. Schreib mir von ihr, ist sie noch immer so zuckersüß und wissbegierig? Ich bin mir sicher, dass sie es ist, und ich kann es nicht erwarten, euch wieder zu sehen und zu berichten, was ich alles erlebt habe. Es ist unglaublich und es ist alles wahr! Meine Nachforschungen werden die besten sein, die jemals für einen historischen Roman betrieben wurden! Ich werde uns reich machen, das verspreche ich dir. Und ich werde Arabella alles beibringen, was ich gelernt habe. Sie wird die Magie der Geschichte begreifen und genauso zu schätzen lernen wie ich. Ich liebe euch, mehr als mein Leben und werde bald daheim sein.

Dein dich liebender Matteo

Arabella starrte auf die Zeilen, las sie nochmal und nochmal und versuchte zu begreifen, was sie soeben erfahren hatte. Es war ein Liebesbrief, ohne Zweifel. Ihr Vater war weggewesen und hatte ihnen geschrieben, hatte berichtet, wie es ihm ging und sich nach ihr erkundigt. Es klang nach Liebe, der ganze Brief war voll davon.

Eifrig steckte Arabella den Brief wieder in den Umschlag, packte ihn in die Kiste und nahm zwei Treppenstufen auf einmal, als sie die Treppe mitsamt dem Karton hochsprintete. Diese Briefe konnte sie nicht auf dem kalten und ungemütlichen Kellerboden lesen.

In der Wohnung angekommen setzte sie sich sofort in den roten Sessel und griff nach einem weiteren Brief. Den, den sie soeben gelesen hatte, legte sie vorsichtig neben sich.

Der neue Brief stammte ebenfalls von der ‚Burg Felsbach‘. Wie hatte sie noch nie von einer ‚Burg Felsbach‘ hören können? Sie klang wie ein Besitz ihrer Familie. Hastig überflog sie die Zeilen.

Geliebte Luisa,

Wie sehr ich mich auf unser Zuhause freue, voll Gemütlichkeit und Behaglichkeit! Mein ganzes Inneres zieht mich zu euch nach Hause, aber ich weiß, dass ich noch bleiben muss. Es ist so, man kann nun mal nicht zu einer bestimmten Stelle der Historie springen, man muss sich durcharbeiten und schließlich bin ich seit langer Zeit der erste, der dies tut. Geschichte braucht seine Zeit, aber das wird es wert sein! Ich bin in meinen Nachforschungen schon ein ganzes Stück weitergekommen und finde ständig neue und überraschende Dinge heraus. Ich freue mich so sehr, all das in meine eigene Welt einzubauen, die genauso lebensecht sein wird, wie die Vergangenheit. Eines Tages kommst du mit und Arabella auch, denn in ihr schlummert der Entdeckergeist. Ich träume jede Nacht von euch und zähle die Tage. Auf ganz bald!

Dein dich liebender Matteo

Ungläubig sah Arabella auf. Sie konnte es noch nicht ganz begreifen und so öffnete sie weitere Briefe. Jeder begann mit „Geliebte Luisa“ und endete mit „Dein dich liebender Matteo“ und in jedem Brief beteuerte ihr Vater, wie sehr er sie und ihre Mutter vermisste.

Was hatte all das zu bedeuten? Warum hatte sie nichts von diesen Briefen gewusst? Warum stammten sie alle aus dem Jahr zweitausendacht und wieso wurden sie von einer Burg abgeschickt, die ihren Nachnamen trug und von der sie noch nie etwas gehört hatte?

Schnell stand sie auf, ohne auf die Briefe auf ihrem Schoß zu achten, die herunter segelten und holte den Laptop aus ihrem Zimmer. Zurück im Wohnzimmer öffnete sie den Internetbrowser und tippte mit fliegenden Fingern „Burg Felsbach, Hessen“ ein.

Das Ergebnis erschien sofort. „Hotel Felsbach – Urlaub wie im Mittelalter“. Der Link stach Arabella sofort ins Auge und als sie ihn anklickte, kam sie auf die Hotelwebsite mit Fotos von einer Burg, von Schlafzimmern und einer genauen Beschreibung dessen, was einen erwartete. Offenbar hatte man die Möglichkeit, in der Nähe von Kassel, in den alten Gemächern des Adels zu schlafen, in einem großen Rittersaal zu speisen und typische ritterliche Aktivitäten, wie Bogenschießen und ausreiten zu erleben.

Gleichzeitig konnte man aber auch in einem kleinen Wellnessbereich mit Sauna entspannen. Beim Scrollen stieß sie auf einen kleinen Text über die Besitzer der Burg.

Das traumhafte Burghotel, mit allen seinen Anlagen und einem Stück des angrenzenden Waldes, gehört der Familie von Felsbach und ist bereits seit unglaublichen achthundert Jahren im Familienbesitz. Geleitet wird das malerische Hotel von der Inhaberin Margarete von Felsbach, welche nicht nur eine echte Nachfahrin des ursprünglichen Erbauers Freiherr Erich von Felsbach, sondern auch eine Kennerin der Historie ist. Gerne erzählen Mitarbeiter den Besuchern von der langen und interessanten Geschichte der Burg und von den vielen Katastrophen und erstaunlichen Ereignissen, die sich vor vielen Jahren hier ereigneten.

Als Arabella über den Namen ‚Margarete‘ stolperte, hielt sie kurz inne, bevor sie den kurzen Text zu Ende las. Bis vorhin hatte sie noch an einen komischen Zufall glauben können. Schließlich war es nicht ausgeschlossen, dass es mehr als eine Familie von Felsbach in Deutschland gab und vielleicht hatte ihr Vater sich einen Spaß daraus gemacht, eine Burg zu besuchen, die genau wie er ‚Felsbach‘ hieß.

Aber Margarete war der Name ihrer Großmutter. Das wusste sie ganz genau, obwohl sie sie nie kennengelernt hatte. Sie war die Mutter ihres Vaters und aus irgendeinem Grund hatte ihre Mutter jeden Kontakt zur Familie ihres Vaters abgebrochen, direkt nach dem er sie verlassen hatte.

Ungläubig schaute sich Arabella die Fotos von der Burg an, die wirklich riesig zu sein schien. Besonders spannend fand sie eine Fotografie von oben, die den Aufbau der Burg zeigte. Sie bestand aus mehreren Türmchen, einer davon war besonders groß, und ein paar weiteren, eng aneinandergrenzenden Gebäuden.

Eine Mauer umschloss die Häuser, welche in der Mitte Platz für einen Hof ließen. Die Burg selbst war grau und sah trotz des kargen Äußeren beeindruckend aus. Das große Eingangstor befand sich zu beiden Seiten an zwei Wachtürmen. Durch eine Zugbrücke wurde der Einlass in die Burg gewährt.

Um die Burgmauern lief ein tiefer Graben, der aber offenbar nicht mehr mit Wasser gefüllt war und sich an den Seiten verlief, anstatt die Burg zu umrunden. Nachdem sie sich noch ein paar weitere Fotos angesehen und kleine Erklärungstexte durchgelesen hatte, lehnte Arabella sich in den Sessel zurück. Was sich ihr eben offenbart hatte, verwirrte sie in hohem Maße und sie brauchte erst einmal Zeit, um alles in Ruhe zu überdenken. Sie war froh, dass ihre Mutter nicht da war. Das erleichterte es ihr um Einiges, ihre Gedanken zu ordnen.

Da war eine Kiste in ihrem Keller, seit wer weiß wie vielen Jahren, die Briefe von ihrem Vater enthielt, in denen er schrieb, dass er sie vermisste. Er betonte in jedem dieser Briefe, wie sehr er sie beide liebte. Der Gedanke rief eine Mischung aus Sehnsucht, Trauer und Wut in Arabella hervor.

Warum hatte ihre Mutter ihr kein Sterbenswörtchen von diesen Briefen gesagt? Sie ließen ihren Vater in einem völlig anderen Licht erscheinen. Obwohl… Wenn er sie beide so sehr liebte, warum war er dann abgehauen? Warum hatte er sie und ihre Mutter ganz allein gelassen und das ohne Vorwarnung? Warum klang er in seinen Briefen so ganz anders, als Arabella sich ihn ausgemalt hatte, nämlich als Egoist und Feigling?

Jetzt formte sich ein etwas anderes Bild in ihrem Kopf. Von einem Mann, der begeistert war von dem was er tat, vor Tatendrang und Energie nur so strotzte und gleichzeitig seine Familie vermisste und sich freute, wenn er wieder bei ihnen sein konnte. Diese beiden völlig unvereinbaren Bilder passten nicht zusammen. Und dann war da noch die Frage, wieso diese Briefe so gut wie alle aus dem Jahr stammten, indem er sie verlassen hatte.

Es klang in keiner Weise so, als hätte er es vorgehabt oder als hätte er das Interesse an ihnen verloren, ganz im Gegenteil. Jeder Brief beschrieb seine Sehnsucht und seine Liebe ihrer Mutter und ihr gegenüber. Bei dem Gedanken sammelten sich kurz Tränen in Arabellas Augen, die sie aber sofort zurück blinzelte. Sie würde jetzt doch nicht weinen!

Sie hatte anderes zu tun. Sie musste nachdenken. Ihr Blick fiel auf eine der Postkarten, die auf dem Boden um sie herum verstreut waren. Jetzt erkannte sie die Burg sofort, denn es war genau jene, die sie eben noch im Internet betrachtet hatte, bloß aus einem anderen Blickwinkel.

Dieses Bild zeigte das Innere der Burg und die Türme, die im schönen Abendlicht versanken. Auf der Rückseite standen nur die Worte: Auf ganz bald! Sie schluckte. Diese Burg, die offenbar ihrer Großmutter gehörte, war ein Familienbesitz. Auch sie trug den Namen ‚Felsbach‘.

Bedeutete das, dass sie die Burg irgendwann erben würde? Wie konnte man etwas erben, von dem man nicht mal wusste, dass es existierte? Ihre Mutter musste von alldem gewusst haben. Sie kannte das Zuhause ihres Vaters und auch, wo er die Zeit gewesen war, als er nicht bei ihnen gelebt hatte. Der Ärger darüber, dass ihre Mutter immer auf ahnungslos getan und sich nicht die Mühe gemacht hatte Arabella zu erzählen, dass ihre Großmutter auf einer alten Burg, auf der Burg Felsbach, lebte, verstärkte sich zunehmend. Diese Burg war seit fast achthundert Jahren in ihrem Familienbesitz!

Arabella wurde fast schwindelig bei der Vorstellung, dass sie davon keine Ahnung gehabt hatte. Dahin hätten ihre Mutter und sie in den Ferien fahren können und es hätte sie nicht mal etwas gekostet. Arabella hätte ihr Leben lang auch mal etwas anderes außer Berlin sehen können, wenn sie nur davon gewusst hätte!

Und ganz nebenbei hätte sie auch ihre Verwandtschaft kennenlernen können. Aufgewühlt stand sie auf, um sich einen Tee zu machen. Während das Wasser anfing zu kochen, starrte sie nur auf die Kücheninsel. Es musste einen Grund gegeben haben, warum ihre Mutter den Kontakt abgebrochen hatte. Und es musste einen Grund für das plötzliche Verschwinden ihres Vaters gegeben haben.

Doch was könnte das sein? Sie wusste nicht viel über ihn. Die einzigen Bilder, die es von ihm gab, lagen in einer Kiste in ihrem Zimmer, zusammen mit den paar Familienfotografien, die von ihnen existierten. Er war Romanautor gewesen, soviel wusste sie, speziell für historische Romane. Gelesen hatte sie keins seiner Bücher, sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt eins von ihm besaßen. Sollte sie ihre Mutter danach fragen? Wie sie wohl reagieren würde?

Arabella konnte ihre Reaktion nicht im Geringsten abschätzen. Und warum fand sie ausgerechnet jetzt diese Kiste mit den Briefen? Genau dann, wenn ihre Mutter wieder mit dem daten begonnen und naja, eigentlich auch schon wieder aufgehört hatte. Arabella ging mit ihrem heißen Tee zurück zum Sessel und besah sich das Briefchaos, das auf dem Boden verstreut lag.

Wenn sie nur herausfinden könnte, was mit ihrem Vater passiert war. Wenn sie ihn finden würde, wäre es ihr möglich, ihn das selber zu fragen. Und sie hatte noch viele weitere Fragen. Fragen, die ihre Mutter immer abgeblockt hatte. Arabella war sensibel genug gewesen, um nicht weiter nachzubohren, obwohl sie es gerne getan hätte. Wenn sie ihren Vater kennenlernen könnte, dann könnte sie endlich herausfinden, was damals geschehen war.

Ihre Mutter kam spät nach Hause. Arabella hatte inzwischen die Kiste fein säuberlich unter ihrem Bett verstaut, sodass ihre Mutter sie nicht aus Versehen entdecken würde. Als sie das Bücherregal durchkämmt hatte, hatte sie festgestellt, dass keines der Bücher von ihrem Vater stammte. Es enttäuschte sie ein wenig, aber dann musste sie ihre Mutter eben danach fragen.

Eigentlich hatte sie keinen richtigen Plan, wie sie sie ansprechen sollte, aber sie wollte ihr definitiv erst einmal die Chance geben, ihr alles von allein zu erzählen. Arabella hatte schon begonnen zu kochen, als ihre Mutter die Wohnung betrat.

„Schatz, bin wieder da!“ Arabella hörte das Gepolter von den Schuhen, die auf den Boden plumpsten und dann die Schritte ihrer Mutter, die sie erst ins Badezimmer und dann in die Küche führten.

„Hm, hier duftet es ja schon sehr gut.“, stellte sie fest und schaute neugierig in die Pfanne, in der ein Pfannkuchen gerade goldbraun gebacken wurde.

„Ja, ich dachte, ich fang schon mal an.“ Arabella gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und wandte sich wieder der Pfanne zu. Die fertigen Pfannkuchen legte sie in den Ofen, damit sie nicht kalt wurden, während sie die anderen zubereitete. Ihre Mutter setzte sich an den kleinen Esstisch, nachdem sie ihn für zwei Leute gedeckt hatte.

„Du glaubst nicht, was mir heute wieder passiert ist. Die Leute sind manchmal so unfreundlich! Da schnauzt mich doch so ne Mutter an, weil sie angeblich einen Termin hatte, der aber gar nicht im System eingetragen war. Und das vor allen anderen Patienten! Die ist richtig laut geworden!“

„Wie unangenehm.“

„Das kannst du laut sagen. Wie sieht das denn für die Arztpraxis aus? Wir hatten ja nicht einmal Schuld! Die hat sich nämlich im Tag geirrt! Aber natürlich wird dann die ganze Wut erstmal an mir ausgelassen.“

Ihre Mutter schüttelte fassungslos den Kopf, während sich Arabella zu ihr setzte und die dampfenden Pfannkuchen vor ihr abstellte.

„Vielleicht muntern die dich ja auf.“

„Oh ja! Ich danke dir. Eigentlich wollte ich ja kochen…“

„Ist schon gut, du hattest einen harten Tag.“

„Aber das wusstest du ja nicht.“ Weil sie nicht wollte, dass ihre Mutter wieder das Gefühl hatte, eine schlechte Mutter zu sein, lächelte sie einfach bemüht heiter. Beide begannen zu essen, aber irgendwie wollten Arabella die Pfannkuchen nicht so recht schmecken. Im Gegensatz zu ihrer Mutter bekam sie kaum etwas runter. Stattdessen überlegte sie, wie sie ihren nächsten Satz formulieren sollte.

„Is´ alles gut mit dir? Du isst ja wie ein Spätzchen.“ bemerkte ihre Mutter, während sie mit der Gabel auf Arabellas Teller deutete. Arabella schluckte.

„Ich denke über etwas nach.“

„Und das ist so schwer, dass du dabei nicht essen kannst?“

„Irgendwie schon.“ Ihre Mutter, die eigentlich einen Witz gemacht hatte, wurde plötzlich Ernst.

„Geht es dir nicht gut? Bist du krank? Du siehst auch ehrlich gesagt ein bisschen blass aus. Oder ist es, weil Marie weg ist und du dich den ganzen Tag gelangweilt hast?“

„Nee, mir geht es gut und das hat auch nix mit Marie zu tun.“

„Was soll denn sonst sein?“ Arabella atmete noch einmal tief ein.

„Ich hab mich nur gefragt… Ich hab mich gefragt, ob du noch Sachen von meinem Vater hast.“ Ihre Mutter erstarrte kurz in der Bewegung, fing sich aber sehr schnell.

„Was meinst ‘n du jetzt mit Sachen?“

„Naja, Dinge die ihm gehört haben, zum Beispiel alte CD´s, oder Klamotten… oder Briefe?“ Skeptisch beäugte ihre Mutter sie. Sie nahm sich Zeit, bevor sie antwortete. „Klamotten hab ich alle in die Kleiderspende gegeben. CD´s hatte der glaub ich keine, oder ich hab die verschenkt. Und Briefe… sag mal, wie kommst du jetzt eigentlich darauf?“

Erregt fuhr sich ihre Mutter durch die Haare. Arabella klackerte nervös mit ihrer Gabel auf dem Teller.

„Nur so. Ich meine, ich wollte einfach ein bisschen mehr über ihn erfahren.“

„Du musst nicht mehr über ihn erfahren, da hast du nichts von. Am besten denkst du einfach gar nicht an ihn.“

Arabella dachte an die Briefe, die sie gelesen hatte und konnte ihre Mutter nicht verstehen. Wieso sollte es am besten sein, nicht an ihn zu denken, wenn ihr Vater doch bei ihnen hatte sein wollen? Sie probierte es anders.

„Er war doch Romanautor, oder?“ Ihre Mutter gab ein Grunzen von sich, was Arabella als Zustimmung wertete.

„Dann haben wir doch bestimmt eines seiner Bücher? Ich würde das gerne mal lesen.“ Ihre Mutter sah abschätzig zum Bücherregal und sagte: „Das ist reine Zeitverschwendung. Kümmer´ dich nicht weiter darum. Konzentriere dich lieber auf die Zukunft, statt in der Vergangenheit zu wühlen.“

„Warum?“

„Weil dein Vater uns verlassen hat, Arabella!“ sagte ihre Mutter plötzlich harsch.

„Er ist verschwunden und kam nicht zurück. Ende der Geschichte.“

In Arabella regte sich langsam Wut über ihre Mutter, die offenbar nicht gewillt war, die Wahrheit zu sagen. Aber sie hatte ein Recht auf die Wahrheit. Es gehörte zu ihrer Vergangenheit und momentan waren da noch viel zu viele offene Fragen.

„Aber er hat uns geliebt!“ stieß sie hervor.

„Woher willst du wissen, dass er uns geliebt hat? Verlässt jemand seine Familie, wenn er sie liebt?“

„Aber das hat er geschrieben! Ich habe es schwarz auf weiß!“ ließ Arabella die Bombe platzen. Ihre Mutter starrte sie kurz an und ließ sich dann perplex gegen die Stuhllehne sinken.

„Du hast- Hast du die Briefe gelesen?“

Bei dem Wort Briefe versagte ihre Stimme kurz ein wenig. Arabella nickte. Bemüht ruhig zu sprechen sagte sie: „Ich hab sie heute Mittag im Keller gefunden.“ Ihre Mutter sah aus dem Fenster, ohne erkennbare Mimik. „Die haben eine ganze Menge Fragen aufgeworfen.