Zero Day - David Baldacci - E-Book
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David Baldacci

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Beschreibung

Spannung, Action, Nervenkitzel

John Puller gilt als der beste Ermittler der amerikanischen Militärpolizei. Gemeinsam mit der Polizistin Samantha Cole soll er den grausamen Mord an einer Familie im ländlichen Virginia klären. Doch bald tauchen weitere Leichen auf und weisen auf ein Komplott von gigantischen politischen Ausmaßen hin, das die Sicherheit ganz Amerikas gefährdet.

Ein Geheimdienstmitarbeiter ist mitsamt seiner Familie im ländlichen Virginia grausam ermordet worden. John Puller, Mitte 30, hochdekorierter Army-Veteran und nun Spezialermittler der Militärpolizei, wird auf den Fall angesetzt. Die sympathische Kriminalbeamtin vor Ort, Samantha Cole, hilft ihm, das Umfeld zu begreifen, das durch den Kohletagebau ökologisch zerstört und sozial verwahrlost ist. Cole hat – wie auch Puller – mit familiären Dämonen zu kämpfen. Schon bald stößt das Ermittlerpaar auf weitere Leichen, auch auf sie selbst wird ein tödlicher Anschlag verübt. Im Zentrum all der Verbrechen scheint ein geheimnisvoller gigantischer Regierungsbau zu stehen, der vor Jahrzehnten verlassen und mit einer ein Meter dicken Betonkuppel überzogen wurde. Was ist dort damals geschehen? Und wer hat ein so mörderisches neues Interesse daran entwickelt? Der Fall wird immer verwickelter, nur eines ist bald klar: Die Sicherheit ganz Amerikas steht auf dem Spiel.

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DAVID BALDACCI

ZERO DAY

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Zero Day bei Grand Central Publishing / Hachette Book Group, Inc., New York
Copyright © 2011 by Columbus Rose, Ltd. Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/ostill Redaktion: Wolfgang Neuhaus

 

Zum Andenken an meine Mutter

und meinem Freund

Charles »Chuck« Betack gewidmet

 

 

1

Die Kohlenstaubwolke, die sich tief in Howard Reeds Lunge geätzt hatte, brachte ihn beinahe dazu, das Postfahrzeug an den Straßenrand zu lenken und sich auf das verdorrte Gras zu erbrechen. Jedenfalls musste er krampfhaft würgen, husten und spucken. Er trat aufs Gaspedal und raste an den Lkw-Pisten vorüber, auf denen gewaltige Kipplaster rumpelten und schwarzen Grus in die Luft bliesen, als würden sie glühendes Konfetti streuen. Die Luft war mit Schwefeldioxid gesättigt, weil eine Kohlenstaubhalde Feuer gefangen hatte, wie es häufig geschah. Die Gase stiegen in die Atmosphäre, wo sie mit dem Sauerstoff reagierten und Schwefeltrioxid bildeten, das an Wassermoleküle andockte und eine Verbindung schuf, die später als giftiger Säureregen auf die Erde fiel. Nichts davon durfte als verlässliche Rezeptur für eine harmonische Umwelt gelten.

Reed klammerte die Hände fest an die Speziallenkung, sodass sein achtzehn Jahre alter Ford mit dem ratternden Auspuff und dem knirschenden Getriebe auf dem rissigen Asphalt die Spur hielt. Das Postfahrzeug war sein Privatwagen und so umgebaut worden, dass Reed es vom Beifahrersitz aus lenken und auf seiner Strecke unmittelbar neben den Briefkästen halten konnte. Die Vorrichtung, die diese Art des Lenkens ermöglichte, besaß Ähnlichkeit mit einem Riemenantrieb. Dank dieser Apparatur konnte Reed den Wagen von der rechten Fahrzeugseite aus steuern, bremsen und beschleunigen.

Nachdem er Landpostbote geworden war und das Auto auf der »falschen« Seite zu lenken gelernt hatte, kam er auf die Idee, nach England zu reisen und seine frisch erworbene Fähigkeit auf den dortigen Straßen zu erproben, wo alle Fahrzeughalter die linke Straßenseite benutzten. Er hatte erfahren, dass diese Besonderheit auf die Zeiten der Raufhändel zurückging, als ein Mann seinen Degen stets an der einem Angreifer zugewandten Seite trug. Reeds Ehefrau hatte ihn einen Idioten geschimpft und erklärt, er würde in der Fremde höchstwahrscheinlich abkratzen.

Seine Strecke führte am Berg vorbei, beziehungsweise an der Stelle, wo der Berg sich einst erhoben hatte, bevor er von der Trent Mining & Exploration Company gesprengt worden war, um an die darunter befindlichen reichen Kohleflöze zu ge­langen. Weite Bereiche der Umgebung sahen jetzt wie die Mond­oberfläche aus, kahl und übersät von Kratern. Berg­­kuppen­tagebau hieß das Verfahren. Reed hielt die Bezeichnung Landschaftsverwüstung für angebrachter.

Doch hier in West Virginia bot der Kohleabbau den Großteil der gut bezahlten Arbeitsplätze. Also jammerte Reed nicht, wenn Flugascheschlamm aus einem Rückhaltebecken sein Haus überschwemmte. Auch nicht, wenn das Trinkwasser sich schwarz verfärbte und nach faulen Eiern stank. Und ebenso wenig, weil das Dasein in einer dermaßen vergifteten Umgebung ihn eine Niere gekostet und Leber und Lunge geschädigt hatte. Man hätte ihn als Gegner der Kohleindustrie und damit als arbeitsplatzfeindlich gebrandmarkt. Und auf zusätz­lichen Ärger konnte Reed verzichten.

Er bog von der Landstraße ab, um das letzte Poststück des Tages dem Empfänger auszuhändigen, ein Einschreibepäckchen. Reed hatte geflucht, als er die Post eingeladen und das Päckchen gesehen hatte. Es bedeutete, dass er mit einem anderen Menschen in Kontakt treten musste. Dabei wünschte er sich momentan nichts anderes, als schleunigst zur Dollar Bar zu flitzen, wo an Montagen der Krug Bier nur 25 Cent kostete. Dort konnte er dann auf seinem Stammplatz, einem verschlissenen kleinen Barhocker, an der Mahagonitheke sitzen und zu vergessen versuchen, dass er später nach Hause zu seiner Frau musste, die seine Alkoholfahne riechen und ihm während der nächsten Stunden Vorhaltungen machen würde.

Er fuhr auf den Kiesweg. Die Gegend hier war einmal ziemlich hübsch gewesen; auf jeden Fall, wenn man zurück bis in die 1950er-Jahre blickte. Jetzt war sie nicht mehr so schön. Nirgends zeigte sich eine Menschenseele. In den Gärten waren keine Kinder zu sehen, als wäre es zwei Uhr nachts und nicht vierzehn Uhr nachmittags. An einem heißen Sommertag müssten sich die Kinder im Freien aufhalten, unter dem Wasser der Sprinkler­anlage herumtollen oder Fangen spielen. Doch Reed wusste, dass die Kinder heutzutage anders waren. Sie hockten in klimatisierten Zimmern und beschäftigten sich mit dermaßen gewalttätigen und von Blut triefenden Computerspielen, dass Reed seinen Enkeln verboten hatte, so etwas ins Haus zu holen.

Jetzt quollen die Gärten über von Müll und verdrecktem Plastikspielzeug. Verrostete alte Fords und Dodges standen auf Betonklötze aufgebockt. Putz bröckelte von den rissigen Hauswänden. Sämtliche Holzflächen hätten frisch gestrichen werden müssen, und Dächer sackten ein, als übte Gott selbst von oben Druck auf sie aus. Das war so traurig, so erbarmungswürdig, dass Reed sich umso mehr nach einem Bier sehnte, denn in seiner Wohngegend sah es genauso aus. Er wusste, dass einige Privilegierte dank der Kohleflöze ein Vermögen verdienten, aber keiner von ihnen wohnte in einer Gegend wie dieser.

Reed nahm das Päckchen aus dem Postkorb und schlurfte zum Haus. Das heruntergekommene zweistöckige Gebäude hatte eine Seitenwandung aus Kunststoff. Die weiße, verkratzte Eingangstür bestand aus Leichtbauplatten; davor war eine Ganzglastür angebracht. An der Veranda gab es eine Rollstuhlrampe aus Sperrholz. Die Sträucher vor dem Haus waren verwildert und im Absterben begriffen; ihre Zweige hatten sich gegen die Außenwandung gedrückt und sie eingebeult. Vor Reeds schwarzem Ford parkten zwei Autos auf dem Kies: ein Chrysler Minivan und ein brandneuer Lexus.

Reed ließ sich einen Moment Zeit, um das japanische Auto zu bewundern. So ein Schlitten würde ihn wohl mehr als ein Jahresgehalt kosten. Andächtig berührte Reed den blauen Metallic­lack. Am Innenspiegel sah er eine Fliegerbrille hängen. Auf der Rückbank lagen eine Aktentasche und ein grünes Jackett. Die Nummernschilder beider Fahrzeuge gehörten zu Virginia.

Reed ging weiter, umrundete die Rampe, betrat die unterste Stufe der Eingangstreppe, schleppte sich drei Blöcke Guss­beton hinauf und klingelte. Er hörte das Bimmeln aus dem Haus hallen.

Er wartete zehn Sekunden lang. Zwanzig. Seine Gereiztheit wuchs. Er läutete ein zweites Mal. »Hallo? Hier ist die Post. Ich bringe ein Einschreibepäckchen.« Seine Stimme, die er sonst während des gesamten Arbeitstages kaum benutzte, klang in seinen eigenen Ohren fremd, als spräche ein anderer. Reed senkte den Blick auf das flache Päckchen im DIN-A4-Format. Daran befestigt war das Formular, das unterschrieben werden musste.

Nun komm schon, es ist tierisch heiß, und die Dollar Bar wartet auf mich.

Reed schaute auf den Paketschein. »Mr. Halverson?«, rief er.

Er kannte den Mann nicht, aber der Name war ihm von früheren Zustellungen geläufig. In ländlichen Gegenden freundeten manche Postzusteller sich sogar mit den Empfängern an. Reed gehörte nicht zu der Sorte. Er wollte sein Bier, keinen Small Talk.

Er klingelte ein drittes Mal und klopfte mit den Finger­knöcheln zweimal kurz an die Glastür. Mit der Hand wischte er sich einen Schweißtropfen fort, der ihm in den von der Sonne geröteten Nacken rann. Sonnenbrand war sein Berufsrisiko, weil er sich den ganzen Tag bei offenem Wagenfenster heißem Sonnenschein aussetzte. In seinen Achselhöhlen sammelte sich Schweiß und tränkte das Hemd. Er fuhr das Auto nie mit geschlossenen Fenstern, sondern verzichtete auf die Klimatisierung. Sprit war teuer genug, ohne dass man ihn verschwendete.

Nun hob er die Stimme. »Hallo, hier ist Ihr Postzusteller. Ich brauche eine Unterschrift. Wenn die Sendung retourniert wird, können Sie wahrscheinlich ewig darauf warten.« Er konnte die Hitze in der Luft flimmern sehen. Ihm war ein bisschen schwindlig. Allmählich wurde er zu alt für diese Scheiße.

Erneut streifte sein Blick die beiden Fahrzeuge. Jemand musste im Haus sein. Er trat von der Tür zurück und legte den Kopf in den Nacken. Aus den Dachfenstern schaute niemand herunter. Ein Fenster allerdings stand offen.

Reed klopfte nochmals an.

Endlich hörte er, dass jemand kam. Die Holztür war einen Spaltbreit geöffnet, wie er jetzt erst bemerkte. Die Geräusche näherten sich und verstummten. Wegen seiner Schwerhörigkeit bemerkte Reed nicht den sonderbaren Klang der Schritte.

»Post«, rief er. »Ich brauche eine Unterschrift.« Er leckte sich über die trockenen Lippen. Er sah schon einen Halbliterkrug Bier in seiner Hand, konnte es sogar schon schmecken.

Mach die verdammte Tür auf.

»Möchten Sie das Päckchen entgegennehmen?«, erkundigte er sich. Mir soll es egal sein. Ich kann es auch in den Hohlweg schmeißen. Wäre nicht das erste Mal.

Endlich öffnete sich die Tür ein paar Zentimeter weiter. Reed zog die Glastür auf und streckte die Hand mit dem Päckchen aus. »Haben Sie einen Kuli?«, fragte er.

Als die Holztür noch weiter aufschwang, blinzelte er verdutzt. Niemand war zu sehen. Es schien, als hätte sich die Tür von allein geöffnet. Reed senkte den Blick. Ein Zwergcollie beäugte ihn. Die spitze Schnauze und die buschigen Hinterbeine schwenkten von einer Seite zur anderen. Offenbar hatte das Tier die Tür mit der Nase aufgeschoben.

Reed, obwohl Postbote, hatte Hunde gern und hielt selbst zwei. »Na, Freundchen?« Er ging in die Hocke. »Hallo.« Er kraulte dem Hund die Ohren. »Ist jemand zu Hause? Oder willst du die Empfangsbescheinigung unterschreiben?«

Als Reed die Nässe im Fell des Tieres spürte, dachte er zuerst an Hundepisse und zog die Hand ruckartig zurück. Doch als er auf den Handteller blickte, sah er eine rote, klebrige Flüssigkeit, die vom Körper des Collies stammte.

Blut.

»Bist du verletzt, Kleiner?« Er tastete den Hund ab. Da war noch mehr Blut, aber keine sichtbare Wunde. Reed schüttelte verwundert den Kopf. »Zum Teufel«, murmelte er, »was hat das zu bedeuten?« Er richtete sich auf und legte eine Faust auf den Türknauf. »Hallo? Ist da jemand? Hallo?«

Unschlüssig ließ Reed den Blick schweifen. Dann schaute er wieder auf den Hund. Das Tier sah mit traurigen Augen zu ihm hinauf. Erst jetzt wurde Reed bewusst, dass der Hund kein einziges Mal gebellt hatte. Seltsam. Reeds zwei Kläffer schlugen schon Alarm, wenn jemand vor der Haustür stand.

»Scheiße«, entfuhr es ihm. Dann rief er noch einmal: »Hallo? Ist alles in Ordnung?«

Wieder keine Antwort. Kurz entschlossen schob Reed sich ins Haus. Drinnen war es warm, beinahe schwül. Ein unangenehmer Geruch ließ ihn die Nase rümpfen. »Hallo? An Ihrem Hund ist Blut. Ist hier alles in Ordnung? Melden Sie sich doch.«

Er wagte sich noch ein paar Schritte vor, durchquerte den schmalen Vorraum und lugte im Flur um die Ecke in ein kleines Wohnzimmer.

Und erstarrte.

Dann warf er sich herum und rannte los, würgend, keuchend.

Einen Moment später flog die hölzerne Haustür weit auf. Der Türgriff schlug eine Beule in die Trockenmauer. Ein Fußtritt öffnete die Glastür mit solcher Wucht, dass sie gegen das Metallgeländer an der linken Seite der Veranda prallte und das Glas zerbarst. Von der obersten Stufe der Eingangstreppe sprang Howard Reed geradewegs auf den Kies der Zufahrt. Tief kerbten seine Absätze sich in den Untergrund. Er schwankte, sank auf die Knie und erbrach das wenige, das er im Magen hatte. Keuchend raffte er sich hoch, taumelte zum Auto, hustete und würgte, schrie den Schock und das Grauen heraus.

An diesem Tag sollte Howard Reed es nicht mehr bis in die Dollar Bar schaffen.

 

2

Aus mehreren hundert Metern Höhe blickte John Puller durch das Fenster auf den Bundesstaat Kansas. Er neigte sich näher ans Fenster heran, sodass er senkrecht nach unten schauen konnte. Der Kurs zum Flughafen KCI führte über Missouri hinweg und von Westen nach Kansas hinein.

Die Düsenmaschine überquerte soeben ein Regierungsgrundstück, auf dem mehrere Gefängnisgebäude standen, sowohl Militär- als auch Bundesgefängnisse, in denen Tausende Häftlinge einsaßen und Gelegenheit hatten, über den Verlust ihrer Freiheit nachzudenken, der für viele auf Lebenszeit galt.

Puller blinzelte und hob die Hand, um die Augen gegen das grelle Sonnenlicht abzuschirmen. Soeben überflogen sie die alte USDB-Haftanstalt des amerikanischen Militärs, die United States Disciplinary Barracks, auch bekannt unter der Bezeichnung »Zwingburg«. Während das alte Gefängnis Ähnlichkeit mit einer mittelalterlichen, aus Stein und Ziegeln errichteten Festung hatte, ähnelte der neue Knast eher einem College. Aller­dings nur so lange, bis man den doppelten, vier Meter hohen Drahtzaun sah, der die Anlage umschloss.

Das Bundesgefängnis Leavenworth lag mehr als sechs Kilometer weiter südlich. In den USDB-Gefängnissen brachte man ausschließlich Männer unter. Weibliche Militärstrafgefangene lieferte man in den Marineknast in San Diego ein. Die Häftlinge in Leavenworth waren von Militärgerichten verurteilt worden und saßen wegen banaler Vergehen ein, beispielsweise Verstößen gegen die Uniformvorschriften des Militärs. In die USDB-­Gefängnisse hingegen kamen nur Straffällige, die zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt worden waren oder denen man Verbrechen gegen die Innere Sicherheit nachgewiesen hatte.

Innere Sicherheit. Das war John Pullers Metier.

Das Fahrwerk der Düsenmaschine wurde ausgefahren, und sie schwebte hinunter auf den Kansas City Airport, setzte sauber auf und rollte über den Asphalt.

Dreißig Minuten später stieg Puller in einen Mietwagen, verließ das Flughafengelände und lenkte das Fahrzeug westwärts durch eine grüne Hügellandschaft in Richtung Kansas. Die Luft war still und heiß, doch Puller ließ die Klimaanlage aus. Er bevorzugte unverfälschte Naturluft, ob heiß oder nicht.

Barfuß maß Puller genau eins achtundachtzig. Das wusste er deshalb so gut, weil sein Dienstherr, die Armee der Vereinigten Staaten, ihr Personal sehr genau maß. Er wog dreiundneunzig Kilo. Nach der Größe-Gewicht-Alter-Tabelle der Armee hätte man ihm bei seinem Alter von fünfunddreißig Jahren fünf Kilo Übergewicht vorwerfen können. Aber niemand, der sich John Puller anschaute, wäre auf diesen Gedanken verfallen. Falls es an ihm ein Gramm Fett gab, hätte man es mit der Lupe suchen müssen.

Puller war größer als die meisten Infanteristen und fast alle Armee-Ranger, mit denen er schon gedient hatte. Das hatte Vor- und Nachteile. Er hatte lange, durchtrainierte Muskeln von außergewöhnlicher Kraft und Belastbarkeit. Die Schattenseite war, dass er ein weit größeres Ziel bot als der Durchschnitt.

Auf dem College war er ein erstklassiger Sportler gewesen, und er machte noch heute den Eindruck, als könnte er jeden Samstag auf dem Spielfeld antreten. Allerdings hatten ihm schon immer die Schnelligkeit und Beweglichkeit gefehlt, die man benötigte, um es bis in die National Football League zu schaffen; aber das war auch nie sein Ehrgeiz gewesen. John Puller hatte es immer nur dazu gedrängt, die Uniform der US Army zu tragen.

Heute allerdings trug er keine Uniform. Er zog sie nie an, wenn er ein Militärgefängnis aufsuchte.

Er fuhr an einem Hinweisschild vorbei, das auf die einstige Route der Lewis-und-Clark-Expedition verwies. Dann kam die blaue Brücke in Sicht. Nachdem er sie überquert hatte, befand er sich in Kansas, kurz vor Fort Leavenworth.

Schließlich hielt er am Hauptkontrollposten, wo ein Militärpolizist sich seinen Ausweis anschaute und das Fahrzeugkennzeichen notierte. Dann salutierte der Wachposten vor Ober­stabsfeldwebel John Puller. »Danke, Sir«, sagte er schneidig. »Sie können weiterfahren.«

Puller fuhr die Grant Avenue entlang, während aus dem Autoradio ein Eminem-Song wummerte, und betrachtete die Überreste der alten Zwingburg. Man sah noch Überbleibsel der Drahtkuppel, die das Gefängnis früher überspannt hatte. Sie war damals angebracht worden, um zu verhindern, dass Insassen per Hubschrauber befreit wurden. Die Army versuchte an alles zu denken.

Nach knapp drei Kilometern erreichte er die neue USDB-Vollzugsanstalt. Irgendwo im Hintergrund gellte der Pfiff einer Eisenbahn. Vom nahe gelegenen Sherman-Armeeflugfeld hob eine Cessna ab. Ihr bulliger Bug und die dicken Tragflächen kämpften mit Seitenwind.

Puller parkte und ließ den Großteil seiner persönlichen Gegenstände im Wagen, auch seine Dienstwaffe, die SIG P228, die bei der Armee M11 hieß. Während des Fluges hatte er die Waffe in einem Hartschalenköfferchen aufbewahrt. Eigentlich ­sollte er sie jederzeit bei sich tragen, doch Puller kam es wenig ratsam vor, ein Gefängnis bewaffnet zu betreten, ob er nun dazu berechtigt war oder nicht. Im Gebäude müsste er die Pistole sowieso einschließen lassen. Aus offensichtlichen Gründen durfte niemand Waffen in jene Bereiche mitnehmen, in denen sich Strafgefangene aufhielten.

Am Scannerportal stand ein gelangweilter junger Militär­polizist Wache. Obwohl Puller wusste, dass es so etwas nicht gab, hatte er den Eindruck, der Soldat wäre schnurstracks aus einem Umerziehungslager für Jugendliche auf diesen Posten geschickt worden.

Puller legte ihm den Führerschein und die übrigen Papiere vor. Der pausbackige MP beäugte die Ausweiskarte und den Dienstausweis, der John Puller als Spezialagenten der CID identifizierte, der Militärstrafverfolgungsbehörde der US Army. Auf dem Ausweis bildete der sitzende Adler mit dem nach rechts gewandten Kopf den Mittelpunkt. Seine großen Klauen ruhten auf dem Oberrand des Wappenschilds. Das sichtbare Auge hatte einen bedrohlichen Blick, und der kräftige Schnabel schien bereit zum Zuhacken zu sein.

Der MP salutierte und heftete den Blick auf den hünenhaften, breitschultrigen Mann, den er vor sich sah.

»Sind Sie aus dienstlichem Anlass hier, Sir?«

»Nein.«

»John Puller junior? Sind Sie verwandt mit …?«

»Er ist mein Vater.«

Auf dem Gesicht des jungen MP erschien ein beinahe ehrfürchtiger Ausdruck. »Jawohl, Sir. Ich wünsche ihm alles Gute, Sir.«

Die Armee der Vereinigten Staaten konnte sich mit zahlreichen legendären Kriegshelden brüsten. John Puller senior nahm einen Platz weit oben an der Spitze dieser Liste ein.

Puller trat in die Erfassung des Magnetometers. Es piepte. Puller seufzte. Er fiel jedes Mal auf – das Messgerät beanstandete seinen rechten Unterarm. »Titanstab«, sagte Puller, rollte den Ärmel hoch und zeigte die Narbe.

Beim zweiten Mal schlug der Apparat wegen des linken Fußgelenks an. Auf dem Gesicht des MP lag eine stumme Frage, als er Puller erneut anschaute. »Eine Platte mit Schrauben«, erklärte Puller. »Soll ich das Hosenbein anheben?«

»Wenn Sie so freundlich wären, Sir.«

Als Puller das Hosenbein hob und dann wieder rutschen ließ, entschuldigte sich der Wachposten. »Ich halte mich bloß an die Vorschriften, Sir.«

»Ich hätte Ihnen die Hölle heißgemacht, würden Sie es nicht tun.«

»Haben Sie die Verletzungen im Kampf erlitten, Sir?«, erkundigte der MP sich mit großen Augen.

»Ich habe mich jedenfalls nicht selbst angeschossen.«

Puller nahm den Autoschlüssel aus der Schale, in die er ihn gelegt hatte, und steckte Führerschein und Ausweispapiere zurück in seine Hemdtasche. Zuletzt schrieb er sich in das Besucherverzeichnis ein.

Mit einem Summen öffnete sich die schwere Verbindungstür. Nach wenigen Schritten befand Puller sich im Besuchsraum. Zurzeit empfingen drei Häftlinge ihre Besucher. Auf dem Fußboden spielten kleine Kinder, während die Männer sich leise mit ihren Ehefrauen oder Freundinnen unterhielten. Die Kinder durften nicht auf dem Schoß ihrer Väter sitzen. Zu Anfang und am Ende der Besuchszeit waren Umarmungen, Küsse und Händeschütteln erlaubt, wobei die Hände über Hüfthöhe bleiben mussten. Während der Dauer der Besuchszeit war den Insassen und Besuchern ausschließlich Händchenhalten gestattet. Sämtliche Gespräche mussten mit normaler Stimme geführt werden. Besucher durften nur mit den Häftlingen reden, zu deren Besuch sie sich angemeldet hatten. Man durfte einen Kugelschreiber oder Bleistift mitbringen, aber keine Farbfilzstifte oder Malkreide.

Letzteres Verbot, vermutete Puller, ging wohl auf irgendeine Sauerei zurück, die jemand angerichtet hatte, wahrscheinlich ein Kind. Dennoch erachtete er das Verbot als unsinnig, denn ein Bleistift oder Kugelschreiber konnte leicht als Waffe benutzt werden, während Malkreide schwerlich eine Bedrohung darstellte.

Puller wartete im Stehen und beobachtete, wie eine Frau ­einem der Häftlinge, der offenbar ihr Sohn war, aus der Bibel vorlas. Besucher durften Bücher dabeihaben, sie dem Häftling aber nicht übergeben. Auch das Aushändigen von Zeitschriften oder Zeitungen war untersagt, ebenso Nahrungsmittel. Man konnte den Häftlingen allerdings an Automaten, die in der Nähe aufgestellt waren, etwas Essbares kaufen. Den Häftlingen selbst war das nicht möglich. Vielleicht, überlegte Puller, weil es zu sehr an das normale Leben erinnert hätte, und damit sollte das Gefängnisdasein nichts zu tun haben.

Die Besuchszeit endete automatisch mit dem Verlassen des Besuchsraums. Es gab nur eine Ausnahme, die für Puller jedoch nie zur Geltung kommen konnte: Stillen. Dafür gab es eine Etage höher ein eigenes Zimmer.

Auf der anderen Seite des Besuchsraums öffnete sich eine Tür, und ein Mann in orangenem Overall kam herein. Puller blickte ihm entgegen.

Obwohl hochgewachsen, war der Mann drei Zentimeter kleiner als Puller und hatte einen schmaleren Körperbau. Dem Gesicht ließ sich eindeutig die Verwandtschaft zu Puller an­sehen. Allerdings hatte er dunkleres, längeres Haar, das an ei­nigen Stellen weiße Strähnen aufwies, die bei Puller fehlten. Beide Männer hatten ein kantiges Kinn, und der scharfe Nasenrücken hatte bei beiden eine leichte Neigung nach rechts. Die Zähne waren groß und gleichmäßig. Auf der rechten Wange hatte der Häftling ein Muttermal. Seine Augen wirkten im künstlichen Licht grün und im Sonnenschein blau.

Puller hatte an der linken Halsseite eine weitere Narbe, die bis auf den Rücken verlief. Zusätzliche Unterscheidungsmerkmale gab es am linken Bein, am rechten Arm, auf der Brust und am Rücken. Sämtliche Narben waren durch das unwillkommene Eindringen fremder Objekte entstanden, die mit hoher Geschwindigkeit gezielt abgeschossen worden waren.

Der Häftling hatte keine solchen Merkmale. Außerdem war seine Haut blass und glatt. Im Gefängnis konnte man sich keine Sonnenbräune zulegen. Pullers Haut hingegen war von brutaler Hitze und grausamer Kälte gegerbt. Die meisten Menschen hätten ihn als Mann von derbem Äußeren beschrieben, zumindest nicht als gut aussehend. An guten Tagen mochte er attraktiv wirken, oder als Mann mit interessantem Erscheinungsbild. Doch er selbst wäre niemals auf den Gedanken gekommen, sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen. Er war Soldat, kein Model.

Die Männer umarmten sich nicht. Stattdessen drückten sie sich kurz die Hand.

Der Häftling lächelte. »Schön, dich zu sehen, Brüderchen.«

Die Brüder Puller nahmen Platz.

 

 

3

»Hast du abgenommen?«, fragte John.

Sein Bruder Robert lehnte sich in den Stuhl und schlug ein langes Bein über das andere. »Die Verpflegung ist hier nicht so gut wie bei der Air Force.«

»Die Navy kriegt nur vom Besten. Die Army liegt weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Aber das hängt damit zusammen, dass sich bei Luftwaffe und Marine nur verzärtelte Weich­eier herumtreiben.«

»Habe gehört, du bist nicht mehr Oberfeldwebel, sondern zum Oberstabsfeldwebel befördert worden.«

»Ich erledige die gleichen Aufgaben wie zuvor. Bei gering­fügiger Solderhöhung.«

»Läuft alles so, wie du es willst?«

»Wie ich es will.«

Sie schwiegen. Puller schaute zur linken Seite, wo eine junge Frau die Hand eines Häftlings hielt und ihm ein paar Fotos zeigte. Zwei kleine Wuschelköpfe spielten zu Füßen der Mutter auf dem Boden. Puller richtete den Blick wieder auf seinen Bruder.

»Was sagen die Anwälte?«

Robert Puller verlagerte das Körpergewicht. Auch er hatte zu dem jungen Paar hinübergeschaut. Im Alter von siebenunddreißig Jahren war er unverheiratet und hatte keine Kinder. »Nichts mehr zu machen. Was ist mit Vater?«

Pullers Mund zuckte. »Unverändert.«

»Warst du mal wieder bei ihm?«

»Vergangene Woche«, antwortete Puller.

»Was sagen die Ärzte?«

»Das Gleiche wie deine Anwälte. Nichts mehr zu machen.«

»Grüß ihn von mir.«

»Er weiß Bescheid.«

Robert Puller zeigte eine gewisse Verärgerung. »Ist mir klar. Ist mir jederzeit klar gewesen.« Seine etwas lauter gewordene Stimme trug ihm seitens des stämmigen Militärpolizisten, der an der Wand stand, einen strengen Blick ein. »Richte ihm trotz­dem meine Grüße aus«, fügte Robert leiser hinzu.

»Brauchst du irgendwas?«

»Nichts, was du besorgen könntest. Und du musst mich nicht besuchen.«

»Das ist meine Entscheidung.«

»Sie beruht darauf, dass du dich als jüngerer Bruder unwohl fühlst und deswegen ein schlechtes Gewissen hast.«

»So ein Quatsch.«

Robert strich mit den Händen über die Tischplatte. »Hier ist es gar nicht so übel. Es ist nicht wie Leavenworth.«

»Doch, es ist. Es ist ein Gefängnis.« Puller beugte sich vor. »Hast du’s getan?«

Robert hob den Blick. »Ich habe mich schon gewundert, dass du mich noch nie gefragt hast.«

»Jetzt frage ich dich«, sagte John.

»Ich habe nichts dazu zu sagen«, gab Robert zur Antwort.

»Glaubst du, ich will dir ein Geständnis abschwatzen? Du bist schon verurteilt.«

»Ja, aber du gehörst zur CID. Ich kenne deinen Gerechtigkeitssinn. Darum möchte ich dich in keinen unlösbaren Interessen- oder Gemütskonflikt bringen.«

Puller lehnte sich zurück. »Ich würde damit fertig, keine Bange.«

»Weil du John Pullers Sohn bist. Ich kenne mich damit aus.«

»Du hast es immer als Bürde empfunden, sein Sohn zu sein.«

»Ist es denn keine?«

»Es ist das, was man daraus macht. Du bist klüger als ich. Eigentlich hätte ich gedacht, dass du dir selbst klar darüber wirst.«

»Trotzdem sind wir beide zum Militär gegangen.«

»Du hattest die Offizierslaufbahn eingeschlagen, so wie Vater. Ich bin nur im Unteroffiziersrang.«

»Und deshalb hältst du mich für klüger?«

»Du bist Atomwissenschaftler. Nuklearwaffenexperte. Ich bin bloß ein Laufbursche mit Dienstausweis.«

»Mit Dienstausweis …«, wiederholte Robert. »Wahrscheinlich kann ich von Glück reden, noch am Leben zu sein.«

»Hier ist seit neunzehnhunderteinundsechzig niemand mehr hingerichtet worden.«

»Du hast dich informiert?«

»Ich habe mich informiert.«

»Innere Sicherheit. Verrat. Doch, ich kann wahrlich damit zufrieden sein, dass man mich nur zu ›lebenslänglich‹ verknackt hat.«

»Bist du zufrieden?«

»Schon möglich.«

»Dann nehme ich an, du hast damit meine Frage beantwortet«, sagte Puller. »Brauchst du irgendwas?«

Sein Bruder versuchte zu grinsen, konnte seine innere Unruhe aber nicht verbergen. »Wieso spüre ich hinter dieser Frage eine gewisse Endgültigkeit?«

»Es ist eine einfache Frage.«

»Es geht mir gut«, lautete Roberts matte Antwort. Er machte den Eindruck, als wäre in diesem Moment all seine Kraft verpufft.

Puller musterte seinen Bruder. Als Jungs, altersmäßig zwei Lebensjahre auseinander, waren sie unzertrennlich gewesen, ebenso später, während sie als junge Männer die Uniform der Heimat trugen. Jetzt fühlte er zwischen ihnen eine Mauer, die viel höher aufragte als die Mauern, die das Gefängnis umgaben. Und er konnte nichts dagegen tun. Vor sich sah er seinen Bruder. Gleichzeitig war sein Bruder eigentlich nicht mehr da. An dessen Stelle war diese Person im orangefarbenen Overall getreten, die den Rest ihres biologischen Lebens in diesem Gebäude verbringen musste. Vielleicht blieb er sogar in alle Ewigkeit. Puller traute es dem Militär zu, sich auch darüber längst Gedanken gemacht zu haben.

»Kürzlich ist hier ein Knastbruder umgebracht worden«, sagte Robert.

Puller hatte davon gehört. »Ja, ein Kalfaktor. Schädelfraktur durch Baseballschläger auf dem Sportplatz.«

»Du hast dich informiert?«

»Ja. Hast du ihn gekannt?«

Robert schüttelte den Kopf. »Ich bin Dreiundzwanziger. Mir bleibt wenig Zeit, Bekanntschaften zu schließen.«

Dreiundzwanziger bedeutete, dreiundzwanzig Stunden des Tages allein eingeschlossen zu sein und eine Stunde lang an einer abgesonderten Örtlichkeit Bewegung haben zu dürfen.

Davon wusste Puller nichts. »Seit wann?«

Robert schmunzelte. »Du hast dich nicht informiert?«

»Seit wann?«

»Seit ich einem Vollzugsbeamten eine geknallt habe.«

»Warum?«

»Weil er etwas gesagt hat, das mir nicht gefiel.«

»Und was?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Weshalb nicht?«

»Glaub’s mir. Dir zufolge bin ich ja der klügere Bruder. Es war nicht so schlimm, dass man mir noch mehr Jahre hätte aufbrummen können.«

»Hing es mit Vater zusammen?«

»Am besten, du machst dich jetzt auf die Socken. Ich möchte nicht, dass du deinen Flieger verpasst.«

»Ich habe Zeit. Ging es um Vater?«

»Hier findet keine Vernehmung statt, Brüderchen. Du kannst mich nicht ausquetschen. Mein Militärgerichtsverfahren ist schon länger her.«

Puller senkte den Blick auf die Fußschellen, die sein Bruder tragen musste. »Verpflegen sie dich durch die Futterklappe?«

In der USDB-Vollzugsanstalt gab es keine Gitter, ausschließlich massive Türen. In Einzelhaft sitzende Sträflinge erhielten das Essen dreimal täglich durch eine Klappe in der Tür. Eine zweite Klappe in Bodenhöhe ermöglichte das Anlegen der Fußschellen, bevor man die Tür öffnete.

Robert nickte. »Ich habe wohl noch Glück gehabt, dass ich nicht zum Querulanten abgestempelt wurde. Sonst säße ich jetzt nicht hier.«

»Sie haben dir Besuchsverbot angedroht?«

»Es wird viel geredet.«

Eine Zeit lang saßen die beiden Männer stumm da.

»Es ist besser, du gehst jetzt«, sagte Robert schließlich. »Ich will noch ein paar Dinge erledigen. Ich habe reichlich Beschäf­tigung.«

»Ich komme wieder.«

»Dafür gibt es keinen Grund. Wahrscheinlich hast du eher einen Grund, darauf zu verzichten.«

»Ich richte Vater deine Grüße aus.«

Sie standen auf und schüttelten sich die Hand. Robert ­klopfte seinem Bruder auf die Schulter. »Vermisst du den Nahen ­Osten?«

»Nein. Ich wüsste niemanden, der dort gedient hat und ihn vermisst.«

»Ich bin froh, dass du heil nach Hause gekommen bist.«

»Viele von uns haben das nicht geschafft.«

»Bearbeitest du gerade interessante Fälle?«

»Eigentlich nicht.«

»Pass auf dich auf.«

»Klar.« Puller wusste, wie hohl die Floskeln waren, noch ehe er sie aussprach. »Und du auf dich.«

Er wandte sich zum Gehen. Sofort kam der Militärpolizist, um Robert abzuführen.

»He, John …«

Puller drehte sich um. Der MP hatte eine Pranke fest um Roberts linken Oberarm gelegt. Am liebsten hätte Puller die Hand weggerissen und den MP durch die Wand gerammt. »Ja?« Er erwiderte Roberts Blick.

»Nichts, Mann. Nichts weiter. Es war schön, dich wieder­zusehen.«

Puller passierte den MP am Scannerportal, der bei seinem erneuten Erscheinen Haltung annahm, und eilte die Treppe hinunter, wobei er jedes Mal zwei Stufen nahm. Als er den Mietwagen erreichte, summte das Handy. Er warf einen Blick auf das Display. Die Rufnummer gehörte dem 701. Militär­polizeiregiment in Quantico, Virginia, dem man ihn als CID-­Spezialagent zugeteilt hatte.

Er nahm den Anruf entgegen. Lauschte. In der Armee lehrte man das Zuhören mehr als das Sprechen. Deutlich mehr.

Seine Antwort fiel knapp aus. »Bin unterwegs.«

Er warf einen Blick auf die Uhr und überschlug kurz Flug- und Fahrtzeit. Die Flugstrecke von Westen nach Osten würde eine Stunde beanspruchen. »Drei Stunden und fünfzig Minuten, Sir.«

Jemand hatte in West Virginia, am Arsch der Welt, ein Blut­bad angerichtet. Eines der Opfer war ein Oberst der Armee. Dies hatte die CID auf den Plan gerufen, doch wieso man den Fall dem 701. zugewiesen hatte, blieb Puller unklar. Aber er war schließlich Soldat. Er hatte einen Befehl erhalten, und den befolgte er.

Er würde zurück nach Virginia fliegen, seine Ausrüstung einladen, sich die dienstlichen Informationen holen und dann schleunigst nach West Virginia aufbrechen. Aber seine Gedanken kreisten nicht um den ermordeten Oberst, sondern um den letzten Gesichtsausdruck seines Bruders.

Die Erinnerungen an seinen Bruder, so wie er ihn in vergangener Zeit und an anderen Orten gekannt hatte, wanderten langsam durch seine Gedanken. Robert hatte als Major in der Luftwaffe gedient – geradezu ein Überflieger, was die Karriere betraf – und hatte beim Überwachen des Atomwaffenarsenals der USA geholfen. Damals galt er als sicherer Anwärter auf einen Stern, vielleicht zwei. Und jetzt war er ein abgeurteilter Landesverräter und würde die USDB-Vollzugsanstalt nicht verlassen, bevor er seinen letzten Atemzug getan hatte.

Aber er war sein Bruder. Daran konnte nicht einmal das US-Militär etwas ändern.

Kurz nach Ende des Telefonats ließ Puller den Motor an und legte den ersten Gang ein. Jedes Mal wenn er hier war, ließ er einen kleinen Teil von sich selbst zurück. Vielleicht kam einmal der Tag, an dem von ihm nichts mehr übrig blieb.

Noch nie hatte er Gefühle gezeigt. Er hatte nicht geweint, wenn rings um ihn auf dem Gefechtsfeld Männer fielen und starben, häufig auf entsetzliche Weise. Allerdings hatte er sie auf ähnlich entsetzliche Weise gerächt. Nie war er mit unbeherrschtem Zorn in den Kampf gezogen, denn Zorn wirkte sich als Schwäche aus. Und Schwäche führte zu Fehlern. Als man seinen Bruder wegen Hochverrats aburteilte, hatte er keine Träne vergossen. In der Familie Puller weinten die Männer nicht.

So lautete die erste Regel.

Die Männer der Familie Puller verhielten sich jederzeit ruhig und beherrscht, weil sich dadurch die Wahrscheinlichkeit des Sieges erhöhte.

Das war die zweite Regel.

Alle sonstigen Regeln betrachtete man im Wesentlichen als überflüssig.

John Puller sah sich nicht als Maschine, aber er konnte erkennen, dass er sich sehr dicht davor befand, eine zu werden. Allerdings lehnte er es ab, sich darüber hinaus mit eingehen­derer Selbstbetrachtung zu beschäftigen.

Er verließ das Gelände derUSDB-Vollzugsanstalt erheblich rascher, als seine Ankunft sich vollzogen hatte. Ein noch schnellerer Flug ostwärts sollte ihn mit einem weiteren Fall konfrontieren. Puller hieß die neue Herausforderung willkommen, und sei es nur aus dem Grund, dass sie seine Gedanken von etwas ablenkte, das er nie so richtig hatte verstehen können.

Oder beeinflussen.

Seine Familie.

 

4

»Sie sind in dieser Angelegenheit ganz auf sich allein gestellt, Puller.«

John Puller saß vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten John White, der im Hauptquartier der CID in Quantico den Posten des Leitenden Spezialagenten innehatte. Jahrelang hatte das Hauptquartier weiter nördlich in Virginia gelegen, in Fort Belvoir. Dann hatten die unermüdlichen Organisationsverschlanker und Kostensenker beschlossen, die CID-Büros sämtlicher Waffengattungen in Quantico zusammenzulegen, wo sich auch die FBI-Akademie befand und das Marinekorps seinen Hauptsitz hatte.

Zwischendurch war Puller zu einem kurzen Aufenthalt in seiner Privatwohnung gewesen, um ein paar Sachen zu holen und nach dem Kater zu sehen, einem feisten, orange-braun ­gescheckten Tier, das er Unab nannte, weil es sich immerzu Unerlaubte Abwesenheit leistete. Unab hatte gemaunzt, ihn dann angefaucht, sich anschließend an Pullers Bein gerieben und ihm gestattet, ihm den Buckel zu streicheln.

»Neuer Fall, Unab. Komme demnächst zurück. Futter, Wasser und Katzenklo findest du an den gewohnten Stellen.«

Unab hatte durch erneutes Miauen seinen Durchblick zu verstehen gegeben und war davongehuscht. Der Kater hatte vor ungefähr zwei Jahren den Weg in Pullers Leben gefunden, und Puller ging davon aus, dass er irgendwann wieder verschwand.

Auf dem AB seines Festnetztelefons, das er nur deshalb behielt, falls es mal zu einem allgemeinen Stromausfall kam und das Handy keine Verbindung mehr hatte, waren mehrere Nachrichten hinterlassen worden. Nur eine hörte er bis zum Schluss ab. Danach hatte er sich auf den Fußboden gehockt und sie noch zweimal angehört.

Sie stammte von seinem Vater.

Generalleutnant John Puller, genannt Durchbruch-Puller, galt als einer der größten Kriegshelden Amerikas und war in der Vergangenheit Befehlshaber der legendären Screaming Eagles gewesen, der 101. Fallschirmjägerdivision. Heute war er nicht mehr in der Armee und auch kein Kommandeur irgendwelcher Truppenteile. Aber das bedeutete keineswegs, dass der Alte dies akzeptierte, im Gegenteil. Das hieß natürlich nichts anderes, als dass er nicht mehr in der Wirklichkeit lebte.

Noch immer scheuchte er seinen jüngeren Sohn herum, als stünde er an der Spitze der Sterne-und Streifen-Hierarchie und sein Sohn auf der untersten Stufe. Wahrscheinlich erinnerte er sich gar nicht mehr daran, was er auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Oder er kam bei Pullers nächstem Besuch darauf zu sprechen und beschimpfte seinen Sohn, weil er den erteilten Befehl nicht ausgeführt hatte. Der Alte erwies sich im Zivilleben als gleichermaßen unberechenbar, wie er sich auf dem Gefechtsfeld verhalten hatte. Es hatte ihn zum härtesten aller vorstellbaren Gegner gemacht. Wenn ein Soldat etwas fürchtete, dann einen Feind, den er nicht durchschaute, einen Widersacher, der mehr als bereit war, alles zu tun, was zum Siegen nötig war, wie ungeheuerlich es auch sein mochte.

Durchbruch-Puller war ein solcher Haudegen gewesen. Deshalb hatte er häufiger gesiegt als verloren, und seine Tak­tiken zählten heute bei der Armee zum festen Bestandteil der Ausbildungsmethoden. Künftige Kommandeure lernten seine Kampftaktiken an der Militärakademie und verbreiteten sie in sämtliche Bereiche des Heerwesens.

Puller löschte die Nachricht. Sein Vater musste sich ge­dulden.

Das nächste Ziel war das CID-Hauptquartier gewesen.

Die CID – die Militärstrafverfolgungsbehörde der Army – war von General John »Black Jack« Pershing während des Ersten Weltkriegs in Frankreich gegründet worden. 1971 hatte man sie in den Status einer vollwertigen Armee-Kommandobehörde erhoben und einem Ein-Sterne-General unterstellt. Heute gehörten ihr weltweit fast dreitausend Personen an, dar­unter neunhundert Spezialagenten vom Schlage John Pullers. Sie hatte eine vertikale Kommandostruktur mit dem Armeeoberbefehlshaber an der Spitze, den Spezialagenten ganz unten und dazwischen drei Ebenen Bürokratie. Puller verglich sie mit einer Lasagne, die zu viele Schichten Nudeln hatte.

Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den LSA. »Normalerweise setzen wir bei einem außerdienstlichen Mordfall ein Team und keinen einzelnen Mann ein, Sir.«

»Ich versuche, Ihnen in West Virginia an Ort und Stelle Unterstützung zu besorgen«, versicherte der Leitende Spezialagent, »aber im Moment sind die Aussichten nicht gut.«

Puller lenkte das Gespräch auf die Ungereimtheit, die ihn bereits vor ein Rätsel gestellt hatte, als er den Auftrag erhielt. »Das tausendste Bataillon des dritten MP-Regiments ist in Kentucky in Fort Campbell stationiert, Sir. West Virginia liegt in seinem Zuständigkeitsbereich. Es könnte den Mord an dem Oberst genauso gut untersuchen wie wir.«

»Der Ermordete war bei der DIA tätig, dem Militärischen Geheimdienst. Also haben wir es mit besonders heiklen Umständen zu tun, die nach den ›stillen Experten‹ des 701. verlangen.« White lächelte über die Umschreibung, die im Zusammenhang mit dem hochgradig ausgebildeten Außenermittlungspersonal des 701. CID oft gebraucht wurde. Puller lächelte nicht. »In Fort Campbell ist die 101. stationiert, die frühere Division Ihres ­Vaters«, fügte White hinzu. »Die Screaming Eagles.«

»Ist lange her, Sir.«

»Wie geht es Ihrem alten Herrn?«

»So einigermaßen, Sir«, antwortete Puller unwillig. Außer mit seinem Bruder mochte er mit niemandem über ihren Vater reden; auch mit seinem Bruder wechselte er über den Alten meist nur ein paar Sätze.

»Na schön. Jedenfalls, das 701. steht in dem Ruf, das Beste der Besten zu sein. Sie, Puller, sind nicht einfach zu uns abkommandiert worden wie ein gewöhnlicher MP. Vielmehr wurden Sie eigens ausgewählt.«

»Verstehe, Sir.« Puller saß da und fragte sich, wann der Mann endlich etwas zu ihm sagen würde, was er noch nicht wusste.

Über die Metalltischplatte schob White ihm eine Akte zu. »Das sind die Daten. Der Diensthabende hat die ersten Informationen notiert. Besprechen Sie sich mit Ihrem Abteilungschef, ehe Sie abschwirren. Es ist zwar ein Ermittlungsplan formuliert worden, aber angesichts der örtlichen Verhältnisse neige ich dazu, Ihnen freie Hand zu lassen.«

Puller nahm den Schnellhefter an sich, ohne den Blick von White zu wenden. »Können Sie mir eine kurze Zusammenfassung geben, Sir?«

»Der Tote ist ein gewisser Oberst Matthew Reynolds vom Militärischen Geheimdienst. Stationierungsort Pentagon. ­Seine Heimatanschrift befindet sich in Fairfax City, Virginia.«

»Welche Verbindung besteht nach West Virginia?«

»Bis jetzt unbekannt. Aber er ist eindeutig identifiziert worden, also wissen wir, dass er es ist.«

»Welche Pflichten versah er bei der DIA? Könnte irgend­etwas davon die Ermordung erklären?«

»Die DIA bleibt über ihre Mitarbeiter und deren Pflichten notorisch schweigsam. Allerdings konnten wir in Erfahrung bringen, dass Reynolds seinen Ruhestand vorbereitete und die Absicht hatte, in die Privatwirtschaft zu wechseln. Falls Sie für Ermittlungszwecke Näheres wissen müssen, verhelfen wir Ihnen zu zusätzlichen Informationen.«

Falls?, dachte Puller. »Was für dienstliche Aufgaben versah er bei der DIA?«

»Er hat seine Meldungen direkt bei der Stellvertretung des J2-Chefs erstattet.«

»J2 ist eine Zwei-Sterne-Dienststelle, nicht wahr? Dort reicht man die täglichen nachrichtendienstlichen Erkenntnisse dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs ein, stimmt’s?«

»Genau richtig.«

»Warum hat sich nicht die DIA auf den Fall gestürzt, wenn so ein Mann ermordet wird? Sie hat doch selber Außenermittler.«

»Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Bearbeitung der Angelegenheit uns zugefallen ist. Das heißt, Ihnen.«

»Und sobald wir den Täter erwischen, kreuzt die DIA auf – oder, was wahrscheinlicher ist, das FBI – und tritt mit ihm vor die Medien?«

»Keine Ahnung.«

»Vermutlich will die DIA diese Geschichte aussitzen.«

»Noch einmal: Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß.«

»Also gut. Wissen wir, wohin der Oberst nach dem Ausscheiden aus dem Dienst gehen wollte?«

White schüttelte den Kopf. »Wir wissen es noch nicht. Sie können sich unmittelbar bei Reynolds’ Vorgesetzter bei der DIA nach Einzelheiten erkundigen. Es handelt sich um Ge­neral Julie Carson.«

Puller beschloss, seine Gedanken auszusprechen. »Ich habe den Eindruck, ich brauche mich nicht in die Akte einzulesen, um die Ermittlungen aufzunehmen, Sir.«

»Abwarten. Wir werden sehen.«

Diese Antwort ergab wenig Sinn. Puller fiel auf, dass White wegschaute, als er sie äußerte.

»Weitere Opfer?«, fragte er.

»Ehefrau, zwei Kinder. Alle tot.«

Puller lehnte sich zurück. »Also vier Tote, eine wahrscheinlich komplizierte Tatortsituation in West Virginia und eine Überlappung der Ermittlungen in den Militärischen Geheimdiensten. Im Normalfall würde man dafür vier bis sechs Leute mit aufwendigem technischem Beistand aufbieten, vielleicht sogar Mitarbeiter des KTU-Labors der Army.« Er meinte die Kriminaltechnische Untersuchungsstelle der US-Armee in Fort Gillem, Georgia. »Es braucht eine ausreichende Zahl von Beteiligten, nur um die Spurenlage zu sichern und auszuwerten. Ein zweites Team müsste sich um die Nachforschungen bei der DIA kümmern.«

»Ich glaube, Sie haben eben die entscheidenden Worte ausgesprochen.«

»Und welche wären das?«

»Im Normalfall.«

Puller beugte sich vor. »Und ich erhalte bei einer so großen Dienststelle wie hier beim 701. im Normalfall die Einweisung durch meinen Abteilungschef, Sir, nicht durch den Leitenden Spezialagenten.«

»Das ist richtig.« Anscheinend hatte White nicht die Absicht, näher dazu Stellung zu beziehen.

Puller warf einen Blick in die Akte. Offenbar erwartete man von ihm, dass er sich über diese Eigentümlichkeit selbst Klarheit verschaffte. »Ein Blutbad, hieß es in dem Anruf.«

White nickte. »Richtig. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie viele Morde in West Virginia im Durchschnitt verübt werden, aber ich vermute, es dürfte ziemlich blutig zugegangen sein. Aber egal wie, Sie werden im Nahen Osten wahrscheinlich Schlimmeres gesehen haben.«

Puller schwieg. Er zog es vor, über seine dienstlichen Aufenthalte in der Wüste genauso wenig zu reden wie über seinen Vater.

»Da die Tat außerhalb unserer militärischen Einrichtungen geschehen ist, leitet die örtliche Polizei die Ermittlungen«, fuhr White fort. »Es ist eine ländliche Gegend. Wenn ich es recht verstanden habe, gibt es dort keine Mordkommission. Stattdessen werden die Ermittlungen von uniformierten Beamten geführt. Deshalb ist Feingefühl gefragt. Wir haben keinen gerechtfertigten Grund für einen größeren Einsatz, solange nicht feststeht, dass der Mörder ein Angehöriger des Militärs ist. Aber wegen Reynolds’ Position will ich, dass wir bei der Ermittlungstätigkeit zumindest mitwirken. Um uns diese Möglichkeit zu sichern, müssen wir uns gegenüber den Einheimischen diplomatisch verhalten.«

»Gibt es in der Umgebung irgendeine bewachte Einrichtung, wo ich Beweismaterial deponieren kann?«

»Etwa fünfzig Kilometer entfernt unterhält das Ministerium für Innere Sicherheit eine Außenstelle. Ein dort stationierter Beamter überwacht als Zeuge das Öffnen und Schließen des Tresors. Ich habe Ihnen eine Genehmigung besorgt.«

»Ich gehe davon aus, Sir, dass ich auf die Unterstützung des KTU-Labors in Fort Gillem zurückgreifen darf?«

»Dürfen Sie. Außerdem haben wir schnell in West Virginia angerufen. Man hat keine Einwände, dass die CID dort aktiv wird. Die Army-Anwälte können den Papierkram später ab­­wickeln.«

»In Papierkram sind Anwälte gut, Sir.«

White musterte ihn. »Aber wir alle sind die Armee, darum wird es gelegentlich erforderlich sein, nicht nur diplomatisches Geschick zu zeigen, sondern den Hammer zu schwingen. Und soviel ich weiß, können Sie beides gleich gut.«

Puller schwieg. Während seiner militärischen Laufbahn hatte er ständig mit Offizieren zu tun gehabt. Manche waren tüchtig, andere waren Trottel. Über diesen Offizier hatte Puller sich noch keine endgültige Meinung gebildet. »Ich sitze erst seit einem Monat hier«, sagte White. »Im Zug der Verlegung der Dienststelle von Fort Belvoir nach Quantico bin ich versetzt worden. Noch arbeite ich mich ein. Sie sind schon seit fünf Jahren dabei.«

»Im sechsten Jahr.«

»Sämtliche maßgeblichen Leute sind sich darin einig, dass Sie der beste Mann sind, über den wir verfügen, allerdings ein wenig unorthodox.« White lehnte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Bestimmt brauche ich nicht erst ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass dieser Fall die Aufmerksamkeit höchster Stellen auf sich zieht, Puller. Das Interesse geht weit über das Armee-Oberkommando hinaus bis in höchste politische Kreise.«

»Verstehe. Aber ich habe schon in Fällen ermittelt, die auch den Militärischen Geheimdienst betrafen, und trotzdem wurden sie innerhalb der normalen Parameter bearbeitet. Wenn der Vorgang in höchsten Kreisen solches Interesse erregt, muss Oberst Reynolds auf seinem Posten im Pentagon doch mit entschieden bedeutenderen Angelegenheiten befasst gewesen sein.« Puller schwieg kurz. »Oder er hatte gehörig Dreck am Stecken.«

White schmunzelte. »Kann sein, dass Sie so gut sind, wie behauptet wird.«

Puller betrachtete ihn. Und es kann sein, überlegte er, ich gebe einen hervorragenden Sündenbock ab, falls aus der Ange­legenheit ein Debakel wird.

»Sie sind also seit fast sechs Jahren dabei«, sagte White.

Puller schwieg. Er glaubte zu wissen, in welche Richtung das Gespräch nun verlief, denn er hatte zuvor schon ähnliche Unterhaltungen erlebt. Whites nächste Worte bestätigten seinen Verdacht.

»Sie haben eine College-Ausbildung absolviert, sprechen Deutsch und Französisch und einigermaßen passabel auch Italienisch. Ihr Vater und Ihr Bruder sind Offiziere.«

»Sie waren Offiziere«, berichtigte Puller. »Und der einzige Grund, wieso ich diese Sprachkenntnisse habe, ist der Umstand, dass mein Vater während meiner gesamten Kindheit in Europa stationiert war.«

White schien gar nicht zuzuhören. »Ich weiß, dass man während Ihrer Ausbildung an der USAMPS einen aufgehenden Stern in Ihnen gesehen hat«, schwadronierte er. Damit meinte er die Militärpolizeischule der US-Armee in Fort Leonard Wood in Missouri. »Als MP haben Sie auf der gesamten Erdkugel Armee-Saufbrüdern was auf die Zwölf gegeben. Nahezu überall, wo die Armee Fußspuren hinterlassen hat, ­haben Sie Kriminalfälle gelöst. Ihre Sicherheitseinstufung erlaubt Ihnen Zugang zu Top-Secret-Akten.« Einen Moment lang schwieg White. »Auch wenn das, was Ihr Bruder angestellt hat, Sie beinahe um alles gebracht hätte.«

»Ich bin nicht mein Bruder. Die Gültigkeit meiner Vollmachten wurde verlängert.«

»Darüber weiß ich Bescheid.« White verstummte und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des Sessels. Puller schwieg ebenfalls. Er wusste, was als Nächstes kam. So war es immer. »Warum gehen Sie nicht nach West Point, Puller? Weshalb bleiben Sie bei der CID? Ihr abgeleisteter Militärdienst ist pures Gold wert. Sie haben beim Rangertraining Bestzeugnisse erworben. Sie sind ein bewährter Gefechtsführer mit einer beeindruckenden Liste von Kampfeinsätzen. Ihr Vater hat sich innerhalb dreier Jahrzehnte neunundvierzig bedeutsame Orden verdient und wird in der Armee als Legende verehrt. Sie haben bei sechs Kampfeinsätzen im Irak und in Afghanistan schon fast halb so viele Auszeichnungen eingeheimst. Zwei Silver Stars, von denen einer Sie drei Monate Aufenthalt in der Reha-Klinik gekostet hat, drei Bronze Stars mit Tapferkeitsspangen und drei Verwundetenabzeichen. Und im Irak ist es Ihnen gelungen, einen Typen einzusacken, der auf der Liste der zweiundfünfzig meistgesuchten Terroristen stand.«

»Ich habe gewissermaßen aus einem vollen Blatt die richtige Karte gezogen, Sir«, sagte Puller.

»So kann man es auch ausdrücken. Jedenfalls haben Sie mehr als genug Orden und Narben. Diese Kombination wird bei der Armee sehr geschätzt. Wären Sie bei den Rangers geblieben, stünden Sie heute als Anwärter auf Spitzenränge da. Und wären Sie nach West Point gegangen, wären Sie jetzt Major oder Oberstleutnant. Und vor Verlassen der Armee könnten Sie zwei Sterne auf den Schulterklappen tragen. Ach was, Mensch, eventuell drei, so wie Ihr Vater, falls Sie auch die politischen Spielchen richtig beherrschen. Bei der CID endet die Unteroffizierslaufbahn beim Hauptfeldwebel. Und mein Vorgänger hat mir erzählt, Sie hätten sich einzig aus dem Grund nicht um ein Offizierspatent beworben, weil Portepeeoffiziere in der CID ihren Dienst am Schreibtisch ausüben, Oberfeld­webel aber noch Außendienst verrichten.«

»Am Schreibtisch fühle ich mich nicht wohl, Sir.«

»Also bleiben Sie hier in der CID. Im unteren Bereich der militärischen Hierarchie. Und ich bin nicht der Erste, Puller, der sich darüber wundert.«

Puller senkte den Blick auf das Lametta seines Gegenübers. White trug die neue blaue Armeeuniform der Klasse B, die allmählich die alten grünen Uniformen ablöste. Für jeden Militärangehörigen gaben Ordensleiste und Abzeichensammlung gewissermaßen die persönliche DNA des dienstlichen Wer­degangs ab. Dem Auge des Sachkundigen verrieten sie alles; nichts Nennenswertes blieb verborgen. Aus der Perspektive eines echten Frontschweins umfasste die militärische Karriere des Leitenden Spezialagenten nichts Besonderes. Gewiss konnte er zahlreiche Auszeichnungen vorweisen, die auf den Laien eindrucksvoll wirkten, doch aus Pullers Sicht bezeugten sie, dass der Mann einen Aufstieg als ewiger Sesselfurzer vollzog und Waffen nur für den Eintrag ins Schießbuch abfeuerte.

»Es gefällt mir, wo ich bin, Sir«, erklärte Puller. »Und mir behagt der Weg, auf dem ich dorthin gelangt bin. Außerdem sind alle diese Erwägungen müßig. Es ist, wie es ist.«

»Wahrscheinlich, Puller. Man könnte Sie als karrierescheu bezeichnen.«

»Vielleicht ist es ein Charakterfehler, Sir, aber als was die Leute mich bezeichnen, war mir schon immer gleichgültig.«

White nickte. »Auch das hatte ich bereits über Sie gehört.«

Puller maß sein Gegenüber mit festem Blick. »Sicherlich, Sir. Ich habe den Eindruck, die Ermittlungen warten.«

White blickte auf seinen Computerbildschirm. »Dann schnappen Sie sich Ihre Sachen und zischen Sie ab.«

Als White Sekunden später den Kopf drehte, war Puller schon fort. White hatte nicht gehört, dass der hochgewachsene Spezialagent das Zimmer verließ.

Der Leitende Spezialagent lehnte sich tiefer in den quietschenden Bürosessel.

Vielleicht hatte Puller deshalb die vielen Orden erhalten. Man konnte nicht töten, was man nicht kommen und gehen sah.

 

 

5

Puller saß auf dem Kofferraumdeckel des schwarzen Armeedienstwagens, eines Chevy Malibu, und trank Kaffee aus einem Pappbecher, während er vor dem CID-Hauptquartier im Licht einer Straßenlaterne in der Akte las. Auf dem hiesigen Areal hatten sämtliche militärischen Kriminalabteilungen ihren Sitz, darunter die NCIS, über deren Tätigkeit man eine weithin beliebte Fernsehserie ausstrahlte. Puller wünschte sich, auch er könnte jede Woche ein Verbrechen innerhalb von sechzig Minuten aufklären, so wie seine TV-Kollegen es schafften. In der wirklichen Welt dauerte es häufig erheblich länger, und manches Mal fand man die Wahrheit überhaupt nicht heraus.

Im Hintergrund krachten unablässig Schüsse. Das FBI-Geiselbefreiungsteam und die Marines übten rund um die Uhr mit scharfer Munition. Puller hatte sich so gründlich an Schießereien gewöhnt, dass er sie kaum noch wahrnahm. Hätte er jetzt keine gehört, wäre er allerdings stutzig geworden: Wenn in Quantico keine Schüsse krachten, stimmte etwas nicht.

Puller schlug die nächste Seite der Akte auf. Beim Aktenanlegen ging die Armee ebenso systematisch und präzise vor wie in jeder anderen Hinsicht: Aktenformat, Zahl der abgehefteten Blätter, Verteilung auf rechte und linke Seite, Verwendung von Punkt, Komma und Strich, alles war streng genormt. Es gab ganze Regalreihen von Armeehandbüchern, die sich mit den geringfügigsten Kleinigkeiten befassten. Schon die Vorschriften über die Benutzung der Militärpolizei-Dienstkladde genossen wegen ihrer Exaktheit einen legendären Ruf. Aber Puller erachtete stets nur das als wichtig, was auf einer Seite stand, und nicht, wo sich das Blatt im Schnellhefter befinden musste.

Matthew Reynolds, seine Gattin Stacey und ihre zwei minderjährigen Kinder – ein Junge und ein Mädchen – waren im ländlichen West Virginia ermordet worden. Ein Postbote hatte die Leichen entdeckt. Die örtliche Polizei hatte den Tatort untersucht. Reynolds war Oberst beim Militärischen Geheimdienst gewesen. Nach sechsundzwanzig Jahren in Uniform hatte er sich auf sein Ausscheiden und den Wechsel in die Privatwirtschaft vorbereitet. Da sein Stationierungsort das Pentagon gewesen war und er eigentlich in Fairfax City gewohnt hatte, begriff Puller nicht, was er und seine Familie in einem Haus in West Virginia getan haben könnten. Das war eine der vielen Fragen, auf die er Antworten finden musste. Aber vielleicht war die dortige Polizei ja schon auf Antworten gestoßen. Er hatte allerdings die Absicht, sie in diesem Fall selbst noch einmal zu überprüfen.

Puller schob den Schnellhefter in seine Aktenmappe und sah seine im Kofferraum verstaute Ausrüstung durch, die in einem speziell abgeänderten Armeerucksack mit über hundert Taschen untergebracht war. Sie enthielt nahezu alles, was er im Außendienst gebrauchen konnte: hellblaue Gummihandschuhe, Taschenlampen, Papiertüten, Klarsichtbeutel, Leichensäcke mit Anhängeschildchen, 35-mm-Kamera und Digitalkamera, grüne Bio-Schutzanzüge mitsamt Kapuze und Luftfiltergerät, weiße Beweismittelfundstellenmarkierungen, Maßband, Lineal, Absperrbänder, dienstliche Formulare, Fingerabdrucknehmer, ein Komplettpaket zur Schussrückstände­analyse, Abdeckfolie, Digitalrekorder, Tatortbeschreibungsbuch, Erste-Hilfe-Kasten, Überschuhe, Fieberthermometer, Schutzmaske, Reflektorweste, Taschenmesser sowie fast sechs Dutzend weitere Gegenstände. Als Bewaffnung hatte er zwei M11-Pistolen mit Dreizehn-Schuss- und Zwanzig-Schuss-Reservemagazinen. Zusätzlich führte er im Kofferraum eine MP5-Maschinenpistole mit.

In einer Reisetasche hatte er einige ordentlich verpackte Garnituren Einsatzkleidung dabei. Derzeit allerdings genügten ihm ein kurzärmeliges weißes Hemd, die Jeans und die Nike-Sneakers, weil die Temperatur noch am späten Abend bei 30 Grad lag.

Noch nie hatte Puller einen solchen Fall im Alleingang bearbeiten müssen. Üblicherweise nahm er die Ermittlungen gemeinsam mit einem zweiten CID-Agenten auf, öfter mit mehreren, dazu kam technisches Personal. Und dieser Mordfall schrie geradezu nach umfänglichen Hilfsmitteln. Aber er hatte den Auftrag erhalten. Und wenn in der Armee eine Anweisung erging, bestand der nächste Schritt darin, sie zu befolgen. Andernfalls konnte man unversehens vor einem Militärgericht stehen und blickte womöglich einem Karriereknick im Knast entgegen.

Puller gab die Anschrift, die er anfahren musste, ins Navi ein, schloss den Wagenschlag des Chevy, trat aufs Gaspedal und ließ Quantico hinter sich.

Unterwegs machte er eine Pinkelpause und trank erneut einen Becher schwarzen Kaffees. Um drei Uhr morgens erreichte er in West Virginia das Örtchen Drake, Einwohnerzahl 6547, wie auf dem Ortsschild stand. In ungefähr drei Stunden musste die Sonne aufgehen.

Einmal hatte Puller sich verfahren, weil das GPS ihn auf eine zweispurige Landstraße am Rande von Drake gelotst hatte. Dort hatten die Autoscheinwerfer plötzlich eine Ansammlung augenscheinlich verlassener Häuser erhellt, mindestens hundert, möglicherweise viel mehr. Sie sahen aus, als wären sie aus Fertigteilen errichtet worden, die in Massen fabriziert wurden. Auf einer Seite der mittig verlaufenden Durchgangsstraße dieser Geisterstadt standen reihenweise Masten für Strom- und Telefonkabel. Doch während Puller die Stadt auf diesem »kleinen Umweg« durchquerte, änderte sich sein Eindruck. Nicht alle Häuser standen leer; wenigstens einige waren bewohnt. Alte Autos parkten davor. Allerdings stammte das Licht, das er hinter mehreren Fenstern sah, wahrscheinlich nicht aus elek­trischen Quellen, eher von Gasfunzeln oder aus Batterien. Beim Weiterfahren waren seine Scheinwerferstrahlen dann auf etwas höchst Außergewöhnliches gefallen: Auf einen riesigen Beton-Kuppelbau, der sich aus dem Wald erhob.

Verdammt, dachte Puller, was ist denn das?

Ein wenig verwirrt setzte er die Fahrt fort. Das GPS kor­rigierte sich automatisch, sodass er gleich darauf die richtige Strecke einschlagen konnte. Als er ans Ziel gelangte, fühlte er sich nicht müde. Tatsächlich hatte die lange Fahrt ihn entspannt und gleichzeitig aufgemöbelt. Er beschloss, sofort an die Arbeit zu gehen.

Im Voraus hatte er telefonisch ein Zimmer im einzigen Motel der Gegend reserviert. Es war eine Bruchbude, aber das störte Puller nicht. Er hatte Jahre seines Lebens in unwirtlichen Gegenden zugebracht, in Sümpfen und Wüsten, mit Eimern als Dusche und Erdlöchern als Toilette.

Die Tür zum Motelbüro war abgeschlossen, doch nach dreimaligem Klingeln wurde geöffnet. Nachdem eine schläfrige alte Dame in verlottertem Hausmantel und mit Lockenwicklern im Haar ihn hinter der Rezeption ins Gästebuch eingetragen hatte, erkundigte sie sich nach dem Zweck seines Aufenthalts.

»Ich mache hier Urlaub.« Puller griff nach dem Zimmerschlüssel.

Die alte Frau lachte auf. »Sie sind mir ja ein Schlawiner«, sagte sie. Wegen einer großen Lücke in den Schneidezähnen lispelte sie. Sie roch nach Nikotin, Knoblauch und Salsasoße, eine umwerfende Mischung mit weitem Wirkungsbereich, obwohl die Alte höchstens eins sechzig groß war.

»Können Sie mir ein Lokal empfehlen?«, fragte Puller.

»Kommt darauf an«, gab die Frau zur Antwort.

»Auf was?«

»Ob Sie gegen ein bisschen Kohlenstaub im Rührei was einzuwenden haben.«

»Kann kaum schlimmer sein als abgereichertes Uran im Morgenkaffee. Und wie Sie sehen, lebe ich noch.«

Die Frau kicherte. »Dann dürfen Sie jedes Lokal dieses Ortes aufsuchen. Sie sind alle ungefähr gleich.« Puller wandte sich zum Gehen. »Sind Sie verheiratet, Schätzchen?«

»Haben Sie Interesse?«, fragte Puller zurück. Als er sich umdrehte, sah er die Alte grinsen.

»Wär’s nur so, Schätzchen«, sagte sie. »Wär’s doch nur so. Schlafen Sie sich erst mal aus.«

Puller verließ das Büro. Er hatte nicht vor zu schlafen.

 

 

6

Auf der Fahrt nach West Virginia hatte Puller den Polizei­beamten, der vor Ort die Ermittlungen leitete, mehrmals anzurufen versucht und jedes Mal ein paar Sätze auf den AB gesprochen. Kein einziger Rückruf war erfolgt. Möglicherweise waren die Einheimischen weniger kooperativ, als Pullers Leitender Spezialagent angedeutet hatte. Oder sie waren mit vier Leichen und einem gewaltigen forensischen Rätsel schlichtweg überfordert. Letzteres konnte Puller ihnen schwerlich verübeln.

Das Motel bestand aus einem einstöckigen Gebäude mit ­Innenhof. Auf dem Weg zu seinem Zimmer entdeckte Puller einen jungen Mann, der vor einem Pepsi-Automaten, den man zehn Meter vom Empfangsbüro entfernt an einen Metallpfosten gekettet hatte, bewusstlos auf einem Stück Rasen lag. Puller sah sich ihn auf Verletzungen an, fand jedoch keine. Er überzeugte sich davon, dass der Mann Pulsschlag hatte, roch eine Alkoholfahne und ging daraufhin weiter. Er trug die Tasche mit den Klamotten in das kaum vier mal vier Meter messende Zimmerchen. Das Bad war so klein, dass er mit den Händen locker zwei gegenüberliegende Wände berühren konnte, wenn er sich in die Mitte stellte.

Puller brühte sich Filterkaffee aus eigenem Vorrat auf und benutzte dafür seine tragbare Kaffeemaschine, eine Angewohnheit, die er bei Auslandsaufträgen angenommen hatte. Er setzte sich auf den Fußboden, klappte vor sich den Schnellhefter auf, suchte eine Rufnummer heraus, zückte das Handy und tippte sie ein.

»Hallo?«, fragte eine benommene Frauenstimme.

»Ich möchte bitte Sam Cole sprechen.«

»Am Apparat.«

»Sam Cole?«, wiederholte Puller lauter.

Nun hörte die Stimme sich wacher und strenger an. »Sam steht für Samantha. Verflixt noch mal, wer ist denn da? Haben Sie ’ne Ahnung, wie spät es ist?«

Puller fiel auf, dass der hiesige Akzent sich mit wachsendem Zorn verstärkte. »Es ist dreihundertzwanzig Uhr«, sagte er. »Zwanzig nach drei für Zivilisten.«

Dem schloss sich eine längere Gesprächspause an. Man konnte regelrecht hören, wie Coles Gehirn seinen Worten einen Sinn abzugewinnen versuchte.

»Verdammt, Sie sind von der Armee, richtig?« Diesmal klang ihre Stimme auf attraktive Weise heiser.

»John Puller, CID-Spezialagent des 701. MP-Regiments in Quantico, Virginia.« Wie schon eine Million Mal zuvor machte er diese Angaben in gewohnheitsmäßigem Stakkato. Er konnte sich gut ausmalen, dass sie jetzt senkrecht im Bett saß, und fragte sich, ob sie allein war; jedenfalls maulte im Hin­tergrund keine Männerstimme herum. Stattdessen hörte er das Zündgeräusch eines Zippo-Feuerzeugs, dem sich ein paar Sekunden Stille anschlossen. Danach vernahm er ein Ein­atmen, gefolgt von einem gedehnten Ausatmen. »Haben Sie die Warnung des Gesundheitsministeriums übersehen, Miss Cole?«

»Nein, sie steht ja unübersehbar auf der Zigarettenpackung. Warum, zum Teufel, rufen Sie mich mitten in der Nacht an?«

»Sie werden in meiner Akte als ermittlungsleitende Beamtin genannt. Ich bin vorhin hier im Ort eingetroffen und will schleunigst in die Gänge kommen. Und bevor ich’s vergesse, im Laufe der vergangenen sechs Stunden habe ich Sie viermal angerufen und jedes Mal auf Ihrem Anrufbeantworter ein Sprüchlein hinterlassen. Sie haben nicht zurückgerufen.«

»Ich war so beschäftigt, dass ich das Ding gar nicht abhören konnte.«

»Dass Sie beschäftigt waren, glaube ich gerne, Ma’am.« Aber du hast ganz bestimmt den Anrufbeantworter abgehört, dachte Puller, dir allerdings die Mühe gespart, mich zurückzurufen. Doch er besann sich auf den Rat des LSA: Diplomatie. »Es tut mir leid, dass ich Sie aus dem Schlaf gerissen habe, Ma’am. Ich hatte die Vermutung, Sie könnten noch am Tatort sein.«

»Ich habe den vollen Tag und die halbe Nacht lang an diesem Scheißfall gerackert«, antwortete Cole. »Erst vor einer Stunde bin ich ins Bett gesunken.«

»Das heißt, ich muss eine Menge Informationen aufarbeiten. Aber ich kann Sie später nochmals anrufen.« Puller hörte, dass sie aufstand, stolperte und fluchte. »Ma’am? Ich ruf später noch mal an. Legen Sie sich wieder schlafen.«

»Können Sie mal für ein Momentchen die Klappe halten?«, schnauzte Cole.

»Was?«

»Ich muss pinkeln.« Er hörte, dass sie das Handy auf den Fußboden legte. Dann Schritte. Eine Tür fiel zu, also musste er sich wenigstens kein Uringeplätscher anhören. Zeit verstrich, ohne dass Puller sie vergeudete: Er las weiter in der Akte. Schließlich kehrte Cole zurück. »Wir treffen uns um sieben Uhr am Tatort … Entschuldigung, um siebenhundert Uhr morgens oder wie Sie es auszudrücken belieben.«

»Siebenhundert Uhr Julia«, sagte Puller.

»Julia?«, wiederholte Cole. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass man mich Sam nennt.«

»Es bezieht sich auf die hiesige örtliche Sommerzeit. Wäre es Winter und befänden wir uns in der Gültigkeitszone der Östlichen Standardzeit, hieße es Siebenhundert Romeo.«

»Romeo und Julia?«, fragte Cole hörbar skeptisch.

»Im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Vorurteil kennt die Armee der Vereinigten Staaten durchaus einen gewissen Humor.«

»Bis nachher, Puller. Ach, nur damit Sie Bescheid wissen, ich werde Sergeant Samantha Cole gerufen, nicht ›Ma’am‹ oder Julia. Romeo …!«

»Verstanden, Sergeant Cole. Wir sehen uns um sieben. Ich blicke unserer Zusammenarbeit an diesem Fall freudig ent­gegen.«

»Ach ja?«, murrte sie. In seiner Vorstellung sah Puller ihr Handy quer durchs Schlafzimmer fliegen, während sie zurück ins Bett fiel.

Puller legte das Handy beiseite, trank den Kaffee aus und las den gesamten Eingangsbericht nun Seite um Seite durch. Dreißig Minuten später bewaffnete er sich, steckte eine M11 in das vordere Holster und die zweite Pistole in ein Gürtelholster im Kreuz. Nachdem er sich den Weg durch den Nahen Osten und Afghanistan gekämpft hatte, hatte er nie mehr den Eindruck gehabt, er könnte zu viele Waffen am Körper tragen. Er zog eine Windjacke an und schloss beim Gehen das Motelzimmer ab.

Der junge Mann, der auf dem Rasen lag, stemmte sich ge­rade in eine Sitzhaltung hoch und sah sich verwundert um. Puller ging zu ihm und schaute ihn an. »Sie sollten daran denken, etwas maßvoller zu zechen. Oder sich zum Ausschlafen wenigstens ein Dach über dem Kopf zu suchen.«

Der Mann blinzelte zu ihm herauf. »Scheiße, wer sind Sie denn?«