Zentolia. Glasglanz - Tamara Schmid - E-Book
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Zentolia. Glasglanz E-Book

Tamara Schmid

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Beschreibung

***In einer Welt ohne Sonnenlicht ist Liebe der einzige Weg aus der Dunkelheit*** Fauna lebt in Zentolia - eine Stadt erbaut aus Stein und Metall, umgeben von hohen Mauern. Draußen lauern nichts als Tod und Verdammnis. Drinnen sorgen Ordnungsstifter für eine strenge Überwachung der Stadtbezirke. Das Leben in Zentolia ist hart. Und die Herrscherin Szempra verzeiht keine Fehler. Daher ist Fauna extrem vorsichtig, lässt außer ihrem besten Freund Ronan und ihrer Mutter niemanden an sich heran. Als plötzlich beide spurlos verschwinden, ist sie gezwungen, bei der Suche die Hilfe eines zwielichtigen Fremden anzunehmen. Aber warum kennt Sander sich an den dunkelsten Ecken Zentolias so gut aus? Und was will er wirklich von ihr? Schon bald begreift Fauna, dass sie erneut bestohlen wird. Die Beute? − Ihr Herz. Obwohl ihr das anfangs gar nicht passt, bleibt Sander hartnäckig. Er stellt sich als besonders geschickter (und noch dazu verdammt gutaussehender) Dieb heraus. Doch kann sie ihm wirklich trauen?

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Seitenzahl: 495

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Impressum
digi:talents Schreibwettbewerb Romantasy 2018
Widmung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Danksagung

Tamara Schmid

Zentolia. Glasglanz Roman

Digitale Originalausgabe

Impressum

Ein Imprint der Arena Verlag GmbH, Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg Sonderausgabe mit neuem Cover 2019 © Arena Verlag GmbH, Würzburg 2018 Covergestaltung: Arena Verlag GmbH 2019, unter Verwendung von Fotos von stock.adobe.com, Dublin: aleshin, mariyakuprevich, yanushkov Alle Rechte vorbehalten E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2018 ISBN: 978-3-401-84053-6www.arena-verlag.dewww.arena-digitales.de Folge uns!www.facebook.com/digitalesarenawww.instagram.com/arena_digitaleswww.twitter.com/arenaverlagwww.pinterest.com/arenaverlag

digi:talents Schreibwettbewerb Romantasy 2018

»Zentolia. Glasglanz«

ist der Sieger des digi:talents Schreibwettbewerb Romantasy 2018,

der von digi:tales und dem Online-Portal Sweek ausgerufen wurde (www.sweek.com/de/).

Jurymitglieder:

Alana Falk – Autorin (www.alanafalk.net)

Lisa Herrmann – Bloggerin auf „Buchmagie“ (www.buchmagie88.blogspot.de)

Franzi (Die Bücherseelen) und Jenny (Regenbogengarten) – BookTuberinnen

Die Teilnehmer des Leser-Votings

Das digi:tales Lektorat

Wir bedanken uns ganz herzlich bei unserem Kooperationspartner Sweek, bei den Jury-Mitgliedern, bei allen Voting-Teilnehmern und bei allen Autoren, die ihre Projekte eingereicht haben.

Das digi:tales-Team

Widmung

Für alle, die ihre Sonne noch suchen

oder bereits gefunden haben.

Erstes Kapitel

Ich habe noch nie die Sonne gesehen. Aus Erzählungen weiß ich, dass sie groß sein muss. Groß, gelb und hell. Sehr hell. Es heißt, man könne sie nicht direkt ansehen. Ich weiß auch, dass sie wärmt und verbrennt.

Unsere mit Abgasen geschwängerte Luft schirmt das Sonnenlicht ab. Zum Glück.

Es ist spät. Kurz vor Schichtwechsel. Normalerweise gibt es nur zwei, aber momentan ordnet Szempra öfter zusätzliche Arbeitsstunden in der Nacht an, weswegen jetzt auch mehr los ist.

Das bisschen Licht, das es durch den dicke Smog schafft, wird bald verschwinden. Als ich meinen Heimweg einschlage, kommen mir einige Normler entgegen, die Batterien dabei haben. Batterien, so groß wie der Kopf eines Kindes. Um sie aufzuladen, gehen sie in die Güte zum Generator und lassen eine Menge Münzen dort.

Die Regierung teilt die Stromrationen für die gesamte Stadt ein. Dabei ist sie in der Güte etwas großzügiger als in den unteren Schichten. Mit den Batterien kaufen sich die Menschen ein kleines bisschen Luxus: Unabhängigkeit.

Ich bin froh, in der Güte zu wohnen, denn das Stadtzentrum bekommt die meiste Helligkeit ab. Je weiter am Rand und somit näher an Zentolias Mauer, desto düsterer wird es. Auch tagsüber.

Bei der Brücke, kurz vor der Kupfermanufaktur, biege ich links ab und nehme die kleine Treppe nach unten. Die letzte Stufe lasse ich aus und mache mich auf den Weg zum Hospital. Da meine Mutter heute Nachtschicht hat, hole ich unsere Nahrungspillen ab.

Ein silbernes Rinnsal bringt mich zum Stolpern. Um Pflanzenwachstum zu vermeiden, werden aufgebrochene Stellen im Boden mit flüssigen Metallresten gefüllt. Die meisten solcher Risse sind verrostet oder bröckeln, doch jeden Tag kommen auch neue hinzu, die wie Spiegelscherben den Boden sprenkeln.

Mein Weg führt mich durch kleine Tunnel unter Häusern hindurch, aber auch über Brücken, die mir einen vagen Blick zur Stadtmauer am Rand der Rotte ermöglichen. Auf einer Brücke bleibe ich kurz stehen. Unter mir sehe ich Gebäude, kreuz und quer verstreut, und Wege, angeordnet wie in einem dreidimensionalen Labyrinth. Was allerdings deutlich zu erkennen ist, sind die beiden ringförmig angelegten Bezirksgrenzen, die die Güte von der Norm und diese wiederum von der Rotte trennen. Von hier aus kann ich sie zwar nicht sehen, aber ich weiß, dass wie immer Szempras Stifter an den Grenzübergängen patrouillieren, um die Ordnung zu wahren.

Feine Rauchschwaden kringeln sich aus den Kaminen der vielen kleinen Schmieden und Manufakturen nach oben und vermischen sich dort mit dem Smog, der uns einhüllt wie eine schützende, wärmende Decke.

Dröhnende Motorengeräusche erklingen über mir. Ich hebe den Kopf und schaue zu den Flugzeugen, die dicht unter der Smog-Schicht fliegen. In einem davon sitzt meine Mutter. Sie ist Luftbotin. Irgendwann werde auch ich dieser Arbeit täglich nachgehen. Jedes Kind in Zentolia erlernt den Beruf seiner Eltern. Ausnahmen gibt es nicht.

Doch Szempra sei Dank bin ich erst in der Ausbildung und übermittle Waren derzeit noch am Boden. Das Austragen der Pakete und Briefe zu Fuß fördert die Orientierung und das Erlernen der Adressen. Auch wenn aus der Luft alles natürlich wieder ganz anders aussieht.

Das Hospital liegt direkt neben dem Turm unserer Regentin, um ihr den größtmöglichen Schutz zu bieten. Sollte ihr etwas zustoßen, wäre sie innerhalb kürzester Zeit in ärztlicher Behandlung. Dass ich mich ganz in der Nähe ihres Turms befinde, merke ich vor allem daran, dass deutlich mehr Stifter postiert sind.

Ich biege um eine messingbeschlagene Hausecke und sehe mein Ziel.

Der Turm ragt vor meinen Augen auf wie ein gigantischer mahnender Zeigefinger. Ich sehe nur die oberen Dreiviertel, weil ich noch nicht nahe genug bin und mir Häuser die Sicht auf den unteren Teil versperren. Daneben, wesentlich kleiner, aber nicht weniger beeindruckend, sehe ich das Dach des Hospitals.

Seine Wände sind mit Marmor verkleidet. Weiß, mit roten Schlieren. So als hätte sich jemand mit blutverschmierten Händen daran abgestützt.

Drinnen reihe ich mich in die Schlange ein. Wenigstens ist so kurz vor der Dunkelheit nicht mehr viel los.

Wir in der Güte bekommen unsere Pillen im Hospital, die Normler und Rotter nur zu bestimmten Tagen an gekennzeichneten Orten in ihrem Ring.

Den Geruch des Hospitals konnte ich noch nie leiden. Wenn es nur das Desinfektionsmittel wäre, wäre es halb so schlimm. Was ich kaum ertragen kann, ist der eigenartige Gestank von Krankheit, der in der Luft liegt. Ich stelle mir vor, wie sich abgestorbene Hautschuppen einen Weg in meine Lunge bahnen. Der Geruch zwingt mich, trotz dieser Horrorvorstellung durch den Mund zu atmen.

Gegen das strenge Parfum der Rezeptionistin hilft das allerdings nicht. Ihre goldene Brille sitzt tief auf ihrer Nase und ihre winzigen Augen blicken mich über den Rand hinweg gelangweilt an, als ich an der Reihe bin.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragt sie monoton und hebt eine zu schmal gezupfte Augenbraue.

»Ich brauche Nahrungspillen«, sage ich und nach kurzem Zögern füge ich ein »Bitte«, hinzu.

»Name?«

»Fauna G1371 und Mirja G0378.« Zusätzlich reiche ich ihr meine ID-Marke. Unsere Kennzahlen sind noch recht kurz und übersichtlich. Je schlechter der Bezirk, desto länger die Zahl.

Auf ihrem Schreibtisch stehen einige Karteiräder, die auch die Stifter für die Grenzkontrollen benutzen. Sie betätigt einen Schalter an einem der Räder, die Metallplättchen beginnen zu rotieren und geben dabei ein helles Klimpern von sich, wenn sie aneinanderstoßen.

Als sie bei dem richtigen Zahlenabschnitt angekommen ist, blättert sie per Hand weiter, bis sie unsere Nummern gefunden hat. Bestimmt sucht sie den Vermerk, der mich dazu berechtigt, auch die Pillenration für Mirja abzuholen.

Sie nickt zufrieden. Als nächstes sieht sie immer wieder zwischen mir und in ihre Unterlagen hin und her. Vermutlich vergleicht sie Angaben wie meine Haar- und Augenfarbe und schätzt ab, ob Größe und Alter passen.

Ich bemerke wie ihr Blick über mein Gesicht wandert und an meiner rechten Augenbraue hängenbleibt. Das kleine Muttermal darüber ist ebenfalls als Identitätsmerkmal angegeben. Ein paar Leute aus den älteren Generationen haben noch Fotos in ihren Unterlagen. Aber Kameras gibt es schon lange nicht mehr. Mit den Jahren sind viele technische Geräte kaputtgegangen, weshalb man sich dieses System ausgedacht hat. Es gibt noch eine einzige Videokamera, aber die ist Szempra vorbehalten, für Liveübertragungen.

Zum Schluss liest sie sich die ID-Fragen durch.

»Ihr Geburtsdatum?«

»Siebzehnter Oktober 2247.« Das war das Jahr, in dem alle Pflanzen in der Stadt vernichtet wurden.

Die Frau mustert mich noch einmal, diesmal durch die Gläser ihrer Brille und geht dann an den Schrank hinter sich.

Sie drückt mir zwei Metallschachteln mit der Aufschrift »Nahrungspillen – Tagesdosis: Zwei bis vier Dragees. Überhöhten Konsum vermeiden«, in die Hand und widmet sich dem nächsten Wartenden.

»Ihnen auch noch einen wunderschönen Tag!«

Draußen kann ich endlich wieder durch die Nase atmen. Selbst der Smog und die Abgase in der Luft sind mir lieber als der Mief im Hospital.

Unsere Wohnung liegt am äußersten Teil des Güterings, deshalb ist es dort bereits ein wenig dunkler als hier im Zentrum.

Jetzt will ich nur noch heim. Mein Job als Bodenbotin hat ein paar Vorteile, wenn es darum geht, möglichst unsichtbar und zügig ans Ziel zu kommen: Schnelligkeit, Wendigkeit und gute Orientierung. Durch enge Hausspalten, unter Gebäuden hindurch, Treppen hoch und Treppen runter. Die letzte Stufe lasse ich aus.

Aufgrund der stetig ansteigenden Einwohnerzahl, sind die Gebäude sehr chaotisch gebaut worden. Dadurch und wegen des Materialmix‹ aus Stein, Glas, Stahl, Eisen und manchmal auch ein wenig Kupfer wirkt die Stadt wie ein gigantischer Flickenteppich in Grau- und Rosttönen.

An manchen Tagen, wenn unsere Luft klarer ist, schafft die Sonne es, ein paar wenige blasse Strahlen zu uns zu schicken. Diese Momente liebe und fürchte ich zugleich.

Zwar erreicht ihr Licht uns nie vollständig, doch es genügt, um von den Metallplatten reflektiert zu werden, die überall in der Stadt verbaut sind. Es ist die einzige Zeit, an der Zentolia bunt ist. Wären die Strahlen stärker, könnte man sich überall verbrennen.

Schließlich komme ich am Außenbezirk der Güte an.

Unsere Wohnung befindet sich in einem Hochhaus, durch das irgendwann ein Tunnel gebaut wurde. Einfach mitten durchs Erdgeschoss. Die vielen Einwohner und der damit immer knappere Platz machen derartige Maßnahmen nötig. Neue Wege entstehen, andere werden verbaut. Die meisten Wohnhäuser sind so hoch, dass die obersten Etagen im Smog verschwinden. Wer ganz oben wohnt, sieht nur graue Wolken vor den Fenstern und sollte sie, wenn möglich, auch nicht öffnen, um zu lüften. Das würde es wahrscheinlich nur schlimmer machen.

Ich betrachte den Tunneleingang. Man könnte meinen, man blicke direkt in den Schlund eines Steinriesens. Die beiden Fenster in der Mitte vom zweiten Stock, die zu meinem Zimmer und unserem Wohnzimmer gehören, könnten die Augen des Riesen sein.

Über die nachträglich angebaute Außentreppe, die an der Wand des Nachbarhauses entlangführt, gelange ich zur Eingangstür, schräg oberhalb des Tunnelbogens. Ich hole meinen Schlüssel hervor und schließe auf. Kaum bin ich hindurch, wende ich mich nach links. Die erste Wohnungstür ist unsere.

Leise fällt sie hinter mir ins Schloss. Ich atme auf und stecke meinen Schlüssel zurück in die Tasche. Erst jetzt merke ich, wie angespannt ich draußen war. Mit all den Menschen und der Hektik komme ich nur schwer zurecht.

Der vertraute Geruch unserer Wohnung beruhigt mich.

Ich kicke meine zu großen Stiefel in eine Ecke und bringe die Metalldosen mit den Pillen in die Küche, die wir kaum benutzen.

Mirja hat mir davon erzählt, wie es ist, echte Nahrung zu kochen. Von den leckeren Gerüchen und Geschmacksrichtungen. Ich habe noch nie gekocht, geschweige denn richtiges Essen probiert. Seit ich denken kann, ernähren wir uns von den individuell abgestimmten Pillenrationen. Die dicke Staubschicht auf dem Kochfeld spricht Bände.

Mirjas Erzählungen sind zwar sehr schön, aber so richtig kann ich mir trotzdem nichts darunter vorstellen. Ihre Schwärmereien von Gerüchen und Geschmäckern sind für mich nichts als leere Worte. Sie bedeuten mir nichts. Ich kenne nur die Pillen und komme gut damit zurecht.

Auf der Arbeitsplatte finde ich einen Zettel. Beim Lesen muss ich lächeln. Hallo mein Schatz, Essen steht im Kühlschrank. Hab dich lieb.

Einer unserer Scherze. Mirja weiß vor mir, wann ich eine Aufmunterung brauche.

Ich gehe ins Badezimmer, um mein wöchentliches Ritual hinter mich zu bringen. In dem kleinen Raum fällt es selbst mir schwer, mich umzudrehen. Zu zweit kann man sich darin nicht aufhalten. Die Wände sind mit grauen, matten Fliesen besetzt und von der Decke baumelt eine nackte Glühbirne, die schwaches Licht verbreitet. Einmal in der Woche bleiche ich meine Haare. Das muss ich, seit ich fünf bin. Eigentlich sind sie rot, doch außer Szempra darf niemand etwas Rotes an sich haben. Sie hat ein Faible für diese Farbe. Ein ziemlich ausgeprägtes.

Ich öffne meine Haare, die ich meistens zu einem unsauberen Knoten zusammengebunden habe. Wie ein weißblonder Vorhang fallen sie über meine Schultern bis zur Mitte meines Rückens.

Mit den Fingern kämme ich sie durch und verteile die Bleiche mit einem Pinsel auf dem Ansatz. Wie meine Haare früher ausgesehen haben, weiß ich nicht mehr. Mein Vater hat sie mir wohl vererbt. Er hat uns verlassen, noch bevor ich laufen konnte. Mirja spricht selten über ihn. Sie hat mir verraten, dass sein Name Nathaniel war. Das, und dass sie viel zu oft traurig ist wegen ihm, ist alles, was ich von ihm weiß. Alles, was ich von ihm wissen muss, um ihn zu hassen. Er hat uns verlassen. Und dafür gibt es für mich keinen verzeihlichen Grund.

Manchmal sitzt Mirja am Küchentisch und weint. Dabei umklammert sie jedes Mal ihre Schatulle, die stets verschlossen ist. Den Schlüssel dazu trägt sie immer um den Hals. Niemals würde sie das Haus ohne ihn verlassen. Ich habe nie herausgefunden, was in der Schatulle ist, doch ich bin sicher, dass es etwas mit ihm zu tun hat.

Früher habe ich sie öfter nach dem Inhalt gefragt, doch nie eine Antwort erhalten. Vor ungefähr sieben Jahren, ich muss zehn oder elf gewesen sein, bin ich nachts aus meinem Zimmer geschlichen, um mir die Schatulle genauer anzusehen. Mirja hatte daneben auf dem Sofa tief und fest geschlafen. Dachte ich zumindest. In dem Moment, als ich die Schatulle in die Hände nahm und an dem Schloss herumnestelte, entriss Mirja sie mir. In ihren Augen stand Entsetzen und noch viel schlimmer: Enttäuschung.

Dieser Gesichtsausdruck und das Gefühl, das er in meiner Magengrube ausgelöst hat, erschreckten mich so sehr, dass ich seither nie mehr versucht habe, die Schatulle zu öffnen.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, finde ich Mirjas Reaktion von damals nicht fair. Ich meine, ich war noch ein Kind und einfach so verdammt neugierig. Bin ich noch immer.

Mit der Bleiche in den Haaren gehe ich ins Wohnzimmer. Durch die dreckigen Fensterscheiben sickert um diese Zeit kaum noch Tageslicht, doch ich betätige keinen Lichtschalter. In unserer Wohnung kann ich mich blind bewegen.

Unsere Möbel sind aus Stein und Metall. Auch unsere Couch besteht aus einem verschweißten Eisenrohrgeflecht. Darauf liegen nur wenige verschlissene Sitzkissen aus wiederverwerteten Klamotten. Stoffe sind in der Herstellung sehr teuer, weil sie aus einem speziellen Kunststoff gefertigt werden. Deshalb achten viele Zentolianer darauf, Textilien so lange es geht zu benutzen.

In der hinteren Ecke steht ein schmales Bett, abgetrennt vom Rest des Raumes durch einen geflickten Vorhang aus buntem Stoff. Den haben wir gemeinsam aus abgetragener Kleidung genäht. Hier schläft Mirja. Vor zwei Jahren hat sie mir das einzige Schlafzimmer überlassen. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mir diesen eigenen kleinen Rückzugsort ermöglicht, habe aber zugleich ein schlechtes Gewissen. Hätte sie nicht darauf bestanden, dass ich das Schlafzimmer nehme, wäre ich, ohne mich zu beschweren, ins Wohnzimmer umgezogen.

Unter dem Fenster steht eine Kommode, die aus verschiedenen Metallresten zusammengeschustert wurde. Jede Schublade hat eine andere Größe und Farbe.

Mein Blick bleibt an dem Gegenstand darauf hängen.

Auf der hochglänzenden dunklen Oberfläche der Schatulle zeichnen sich Fingerabdrücke ab. Doch ihre Schönheit ist wie ein Schlag ins Gesicht. Sie besteht aus Holz. Einem Material, das ich kaum kenne. Ein Überbleibsel aus früheren Zeiten. Hier bei uns gibt es keine Pflanzen oder Tiere. Zum Glück.

Früher, als die Mauer um Zentolia noch nicht existierte, soll das anders gewesen sein. In den Geschichtsbüchern, die wir in der Schule gelesen haben, stand, dass Tiere und Pflanzen damals sehr wichtig für das Leben der Menschen waren. Aus ihnen wurden Nahrungsmittel und Kleidung hergestellt. Manche Leute hielten sich Hunde, Katzen und andere Bestien sogar als Haustiere. Einfach so zum Spaß. Allein bei dem Gedanken bekomme ich schon Gänsehaut. Würde ich heute einer Maus oder, noch schlimmer, einem Hasen gegenüberstehen, würde ich vermutlich an Ort und Stelle erstarren.

Denn vor ungefähr fünfzig Jahren änderte sich alles. Die sonst angeblich einst so braven Haus- und Nutztiere wurden böse. Sie fingen an, die Menschen anzufallen. Bissen und kratzten sie, zerfetzten und zerfleischten sie. Töteten sie.

Und nicht nur die gesamte Tierwelt spielte verrückt, genauso war es auch mit den Pflanzen. Die, die man zuvor essen konnte, produzierten ätzende Stoffe. Wenn man sie bloß berührte, warf die Haut Blasen. Alles was grün war oder blühte, sonderte unsichtbare Giftstoffe ab, die die Menschen einatmeten. Oder hinterließ tödliche Nesseln auf der Haut, wenn man sie berührte. All das geschah innerhalb eines Jahres, was das größte Massensterben der Menschheitsgeschichte auslöste.

Nachdem klar wurde, dass die Natur sich gegen den Menschen gestellt hatte, ließ Szempra die Mauer um Zentolia hochziehen. Sie ist unsere Retterin. Hätte sie damals diesen Einfall mit der Mauer nicht gehabt und nicht alle Pflanzen und Tiere in Zentolia vernichten lassen, würde es meine Mutter und mich heute höchstwahrscheinlich gar nicht geben. Wir verdanken ihr nicht weniger als unser Leben.

In den Schulbüchern habe ich etliche grausame Geschichten gelesen. Geschichten von Ungeheuern, die aus der Luft kommen und dich angreifen, ohne dass du auch nur eine Sekunde lang darüber nachdenken kannst zu rennen.

Von Wesen, die aus dem Wasser kriechen. Sie locken dich zum Rand der Insel, zu den Felsen, die Zentolia jenseits der Mauer einsäumen sollen. Dann reißen sie dich mit in die Tiefen des Meeres. Zum Glück ist die Mauer so hoch, dass wir vom Anblick des Meeres verschont bleiben. Ich habe noch nie über die Mauer gesehen und ich will es auch nicht. Wahrscheinlich hätte ich danach wochenlang Alpträume.

Es gibt auch Geschichten von harmlos aussehenden Pflanzen, die, wenn du ihnen zu nahe kommst, giftige Stacheln auf dich schießen, an denen du qualvoll stirbst. Heute noch erzählt man sich von kleinen Tieren, die sich am Rand der Stadt aufhalten sollen. Am Fuß der Mauer, dort, wo die dunkelsten Ecken der Rotte sind und wo sich niemals ein Lichtstrahl hin verirrt.

Ich bin erleichtert, dass der Baum, aus dessen Holz die Schatulle besteht, nicht mehr lebt und mir somit auch nichts anhaben kann.

Auf dem Deckel sind drei fliegende Vögel zu sehen. Andächtig berühre ich die Oberfläche der Schatulle, dort, wo eine kleine Erhöhung zu spüren ist. Die Umrisse der Vögel. Sie bestehen aus einem für mich fremden Material, das mich noch mehr fasziniert als das Holz. Es ist hell, fast silbern. Es schillert in unzähligen Farben und wenn ich aus einem anderen Blickwinkel darauf schaue, verändert sich deren Anordnung und erfindet sich neu. Es sieht aus wie gegossen und ist doch uneben. Ich kenne kein Metall, das derartige Eigenschaften besitzt.

Dass die Abbildungen wohl Vögel darstellen sollen, weiß ich ebenfalls aus einem alten Schulbuch. Ich habe noch nie einen zu Gesicht bekommen und ich hoffe, das bleibt auch so. Dass das passieren könnte, ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Denn an der Stadtmauer sind Ventilatoren angebracht, die Gift in der Luft verteilen. Für uns Menschen ist das Mittel völlig harmlos. Für alle tierischen Organismen allerdings tödlich. An manchen Tagen kann man das Gift sogar riechen, wenn es in der aufgewirbelten Luft durch die Straßen weht. Eine Mischung aus Putzmittel und Bleiche.

Außen, auf der Unterseite des Kästchens, ist ein kleines Zahnrad aus Messing angebracht. Früher konnte man es drehen und eine zarte Melodie hören. Leider ist der Mechanismus irgendwann kaputt gegangen.

Als meine Kopfhaut schwach zu brennen anfängt, gehe ich ins Bad und wasche die Bleiche aus. Dann höre ich, wie jemand an die Eingangstür klopft.

Eilig wickle ich ein Handtuch um meinen Kopf und mache mich auf den Weg zur Tür.

Ronan blickt mir lächelnd entgegen, als ich öffne.

»Na, Kleine?« Ohne auf eine Antwort zu warten, geht er an mir vorbei. Er wirkt so fehl am Platz hier bei uns in der Wohnung. Neben ihm erscheint sie wie ein Zuhause für Kleinwüchsige, doch die gibt es nur in der Rotte.

Er lässt sich auf einem Stuhl in der Küche nieder. Kopfschüttelnd folge ich ihm. Mit erwartungsvollem Blick sehe ich ihn an.

»Was schaust du so? Mach dich fertig, wir gehen was trinken.«

»Wie bitte? Es ist fast dunkel draußen, ich kann nicht.«

Er lehnt sich mit verschränkten Armen zurück und grinst mich schief an. Sein kahl rasierter Schädel in Verbindung mit dem dichten dunklen Vollbart verleiht ihm etwas Gefährliches. Aber ich kenne ihn und weiß, dass er mir niemals etwas antun würde. »Klar kannst du. Weil ich dabei bin.«

Das ist ein Argument. Selbst meine Mutter hätte nichts dagegen, solange er bei mir ist.

Schon sein Aussehen schüchtert ein. Wenn er neben mir steht, muss ich meinen Kopf in den Nacken legen, um ihn ansehen zu können. Und vor lauter Muskeln ist sein Oberarm so dick wie mein Schenkel.

Außerdem gehört er einfach zur Familie. Ronans Eltern waren mit Mirja befreundet. Sie starben, als er noch zur Schule ging. Er war gerade einmal acht Jahre alt. Mirja hätte ihn bei uns aufgenommen, aber das war nicht erlaubt. Er ist ein Normler, also musste er auch in der Norm ins Waisenhaus. Sobald er mit fünfzehn arbeiten gehen konnte, bekam er eine eigene Wohnung zugeteilt. Trotz allem haben wir uns nie aus den Augen verloren, sind gemeinsam aufgewachsen. Mirja meint, wir seien wie Bruder und Schwester.

Ich zucke mit den Schultern und resigniere. »Also gut. Warum auch nicht.«

»Geht doch. Und jetzt nimm den Turban von deinem Kopf und mach dich fertig.«

»Turban?«

»Na, das Handtuch. Das sagt man so! Beeil dich, Fauna, ich muss später zur Nachtschicht.«

In meinem Zimmer tausche ich mein dunkelgraues Hemd durch ein hellgraues. Es ist mir viel zu groß und reicht bis über meine Hüfte. Ich lege noch meinen kupfernen Gürtel um meine Taille. Erstens, damit man meine Schichtangehörigkeit erkennt, und zweitens sieht es dann nicht mehr so nach Nachthemd aus.

Das sichtbare Kennzeichen für die Norm ist Schmuck aus Eisen, meist ziemlich verrostet. Die Menschen der Rotte würde man zwar auch so erkennen, dennoch tragen sie gewöhnliche, daumennagelgroße Kiesel an einer Halskette.

Neben diesen optischen Anhaltspunkten muss sich jeder in Zentolia auch immer ausweisen können, weshalb ich meine kupferne ID-Marke stets bei mir habe. Normalerweise trägt jeder seine Marke um den Hals, damit wir sie schnell parat haben. Aber vor ein paar Wochen ist meine Kette gerissen und seither habe ich mich nicht darum bemüht, mir eine neue zu besorgen. Sie hat mich schon immer gestört, deshalb habe ich es nicht eilig, mich darum zu kümmern. Mir gefällt es irgendwie besser, wenn ich meine Marke in meine Tasche packen kann.

Nach einem flüchtigen Blick in den Spiegel binde ich meine noch feuchten Haare am Hinterkopf zusammen.

Ich finde Ronan in unserem winzigen Wohnzimmer. Er bemerkt mich erst nicht, denn er steht mit dem Rücken zu mir.

»Ich bin fertig.«

Ruckartig dreht er sich um und stellt dabei Mirjas Schatulle lautstark zurück auf die Kommode. Immer, wenn er sich ertappt fühlt, streicht er sich über den kahlrasierten Kopf und weicht meinem Blick aus. So wie jetzt.

»Warum so schreckhaft?«, ziehe ich ihn auf.

»Das hat ja eine Ewigkeit gedauert.« Er tut empört und geht an mir vorbei zum Ausgang. Als er mir die Tür aufhält mustert er mich. »Du solltest mehr essen.«

»Guter Witz.«

Draußen schlägt uns der stets warme Dunst Zentolias entgegen. Ich gehen voran die Treppe hinunter und lasse die letzte Stufe aus.

Ein Abend mit Ronan ist genau das, was ich gebraucht habe. Das wird mir jetzt klar und ich freue mich darauf, mit ihm etwas trinken zu gehen und zu reden.

Wasser wird ganz einfach aus dem Meer um uns herum gewonnen. Das Gift, das die Meerestiere und Pflanzen absondern, kann herausgefiltert werden, ansonsten wären wir alle wohl längst verdurstet.

Anschließend wird das Trinkwasser mit allen möglichen Geschmacksstoffen oder synthetischen Alkoholen versetzt. Deshalb sind sämtliche Kneipen immer sehr gut besucht. Es ist eine willkommene Abwechslung.

Die besten gibt es in der Norm. Sagt Ronan zumindest und er muss es ja wissen.

Schon fast synchron wandern unsere Hände in die Hosentaschen. Manchmal denke ich, dass wir wirklich Geschwister sein könnten. Unser Verhalten ist teilweise gruselig ähnlich.

Wegen des begrenzten Platzes hier darf jede Frau aber nur ein Kind bekommen. Sollte jemand Zwillinge erwarten oder gar ein weiteres Mal schwanger werden, müssen die Eltern sich für ein Kind entscheiden. Ich habe mir deshalb geschworen, niemals eins zu bekommen. Zwar beschützt die Mauer uns vor den Tieren und Pflanzen draußen, aber wir leben hier deshalb noch lange nicht im Paradies.

Ganz alte Menschen in der Güte haben noch einen Bruder oder eine Schwester. Das ist inzwischen allerdings äußerst selten. Persönlich habe ich noch nie Geschwister getroffen und das, obwohl ich durch meinen Beruf wirklich viel in der Stadt herumkomme.

Ein Mann, ich schätze, er könnte ungefähr in Mirjas Alter sein, rempelt mich an, worauf ich unsanft gegen einen Mauervorsprung knalle.

»Keine Augen im Kopf?«, blaffe ich ihn an.

Der Metallarbeiter, das sehe ich an seinen schwieligen Händen und an seiner gewaltigen Statur, dreht sich um und baut sich vor mir auf. Gerade setzt er zu einer Antwort an, doch neben mir verschränkt Ronan die Arme. Das genügt. Der Fremde schnaubt verärgert, spuckt auf den Boden vor meinen Füßen und verschwindet fluchend.

Mir bleibt der Mund offen stehen. »Was sollte das? Ich hatte alles im Griff!«

»Das habe ich gesehen!«, erwidert Ronan mit einem Grinsen auf den Lippen. »Der Typ hätte dich mit einem müden Fingerschnippen auf die andere Straßenseite befördert! Du darfst dem heiligen Amboss für meine Anwesenheit danken.«

Wütend trete ich ihm gegen sein Schienbein, doch er zuckt nicht mal mit der Wimper.

Um seine Worte zu unterstreichen, zieht er eine Augenbraue spöttisch nach oben und schiebt mich weiter.

Wie er meint. Soll er denken, er wäre mein großer Retter.

Ich sehe zu ihm hoch. Er grinst immer noch. Idiot. Doch ich kann ihm nicht lange böse sein. Konnte ich noch nie. Gut, vielleicht als kleines Mädchen, wenn er eins meiner Spielzeuge genommen und es an seinem ausgestreckten Arm von mir ferngehalten hat. Nur um mich zu ärgern. Dann konnte es schon mal ein paar Stunden dauern, bis ich wieder mit ihm gesprochen habe. Aber das war früher.

Zu dieser späten Tageszeit sieht man fast nur noch Arbeiter, die ihre Schicht antreten oder gerade beenden. Es riecht nach warmem Stahl, Schmieröl und etwas anderem, das ich nicht benennen kann. Über unseren Köpfen flackert es und nach und nach springen die Straßenlaternen an. Immer bei Schichtwechsel haben wir eine volle Stunde Licht. Das nächste Mal wird erst wieder zu Beginn der Nachtschickt sein. Die Zeiten dazwischen sind zwar nicht stockdunkel, weil meist ein öffentliches Gebäude mit eigenem Generator in der Nähe ist, doch der Unterschied ist ziemlich heftig.

Wie Anhänger einer Kette baumeln die Laternen an den Kabeln mittig über den Straßen und verbreiten goldenes Licht.

Wir biegen in die nächste Straße ein.

Verstohlen blicke ich meinen besten Freund von unten an. Wirklich gesprächig ist er heute nicht. Und kann es sein, dass er nervös ist? Immer wieder knetet er seine Hände und dreht an dem Eisenring an seinem Zeigefinger. Ob er wohl weiß, was sich in Mirjas Schatulle befindet? Wie ertappt er ausgesehen hat, als ich ihn damit erwischt habe.

»Sag mal, was ist heute los mit dir?«

»Was? – Zur Seite!« Er packt mich grob am Arm und zieht mich gerade noch weg, bevor ich in eine frische Metallpfütze treten kann. Um ein Haar hätte ich mir den Abend versaut. Und meinen Fuß verbrannt.

»Pass doch auf!«, fährt er mich an und lässt los.

Ich ziehe meine Kleidung zurecht. Erhole mich von dem Schreck.

Mir liegt eine mindestens genauso pampige Antwort auf der Zunge, doch ehe ich sie aussprechen kann, verändert sich Ronans wütender Gesichtsausdruck und wird sanfter.

»Tut mir leid. Das hätte böse enden können.«

Ach, echt? Ich schlucke meinen Unmut hinunter und zwinge mich, ihn anzusehen. »Sie hätten ja wenigstens ein Schild aufstellen können. Vorsicht, frisch verödet oder so …«, sage ich, in der Hoffnung, die Stimmung wieder zu heben.

Er lacht kurz und zieht mich freundschaftlich an seine Seite. Wir gehen nach links an einem herzförmigen Schlagloch vorbei und bleiben vor einer Treppe stehen, die zwischen zwei Mauern nach unten verläuft. Das Ende kann ich nicht erkennen, da die Treppe unten eine Kurve macht. Sie ist so schmal, dass man hintereinander gehen muss.

»Da wären wir.«

Das ist neu. Bisher war ich mit Ronan in drei oder vier verschiedenen Absteigen. Diese hier sehe ich zum ersten Mal. Sein Gesichtsausdruck erinnert mich an den eines Kindes, das gelobt werden will.

»Äh, ganz toll. Wo sind wir hier?«

»Das ist der Klobige Kumpel.« Dabei macht er eine ausladende Handbewegung, als würde er mir einen Topf voll Kupfer präsentieren. Seine Bewegung schließt das Schild mit ein, das an der Hauswand befestigt ist und das ich jetzt erst bemerke. An einer Metallstange hängt es über der Gasse und quietscht leise im Luftzug, der durch die Straßen weht. Im Augenwinkel sehe ich noch eine Bewegung. Ein Windspiel hat sich im Kabelwirrwarr der Straßenlaternen verheddert.

Unwillkürlich muss ich lachen. »Der Klobige Kumpel? Ernsthaft?«

»Jawohl, der Klobige Kumpel.« Er findet diesen Namen wohl wirklich gut. Vielleicht, weil er selbst einer der Bergbauleute ist.

»Okay«, sage ich und es klingt eher wie eine Frage. »Hier waren wir noch nie. Warum heute?«

»Ich dachte, du würdest dich freuen, mal etwas anderes zu sehen. Die Singende Sonya muss dir doch schon zum Halse raushängen.«

O ja, das tut sie. Nicht nur die Kneipe, die diesen passenden Namen trägt, auch ihre Namensgeberin, die ständig vor sich hin trällert. Leider klingt das meistens, als hätte sie sich an ihrer Nahrungspille die Stimmbänder aufgeschnitten.

»Du hast mich überzeugt«, sage ich schnell und schiebe ihn vor mir die Treppe hinunter.

Ronan muss seinen Oberkörper leicht drehen, um sich nicht die Schultern an den Wänden aufzuschrammen.

Als wir die Kneipe betreten, schlägt uns ein noch greifbarerer Dunst entgegen als draußen. Ich bin mir nicht ganz sicher, welcher mir lieber ist.

Hinter uns fällt die schwere Eisentür ins Schloss. Der Krach lässt sämtliche Augenpaare in unsere Richtung huschen.

Unangenehm.

Mindestens genauso unangenehm wie die Mischung aus Alkohol, Schweiß und anderen Gerüchen, die sich gerade einen Weg durch meine Nasenschleimhaut ätzen.

Aus Erfahrung weiß ich, dass sich das nach ein paar Atemzügen legen wird. Meine Entscheidung, welcher Dunst mir lieber ist, fällt in diesem Moment negativ für den Klobigen Kumpel aus.

Wir steuern zwei freie Hocker an der Theke an. Auf dem dritten sitzt ein schmächtiger Typ, allerdings verzieht er sich direkt, als er Ronan sieht.

Ronan setzt sich und sein Gesicht liegt zur Hälfte im Schatten, was bedeutet, dass es bei mir auch so sein muss. Gut. Als ich mich auf dem Hocker niederlasse, gibt er ein nicht sehr vertrauenerweckendes Quietschen von sich.

Wir sind in einem Kellerraum, es gibt nur wenige kleine Fenster knapp unter der Decke. Hinter der Theke und durch den Lärm hier unten glaube ich, das vertraute Surren eines Generators zu hören. Wenigstens sitzen wir in dem Loch nachher nicht im Dunkeln.

In regelmäßigen Abständen wird die Decke durch unsauber gemauerte Säulen gestützt. An jeder lehnt mindestens ein Betrunkener.

Lampen hängen von der Decke. Ähnlich wie die Straßenlaternen überschneiden sich hier und da die Kabel. Von System keine Spur.

Durch die Lampenschirme aus Buntglas wirft das Licht Farbflecken an die Wände, was den Raum und den Moment unwirklich erscheinen lässt.

Im Hintergrund läuft Musik und in einer Ecke singt eine Gruppe fröhlich mit. Das Lied handelt von einem jungen Liebespaar aus unterschiedlichen Schichten. Die Fenster ihrer Wohnungen liegen direkt gegenüber. Ihres in der Norm, seines in der Güte. Seine Eltern wollen nicht, dass die beiden Kontakt haben, deshalb spannt das Pärchen ein Band zwischen den Fenstern und schicket sich Botschaften. Am Ende überzeugen die beiden ihre Familien von ihrer Liebe und alles ist gut.

Ich kenne dieses Lied. Es gehört zu meinen liebsten in Zentolia. Die meisten Texte erzählen von der Gefahr der Pflanzen und Tiere. Selten von schönen Dingen wie dieser.

»Ronan! Was darf ich dir und deiner hübschen Freundin bringen?«

Die vollbusige Frau hinter dem Tresen lächelt uns an und entblößt dabei eine Reihe gelblicher Zähne. Dennoch ist sie unverkennbar schön. Ihr herzförmiges Gesicht wird von einer krausen braunen Mähne umrandet und ihre Haut ist selbst in dem farbgeschwängerten Licht sehr blass. Um die Taille trägt sie eine Schürze. Sie dürfte ungefähr in Ronans Alter sein, also ein paar Jahre älter als ich. Bestimmt verbringt sie schon die meiste Zeit ihres Lebens im Klobigen Kumpel.

Ronan lehnt sich vor und bestellt: »Bring uns zwei Goldklar, bitte.«

Ich will ihn gerade fragen, was das sein soll, da wird er von einem älteren Mann angesprochen. Aus den Wortfetzen, die ich aufschnappe, schließe ich, dass er ein Kollege von Ronan sein muss.

Kashia – ich entdecke ein Schild an ihrer Bluse – zwinkert uns zu und widmet sich dann der Bestellung.

Ich sehe mich um. Der Klobige Kumpel macht seinem Namen alle Ehre, denn dem Aussehen der Kunden nach zu urteilen, haben die meisten eine anstrengende Schicht im Bergwerk hinter sich. Auch der Kerl mit dem Ronan spricht ist von den Haaren bis zu den Schuhen von einer dicken Staubschicht überzogen. Genauso sieht mein bester Freund auch aus, wenn er nach der Arbeit direkt zu mir kommt.

Leider darf Ronan nur sehr wenig über seinen Arbeitsplatz sprechen, denn das Ungewöhnliche daran ist, dass sich dieser außerhalb Zentolias befindet.

Ich weiß nur, dass er vor Schichtbeginn zur Mauer muss, von wo aus die Bergarbeiter durch ein schweres Eisentor nach draußen geführt werden. Ab da geht es mit dem Schiff weiter bis aufs Festland.

Als ich vor einigen Jahren begriff, dass Ronan jeden Tag sein Leben außerhalb der schützenden Mauern Zentolias aufs Spiel setzt, hat er mir verraten, dass der Eingang zum Bergwerk so liegt, dass sie ihn direkt vom Schiff aus über einen Steg erreichen. Vom Festland gibt es keinen Zugang, weshalb sie keine Angst vor Pflanzen oder Tieren haben müssen. Trotzdem kommt es auch heute noch vor, dass einer der Kumpel nach einer Schicht nicht zurückkehrt.

Um den Leuten nicht noch mehr Angst zu machen, ist es verboten, darüber zu sprechen. Aber natürlich hält sich keiner daran.

Erst vor ein paar Wochen hatte sich ein Schwarm Fledermäuse ins Bergwerk verirrt und drei Männer angegriffen. Sie überlebten nicht. Aus diesem Grund sind immer zwei mit Flammenwerfern bewaffnete Männer dabei, was mich wenigstens ein bisschen beruhigt.

Szempra hat uns schließlich nicht zum Spaß von der Außenwelt abgeschottet. Sie hat dafür gesorgt, dass wir sicher sind, denn da draußen würden wir keinen Tag überleben.

Aus diesem Grund ist die Verbannung aus der Stadt mindestens genauso schlimm wie die Todesstrafe. Ich kann mir denken, dass sich jeder, der sich etwas zu Schulden kommen gelassen hat, davor fürchtet, in das tote Ödland dort draußen verstoßen zu werden. Mich fröstelt bei der Vorstellung, grausam verdursten zu müssen, von einem Tier zerfleischt oder einer Pflanze vergiftet zu werden. Da würde ich es wirklich bevorzugen an einem Strick zu hängen. Kurz und schmerzlos.

Endlich wendet sich Ronan wieder mir zu. Im gleichen Augenblick stellt Kashia uns zwei Gläser hin, um sich eine Sekunde später wieder den anderen Gästen zu widmen.

»Entschuldige, das war ein Arbeitskollege von mir.«

»Dachte ich mir schon.«

Ronan nickt und schiebt mir eines der Getränke hin. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin lässt mich ihn skeptisch ansehen. »Du weißt, dass mir Alkohol nicht schmeckt.«

Er schmunzelt. »Keine Sorge, Fauna, da ist nur wenig drin und man merkt ihn kaum. Oder denkst du, ich gehe betrunken zur Arbeit?«

Die Vorstellung lässt mich schmunzeln. »Bei dir weiß man nie. Goldklar … Was ist das?«

»Probier’s einfach.«

Ich nehme das Glas und schnuppere. Wenig Alkohol? Ich bleibe skeptisch. Andererseits riecht es süßlich, also nippe ich vorsichtig daran.

Ich habe das Gefühl flüssigen Bernstein zu trinken, was Schwachsinn ist, doch dieses Bild entsteht augenblicklich in meinem Kopf. Die Flüssigkeit brennt leicht in meinem Hals, aber nur leicht. Es schmeckt süß, schon fast zu sehr. Ich nehme noch einen Schluck.

»Und?«, fragt Ronan und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Nicht schlecht. Was ist es denn nun?«

»So genau weiß ich auch nicht, was drin ist. Aber es schmeckt verdammt gut.«

Fürs Erste genügt mir das als Antwort. Und dann stoßen wir an.

»Auf uns!«, sagt Ronan mit übertrieben geschwollener Brust und prostet mir zu.

»Seit wann machst du eigentlich wieder Nachtschichten?«, frage ich ihn, nachdem das leichte Brennen in meinem Hals nachgelassen hat. »Ich dachte, du lässt dich nur noch tagsüber einteilen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich kann in letzter Zeit nicht besonders gut schlafen, also gehe ich stattdessen arbeiten.«

Ungläubig lege ich den Kopf schief. »Du gehst lieber freiwillig zur Arbeit, als im Bett zu liegen? Wer bist du? Kenn ich dich? Komm schon, was ist der wahre Grund?«

Ronan lässt sich Zeit und nimmt einen großen Schluck von seinem Bernsteingetränk. Er starrt auf einen Punkt hinter der Theke und scheint für einen kurzen Moment ganz woanders zu sein. Ich denke schon, er antwortet gar nicht mehr, doch dann schaut er mich mit zusammengekniffenen Augen an. Als würde er durch mich hindurch sehen.

»Das wird nicht das Einzige bleiben, das sich in nächster Zeit ändert.«

Er spricht so leise, dass ich mich vorbeugen muss, um ihn zu verstehen. Was meint er damit? Ich wusste doch, dass er heute irgendwie anders ist!

»Wovon sprichst du?«

Er fixiert mich gefühlte Minuten, ehe er sich wieder einen Schluck gönnt und dann eine wegwerfende Handbewegung macht. »Ach, gar nichts. Was machst du morgen?« Dieser seltsame Ausdruck in seinen Augen ist verschwunden.

Für ihn ist dieses Thema jedenfalls beendet und ich weiß, dass weiteres Nachfragen nichts weiter bringen würde als einen schlecht gelaunten Ronan.

»Arbeiten, was sonst? Ich kann es mir nicht aussuchen, wann ich eingeteilt werde. In der Ausbildung geht das nicht, das weißt du doch.«

»Tja«, sagt er nur und legt mir gönnerhaft eine Hand auf die Schulter. »Wie sagt man so schön? Jeder bekommt im Leben das, was er verdient.«

Gespielt wütend schlage ich seine Hand weg und verkneife mir das Lachen. »Idiot.«

»Aber ich bin dein bester Idiot, oder?« Sein Schmollmund ist echt Gold wert.

»Ja, du bist der beste und größte Idiot, den ich kenne.«

»Hab ich ein Glück. Auf uns!«

Ich lächele nur und erneut stoßen wir an. Die Glühbirnen flackern kurz, der Generator springt an. Wie schnell eine Stunde vergeht!

»Ronan, ich muss langsam nach Hause, morgen muss ich früh raus.«

Er seufzt und nickt. »Dann lass uns austrinken.« Sein Glas ist leer, ehe ich auch nur nach meinem gegriffen habe. Er winkt Kashia her, um zu bezahlen.

»Einen Kupferling, ihr Süßen.«

Wie bitte? Vor gar nicht langer Zeit war das auch mal günstiger. Zumindest in den Bars, in denen wir für gewöhnlich sind. Ronan hat viel weniger Münzen zur Verfügung als ich und ich möchte für ihn bezahlen. Doch als ich in meine Hosentasche greife, warnt er mich mit einem kurzen, scharfen Blick. Der Tag wird wohl nie kommen, an dem er sich von mir einladen lässt.

Ich trinke ebenfalls aus und will aufstehen, als Ronan mich am Arm zurückhält.

»Warte bitte noch einen Moment.« Dabei wühlt er in der rechten Tasche seines Hemdes. Etwas blitzt in seiner Handfläche auf. Ich sehe es nur kurz, denn er schließt schnell die Finger darum. »Ich habe noch etwas für dich.«

Er sieht mich verlegen an, als er den Arm ausstreckt und langsam seine Hand öffnet.

Darin liegt … Licht? Glas? Ich muss zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um einen Stein handelt. Er ist von einem feinen Schimmer überzogen, was aussieht, als würde er den schwachen Lichtschein um sich herum absorbieren. Das Wort Glasglanz kommt mir in den Sinn.

Mir ist nicht bewusst, dass ich die Hand ausstrecke, bis ich die Oberfläche des Steins berühre. Er ist weiß und an den meisten Stellen durchsichtig. An einer Seite, dort, wo die Oberfläche unregelmäßig und rau ist, wurde goldener Draht herumgewickelt, an dem eine filigrane goldene Kette Halt findet. Unterhalb davon geht der Stein stufenartig in glattere Flächen über, die das Licht reflektieren und leuchtende Punkte auf uns beide werfen. Seine Form erinnert mich an einen Pfeil. Einen schimmernden Pfeil aus Glas.

»Das ist ein Bergkristall«, erklärt Ronan leise und hält ihn hoch, sodass er an der Kette vor meinem Gesicht baumelt. Dabei dreht er sich so, dass er den anderen Gästen den Blick darauf verwehrt.

Bergkristall? Ohne dass Ronan es mir erklären muss, weiß ich, dass es ein Edelstein ist. Denn er ist so unfassbar schön und anziehend, dass nichts anders möglich ist. Aber wie kommt er an ihn? Nur Szempra darf Edelsteine besitzen. Sie ist die Retterin und hat das alleinige Recht auf solche Schmuckstücke. So, wie nur sie und die Stifter die Farbe Rot tragen dürfen.

Als hätte Ronan meine Gedanken gelesen, fügt er ertappt hinzu: »Ja … ich weiß, was du denkst. Edelsteine sind Szempra vorbehalten. Aber … ach. Fauna, bitte trag ihn einfach. Tu mir den Gefallen.«

Ist Ronan wahnsinnig geworden? Wie kann er ihn mir so offen zeigen? So ungeniert? Und mich dann auch noch bitten, dass ich ihn mir um den Hals hänge?

Aber der Stein zieht mich sofort in seinen Bann. Lässt meine Gedanken für den Moment verstummen.

Anstatt zu protestieren, lasse ich ihn vorsichtig in meine Hand gleiten. Er ist beinahe so groß wie mein kleiner Finger. Und ich habe selten etwas so Schönes gesehen.

Ronan bewegt sich unruhig auf seinem Stuhl. »Gefällt er dir nicht?«

Ich sehe zu ihm auf, doch anstelle einer Antwort ziehe ich ihn stürmisch in eine Umarmung. »Er ist perfekt«, flüstere ich aufgeregt.

Als ich mich von ihm löse, sehe ich sein strahlendes Gesicht. Er ist noch immer verlegen. »Er ist ein Talisman. Eine Art Glücksbringer und er soll dich beschützen.«

Ich bringe keinen Ton heraus, als er mir die Kette um den Hals legt. Neben der Freude über dieses Schmuckstück schnürt mir ein ganz anderes Gefühl die Kehle zu. Wenn den Stein jemand sieht, dann würden mich schlimme Strafen erwarten.

»Ronan, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke.«

»Gern geschehen.«

»Aber, wie kannst du mir einen Edelstein schenken? Du weißt doch, dass …« Ich spreche es nicht aus, er kann sich auch denken, was ich meine.

Er fängt an, an seinem Hemdkragen zu ziehen und etwas heraus zu holen. »Ich habe auch einen. Und ich wurde noch nicht erwischt. Sei bloß vorsichtig, dann passiert auch nichts.« Er zieht einen weiteren Stein aus seiner Tasche, der aussieht wie dunkles Glas. Er hat die Farbe von Rauchschwaden. Die Kette, an der er baumelt, ist aus groben Eisengliedern gearbeitet.

»Das ist Rauchquarz.«

Er sieht ganz anders aus als der Bergkristall, dennoch fesselt mich auch sein Anblick sofort.

»Woher hast du sie?«

Ronan lässt ihn wieder unter seinem Hemd verschwinden und lehnt sich seitlich an die Theke.

»Aus dem Bergwerk. Ich habe sie selbst gefunden und geschliffen.«

»Sie sind gestohlen?«, frage ich mit gesenkter Stimme. Hoffentlich belauscht uns niemand.

»Ja, schon … Aber das braucht ja niemand zu wissen. Und jetzt lass uns gehen, sonst bringt mich deine Mutter doch noch um.«

Er steht auf und ich folge ihm. Kurz bevor wir den Klobigen Kumpel verlassen, dreht er sich noch einmal zu mir um. »Ach, und Fauna, du solltest die Kette besser unter der Kleidung tragen.«

Ich nicke hastig und verstaue sie samt Anhänger sorgfältig unter meinem Hemd.

Zweites Kapitel

Ronan begleitet mich noch durch die Norm, damit ich nicht allein im Dunkeln gehen muss, und dann verabschieden wir uns am Grenzübergang zur Güte. Die Ordnungsstifter schauen Ronan nach, als er sich von uns entfernt.

Ihre Augen kann ich nicht sehen, weil sie hinter getönten Brillengläsern verborgen sind. Absurd, wenn man bedenkt, dass gerade Nacht ist und außerdem in Zentolia die Sonne nie scheint. Der rostrote Helm verbirgt ihre Haare und sogar ihre Hände stecken in Handschuhen. Mit dieser Uniform sehen sie irgendwie alle gleich aus.

Würde ich jetzt in die Norm oder die Rotte gehen, würden sie wahrscheinlich nur einen kurzen Blick auf mich werfen und mich durchwinken. Wenn man allerdings in die Güte, den Bezirk der höchsten Schicht möchte, fallen die Kontrollen strenger aus. Neben ihren roten Uniformen kommt mir das Grau meiner Kleidung schäbig vor.

Niemand interessiert sich für die winzige Ausbuchtung, die sich vage durch mein Oberteil abzeichnet.

Als ich in unsere Gasse einbiege, sehe ich schon von Weitem Licht im Wohnzimmer. Mirja ist zu Hause.

»Fauna, mein Schatz«, begrüßt sie mich drinnen.

»Hey«, sage ich leise. »Wie war die Arbeit?«

»Anstrengend. Szempra hat uns einige Extrarouten aufgetragen wegen morgen.«

Morgen? »Ah, das hatte ich ganz vergessen! Die Gründungsfeier! Ich sollte wirklich schlafen gehen, sonst halte ich den Tag morgen nicht durch.«

Am Abend des Gründungstags findet immer eine kleine Parade nach der Ansprache der Regentin statt. Das ist dann einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen wir Szempra zu Gesicht bekommen.

Wie konnte ich das nur vergessen?

»Wo bist du eigentlich so spät noch gewesen?« Mirja geht ins Wohnzimmer, ich folge ihr. Mir fällt auf, dass ihr Blick kurz die Schatulle streift. Wahrscheinlich prüft sie, ob sie noch genauso dasteht, wie immer.

»Im Klobigen Kumpel, mit Ronan. Was trinken.«

Fragend zieht sie eine Augenbraue hoch.

»Nicht so wichtig. Oh, und er hat mir etwas geschenkt.« Ich ziehe vorsichtig an der Kette um meinen Hals und zeige ihr den Stein.

Ihre Augen werden groß. »Ein Bergkristall?«

»Woher weißt du das?«

Sie muss sich davon losreißen. »Was? Ich … ich habe irgendwann schon einmal davon gehört.« Ein zaghaftes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, während sie nachdenklich den Schlüssel an ihrer Kette in den Fingern dreht. Obwohl er kaum größer als eine Büroklammer ist, sehe ich die goldenen Verschnörkelungen am hinteren Teil. Ich habe ihn schon so oft angesehen, dass ich ihn mit geschlossenen Augen beschreiben kann. Am auffälligsten ist das Loch, das umrandet ist wie ein Strudel und durch das die Halskette gefädelt ist.

»Ach so.«

»Denk bitte an unsere Verabredung morgen, ja?«

»Natürlich, so wie jedes Jahr.«

Wir lächeln uns an und sie gibt mir noch einen Kuss auf den Scheitel, bevor sie sich abwendet. »Schlaf gut.«

»Du auch.«

»Und den Anhänger solltest du besser versteckt halten.«

»Ich weiß.« Es wundert mich, dass sie mir überhaupt erlaubt, ihn zu tragen. Aber als sie es nicht verbietet, bin ich froh, dass das Thema durch ist.

Ich gehe noch schnell ins Bad und dann in mein Zimmer. In Endlosschleife erlebe ich das Gespräch mit Ronan von vorhin.

Nach gefühlten Stunden, die ich mich unruhig im Bett herumwälze, schlafe ich irgendwann endlich ein.

Die Wohnungstür fällt laut ins Schloss, ich schrecke hoch. Mirja ist schon auf dem Weg zur Arbeit. Ein Blick aus meinem Fenster verrät mir, dass es noch sehr früh ist. Ich schaue auf die Uhr. Der Weckruf für die Frühschicht wird erst in einer Stunde ertönen. Trotzdem stehe ich auf. Wie erschlagen schleppe ich mich ins Badezimmer.

Ich wasche mich – das kalte Wasser in meinem Gesicht ist eine wahre Wohltat - binde meine Haare zusammen und gehe zurück in mein Zimmer, um mich anzuziehen.

Das schwarze Arbeitshemd konnte ich noch nie leiden. Es kratzt wie verrückt und dafür ist es noch nicht einmal besonders schön. Wie immer trage ich dazu meinen kupfernen Gürtel um die Taille. Bei der Wahl meiner Hose lasse ich mir länger Zeit als gewöhnlich. Schließlich entscheide ich mich für eine eng anliegende, die so verwaschen ist, dass sie verschiedene Grautöne hat. Ich mag das Muster.

Neben der Tür schlüpfe ich in meine Stiefel und hänge mir

meine große dunkelgraue Arbeitstasche um. Es ist ein farbloser Tag. Wie immer.

Ich muss zum Kurier, um meine Route abzuholen. Auf dem Weg lasse ich mir mehr Zeit als üblich, denn so früh bin ich selten dran.

Zum heutigen Anlass, dem einundsechzigsten Gründungstag Zentolias, hängen vor allen Türen und Fenstern bereits Szempras Windspiele. Unterschiedlich große S aus Kupfer baumeln daran und erzeugen ein metallisches Klirren, wenn sie aneinanderschlagen.

Sie sind frisch poliert und schaffen es dadurch sogar, schwache Lichtreflexionen auf Häuser und Straßen zu werfen.

Ob Mirja daran gedacht hat, unseres vors Fenster zu hängen? Ich muss später unbedingt nachsehen, bevor die Stifter misstrauisch werden.

Überall wird geputzt, gekehrt und poliert.

Als ich schließlich den Rand der Güte erreiche, halten mich die Stifter auf. Alles muss sicher sein, wenn Szempra durch die Stadt kommt, deswegen registrieren sie mich kurz in ihrer Kartei.

Als ich durch bin, gehen gerade die Lichter in der Norm an, um die Frühschicht anzukündigen.

Sehr gut! Jetzt komme ich doch noch zu spät. Ich habe länger getrödelt als gedacht. Meine Tasche fest an mich gepresst renne ich los und weiche flink allem aus, was mir in den Weg gerät. Menschen, Mülltonnen und Pfützen aus noch flüssigem Metall. Ich nehme jede Abkürzung, die mir einfällt und laufe einmal beinahe gegen eine Leiter, auf der gerade jemand steht, um ein Windspiel aufzuhängen.

Die Schichtleitung wird mir den Kopf abreißen! Das ist in diesem Quartal nun schon das dritte oder vierte Mal! Nicht, dass ich mitzählen würde …

Als ich über eine Brücke laufe, sehe ich das runde Kuriergebäude. Eine gigantische Kugel thront auf dem flachen Dach. Darin eine viel zu große, mich verspottende Uhr. Die Zeiger bewegen sich erbarmungslos weiter.

»Grüne Seuche!« Das ist mein neuer Rekord. Ob ich darauf stolz sein kann, weiß ich noch nicht.

Endlich schlüpfe ich durch die Tür und renne Dismas, meinem Ausbilder, direkt in die Arme. Sein muffiger Geruch lässt mich zurückprallen. In Gedanken nenne ich ihn Nase, weil er immer spricht, als würde er sie sich zuhalten.

Obwohl ich das Laufen gewohnt bin, halte ich mir keuchend die Seite. Sicher sind dieses verfluchte Bernsteingetränk und der Schlafmangel daran schuld! Für eine Bodenbotin im letzten Jahr mache ich bestimmt einen tollen Eindruck.

»Und?«, fragt er mit seiner nasalen Stimme. »Welche Ausrede hast du diesmal?« Mit verschränkten Armen mustert er mich voller Verachtung. Er ist vielleicht ein paar Jahre älter als Ronan. So Mitte Zwanzig. Seine Haare scheinen noch nie einen Kamm gesehen zu haben und seine Augen sondieren stets unruhig die Umgebung. Ob sie einen Kamm suchen? Ich habe Mühe, mir ein Kichern zu verkneifen.

»Ich -«

»Ach, weißt du was? Ich will’s gar nicht hören. Mach endlich deine Arbeit!« Er reicht mir meinen Routenplan und wendet sich ab.

Meine Erleichterung darüber, ohne Strafe davon gekommen zu sein, löst sich in Luft auf, als ich die eingezeichnete schwarze Linie in der Stadtkarte verfolge.

Sie führt mich an den Rand der Norm. Direkt angrenzend zur Rotte. Aus Frustration zerknülle ich den Plan, bereue es aber im selben Moment. »So weit am Rand? Er schickt mich an die Grenze zur …« Ich unterdrücke einen Schwall Flüche und streiche meinen Plan wieder glatt.

Darf er mich überhaupt dahin schicken, obwohl ich noch in der Ausbildung bin? Wahrscheinlich muss er das irgendwann sogar. Dismas bewegt sich in einer Grauzone, denn der Rand der Norm ist noch lange nicht die Rotte.

Sich zu beschweren hätte keinen Sinn, also mache ich mich auf den Weg. In die Norm gelange ich ohne Probleme, immerhin komme ich aus der Güte und trage zudem mein Bodenboten-Abzeichen. Es ist rund, wie das Kuriergebäude selbst, und ein K prangt in der Mitte.

Als ich eine Stelle nahe der Rottegrenze erreiche, lehne ich mich erstmal an eine Hauswand und studiere schlecht gelaunt meine Route. Von hier habe ich einen guten Blick. Ich sehe den großen Torbogen, durch den man in die Unterschicht gelangt. Der in die Mauer eingelassene Durchgang ist riesig und dunkel und kommt mir bedrohlich vor.

Die Bezirke werden durch ringförmig angelegte Mauern getrennt, die alle gerade so hoch sind, dass man nicht darüber klettern kann. Oben drauf befindet sich zur Sicherheit noch eine Menge Stacheldraht.

Pro Ring gibt es acht Grenzübergänge. An diesem hier stehen sechs Stifter. Vier von ihnen kontrollieren die Leute, die in die Norm wollen, die anderen zwei sind dafür zuständig, diejenigen zu erfassen, die in die Rotte gehen. Das Statement ist klar: Wer in die bessere Schicht will, muss sich auf stärkere Kontrollen gefasst machen.

Die breite Straße, durch die später auch die Parade ziehen wird, trennt mich noch vom Übergang zur Rotte. Und diesen Sicherheitsabstand halte ich bewusst ein.

Nach ein paar Minuten habe ich mir die Route eingeprägt und verstaue das Blatt in meiner Tasche.

Der Riemen drückt wirklich sehr angenehm in meine Schulter.

Meine Laune ist im Keller.

Ich zwinge mich, gelassen am Grenzübergang vorbeizugehen. Am Gründungstag dürfen Rotter ihren Ring nicht mehr verlassen. Wenn die Parade später hier und an allen anderen Grenzen zur Rotte vorbeikommt, wird es nur so wimmeln von Rottern, die einen Blick auf die Regentin erhaschen wollen. Dabei wird es viele geben, die voller Furcht vor ihrem Regime sind, andere voller Zorn über die Verhältnisse, in denen sie leben müssen, und wieder andere werden voller Hoffnung sein. Sie denken, dass sich irgendwann etwas an ihrer Situation ändern könnte. Dass sich das Blatt für sie wenden wird.

Noch nie habe ich gehört, dass jemand aus der Rotte wieder herauskam. Man kann von der Norm in die Güte aufsteigen - angeblich. Aber wenn du einmal bis ganz nach unten degradiert wurdest, hast du deine Chance auf einen Aufstieg vertan.

Mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen, als ich an Melinda denke. Wir sind seit der ersten Klasse zusammen in die Schule gegangen, saßen immer nebeneinander. Wir haben sogar im selben Haus gewohnt und waren die besten Freundinnen. Bis vor drei Jahren, kurz vor unserem Abschluss. An einem Tag im August kam sie nicht zur Schule.

Ich dachte, sie wäre krank, doch als ich nachmittags zurückkam, standen so viele Stifter vor unserem Haus, dass ich sie gar nicht alle zählen konnte. Auch Melindas Eltern waren da, festgenommen und mit Blutergüssen auf Armen und Wangen. Besonders Melindas Vater sah schlimm aus. Blut lief aus einer Wunde an seiner Schläfe, seine Unterlippe war aufgeplatzt, eines seiner Augen zugeschwollen.

Ich weiß noch, dass ich ein paar Meter entfernt stehen geblieben bin und nur gestarrt habe. Nicht fähig mich zu bewegen. Die Eltern meiner besten Freundin haben mich gesehen und stumm den Kopf geschüttelt. Dann war da plötzlich Melinda. Sie wurde von zwei Stiftern aus dem Haus und die Treppe hinunter gezerrt, wehrte sich mit Schreien, mit Tritten.

Sie biss in die Arme der Stifter, beschimpfte sie und spuckte. So hatte ich sie noch nie erlebt. Irgendwann trafen sich unsere Blicke und Melinda verstummte. Unendliche Angst und Trauer standen ihr ins Gesicht geschrieben und sie sagte ein Wort. Ein einziges, kleines Wort: »Lauf.«

Und ich lief. Wie in Trance.

Bis ich sie wieder schreien hörte. Ich drehte mich um. Einer der beiden Stifter hatte sie losgelassen und hob seinen Schlagstock. Ein dumpfer Laut war zu hören, als er ihn gegen ihren Kopf donnerte.

Das nächste Geräusch dröhnte in meinen Ohren.

Es war das von Melindas Kopf, der hart auf der Kante der letzten Stufe vor unserem Haus aufschlug.

Die letzte Stufe. Sie verfolgt mich seit drei Jahren, bewirkt, dass sich mein Magen verkrampft.

Melindas Augen waren weit aufgerissen. So viel Blut. Die verzweifelten Schreie ihrer Eltern erschütterten mein ganzes Sein.

So schnell ich konnte, bin ich weggerannt, und hab mich erst nach einigen Stunden nach Hause getraut.

Später habe ich erfahren, dass sie in die Rotte verbannt wurden. Die ganze Familie. Der Grund für die Degradierung war, dass Melindas Vater schwer krank geworden war. So krank, dass er seinem Beruf in der Metallmanufaktur nicht mehr nachgehen konnte. Eine Zeit lang gelang es ihm, das zu vertuschen. Aber irgendjemand muss ihn bei seiner Arbeitsstelle verpfiffen haben. Kannst du nicht arbeiten, bist du wertlos für das System. Bist du wertlos für das System, ist dein Platz in der Rotte.

Seither habe ich nichts mehr von Melindas Eltern gehört. Ich schäme mich, sie nach dem grausamen Tod ihrer Tochter nie besucht zu haben. Schon damals hatte ich schreckliche Angst vor der Rotte und dass sie das Leben meiner besten Freundin gekostet hat, macht es mir noch schwerer, an diesem Tor vorbei zu gehen.

Einige Leute stehen an, um in die Rotte zu gelangen. Ob sie heute kontrollieren, weil Gründungstag ist? Ich sehe eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn an der Hand. So verkrampft wie sie zudrückt, tut sie ihm bestimmt weh, doch er starrt nur gebannt auf die Stifter.

»Wieso werden wir kontrolliert? Ich meine, wir gehen doch bloß in die Rotte«, höre ich die Frau sagen, als ich hinter den Anstehenden vorbeigehe.

»Zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen aufgrund der heutigen Parade«, antwortet der Stifter knapp und ich höre deutlich seinen genervten Tonfall heraus.

Also habe ich richtig getippt.

Tief durchatmen. Fauna, du schaffst das. Was soll schon passieren?

Nichts, außer dass ein verrückter Irrer aus der Rotte zu dir laufen und dir eine Kanüle voll Blei in den Arm rammen könnte.

Wenn’s sonst nichts ist.

Ein grässlicher Gestank reizt meine Nasenschleimhaut. Wo kommt der nur her?

Die Antwort erhalte ich schneller als mir lieb ist, als ich einer Gruppe Kanalarbeitern ausweichen muss. Ihre dunkelgrauen Latzhosen sind von oben bis unten verdreckt und ihre Stiefel geben bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch von sich. Die meisten von ihnen haben nicht einmal Schnürsenkel. Klar, dass das einer der niederen, schlecht bezahlten Berufe ist, die nur Rotter ausüben. Mit meinem Blick verfolge ich sie und sehe, dass sie ebenfalls durch die Grenze müssen, an der die Frau mit ihrem Kind angestanden hat.

Ich beschleunige meine Schritte und vergrößere den Abstand zu ihnen. Hoffentlich geht der Tag schnell vorbei.

Ich wusste schon, warum ich diesen Bezirk der Stadt gemieden habe. So nahe an der Rotte ist es fast, als wäre ich mittendrin. Na ja, jedenfalls stelle ich es mir so vor.

Laut Plan muss ich die Nächste rechts. Ich biege ab und wäre beinahe über ein Bündel Stoff gestolpert. Doch dann bewegt es sich und ich erkenne, dass es ein Mensch ist. Der Größe nach zu urteilen wohl ein Kind.

Meine Furcht, an einer Stelle länger stehen zu bleiben als nötig, siegt über das Mitleid, das ich für den Kleinen empfinde und haste vorüber. Und endlich, ein paar Meter weiter, bin ich an der ersten Adresse.

Ich krame in meiner Tasche nach dem Arbeitsheft, in dem steht, dass ich einen Umschlag übergeben muss. Diesen habe ich schnell parat, atme noch einmal tief durch und klopfe an.

Als sich die Tür öffnet und eine alte Frau vor mir steht, erlaube ich mir ein klein wenig Entspannung.

»Guten Tag, Kurierdienst!«, stelle ich mich extra laut vor. Keine Ahnung, ob sie noch gut hören kann.

Abwartend sieht sie mich an.

»Post für Sie.«

Die Dame nimmt den Umschlag kommentarlos entgegen und schaut ihn einige Sekunden lang verwirrt an.

»Stimmt etwas nicht?«, frage ich. Meine Arbeit wäre getan, aber irgendetwas an ihrer Haltung und an der Art, wie sie den Brief ansieht, hält mich davon ab, einfach zu gehen.

»Ja, ich habe meine Brille verloren und frage mich nun, ob Sie vielleicht …« Die alte Frau spricht ihren Satz nicht zu Ende, aber ich weiß auch so, worauf sie hinauswill. Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, schließlich geht mich der Inhalt der Sendungen nichts an.

Trotzdem kann ich die arme Alte nicht einfach so hier stehen lassen. Langsam nehme ich ihr den Umschlag aus der Hand und öffne ihn. Nur ein einzelnes Blatt Papier liegt darin. Ich ziehe es heraus, entfalte es und beginne damit, es ihr vorzulesen. Allerdings nur so laut, dass es sonst keiner hört, sie mich aber hoffentlich noch verstehen kann.

»Liebste Gwenn, sie haben mich erwischt. Wir sehen uns drüben. In Liebe, dein Edgar.«

Erst als Tränen in die Augen der Frau treten, wird mir der Inhalt der Worte bewusst, die ich da gerade vorgelesen habe. Wird ihr Mann hingerichtet? Oder noch schlimmer, verbannt?

Doch dann zuckt beinahe unmerklich einer ihrer Mundwinkel nach oben und für einen kurzen Moment glaube ich, ein Lächeln zu sehen.

Unmöglich, oder? Freut sie sich, dass ihr Mann fort ist?