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Du glaubst, du kennst dich selbst. Bis du die Wahrheit nicht mehr von der Lüge unterscheiden kannst. Marlon Bernard flüchtet sich nach einer zerbrochenen Beziehung in einen abgelegenen Ferienpark in der Hoffnung, zur Ruhe zu kommen. Doch was er dort findet, ist kein Frieden, sondern ein Albtraum. Er hört Dinge. Spürt Dinge. Und glaubt, beobachtet zu werden. Zur gleichen Zeit wird im Ravensberger Park eine brutal zugerichtete Frauenleiche gefunden. Kommissarin Emma Vissen beginnt zu ermitteln und stößt schnell auf ein Täterprofil, das ihr keine Ruhe lässt. Präzise. Eiskalt. Unberechenbar und auf der Suche nach einem weiteren Opfer. Während die Grenzen zwischen Erinnerung, Realität und Wahn verschwimmen, beginnt für Marlon ein psychologischer Abstieg in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele. Was geschah wirklich in jener Nacht? Und warum fühlt sich plötzlich alles so falsch an? Ein atmosphärisch dichter Psychothriller über Selbsttäuschung, verdrängte Schuld und das brüchige Fundament der eigenen Identität. Packend, verstörend und gnadenlos ehrlich
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Seitenzahl: 237
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Julia
„Manchmal sind wir mehr als nur eine Version von uns selbst – die, die wir zeigen, die, die wir verbergen, und die, von der wir noch nichts wissen.“
Lautlos
Eisengeruch
Stille
Essig
Erregung
Chaotisch
Einsamkeit
Kälte
Schatten
Bungalow 887
Frühstück
Schwimmbad
Altruismus
Altruismus
Schlaf
Kontrolle
Schrei
“Marlon“
Blackout
Fragen
Bungalow 886
Leere
Albtraum
Flucht
Fiktion
Unachtsam
Foto
Verdacht
Abwärtsspirale
Anima
Verwechselung
Warnung
Furcht
Panik
Überzeugt
Zwielicht
Spiegelschatten
Angst
Splitter
Epilog
Konstantin
Der Ravensberger Park in Bielefeld lag still in der nächtlichen Novemberkälte, der kalte Wind kroch Konstantin unter seine Herbstjacke. Nur das leise Rascheln der feuchten Blätter im Wind und das ferne, monotone Brummen der Großstadt störten die Ruhe des Parks. Konstantin stand geduckt hinter einem dichten, dornigen Gebüsch, sein Gesicht lag tief im Schatten verborgen. Sein Atem ging ruhig und kontrolliert, während seine Augen jede ihrer ungeduldigen Bewegungen verfolgten.
Eine junge Frau stand verloren am feuchten, gepflasterten Weg, das fahle Licht der Laternen zeichnete ihre nervösen Züge. Ihr dünner, dunkler Mantel wirkte deplatziert angesichts der herbstlichen Kühle. Sie klammerte sich an sich selbst, die Schultern zogen sich bei jeder Brise noch enger zusammen, während ihr Blick immer wieder unruhig zur hellen Uhr an ihrem schmalen Handgelenk huschte. Sie war allein. Das unablässige Beobachten der Zeit verriet eine wachsende Ungeduld auf denjenigen, der sie hierherbestellt hatte.
In Konstantin stieg ein vertrautes, heißes Kribbeln auf. Eine Welle der Erregung, die sich unkontrolliert in seinem gesamten Körper ausbreitete, von den Fingerspitzen bis in die Zehen. Er hatte so lange auf diesen Moment gewartet, hatte in seinen dunklen Träumen detailliert ausgemalt, wie es sich anfühlen würde. Die Fantasie war wie ein stiller, geduldiger Freund gewesen, der seit Jahren in den verborgensten Winkeln seines Geistes lauerte. Doch heute war es keine flüchtige Einbildung mehr. Heute verschmolz seine innere Welt mit der Realität.
Konstantin zog langsam die dünnen Lederhandschuhe aus seiner Innentasche und streifte sie mit mechanischen rituellen Bewegungen über seine kalten Finger. Er hatte sie schon vor Monaten in einem Anflug fiebriger Vorfreude gekauft, voller Euphorie auf diesen einen, perfekten Augenblick. Seine Finger fühlten sich sicher und fest in dem glatten Material, bereit für das, was unweigerlich kommen würde. Er umfasste das schmale Jagdmesser in seiner rechten Hand. Es war längst ein Teil von ihm geworden, eine gefährliche Verlängerung seines Willens. Jede Bewegung mit dem Messer war geübt und perfektioniert worden über die letzten Monate.
Er spähte vorsichtig um sich. Die junge Frau stand an einem strategisch perfekten Punkt; von links und rechts bot das dichte Buschwerk einen natürlichen Sichtschutz. Es wirkte, als würde sie auf diesen Moment warten. Gerade als Konstantin sich lautlos von hinten näherte, kam ein Pärchen von rechts den dunklen Weg entlang, ihre Stimmen hallten gedämpft durch die nächtliche Stille, untermalt von ihrem leisen Lachen. Konstantin hielt den Atem an, seine Muskeln spannten sich, wie gespannte Federn. Er presste sich noch tiefer in das feuchte, raschelnde Laub und beobachtete mit unerträglicher Ungeduld, wie das ahnungslose Paar an seiner Beute vorbeizog. Idioten, dachte er mit einem Anflug kalter Verachtung, so blind für die wahre Dunkelheit, die in dieser Nacht lauert. Die Frau lächelte dem Paar höflich zu, sagte aber nichts, ihre Augen kehrten ungeduldig zur hellen Anzeige ihrer Armbanduhr zurück. Das Paar verschwand langsam hinter einer dunklen Wegbiegung, ihre Stimmen wurden leiser und verwehten schließlich in der nächtlichen Stille. Es war Zeit.
Konstantin trat lautlos aus dem schützenden Gebüsch. Seine Schritte waren kaum auf dem feuchten Grasboden zu hören. Die junge Frau bemerkte seine Annäherung nicht, ihr Blick war weiterhin starr auf den leeren Pfad gerichtet. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von seiner Beute. Sein Herz hämmerte ungestüm in seinem Brustkorb, aber es war keine Angst, die ihn erfüllte – es war eine süße Vorfreude, eine Euphorie. Plötzlich stand er direkt hinter ihr. Mit einer schnellen, geübten Bewegung legte er eine kalte Hand fest über ihren Mund, um den aufkeimenden Schrei brutal zu ersticken, während die andere Hand das scharfe Messer tief in ihren Rücken trieb. Ein erstickter, gurgelnder Laut entkam ihrer Kehle, mehr ein Keuchen als ein Schrei, und ihre Augen weiteten sich in purer, stummer Angst.
Konstantin sah das flackernde Licht des Lebens in ihnen aufblitzen, spürte den kurzen, verzweifelten Widerstand ihres Körpers, wie er sich krampfhaft gegen ihn wandte. Ein heißer, süßer Schauer durchfuhr ihn. Es war noch intensiver, noch überwältigender, als er es sich in seinen dunkelsten Fantasien ausgemalt hatte. Mit einem brutalen Ruck zog er das blutige Messer aus ihrem Rücken, drehte ihren nun schlaffwerdenden Körper leicht zu sich um und führte die scharfe Klinge mit einer präzisen Bewegung an ihre Kehle. Ein dunkler, heißer Strom aus zähflüssigem Blut quoll hervor und ihre Beine gaben schlaff der Schwerkraft nach. Sie brach wie eine Puppe in seinen festen Armen zusammen, das Entsetzen in ihren weit aufgerissenen Augen wich einem glasigen, leeren Blick. Eine warme Gänsehaut überzog seine Arme. Sein Herz klopfte wild vor animalischer Ekstase. Er wollte dieses erhabene Gefühl so lange wie möglich auskosten, doch die Vernunft mahnte ihn zur Eile. Hastig blickte er sich um. Niemand hatte ihn gesehen oder beobachtet. Er zerrte ihren leblosen Körper tiefer in das dichte Gebüsch, seine Bewegungen waren ruhig, schon routiniert – er hatte diese makabre Prozedur unzählige Male an einem Sandsack geübt.
Die tiefe Nacht war sein Verbündeter, schützend und verschlingend zugleich. Er säuberte die blutige Klinge seines Messers mit einer mitgebrachten Wasserflasche, der metallische Geruch stieg ihm in die Nase, und steckte es mit einem leisen Klicken zurück in seine Tasche. Er legte den leblosen Körper tiefer in die Schatten der Büsche und kramte in seiner Jackentasche nach einer kleinen Sprühflasche mit einer klaren Flüssigkeit. Ein stechender, chemischer Geruch stieg auf, als er die Flüssigkeit großzügig über die Kleidung und das glatte Haar der toten Frau sprühte. Als die stumme Zeugin seiner Tat endlich verborgen war, ließ er sie zurück, drehte sich aber nochmals um, zückte sein Handy für ein schnelles Foto als stumme Trophäe und ging mit erhobenen Kragen aus den Büschen in Richtung des Gehwegs. Keine Reue, kein Anflug von Bedauern ging durch Konstantin durch. Nur ein dumpfer, wohliger Frieden, der in seinem Inneren nachklang. Die Nacht nahm ihn auf, schloss ihn ein wie ein dunkler Mantel. Niemand hatte ihn gesehen, sein Plan ist aufgegangen. Niemand würde ihn in dieser Anonymität finden, und während die laute, pulsierende Stadt ihn wieder empfing, bog Konstantin mit einem leisen, zufriedenen Lächeln auf den Lippen in die Bleichstraße ab. Autos fuhren an ihm vorbei. Auf seinen Lippen entstand ein Lächeln. Durch seinen Kopf ging nur ein einziger Gedanke: Er musste dieses erhabene Gefühl unbedingt noch einmal erleben.
Marlon
Der vertraute, beunruhigende Geruch von Eisen drang ihm in die Nase – metallisch, kalt und irgendwie… blutig. Woher kam das schon wieder? Marlon schreckte hoch. Sein Herz raste unregelmäßig, sein Körper fühlte sich schwer wie Blei und klebrig vor Schweiß an. Für einen verwirrten Moment erkannte er die vertrauten Konturen seines Schlafzimmers nicht. Er tastete über sein Gesicht und spürte die getrocknete, klebrige Spur, die von seiner Nase bis zu seinen Lippen verlief. Nasenbluten. Schon wieder – in den letzten qualvollen Wochen war dies zu einer Routine für ihn geworden. Sein T-Shirt klebte ebenfalls unangenehm an seiner Haut, getränkt von bereits eingetrocknetem Blut.
Er setzte sich schwerfällig auf und rieb sich mit knochigen Fingern die pochenden Schläfen, während sein Blick matt auf die digitale Uhr auf seinem Nachttisch fiel: 08:42 Uhr. Obwohl er augenscheinlich lange geschlafen hatte, fühlte er sich ausgelaugt bis ins Mark, die allmorgendlichen Kopfschmerzen umklammerten seinen Schädel wie ein eiserner Reif. Schlaf hatte, für ihn in den vergangenen Wochen jede erholsame Wirkung verloren, nur unruhige Stunden und endlose, fragmentarische Träume, die ihn in einem Zustand zwischen Wachsein und tiefer Erschöpfung gefangen hielten.
Er ließ seinen trüben Blick durch das vertraute, aber fremd wirkende Schlafzimmer wandern. Das zerwühlte Bett mit dem verdrehten Laken, die halb leer geräumten Regale, die kahle, rechteckige Lücke an der Wand, wo ihr gemeinsames, glückliches Bild gehängt hatte. Jede einzelne Veränderung, jede Leerstelle schrie ihm ins Gewissen und riss die noch frischen Wunden der vergangenen Wochen erneut auf, stürzte ihn tiefer in die bleierne Leere seiner Seele.
… Sofia…
Sie hatte ihn verlassen. Von einem Tag auf den anderen, ohne ein warnendes Wort, auf einer banalen WG-Party. Fünf verdammte Jahre Beziehung, achtlos weggeworfen für einen einzigen Abend, an den er sich nicht erinnern konnte, dessen Konturen in seinem Gedächtnis wie von einem schwarzen Tuch verhüllt waren. Dabei fing der Abend in seinen immer wiederkehrenden, bruchstückhaften Erinnerungen normal an – es war nur eine dieser üblichen WG-Feiern gewesen, eine von vielen zuvor. Doch an diesem verhängnisvollen Abend verlief alles anders. Er wusste noch, wie er mit einem Bier in der Hand durch die überfüllte Wohnung geschlendert war, flüchtige Begrüßungen an Freunde und Bekannte ausgetauscht hatte. Er hatte sich in die WG-Küche zu einer Gruppe gesetzt, gelacht und belanglose Scherze gemacht. Und dann?
Plötzlich, eine abrupte Leere. Seine Erinnerung riss mitten im Scherz ab, wie ein Film, dessen Spule mit Gewalt abgerissen wurde. Dahinter: ein undurchdringliches Schwarz, eine stumme, bedrohliche Wand, die jeden verzweifelten Versuch, sich zu erinnern, gnadenlos abwehrte. Er tastete immer wieder in dieser Finsternis nach einem Anker, nach einem Hinweis, wie er nach Hause gekommen war, doch seine Gedanken wehrten sich dagegen. Nach der Party wachte er in seinem eigenen Bett auf, neben ihm auf dem zerwühlten Laken lag ein fremder BH und eine Nachricht „Danke für den schönen Abend“ in einer Handschrift die Sofia nicht gehörte. Als er an diesem Morgen mit pochendem Kopf in den beschlagenen Spiegel im Badezimmer geblickt hatte, sah er nicht nur erschreckend mitgenommen aus, er entdeckte auch rote Lippenstiftspuren an seinem Hals und verwischt auf seinen eigenen Lippen.
Nach einer langen, heißen Dusche, in dem verzweifelten Versuch, seine zerrissenen Gedanken wieder auf eine halbwegs geordnete Bahn zu lenken, wagte er einen ersten Blick auf sein stummgeschaltetes Smartphone. Der entsperrte Bildschirm explodierte förmlich mit wütenden Nachrichten von Freunden, erfüllt von bitteren Vorwürfen, hasserfüllten Anschuldigungen und tiefer Enttäuschung. Sofia hatte sein Postfach mit verzweifelten Sprachnachrichten geflutet. Ihre Stimme brach immer wieder im erstickten Schluchzen, dann überschlug sie sich in wütenden, verzweifelten Schreien und Anschuldigungen. Jede Nachricht war ein stummer Vorwurf, wie er ihr diese tiefe, klaffende Wunde zufügen konnte. Angeblich hatte er sie auf dieser verfluchten Party betrogen. Das konnte er bruchstückhaft aus den wütenden Texten und den Sprachnachrichten herauslesen – mit wem genau, wollten die kryptischen Nachrichten von Sofia und den anderen nicht verraten, und sein Gedächtnis hüllte sich weiterhin in gnadenloses Schweigen. Jemand hatte ihm ein unscharfes, verpixeltes Foto geschickt, auf dem schemenhaft zwei Frauen zu erkennen waren; mit einer der beiden soll er Sofia betrogen haben. Selbst sein bester Freund Christoph, der ebenfalls auf der Party gewesen war, hatte sich seitdem von ihm distanziert. Sie waren seit ihrer gemeinsamen Abiturzeit unzertrennlich gewesen, hatten gemeinsam unzählige Höhen und Tiefen durchlebt, aber seit dieser Nacht war Christophs Verhalten ihm gegenüber kühl und distanziert. Er nahm seine Anrufe demonstrativ nicht mehr entgegen, antwortete nur noch kurz angebunden und förmlich per WhatsApp. Jede noch so vorsichtige Anspielung Marlons auf den Abend wich Christoph konsequent aus, er wechselte abrupt das Thema, als wäre ihm die bloße Erwähnung dessen, was Marlon getan haben sollte, zutiefst unangenehm.
Die ganze Partynacht hatte sich in seinem Umfeld wie in jenen unüberprüfbaren, aufgebauschten Geschichten entwickelt, die sich in Windeseile zu einem alles vernichtenden Tsunami aus Verachtung hochgeschaukelt hatten. Seitdem herrschte eisige Funkstille mit der Frau, die einst sein Ein und Alles gewesen war. Sofia war wortlos ausgezogen, hatte ihre Sachen ohne ihn eines Blickes zu würdigen mitgenommen. Sie hatte ihn überall blockiert, ihn endgültig aus ihrem Leben gelöscht. Ihre gemeinsamen Freunde waren ihr gefolgt, einer nach dem anderen wie loyale Gefolgsleute einer gestürzten Königin. Jeder Einzelne schien fest davon überzeugt zu sein, dass sein Gedächtnisverlust nur eine billige Ausrede für sein abscheuliches Verhalten war - was auch immer es war. Die unbekannte Frau, mit der er Sofia betrogen haben soll, hat er nicht mehr gesehen oder getroffen. Sie hat ihm auch nie eine Nachricht geschrieben.
Keiner aus seinem einst so vertrauten Freundeskreis wollte oder konnte die schwarzen, klaffenden Lücken seines Gedächtnisses mit rettenden Puzzleteilen füllen. Marlon atmete tief durch und sah zu den gepackten Koffern am Fußende des Bettes. Er hatte sich freigenommen. Der Urlaub, den er mit Sofia einst gemeinsam geplant und er ihr als liebevolle Überraschung geschenkt hatte, wäre an diesem Wochenende gewesen. Es sollte ein sehnsüchtig erwarteter, romantischer Ausbruch aus dem grauen Alltag werden, ein gemeinsames Ziel, um die erschöpften Energiereserven für die kommenden, stressigen Monate wieder aufzutanken. Jetzt war die bloße Vorstellung davon nur noch ein melancholisches, schmerzhaftes Echo dessen, was hätte sein können.
„Aber warum absagen?“, hatte er sich gefragt. Die Reise war längst bezahlt, die freien Tage genehmigt. Wenn ihm schon die Freude im Leben abhandengekommen war, dann hoffte er zumindest, an diesem vertrauten Ort seiner Kindheit ein paar Tage Ruhe zu finden – und mit etwas Glück die fehlenden, entscheidenden Puzzleteile in seinem wirren Gedankenlabyrinth zusammenzufügen.
Marlon stand schwerfällig auf, wischte sich mit einem Handrücken die getrockneten, dunklen Blutreste von seiner Nase und zog sich an. „Alleine verreisen.“, ging ihm immer wieder durch den Kopf. Der Gedanke fühlte sich bizarr an, wie ein unsicherer Schritt in eine fremde Welt. Aber was, in seiner jetzigen Lage, hatte er eigentlich noch zu verlieren?
Marlon
Sein Ziel war das Feriendorf Holiday Balance Park, ein abgelegener Ferienpark mitten im Teutoburger Wald, nicht weit von Bielefeld, den er aus seiner fernen Kindheit kannte. In seiner Erinnerung war es ein lebendiges Paradies für Familien gewesen, erfüllt vom hellen Lachen spielender Kinder und dem fröhlichen Stimmengewirr der Urlauber.
Heute, im trostlosen Grau des späten Novembers, schien es eher ein stiller Rückzugsort für Menschen zu sein, die der lauten Welt entfliehen wollten – Paare, die krampfhaft ihre Zweisamkeit suchten, oder ältere Gäste, die die beinahe gespenstische Ruhe genossen. Familien mit Kindern suchte man in dieser tristen Nebensaison vergeblich. Die Erinnerung an unbeschwerte, vergangene Zeiten hatte Marlon hierhergelockt. Erinnerungen, die er einst mit Sofia teilen wollte, da sie ein solches Feriendorf noch nie zuvor erlebt hatte. Doch als sein Wagen die schmale, von hohen Bäumen gesäumte Zufahrtsstraße entlangfuhr, erkannte er den Ort kaum wieder. Marlon war bisher nur im Sommer hier gewesen, nicht im November. Die Bäume waren kahl, ihre dunklen Äste ragten wie gebrochene Gliedmaßen in den grauen, wolkenverhangenen Himmel. Ein dünner, klammer Nebel kroch gespenstisch über die feuchte Straße und schluckte die Konturen der fernen Bäume wie hungrige Schatten. Er schien die Welt um Marlon herum in eine graue, undurchdringliche Watte zu hüllen und betonte so seine wachsende Isolation. Die trübe Luft roch nach kaltem Stein und nassem Laub. Der See im Zentrum des Parks, an den er sich erinnerte, schien den Nebel anzuziehen.
Die Bungalows, die in der lebhaften Hauptsaison vor Leben pulsiert hatten, wirkten jetzt, in dieser gespenstischen Nebensaison, eher wie ein verlassenes Dorf. Eine Geisterstadt, in der die Zeit stillzustehen schien. Die schmalen Wege, die holprigen Straßen und die moosbewachsenen Dächer waren mit einer dicken, feuchten Schicht braunen und gelben Laubs bedeckt. Das ganze Feriendorf strahlte eine Unwirklichkeit aus, als hätte es die fröhliche Lebendigkeit der Hauptsession für immer vergessen. Marlon fuhr langsam und zögerlich, während er sich mit der Gegend vertraut machte, aber alles wirkte fremd. Bruchstücke lebhafter Kindheitserinnerungen stiegen in ihm auf: der Basketballplatz, auf dem er mit seinem älteren Bruder gewesen war, die Holzbrücke über den schmalen, plätschernden Bach, welches als Kullisse für abermals kindliche Abenteuer diente, das sanfte Rascheln der grünen Blätter im warmen Sommerwind, das sich in seiner Erinnerung wie ein fröhliches, unbeschwertes Lied angehört hatte. Jetzt im November war nur noch Stille geblieben. Eine erdrückende feindselige Stille, die schwer auf seinen Ohren lastete. Keine hellen Kinderstimmen, kein befreiendes Lachen, kein anderer Klang als das leise, knirschende Geräusch seiner Reifen auf dem feuchten Laub. Marlon fuhr weiter um das weitläufige Parkgelände.
Zentral auf dem Gelände des Ferienparks thronte das imposante Park Zentrum, ein lebhaft wirkendes Gebäude, das selbst an solch tristen Tagen ein Herzstück des Areals zu sein schien. Man konnte es schon von Weitem erkennen. Warmes, einladendes Licht strömte durch die großen Fenster nach außen und schuf eine tröstliche Atmosphäre inmitten der umgebenden Dunkelheit. Innen bot sich eine bunte Mischung aus Restaurants, kleinen, geschmackvoll eingerichteten Geschäften und dem bunten Eingang zum Erlebnisbad, das einst eine seiner liebsten Attraktionen gewesen war. Die Restaurants reichten von gemütlichen Bistros mit dem verlockenden Duft von frisch gebrühten Kaffeespezialitäten hin zu familienfreundlichen Pizzerien und einem hell erleuchteten Buffet-Restaurant, in dem der appetitliche Duft frisch gebratener Speisen in der warmen Luft lag. Die kleinen Souvenirgeschäfte waren vollgestopft mit allerlei bunten Kleinigkeiten, von kitschigen Postkarten und glitzernden Magneten hin zu regionalen Handwerksstücken. Besonders auffällig war der fantasievoll gestaltete Eingang zum Schwimmbad, der von einer aufwendigen Dekoration im abenteuerlichen Piratenstil umgeben war – ein gewaltiges, dunkelbraunes Holztor, umrahmt von gefüllten Schatztruhen und harmlosen, hölzernen Kanonen, die Kinder zum fantasievollen Spielen einluden. Marlon lenkte seinen Wagen auf den großen, fast leeren Gästeparkplatz.
Direkt neben dem imposanten Parkzentrum stand die schlichte Rezeption. Im Vergleich zu der farbenfrohen und thematisch aufwendig dekorierten Hauptattraktion wirkte dieses kleine, unscheinbare Gebäude wie ein vergessener Anbau. Es war ein flacher Bau mit neutralen, unaufdringlichen Farben und klaren, nüchternen Linien. Die einzigen Elemente, die an die Fröhlichkeit des Parks erinnerten, waren ein paar kümmerliche Topfpflanzen vor der Eingangstür und ein Schild mit dem stilisierten Logo des Parks. Von Weitem sah die Rezeption tatsächlich wie ein nachträglicher Einfall aus – ein funktionaler, aber wenig inspirierender Anbau im alles überragenden Schatten des Parkzentrums. Doch trotz ihres unscheinbaren Äußeren war sie der zentrale Dreh- und Angelpunkt für alle Anliegen der Gäste. Ob dringende Fragen, kleinere Beschwerden oder die Anmeldung für die angebotenen Aktivitäten – hier begann für viele der erste Kontakt mit dem Park, auch wenn das Gebäude optisch kaum mit dem Glanz des Areals mithalten konnte.
Marlon trat zögerlich an die schlichte Rezeption, die trotz des fernen, gedämpften Trubels des Parkzentrums eine sterile Ruhe ausstrahlte. Hinter dem langen, weißen Tresen saß ein junger Mann, vermutlich Anfang zwanzig, mit leicht zerzausten, dunklen Haaren und einer schief sitzenden Brille, die er immer wieder mit einem Zeigefinger nach oben schob. Er trug ein etwas zu großes, hellblaues Poloshirt mit dem dezenten Logo des Parks auf der Brust. Der Ausdruck in seinem jungen Gesicht war eine seltsame Mischung aus aufgesetzter, professioneller Freundlichkeit und der müden Resignation eines gestressten Studenten, der sich mit diesem monotonen Job sein Studium zu finanzieren versuchte.
„Guten Tag, herzlich willkommen im Holiday Balance Park! Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ begrüßte der junge Mann Marlon mit einem enthusiastischen Lächeln, das jedoch gezwungen und etwas zu überbetont wirkte. Die monotone Routine hinter diesen einstudierten Worten war unüberhörbar.
„Ich habe einen Bungalow gemietet. Mein Name ist Bernard, Marlon Bernard,“ antwortete Marlon leise. Sein Nachname, ein blasses Überbleibsel seiner weit zurückliegenden französischen Vorfahren, klang für ihn selbst immer ein wenig fremd und unpassend. Die französische Sprache selbst war ihm kaum geläufig, abgesehen von ein paar bruchstückhaften Phrasen aus seiner Schulzeit reichten seine Kenntnisse wahrscheinlich nicht einmal für die einfache Bestellung eines Baguettes. Der junge Student wandte sich dem hell erleuchteten Computerbildschirm zu und begann mit schnellen Fingern zu tippen. „Bernard… Bernard…“ murmelte er leise vor sich hin, während er durch die digitale Buchungsliste scrollte. „Ah, hier haben wir sie! Marlon Bernard, Bungalow 645, gebucht für zwei Personen.“ Marlons Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er hatte geahnt, dass diese beiläufige Bemerkung kommen würde, doch sie traf ihn dennoch unangenehm und erinnerte ihn auf bittere Weise an Sofia. „Ja, das stimmt. Aber ich bin allein hier“, sagte er mit einem kaum merklichen Anflug von Zögern, der ihm selbst missfiel. Der Student hob kurz desinteressiert die Augenbrauen, nickte aber nur stumm. „Oh, alles klar.“ Er zog eine knarrende Schublade auf, holte einen einzelnen, abgenutzten Schlüssel hervor und legte ihn zusammen mit einer laminierten Parkkarte auf den glatten Tresen. „Hier ist Ihr Schlüssel, Herr Bernard, und die Karte mit den Parkplätzen. Ich habe Ihnen den Bungalow 645 darauf markiert.“ Er deutete mit einem müden Lächeln auf die Karte, dann schenkte er Marlon ein routiniertes, unpersönliches Lächeln. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Doch Marlon hatte sich bereits abgewandt und war wortlos auf dem Weg zum Ausgang. Die übertriebene, aufgesetzte Höflichkeit des jungen Studenten prallte heute an ihm ab wie kalter Regen an einer schmutzigen Fensterscheibe. Seine Gedanken fühlten sich schwer und zäh an, und in seiner leeren Hand drehte er den einzelnen, kalten Schlüssel gedankenverloren zwischen den steifen Fingern. Er trat durch die automatischen Glastüren ins Freie, wo die kühle, feuchte Novemberluft ihm unangenehm ins blasse Gesicht schlug. Tief durchatmend, steuerte er stumm auf sein einsam auf dem nahen Parkplatz stehendes Auto zu. Der beklemmende Gedanke, in einem für zwei Personen reservierten, leeren Bungalow allein einziehen zu müssen, lastete schwer auf seiner ohnehin schon bedrückten Seele.
Marlon parkte seinen Wagen auf dem Gästeparkplatz, der für ihn reserviert worden war, und schaltete mit einer abrupten Bewegung den Motor ab. Eine tiefe, beinahe greifbare Stille legte sich sofort um ihn, so dicht und schwer, dass sie ihm den Atem raubte. Er schloss kurz die Augen um die Ruhe auf sich wirken zu lassen. Er hatte diese Abgeschiedenheit gesucht – er hatte gehofft, sie würde ihn trösten, seine zerrissenen Gedanken ordnen. Doch jetzt fühlte sie sich beklemmend an, bedrohlich, als würde sie ihn mit kalten, unsichtbaren Fingern umklammern.
Mit einem leisen Seufzen griff er nach seinem Koffer und stieg aus dem Wagen. Die Luft war klamm und feucht, ein feiner, grauer Nebel lag wie ein schützender, aber auch isolierender Schleier über der Landschaft. Der weiche Boden unter seinen Füßen war feucht und nachgiebig, jeder seiner Schritte hinterließ dunkle Spuren im nassen Laub, die der dichte Nebel sofort wieder zu verschlucken schien. Marlon zog seinen dünnen Mantel enger um seinen frierenden Körper, während er aufbrach zu seinem kleinen Bungalow. Das unscheinbare Gebäude wirkte klein und aus der Zeit gefallen, bescheiden in seiner Erscheinung. Es war nicht genau so, wie er es sich in seiner kindlichen Erinnerung vorgestellt hatte – nur alleine im November - kälter und einsamer. Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein Geruch entgegen, eine Mischung aus abgestandener Luft und alten Möbeln. Alles an diesem Geruch erinnerte an Urlaubstagen aus seiner Kindheit - Kurz erfüllte sein Herz sich mit Geborgenheit. Ein leichtes Grinsen kam auf seine Lippen.
Im Inneren war es schlicht und zweckmäßig eingerichtet: eine kleine Couch in einem Beige-Ton, ein Holztisch mit Gebrauchsspuren und Kratzern, eine kleine Küchenzeile und ein offener Kamin. Die gesamte Einrichtung wirkte nicht modern, sie wirkte aus einer Ära, in der man weniger Wert auf modernen Stil und mehr auf reine Funktionalität gelegt hatte. Trotzdem umgab den kleinen Raum eine unterschwellige Wärme – nicht durch Gemütlichkeit, sondern durch seine Erinnerungen, die solche Orte in ihm wecken konnten.
Marlon stellte seinen Koffer mit einem dumpfen Geräusch ab, blieb einen Moment unbewegt stehen und ließ seinen trüben Blick durch das stille Zimmer schweifen. Nichts wirkte hier lebendig, und doch beschlich ihn ein beunruhigendes Gefühl, beobachtet zu werden. Er wusste nicht, ob es die seltsame, beklemmende Spannung der allgegenwärtigen Stille war oder etwas dunkleres Unbenennbares. Mit einem kleinen Schütteln des schweren Kopfes versuchte er, diesen unangenehmen Gedanken wegzudrängen, setzte sich schwerfällig auf die Couch und lehnte sich erschöpft zurück.
Die Stille in der kleinen Hütte war nicht einfach nur ruhig – sie war unheimlich und bedrohlich. Sie fühlte sich nicht natürlich an, sondern wie etwas Lebendiges, das ihn langsam umklammerte, ihn immer fester einwickelte, bis er sich selbst kaum noch spürte. Marlon schloss die Augen und versuchte krampfhaft, seinen Atem zu beruhigen, doch die Stille schien ihn wie ein böses Echo seiner eigenen inneren Unsicherheit zurückzuwerfen.
Dann hörte er es.
Ein leises, unregelmäßiges Klopfen durchbrach die beunruhigende Stille, ein dumpfes, kaum wahrnehmbares Pochen, das sich anfühlte, als würde es direkt aus dem kalten Inneren der Holzwände kommen – wie ein versteckter, unregelmäßiger Herzschlag des Hauses. Marlon riss die schweren Augen auf, fuhr stocksteif auf der Couch zusammen und lauschte angestrengt in die Stille hinein. Das Geräusch wiederholte sich – unregelmäßig, wie ein leiser, verzweifelter Herzschlag, der aus dem Inneren der kalten Wände zu kommen schien. Marlon setzte sich vorsichtig auf und ließ seinen unruhigen Blick langsam im trüben Licht des Zimmers umherwandern. Das leise Klopfen kam nicht von der knarrenden Tür, und draußen war in dem dichten Nebel auch nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Das beunruhigende Geräusch schien direkt aus dem Inneren des kleinen Bungalows zu kommen.
Er stand zögerlich auf und legte vorsichtig eine kalte Handfläche flach an die raue Holzwand. Die Kälte des Holzes kroch sofort durch seine dünne Haut und in seine müden Finger, und er versuchte angestrengt, die Quelle des Geräusches zu lokalisieren. Doch es war plötzlich verschwunden. Kein leises Klopfen mehr. Nur die allumfassende, bedrückende Stille. Marlon trat einen unsicheren Schritt zurück und schüttelte den Kopf, als wollte er die Gedanken vertreiben. „Es ist nichts“, murmelte er leise zu sich selbst, doch die tröstenden Worte schmeckten in seinem Mund bitter nach einer Lüge.
Er ließ sich erschöpft wieder auf die Couch sinken, den Blick starr auf den dunklen, leeren Kamin gerichtet. Die Vorstellung von flackernden, wärmenden Flammen und dem beruhigenden Knistern von Holz versprach eine willkommene, wenn auch nur kurzzeitige Ablenkung von seiner Unruhe – später würde er das Feuer anzünden. Vielleicht würde die tröstende Wärme zumindest kurzzeitig die eisige Kälte vertreiben, die ihn umgab. Und mit etwas Glück würde sie vielleicht auch dieses nagende Gefühl vertreiben, in dieser stillen, Hütte nicht ganz allein zu sein.
Vissen
Der Himmel war in ein tiefes Grau gefärbt, das sich in den feuchten Pflastersteinen der Hermann-Delius-Straße spiegelte. Inmitten der Szenerie pulsierte nur das Flackern der Blaulichter, ein künstliches Leben, das die Dunkelheit durchbrach. Der Ravensberger Park, ein beliebter Treffpunkt für Spaziergänger, Jogger und gestresste Menschen, die dem Trubel des Stadtlebens entfliehen wollten, war nun von grellem Absperrband und uniformierten Beamten durchzogen.
Kommissarin Emma Vissen parkte ihren Wagen einige Meter abseits des Chaos und trat mit einem leisen Seufzer aus. Noch bevor sie die rotweiße Absperrung erreichte, bemerkte sie die unruhige Menschenmenge. Trotz des trüben Himmels und des feuchten Windes hatten sich bereits zahlreiche Schaulustige hinter den flatternden Bändern versammelt, ihre Blicke gierig auf das abgesperrte Areal gerichtet, als würden sie auf eine makabre Vorstellung warten.
Emma Vissen war noch nicht lange bei der Bielefelder Kriminalpolizei, doch in den wenigen Jahren hatte sie bereits eine Vielzahl von grausamen Gewaltverbrechen untersucht. Ihr messerscharfer analytischer Blick, ihr bewahrter kühler Kopf und ihre unermüdliche Hartnäckigkeit hatten ihr den Respekt ihrer oft älteren Kollegen und Kolleginnen eingebracht. Doch manchmal, besonders an solchen Tagen, fragte sie sich, ob all ihre Ausbildung und ihre rationale Denkweise jemals ausreichen würden, um die dunklen, unbegreiflichen Abgründe der menschlichen Seele wirklich zu ergründen, mit denen sie täglich konfrontiert wurde. Sie verabscheute jede Form von Gewalt, und es widerstrebte ihr zutiefst, zu verstehen oder auch nur ansatzweise nachzuvollziehen, wie ein Mensch einem anderen solchen unendlichen Schmerz zufügen konnte. Nach ihrem Doppelstudium in Psychologie und Polizeivollzugsdienst hatte sie sich innerlich geschworen, unerbittlich nach den Tätern zu suchen und sie zur Rechenschaft zu ziehen.
Ein Murmeln und tuschelnde Stimmen zogen wie ein kalter Wind durch den Park. Das Gerücht über das Verbrechen hatte sich bereits wie ein unaufhaltsames Lauffeuer in der Stadt verbreitet. "Lassen Sie mich bitte durch", sagte sie mit fester, aber ruhiger Stimme, zog ihre lederne Dienstmarke hervor und bahnte sich entschlossen ihren Weg durch die sensationslüsterne Menge. Ein uniformierter Kollege hob das flatternde Absperrband für sie an. "Ab hier ist der Tatort gesichert, Frau Vissen." „Danke Klaus, warum heute so höflich?“ entgegnete Vissen und betrat die feuchte, aufgewühlte Wiese. Die meisten ihrer Kollegen nannten sie beim Nachnamen. Sie hatte sich durch ihre bisherigen, oft aufreibenden Fälle trotz ihres eher zierlichen und feminin wirkenden Äußeren einen unbestreitbaren Respekt erarbeitet.
Der modrige Geruch von nassem, herbstlichem Laub vermischte sich in der kühlen Luft mit etwas weitaus Unangenehmerem: einer stechenden, metallischen Note, die Vissen sofort als das untrügliche Aroma von frischem Blut identifizierte, überlagert von einem scharfen, säuerlichen Geruch. Vor ihr, halb verborgen zwischen dichtem, dornigem Gebüsch, lag der leblose Körper einer jungen Frau. Ihre blassen Augen waren weit geöffnet, der starre Blick ins Leere gerichtet. Die zarte Kehle war von einem sauberen, tiefen
