Zinnobertod - Reinhard Lehmann - E-Book

Zinnobertod E-Book

Reinhard Lehmann

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Beschreibung

Ein Junge stürzt von der Teufelsbrücke im Sagenharz bei Thale. Ein Akt des Teufels heißt es, weil er ihm nicht huldigte. Sein Aufschrei bringt die trügerische Idylle des sanften Tourismus zum Einsturz. Eine enthauptete und zerstückelte Leiche verdrängt das Geschehen. Zugleich gibt die Enkelin des geschätzten Wanderführers der Region eine Vermisstenanzeige auf. Das Landeskriminalamt in Magdeburg schickt Kriminaloberkommissar Benno Lorenz in den Harz. Dem gelingt es, verborgenen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Die Lage eskaliert, weil er in den Streit um den Führungsanspruch in einer Sekte gerät. Er erfährt, wie gediegene Täter sich des Kults der Harzer Sagenwelt bedienen, um die Polizei mit ihrem Spott öffentlich zu besudeln. Lorenz entkommt dem Tod durch Folter mit knapper Not. Da schlittert er in eine neue Bedrohungslage.

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Ähnliche


Reinhard Lehmann

Harzkrimi

Impressum

Zinnobertod

ISBN 978-3-96901-017-4

Kindle Edition

V1.0 (05/2021)

© 2021 by Reinhard Lehmann

Abbildungsnachweise:

Umschlag (Teufel, Hexentanzplatz Thale) © Frank_P_AJJ74 | pixabay.com

Porträt des Autors © Reinhard Lehmann

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Allgemeiner Hinweis:

Bei den Schauplätzen dieses Romans handelt es sich um reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Anmerkung des Autors

Über den Autor

Eine kleine Bitte

Prolog

Sein Job lautet, einen Tathergang zu klären. Die Aktenlage ist dürftig und die Personaldecke eng. Ein Alleinarbeitsplatz, der ihm eine Woche Zeit einräumt. Eine Menge Fragen bleiben zurück.

Wer ist der Mensch, dessen sterbliche Überreste ohne Kopf das Wildwasser des Flüsschens Bode freigab? Wie hochgradig ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um den vermissten Führer einer ortsansässigen Sekte handelt?

Der Tatortermittler beim Landeskriminalamt in Magdeburg reist nach Thale, einem Städtchen am nordöstlichen Harzrand. Hier erfährt er am eigenen Leib, dass der Mythos im Anbeten heidnisch-germanischer Götter in der Fallbearbeitung eine entscheidende Rolle spielt. Weil er mit dieser Tradition nichts am Hut hat, bringt ihn das in höchste Gefahr. Dabei dreht es sich um die Prophezeiung über den Akt des Teufels, der einen ruchlosen Menschen bestraft. Passiert an einem Morgen, der nach Sommer und Frieden roch. Für einen Moment ließen die Strahlen der Sonne vergessen, dass sich diese Idylle bald mit dem Auftauchen zahlreicher Touristengruppen verlor. Nichts deutete auf jene Katastrophe hin, die Angst und Schrecken verbreiten würde. Sie setzte sich mit einem unschuldigen Kind in Gang, das von der Teufelsbrücke im Harzer Bodetal stürzte. Ein Unfall durch mangelnde Aufsichtspflicht der Eltern. Nicht die Spur vom Teufelswerk, dessen Mythos in der Sagen-und Götterwelt der Region tief verwurzelt ist. Der Vorgang befeuerte eine lebhafte Fantasie, die im Sagenharz einen gewaltigen Aufschrei erzeugte.

Lorenz, der Tatortermittler, begreift zu langsam diese Macht. Zu spät erkennt er die Absicht einer Tätergruppe, künstlerisch visualisierte Skulpturen der Harzer Sagenwelt für ihre Zwecke zu missbrauchen. Seine öffentliche Demütigung und die der Polizei war lange geplant. Vom Wahn getriebene Auftraggeber haben Killer rekrutiert. Die kennen sich bestens mit den Geschichten rund um das Felsplateau des Hexentanzplatzes und der Rosstrappe aus. Sie erzählen von einer geheimnisumwobenen Welt der Hexen und Teufel im Harz. Das sind Kultstätten, die der Huldigung jener Fabelfiguren dienten. Einen solchen Platz wählen sie aus, um Lorenz hier den Geschmack des Todes wahrnehmen zu lassen.

Er erfährt, wie religiöse Rituale Zwietracht säen und in Feindschaft enden. Diese Art der Einflussnahme ist eine neue Erfahrung. Es ist eine gezielte Form der Manipulation des Bewusstseins und der Willensstärke.

Bald kommt er dubiosen Geheimnissen auf die Spur. Dabei nutzte er geschickt die Zuneigung der Enkelin des Vermissten. Solche Verbindungen sind ihr verboten. Der religiöse Glaube verbietet den Kontakt zu Personen außerhalb der Gemeinschaft. Es bleibt nicht aus, dass der Intimkontakt unbekannte Schergen in Position bringt: Feinde. Die greifen ohne Vorwarnung an. Sie überwältigen ihn auf dem Bergplateau Hexentanzplatz. Die vermummten Kreaturen fixieren ihn mit Gewebeband an eine der mannsgroßen Fabelskulpturen aus Bronze. Das Mischwesen mit dem hochglanzpolierten Hintern erfüllt seine Aufgabe vorbildlich. Die heißt Demütigung in der Öffentlichkeit. In skandalöser Machart pressen sie sein Gesicht in die Falte des polierten Bronzehinterns. Hautnah drängt sich ihm bis heute der Geschmack des Blutes mit dem Metall aus der Verbindung von Kupfer mit Zinn im Mund auf. In blinder Wut über das eigene Versagen schiebt er alle Vorsicht zurück. Da passiert es. Seine Peiniger schlagen wieder zu. Lorenz setzen sie in einem Verlies unermesslichen Folterqualen aus. Er entkommt schwer verletzt mit knapper Not.

Ab dem Moment ändert sich die Lage. Die Schlinge um potentielle Täter zieht sich langsam zu. Sie erhellen zugleich Ereignisse in einer finsteren Vergangenheit, die in der Gegenwart weiterhin Zwietracht säen. Das ist eine Geschichte, die der religiösen Familie des Vermissten eine schwere Bürde auferlegt. Es war die Brandmarkung, Werwolf und Nazi zu sein. Verleumdung brachte einem engen Verwandten den grausamen, ungesühnten Tod im russischen Gulag. Wieder ist es ein Mitglied der Familie, das Jahrzehnte später sein Leben verliert. Lorenz erhält Kenntnis vom spektakulärsten Selbstmord in der Geschichte der Harzer Eisenmetallurgie. Es ist ein chancenloser Todessprung, der dem ehemaligen Stahlwerk am Rand der Stadt Thale zu keiner Ehre gereicht. Fakt ist, dass die Gießpfanne mit 1625 Grad Celsius brodelndem Stahl einer ungeborenen Tochter den Vati entreißt. Sie ist heute eine erwachsene Unternehmerin, mit der Lorenz eine Liebschaft in Gang setzte. Der Überlebenskampf schritt voran. Von ihm fordert er, Klarheit in sein Intimleben zu bringen. Gleichzeitig wuchs die Enttäuschung mit. Alles deutete darauf hin, dass sie ihren Kundenkreis in akute Gefahr brachte. Kekse aus der Herstellung in ihrer Manufaktur wiesen Spuren eines Nervengiftes auf. Das ist Quecksilbersulfid, auch Zinnober genannt. Ein Farbpigment zur speziellen Verwendung bei der Produktion von Keksdosen.

Die Lösung zur Offenlegung des Verursachers ist verblüffend. Sie führt ins Herz der Sekte. In deren Verlauf gelingt es Lorenz, ein Komplott aufzudecken. Die Verbrecher sind alle entlarvt. Dabei sieht Zufriedenheit anders aus.

Kapitel 1

Nichts deutete auf jene grauenerregenden Ereignisse hin, welche die friedliche Idylle der Kleinstadt bald darauf zunichtemachen würde. Am Anfang der schrecklichen Welle von Zerstörung menschlichen Lebens standen dreizehn Buchstaben: Teufelsbrücke! Mittendrin der Teufelskopf mit zwei gebogenen Hörnern auf der Stirn. Klar, dass damit die Neugier des zehnjährigen Jungen explodierte. Er stürzte auf die schnörklige, überdimensionale, schwarze Schrift zu. Sie prangte auf dem die Brücke überspannenden Bogen. Mit seinem kindlichen Gemüt erkannte er nichts von der Gefahr, die voraus bestand. Den Schriftzug entzifferte er wegen der vergnüglichen Ungeduld mit Mühe. Nahe der Gruppe zu bleiben, verschwamm das mahnende Wort der Mama.

»Sieh«, rief er aus voller Kehle, um die entfesselte Energie lebhaft mit den Händen zu bekräftigen. Die leibliche Mutter verharrte zwanzig Meter vor ihm auf dem Wanderweg. Sie hörte den Ruf nicht.

Das tosende Wasser unter der Brücke erlaubte keine Kommunikation. Mit Handzeichen bedeutete sie ihm, zurückzukommen. Vergebens! Die inspirierende Kraft der Maske hatte endgültig das Interesse des Kindes geweckt. Anfassen um alles in der Welt, darauf war er erpicht. Wie? Das blieb unbeantwortet. Er war ein Bürschchen im Wachstum. Das Ziel weit über den ausgestreckten Händen. Unerreichbar, im ersten Moment. Nicht dafür, einen blitzschnellen Entschluss zu fassen.

Das Teufelsgesicht präsentierte sein verheißungsvolles Lachen. Es begleitete den Sturz des Jungen in die Tiefe. Das doppeldeutige Grinsen war, äußerlich betrachtet, des Teufels Lohn. Es flankierte den Burschen den Weg über die Brückenbrüstung hinaus.

Der markerschütternde Schrei, die Ohnmacht der Untätigkeit, der Schock des Ereignisses zeigten sich omnipräsent. Aus der Gruppe setzten Gestalten zu einem Endspurt an. Zu spät.

Der Körper trieb flussabwärts. Der schlauchartige, felsige Talabschnitt gab den Wassermassen genügend Speed. Zig Meter unterhalb der Brücke bremsten Felsbrocken die Irrfahrt, um dadurch die Bergung des Jungen zu erlauben. Glück im Unglück. Ab sofort galt der Kampf der abrupt abflauenden Lebensenergie. Ersthelfer aus der Wandergruppe pressten den Tod aus dem geschundenen Oberkörper.

»Der Junge übersteht es«, erklärte der eine halbe Stunde später eintreffende Notarzt. »Ohne Wiederbelebung wäre der Tod eingetreten. Sie haben das Richtige unternommen. Keine Sorge. Die Verletzungen verheilen zügig.«

Er hatte es kaum ausgesprochen, da überschlugen sich die Ereignisse. Das Team des Bergrettungsdienstes erlebte Minuten nach dem Abtransport des Kindes eine unheilvolle Überraschung. Knapp neben der Bergeposition des Jungen offenbarte sich ein grausiger Fund. Ein teilskelettierter menschlicher Körper ohne Kopf, eingehüllt in Kleidungsfetzen, forderte neue Aufmerksamkeit. In dem Moment wandelte sich der urige Platz rund um die Teufelsbrücke zum medienwirksamen Tatort.

Frust begleitete Benno Lorenz. »Verdammt, warum ich? Das ist eine Beleidigung für jeden alten Hasen im Amt«, hielt er dem Chef vom Dezernat 25 im LKA entgegen.

»Bleiben Sie cool«, erwiderte der grinsend.

»Oberkommissar, Sie sind ein ausgebuffter Draufgänger. Einer der besten Tatortermittler. Ich setze auf Sie! Zum abschließenden Verständnis: Ziehen Sie den Job nach eigenem Ermessen durch.«

Dies traf den Ehrgeiz des ambitionierten Einzelkämpfers. Er war hundertprozentig die Sorte Mensch, auf den das zu seiner Person erstellte psychologische Profil zutraf.

»Für Sie ein Routinejob«, rundete die Sache ab. Die Beschwichtigung half. Lorenz presste mit den Zähnen knirschend seine Zustimmung heraus.

»Okay, auf mich ist Verlass. Was gibt es zu klären, Chef?«

Der nickte bestimmend. »Ich schicke Sie in den Harz. Urlaubsvertretung, ab sofort, Oberkommissar! Ein teilskelettierter menschlicher Körper ohne Kopf hat gigantische Wellen geschlagen. Meine Erwartung ist, dass Sie den Vorgang in der Stadt der Mythen schnellstens abschließen.«

»Habe ich Unterstützung vom Revierkriminaldienst im Harz?«

»Dem Grunde nach, ja. Bitte, ich brauche vor Ort einen ausgebufften Beamten. Ergreifen Sie die Chance. Ihre Beförderung, steht die nicht an? Na ja, egal, Sie sind dran. Und, es tut mir leid, Lorenz, wegen der unpräzisen Aussage«, sagte der Kriminaloberrat gedämpft. »Sehen Sie es wie ein Trostpflaster. Der Einsatz stimmt die Kollegen garantiert positiv.«

»Wenn Gott nichts anderes im Schilde führt. Okay, Skelettfragmente ohne Kopf werfen eine Menge Fragen auf.«

»Sicher, Lorenz! Ihr Job besteht darin, Licht in die Sache zu bringen. Wo ist das Problem? Ich sehe keines. Verlieren Sie sich im Fulltimejob, vierundzwanzig Stunden. Kommen Sie mit Fakten zurück. Ich beabsichtige, den Fall schnellstens abzuhaken. Begreifen Sie das?«

»Ja!«, erwidert er knapp.

»Ich rekonstruiere aus den mageren Informationen was Brauchbares. Eine makellose Überraschung, versprochen, in drei bis fünf Tagen.«

»Tun Sie das. Mich interessieren keine Ausreden. Wie gesagt, Sie haben freie Hand. Ein Hinweis, Lorenz. Es schadet nicht, wenn Sie die Vermisstenanzeige zu einem Wanderführer in die Ermittlungen einfließen lassen. Schaffen Sie Klarheit.«

Kapitel 2

Das Erwachen brachte höllischen Schmerz mit sich. Nichts passierte. Friedhofsstille, tiefe Dunkelheit und Leere im Hirn begleiteten Lorenz.

»Zeit, die Augen zu öffnen«, blieb ein scheuer Gedanke. Alle Mühe war umsonst! Die Wimpern am Rand des Ober- und Unterlids ließen sich keinen Millimeter bewegen. Verkrustetes Blut bedeckte die zarten Härchen und verschmolz sie miteinander. Der kräftezehrende Kampf, das zu ändern, war zum Scheitern verurteilt. Licht zu erheischen, um das Eingesperrtsein zu ergründen, fiel aus. Das war beileibe nicht alles. Den Kopf hatte sein Attentäter mit Gewebeband fixiert. Den Rest des Körpers mit meisterlicher Gründlichkeit ebenfalls. Das Blut in den zusammengepressten Adern stockte. Verharren in der Bewegungsunfähigkeit brachte Gefühllosigkeit und Schmerz. Das einzig Positive daran: es verordnete Konzentration und verhalf, den ersten klaren Gedanken zu fassen.

»Wo, verdammt, ist der Feind ... mein Peiniger? Wie bin ich in seine Fänge geraten? Welcher Tag ist heute?«

Eine Antwort blieb aus. Die Grabkammer demonstrierte, wofür sie der Täter geschaffen hatte: Angst zu verbreiten. Demut zu schaffen. Ja, was denn, war sein Leben bedroht? Und warum? Fragen, denen sich komplexe Erinnerungen entzogen.

Dabei war es nicht lange her, da überschlugen sich die Wogen in Erwartung auf ein Date. Wartete nicht Evelyn Feist am Ende des Wegs? Der Gedanke war dicht dran. Die aktuelle Lage zeigte sich von ihrer schlimmsten Seite. Mit übermenschlicher Anstrengung gab das Gehirn Parallelen zum Vorgang auf dem Hexenplateau nahe der Stadt Thale frei. Die Gedanken auf Kurs zu bringen halfen sie nicht. Zu penetrant waberte das eigene Unvermögen mit der fatalen Selbstüberschätzung seiner Kräfte. Indes endete das im bitteren Sarkasmus mit einem Ergebnis. Dem perfiden Verfall in einen Gedankenblitz. Das Wort Vertrauen verbarg sich darin. Fehlanzeige!

»Mist«, verbreitete sich die stille Reflexion rasant im Hinterstübchen aus. Ein übler Beigeschmack bedrängte ihn. Dominante Übelkeit setzte ein. Sie verstärkte seinen Wunsch, den quälenden Durst zu löschen. Hinzu kam dieser unsägliche Harndrang. Unverzagt quollen die Gedanken über. Sie reiften zu Worten, die hervorsprudelten, um sich am verschlossenen Mund wie eine Welle in der Meeresbrandung anzustauen. Hier einzig dem Zweck verbunden, Verständigung zu erlangen. Der Verschluss erfüllte das Qualitätsversprechen des Gewebebandherstellers. Lorenz hing festgezurrt wie an einem Marterpfahl.

»He, zeigt euch, ich muss pinkeln. Gebt mir was zu trinken. Wasser!«

Beides verlor sich erneut in seiner Gedankenwelt. Zu den Unbekannten drangen sie nicht vor. Lorenz meinte, deren Verhaltenskodex zu erkennen. Pure Angst des Versagens, was sonst.

Da gab es diese unsägliche Betäubung. Die traf ihn aus heiterem Himmel. Nichtsahnend! Blitzschnell! Hochwirksam! Das, obwohl der Schütze den von komprimierter Luft getriebenen Pfeil nicht zielgenau verschoss. War er abgelenkt? Hatte er Angst? Kam da Verzweiflung zum Ausdruck? Agierte er daher mit brutalen Schlägen und Tritten?

Lorenz erinnerte sich ebenfalls daran, dass die Wirkung des Narkotikums die Schmerzempfindlichkeit ausschaltete. Leider bis zu diesem Moment, wo sich der Speichel mit Blut vermischt im Mund sammelte. Er schluckte ihn runter, stieß dabei vor Schmerzen ruckartig die Luft aus. Ein Fehler, denn das Nasenbein schien gebrochen. Vorsicht war angesagt. Nicht aufregen! Nicht husten! Den Erstickungsanfall wegdenken. Dem blutigen Auswurf erlauben, aus der Nase zu fließen.

Die Methode, Angst wegzudenken, funktionierte leidlich. Sie brachte ihm Entspannung und Platz für neue Wahrnehmungen. In Wirklichkeit hatte sich was verändert. Er bemerkte einen sanften Luftzug. Da gab es demzufolge ein offenes Fenster, eine Tür?

»Mein Gott, was ist das?«, verlor sich in der Aufnahme muffig riechende, lauwarme Luft, die über nicht vom Klebeband bedeckten Hautpartien im Gesicht strich. Der Geruch von Schweinestall hatte sich darin verfangen. Dem auszuweichen, schien unmöglich. Sich dem Peiniger gegenüber zu artikulieren nicht. Lorenz fluchte innerlich.

»Ich gebe nicht auf«, verlor sich in dem von Schmerz durchfluteten unsichtbaren Blick in der künstlich geschaffenen, bedrohlichen Dunkelheit. In dieser Szenerie wuchs eine tödliche Gefahr heran. Die hatte ihren Ursprung im Speichel, der sich in der Halbmaske staute. Mittlerweile führte der zu einem würgenden Schlucken, welches den ausgeprägten Adamsapfel in der Mitte des Halses krampfen ließ. Nichts geschah, um es zu verhindern.

Ein oder zwei Sekunden lang trieb ihn der pure Instinkt einer taffen, selbst auferlegten Disziplin zu folgen. Das verhinderte, elendig zu krepieren. Die Akzeptanz, die undurchdringliche Dunkelheit wie ein Geschenk zu handhaben, zeigte ihre Stärke. Im Handumdrehen stellte sich die Frage nach dem Wie. Die Antwort hieß: durch absolute Konzentration! Durch Täuschung des Gegners! Bewusstlosigkeit vorzutäuschen wäre eine Option. Das Ziel, die Aufmerksamkeit der Schergen abzulenken. Was immerfort notwendig ist. Er hatte kaum genug Zeit, sich diesem Gedanken zu widmen. Das Martyrium zu beenden hieß, der Notlage mit List zu begegnen. Auf sich gestellt, bedurfte das einer blitzgescheiten Lösung. Sehen, hören, atmen war einzig in der Form machbar, wie man es ihm gestattete. Der ganze Körper, außer der ramponierten Nase, war mit Klebeband umwickelt. Hilflosigkeit schaffen gehörte zu einer ausgeklügelten Strategie. Es setzte mit der wachsenden Handlungsunfähigkeit Ängste frei. Die konzentrierten sich auf Schmerz, Betäubung der Seele und Muskulatur.

Dem Hohn zum Trotz hatte man ihm eine Atemhalbmaske aufgesetzt. Ein geschickter Schachzug, der ein Teil des psychologischen Kalküls der Namenlosigkeit war. Ungeachtet dessen bedeutete das bei ausbleibender Hilfe den Tod. Der zeigte ungeniertes Interesse. Sein betäubter Geist versuchte grade, dem zu entgehen. Er drängte ihn, aus dem Dämmerzustand zu erwachen. Wie sich herausstellte, gestaltete sich das zu einem eher schwierigen Unterfangen. Die Maske saß nicht. Keiner richtete den Sitz, sodass der mit Blut angereicherte Speichel sich darin ansammelte. Die Behinderung erwies sich der Sache dienlich.

Für Lorenz und seine Peiniger öffnete sich dadurch eine Tür ins Heute, mit dem einzigen Ziel: die Anonymität aufzubrechen. Nein, sterben lassen war nicht drin. Dieses Risiko einzugehen, bedurfte der Billigung eines Auftraggebers, nicht der seiner Vasallen. Gebetsmühlenartig wiederholte er den Gedanken.

»Abwarten, Lorenz! Füge dich! Erfülle ihnen der Form halber ihren Wunsch. Deine Stärke ist die Anpassung! Locke sie! Lass sie protzen! Stelle fest, ob ihnen das gasförmige Narkotikum Sevofluran ein Begriff ist. Gefesselt, hilflos dazustehen, ist die eine Wahrheit. Die andere, das dem Gegner nicht zu zeigen. Wie? Das liegt an dir. Sie sind scheinbar Meister der Manipulation. Mit deinem Körper und Geist über willfährige Werkzeuge zu verfügen, ist ihre Passion.«

Es blieben mahnende, unausgesprochene Worte, die mit dem salzigen Geschmack von den Lippen auf das Hirn übergingen. Der Versuch, den Kopf in die Schultern einzuziehen, misslang. Ebenso die verklebten Augen zu öffnen. Der Mund weigerte sich, vernehmbare Laute zu artikulieren. Schweiß strömte über das Gesicht. Die beißende Körperflüssigkeit bedeckte mittlerweile den ganzen Körper. Das Gefühl des Ekels verwob sich mit der stickigen Luft. Angst, an einem Krampf zu verrecken, breitete sich wieder aus. In der schrecklichen Bewegungslosigkeit wie eine Presswurst zu verharren, gab dem einen Rang.

Mit einem Ruck änderte sich die Wirrnis. Fahles Licht verdrängte durch die geöffnete Tür einen Teil der Dunkelheit.

»Hey, lass den Schalter auf Off«, schwappte ihm entgegen. Zwei Stimmen in unmittelbarer Nähe drängten sich wie durch eine Nebelwand in sein Ohr.

»Er ist wach, verliert sich grade in einer Art Dämmerzustand.«

»Du Esel, der massive Schock sitzt dem Kerl im Körper. Bist Du blind? Hättest ihn um ein Haar erschlagen. Gefangennahme ja, das war dein Auftrag. Vergessen? Was sehe ich? Einen Kripomann, der nicht ansprechbar ist. Blödmann! Polizistenmord endet lebenslänglich! Ziehst mich da rein, Scheiße verdammt.« Die hohe Stimme klang zunehmend fuchsiger. »Haben wir nicht genug andere Probleme? Mistkerl, elender.«

»Bleib cool, Chef. Der Kerl kam mir schnurstracks entgegen. Ich habe reagiert, ihm eine übergebraten. Na ja, zur Sicherheit opferte ich ein paar Meter extra Klebeband. Ist dir das ebenfalls nicht recht?«

»Das ist Vergangenheit. Augen, Nase, Ohren befreist du von dem Firlefanz«, bellte die Stimme der scheinbar übergeordneten Person. Sie traf den Begleiter auf Anhieb. Zugleich klärte sie unmissverständlich, wer hier das Sagen hatte.

»Warte!«, bohrte sich der zischend scharfe Ton in den Raum. Mit der Hand auf das Panzerband verweisend, senkte er den Befehlston ab. »Trotz alledem, tüchtige Arbeit! Arme und Beine bleiben fest mit dem Körper verbunden. Binde ihn da hinten an den Pfosten. Vierundzwanzig Stunden im Stehen, das ist meine Therapie der Ernüchterung. Den Glaubensbrüdern von Wilhelm zu schaden, hat just seinen Preis. Hör zu. Zweimal am Tag schiebst du dem Kerl fünf Kekse in den Hals. Hinterher ein Glas Wasser mit einem Narkotikum. Ruhigstellen nennt sich das. Begriffen?«, traf der eisig mutierte Ton fragend die zweite Gestalt. Deutlich erkennbar ein Vertrauter, der ihn Chef nannte.

»Ja, keine Frage. Der Bulle erlebt glasklar, welch ein Mist das Leben produziert, wenn man dagegen anläuft.«

»Hast du treffend erkannt. Na hoffentlich irre ich nicht. Wir sind in den nächsten Tagen aufeinander angewiesen.«

»Weil? Was verbirgt sich dahinter, Bestatter?«

»Wisch dir den Rotz vom Kinn. Glotz nicht. Wir schlagen ein neues Kapitel auf. Unser eigenes Spiel kommt in Gang.«

»Das heißt? Eine Erleuchtung? Behandle mich nicht wie einen Aussätzigen. Ich bin dein Partner.«

»Du nervst. Sperr die Hinweise auf unsere Identität weg. Verdammt, hier nicht. Was gibt es da zum jetzigen Zeitpunkt zu erzählen. Wart`s ab«, grinste er breit.

»Mir ist egal, was der über uns weiß. Er ist eine Bedrohung. Eine lebende Gefahr, der wir gegebenenfalls ein paar Monate des Darbens schenken. Ergo, treuer Helfer, du brauchst ihn nicht direkt umlegen. Körperlicher Zerfall sorgt dafür, dass er dahinvegetiert.«

»Ahnte ich`s. Chef, du bist unter die Giftmischer gegangen. Der langsame Tod. Qualvoll! Anstelle die Garotte singen zu lassen. Warum machst du dem Kerl kein Geschenk? Einen kurzen, schmerzlosen Tod.«

»Nein, halte das Maul. Ich setze auf ein Nervengift.«

»Oha, wie im Krieg?«

»Denkbar, du Knallkopf, einzig hier an diesem Ort. Denke an Quecksilber. Die allerkleinsten Mengen schädigen den Menschen. Füttre den Bullen mit den Keksen, mehr ist nicht erforderlich.«

»Hoi, die hab ich ebenfalls gegessen. Du ebenso. Verkauft das Gedöns diese Evelyn Feist?«

»Mensch, drück dich klarer aus. Wer sonst? Die Enkelin der Wahrsagerin.«

»Ja, die sogenannte Älteste der Sekte. Das ist keine gebrechliche Oma. Die hat mehr auf dem Kasten als du Miesepeter.«

»Von mir aus. Ich weiß, diese Evelyn produziert die rote Keramik mit blauen Farbeinträgen.«

»Stimmt! Das Geheimnis liegt in der Keksmischung. Das honigsüße Gelumpe ist ein Verkaufsschlager im Harz. Niemand anderes außer ihr Gott ist im Bilde, wo die tödliche Gefahr des schleichenden Giftes lauert.«

»Korrekt! Hinzu kommt, die Zeichen stehen auf Sturm. Wilhelm steht in den Startlöchern. Er spricht davon, des Herrn Fürsprecher zu sein. Da tobt ein Machtkampf. Zu unserem Vorteil helfen wir dem Stärkeren. Die Evelyn ist ein Bastard, gezeugt von einem Selbstmörder, der gegen den Ehrenkodex verstieß.«

»Für mich zeigt sich da eine lebende Lüge, die ich in deinem Auftrag heimlich beobachtet habe.«

»Klar, du hast das Richtige auf die Reihe gebracht. Wenn das hier mit dem Kripomann vorbei ist, wirst du ihr Schatten bleiben. Wie klingt das für dich? Du schaust in ihre Seele, durch die Haut hindurch. Vergiss es, denn berühren, nein, das funktioniert nicht. Bist du dem gewachsen?« Er lachte mit Niedertracht im Blick auf. »Ha, ha, da werde ich direkt eifersüchtig. Sie braucht einen potenten Kerl.«

»Dich?«, prustete der Helfer fragend los.

»Du Esel, ich trete dir in den Arsch. Such dir gefälligst andere Weiber. Die Evastochter zähme ich langsam. Der impfe ich Gefügigkeit ein, treibe die Gottesfürchtigkeit aus. Zugleich besteige ich die Stute wie ein geiler Hengst.« Er gurrte wohlgefällig. Mit zwei Schritten stand er neben Lorenz. »Hmm, mein Riesenbaby hat dich bestens fixiert. Wir wünschen, dass du den Aufenthalt hier genießt. Ach ja, verstehst mich nicht.« Er schlug sich schallend auf einen Schenkel und sagte: »Bist angepisst, was? Bin gleich weg. Du kriegst sofort Marscherleichterung, der Höflichkeit wegen. Keine Fragen! Klar?«

»War’s das, Chef? Der ist hin. Ich füttere ihn später.«

»Ja! Komm!« Ungeachtet dessen, wurmte ihn was. Kurzerhand drehte er den Kopf, reagierte mit Häme im Tonfall. »He Kriminaler, wie schmeckt die neue Erfahrung? Egal, lass dir sagen, es bereitet mir Freude, dich hier zu sehen. Verehrtester, genieße jeden Augenblick. Er ist eine Art Geschenk. Eine Bitte hätte ich. Stirb nicht! Das wäre fatal, weil es mir den Spaß an deinen Qualen vergällt.«

Die Stimme entfernte sich von Benno Lorenz. Mit einem dröhnenden Knall flog die Tür ins Schloss. Urplötzlich herrschte Ruhe. Zeit, um alles neu zu ordnen. Vergebens! Der Komplize des Redners hatte ihm über die Atemmaske eine Droge beigemischt. Die Dröhnung brachte tiefe Dunkelheit. Für den Moment vertrieb sie ebenfalls den Schmerz.

Kapitel 3

Schlaksig, wie man das von Lorenz kannte, trat er vor zwei Tagen durch die Tür zum Dezernat 25 der Abteilung 2. Und wie es aussah, war er nicht mehr in der Lage, dem auszuweichen. Die Vorsehung hieß Jobhopping. Personallücken im Kriminaldauerdienst zu füllen, funktionierte stetig gleich. Seine Begeisterung war dünn. Die Disziplin fordernd. Zu diesem Zeitpunkt war nicht erkennbar, dass er sich durch die Aktivität fanatischer Täter in höchste Gefahr begab. Im Gegenteil. Die Euphorie durch private Glücksempfindungen trieb ihn in den Tag hinaus. Jede Sekunde davon auszukosten, war ein internes Versprechen. Genauso, Kollegen aus der Patsche zu helfen. Diesen heiligen Schwur brach er niemals. Polizist zu sein, bedeutete ihm, für Ehre, Treue und Kameradschaft einzustehen. Im Augenblick gewann eine andere Wahrnehmung die Oberhand. Mit dem frühen Sonnenaufgang erwachte die Lust. Es gab keinen Zweifel. Neben ihm lag Simone, die Spezialistin aus dem Cybercrime Competence Center des LKA. Nackt wie ein Fleck lichterfüllter Farbe schürte sie sein Begehren. Die ersten Sonnenstrahlen reflektierten auf dem zarten Braun ihrer Haut. Sie bemerkte den Blick. Lächelnd ergriff die fünfundzwanzigjährige Polizeikommissarin mit beiden Händen seinen Kopf. Sie näherte sich ihm, um genüsslich ihre Zunge zwischen seine Lippen zu schieben. Euphorisch flüsterte sie: »Komm, küss mich!«

Sie blieb an der durchtrainierten, muskulären Gestalt hängen, die eine erstaunliche Kraft entwickelte. Eine Gegenwehr schied vorbehaltlos aus. Aufstehen, kultiviert den Job anzutreten, war dahin.

»Okay, gib nach, genieße«, redete der erstarkende Geist im Hirn drauflos. »Schlaf mit ihr. Vergiss den Verdruss. Das Beste, was dir je passierte! Nimm es an!«

Darüber nachzudenken entfiel. Der Testosteronspiegel stieg sprunghaft an. Das Geschlechtshormon schaffte eine sichere Reaktion auf den Clinch, den ihre kraftvollen Schenkel um seine Lenden bewirkten. Willig ließ ihn die betörende Venus gewähren. Scheinbar in Höchstform, befeuerte sie den Liebesakt mit ungemeinem Ehrgeiz. Die langen, kohlrabenschwarzen Haare hingen ihr wirr vorm Gesicht. Sie verhinderten, ihre Ekstase augenfällig wahrzunehmen. In einer Art Wettkampf krümmte und bog sie sich. Das lebendige Wesen zu beherrschen, funktionierte nicht mehr. Ihre Oberschenkel fixierten ihn wie ein gigantischer Greifarm. Zum Andenken an die Explosion in ihr verblieb ein winziger Kratzer auf seinem Hals. Ein Obolus an den errungenen Sieg, in der Entrückung mit ihren Zähnen erzeugt.

Erstaunlich, die aufgelaufenen vierzig Lebensjahre verliehen ihm die Gabe eines Stehaufmännchens. Im Job des Kriminalbeamten jeden Tag erneut ausgespuckt, rang er dem das Beste ab. Hierzu zählte, den nach den Regeln der Behörde, soweit außer Frage realisierbar, mit eigenen Abläufen zu durchsetzen. Bisher funktionierte das ausgezeichnet. Er stammte aus einem Elternhaus mit geringem Einkommen. In kurzer Zeit lernte er, sich durchzuboxen. Dieses Vermächtnis investierte Lorenz in den Aufbau einer rundweg eindrucksvollen Karriere. Die kam zwar vorwärts, schob dagegen den krönenden Abschluss im gehobenen Dienst der Kriminalpolizei vor sich hin. Um zwei Stufen die Leiter hinaufzufallen, erlaubte das Amt. Das Band tiefer Befriedigung litt streckenweise darunter. Ausgepowert durch ein vom Personal ausgelaugtes Landeskriminalamt, Engpässen bei der Beförderung einschließlich der Vergütung bedurfte es Beamten wie ihn.

Der fliegende Atem mit einem klopfenden Puls verzog sich beim Betreten des Raumes schlagartig. Rasch fand er zu dem stetig gleichen Rhythmus, der für die Bekundung ernsthaft gesetzter Absichten zuständig war. Das betraf ebenfalls, die Peinlichkeit des Auftritts bewusst hinzunehmen. Unrasiert, Zigarettenrauch verbreitend, mit zerknitterten Klamotten bot er nicht den besten Anblick. Das scherte ihn mehr am Rande. Von all dem vermutete die Person hinter dem Schreibtisch nichts. Er war der geschmeidig-protzige Chef. Ein Gigant mit Befehlsgewalt über die Abteilung 2, zu der das Dezernat 25 mit der Tatortgruppe gehörte. Dem ordnete sich Lorenz generell unter. Egal, was da auf ihn zukam. Wie das ausging, stand nicht zur Debatte. All die unterschwelligen Gedanken störten den Beamten nicht im Geringsten.

»Ich brauche Sie für einen Sondereinsatz«, brach die Anspannung endgültig. Alle Anzeichen, wieder einen Ranzer zu kassieren, verschwanden.

»Also hab ich nichts falsch angepackt«, verzog sich im Sekundenbruchteil. Dabei lag die Ausrede im Hinterstübchen parat. Sein Verhältnis mit der Cyberspezialistin gehörte nicht zum Themenkreis. Das war ein Privatproblem, nicht das der Polizei. Na ja, für tiefgründige Gespräche über den Job blieb bisher keine Zeit. Die paar Stunden zwischendurch galten dem Vergnügen. Das war die einzig richtige Verständigungsbasis. Den Versuch, eine Vorstellung von dem zu erhalten, was ihn erwartete, winkte er im tiefsten Inneren ab. Hängen blieben da gegebenenfalls die Abende in den Kneipen, die 120 Zigaretten pro Tag, die schmuddelige zivile Kleidung. Der Drang nach dem Kick, zu kitzlige Fälle zu bearbeiten.

»Ich werde meine Haut gepfeffert verkaufen«, schob den Frust über den Ausfall der geplanten paar Tage Urlaub auf dem Darß in die Ferne. »Seifenblasen zerplatzen. Waren sie nicht dafür da? Und hatten sie nicht mit ihrem Glanz eine Aufgabe erfüllt, um dann ungeschminkt Wahrheiten zu verkünden?« Simone blieb der leibhaftige, rühmenswerte Engel mit den schwarzen Haaren. Der Geschmack ihrer Haut lag anhaltend auf der Zunge. Er trug ihn mit hinein zum Chef, um zumindest daraus für den heutigen Tag Hoffnung zu schöpfen. Gedanken für die Ewigkeit, die er in höchstem Maße verinnerlichte. »Keine Angst, wir geben uns einander hin. Täglich, zwischendurch, mit sportlicher Note. Ich bin dein Preis. Geh in dich. Der Job hat Priorität, sei wachsam!«, verlor sich in Anbetracht der Aufforderung, sich zu setzen.

Wer von der Obrigkeit dafür ein Auge hatte, entzog sich ihm. Weil sich an dem nichts ändern ließ, erwiesen sich jegliche fieberhaften Überlegungen als unnütz. Hier drehte sich alles um Disziplin. Das Gefühl, Großes zu bewirken, stimmte ihn beschwingt. Intern zählte er zu den leistungsstarken Gutmenschen mit Visionen, die in der Lage waren, einen Riecher für Erfolg zu generieren. Den Spannungsbogen zwischen privatem und dienstlichem Engagement hatte er lange vorher für sich geklärt. Verbrechen Einhalt zu gebieten, ein Anspruch, den er täglich bereit war, anzustreben. Einzig das zählte.

»Lorenz, setzen Sie sich«, klang nach einer Einladung, nicht wie ein Befehl. Der Rest verlor sich in den üblichen Beschwörungen. »Bleiben Sie bei der Stange. Es ist Urlaubszeit. Na ja, Sie wissen damit umzugehen. Ein Sondereinsatz. Vorübergehend überstelle ich Sie dem Revierkriminaldienst der Polizeidirektion im Harz. Ich habe Sie persönlich avisiert. Bereit?«, sah er ihn fragend an und streckte den Daumen nach oben. Die Antwort schien dem Chef geläufig. Trotz alledem schob er den dafür üblichen Spruch hinterher: »Ich sorge für angemessene Unterstützung, Lorenz.« Es dauerte Millisekunden, um sich darauf einzustellen.

»Chef, ich habe kein Problem, auszuhelfen. Seit zwei Jahren arbeite ich in fremden Gefilden. Bin buchstäblich der Ausputzer mit Besoldungsgruppe A 10.«

»Was denn, versteckt sich da eine Beschwerde? Nicht heute. Sie pokern zum falschen Zeitpunkt«, bohrte sich die Antwort monoton in sein Ohr. Sie besaß eine gewisse Schärfe und demonstrierte Angriffslust. Dieser Eindruck bestätigte sich. Es bestand keine Chance, sich zu wehren. Er gewahrte, wie die Disziplin Besitz von ihm ergriff. Ein Grund mehr, das Gesicht zu wahren.

Wie um sich zu beruhigen, sog er ein paarmal die Luft ein und erklärte: »Bringen wir die Sache hinter uns. Ich bin bereit!«

»Und wie Sie das sind. Sie lecken sich die Lippen. Ich sehe, wie es Sie drängt, sich zu beweisen. Das ist wieder eine Chance, sich in unkonventionellen Vorgehensweisen der Fallbearbeitung auszuprobieren. Lorenz, Sie gehören zu den Kriminalisten mit Biss. Die brauche ich bitter nötig. Und bitte, stecken Sie das dämliche Grinsen weg.«

Er schaute zu dem Oberrat auf. Verdammt, sein Verhalten war nicht professionell. Persönliche Interessen der Jobausführung voranzustellen, nein, das funktionierte nicht. Der Chef hatte den Sarkasmus mit der Besoldung auf eigene Art weggesteckt. Gott sei Dank. Wenn es einen Augenblick gab, dieser Blamage zu entrinnen, schien das sofort angebracht. Es kam anders. Der Vorgesetzte drückte eine Taste auf der Sprechanlage.

»Bitte bringen Sie für mich und den Oberkommissar Kaffee, Zucker und Milch und Gebäck. Kommen Sie, Lorenz, setzen wir uns dort drüben an den Tisch. Unser Gespräch dauert eine Weile. Klar, ich erteile Ihnen den Befehl, das war’s. Das bringt nichts. Die Sache ist zu prekär. Finden Sie es selber heraus. Da kommt eine Winzigkeit obendrauf«, brachte er in einer Art väterlichem Ton rüber. »Sie realisieren den Job im Alleingang. Ich verfüge volle Handlungsfreiheit. Sagen wir, drei bis fünf Tage für die Zeugenbefragungen. Sie lösen das Rätsel um den Vorgang, den Sie gleich zur Kenntnis erhalten. Und Achtung: Ich schicke Sie in einen Krieg! Erstaunt? Inhalieren Sie das wörtlich. Es ist bitterernst. Vermeiden Sie öffentliches Aufsehen!«

»Chef, was soll die Vorrede. Entweder bin ich dafür der geeignete Ermittler oder nicht.«

»Okay. Auf den Punkt gebracht heißt das: ein teilskelettierter, menschlicher Körper ohne Kopf im Flusslauf der Bode stiftet Unruhe. Hmm, hätte ich bald vergessen. Da gibt es eine ungeklärte Vermisstenanzeige. Die sticht mir ins Auge.«

»Weil? Und weswegen ist das ein Vorgang, der dem LKA anhängig ist?«

»Der Kerl ist beim Staatsschutz eingängig bekannt. Bei dem handelt es sich um den geschassten Anführer einer Sekte.«

»Da ist mein Einsatz eine reine Formsache? Wir reagieren, um Ruhe in den Vorgang zu bringen?«

»Ja und nein! Ich brauche einen nüchternen Bericht, den Sie verfassen. Keine Heldentaten. Ich setze auf Ihre Integrität. Beweisen Sie, dass mein bester Ermittler das nachfolgende Beförderungsamt verdient hat. Diesen Ritterschlag würde ich gern vollziehen.«

»Uff, das haut mich um«, erwiderte Lorenz. »Das Ausputzen mit meinem Vorwärtskommen zu verknüpfen, endet hin und wieder tödlich.«

»Quatsch, das basteln Sie hin. Da bin ich voller Zuversicht. Bitte, Oberkommissar, ich brauche kein Konfliktpotential mit den anderen Kollegen. Wir reagieren auf das Amtshilfegesuch der Polizeidirektion Harz. Schlagen Sie dort auf. Schalten Sie sich in die Ermittlungen ein«, hob er eine Art Sprechgesang an.

»Werde ich, verlassen Sie sich drauf. Okay. Sie erwarten von mir die Abklärung von Identitäten nebst Todesursache in drei bis fünf Tagen. Ist das in Ihrem Sinn?«

Auf das in die Länge gezogene »Hmm, tja, äh« folgte: »Korrekt! Keinen Schritt anders. Vergessen Sie nicht, der Bürgermeister der Stadt betet Sie garantiert an, den Fund tunlichst bedeckt zu kommunizieren. Erfüllen Sie ihm den Wunsch. Den erkennungsdienstlichen Teil, die Daktyloskopie, den Nachweis der DNA, überlassen Sie den Kollegen vom Dezernat 23. Schauen Sie zuerst da vorbei. Die Rechtsmediziner schaffen gemeinsam mit dem Forensiker über den Todesfall Gewissheit. Runden Sie das Bild vor Ort ab. Die Frage, ob ein Gewaltverbrechen beziehungsweise eine natürliche Todesursache vorliegt, ist wie gewohnt nach Handbuch zu klären. Hier lugt eine enorme Verantwortung um die Ecke. Ich bin nicht sicher, meine Vermutung legt mir nahe, dass da Ärger vorprogrammiert ist. Ich rieche das. Die Lage im Harzvorland ist angespannt. Sie sind der Joker. Ach, ein winziges Detail wäre in dem Zusammenhang zu beachten.«

Er hob den Kopf, sah den KOK mit zusammengekniffenen Lippen an. Die öffnete er schlagartig, um ernüchternde Worte preiszugeben.

»Mensch Lorenz, passen Sie gefälligst auf sich auf! Keine Eigenmächtigkeiten! Disziplin! Gott behüte. Verkacken Sie das nicht. Für den Jahresabschluss der polizeilichen Kriminalstatistik brauche ich aufgeklärte Fälle. Ein solcher Fund ist nicht nützlich für das Tourismusgeschäft der Harzstadt. Mein Rat, spannen Sie den Bürgermeister mit seinem Team in die Datensammlung ein. Irgendeiner hat garantiert was bemerkt. Die Stadt quillt ja über mit potentiellen Nachrichtenträgern.«

»Reden wir von den steigenden Touristenzahlen?«

»Was denn sonst, Lorenz. Mahlzeit, wenn die Medien Beute wittern. Es reicht, dass der Torso mitten in der Urlaubshochzeit zufällig zum Vorschein kam.«

»Chef, Sie haben da Details weggelassen.«

»Was? Quatschen Sie nicht rum!«, brauste der auf. »Sagte ich ja. Begeben Sie sich zu den Kollegen vor Ort. Schauen Sie, ob es da irgendwelche Verbindungen zum Vermissten gibt. Eine Menge treuer Anhänger verehren die gesuchte Person. Lassen Sie sich das vernünftig erklären. Denkbar ist alles. Nachrangig ein möglicher Bezug zum Fund in der Bode.«

»Hmm, wenn Sie meinen. Ich bin voll dabei«, erklärte sich Lorenz, um sofort nachzuschieben. »Rein hypothetisch betrachtet. Mir sind viele Tote bei den Ermittlungen in den Jahren begegnet. Die schmoren in der Vergangenheit. Ich dagegen kümmere mich um das Heute und die Zukunft.«

»Prima! Na das passt bestens in meine Überlegungen hinein. Schätzen Sie sich glücklich und freuen Sie sich, dass ich Sie nicht mit einem nackten Befehl abgespeist habe. Ihr Verständnis ist gefragt. Ich brauche jemanden mit eisernem Kalkül. Um Ihnen mehr Informationen zu liefern, hieße das, in die Trickkiste zu greifen. Funktioniert leider nicht. Erledigen Sie das vor Ort, oder bleibt das am Chef des Amtes hängen?«

»Blödsinn, ist das ein Test? Herr Kriminaloberrat, Sie foppen mich. Die Aufgabe ist eindeutig. Erklären Sie mir die Vorgehensweise in Kurzform. Das reicht. Zufrieden?«

»Ich glaube ja. Das ist eine schlitzohrige Antwort. Hmm, Sie wissen es besser. Ohne Frage mit versöhnlicher Absicht. Passt haargenau in das Klischee eines Spitzenbeamten. Bissig, mit blitzschneller Reaktion.« Er grinste. Sein Blick traf den von Lorenz. Mitleidserfüllt. Glasig. Aufgewühlt von einem harten Disput. »Habe gehört, das hilft, die Aversion gegen Glaubensfanatiker abzulegen.«

»Oh je, das ist zutiefst konkret. Vorschlag, wir kommen wieder runter vom hohen Ross. Sie sind mein Chef, geben die Befehle. Ergo, keine Sorge. Sie investieren in einen Profi mit Hungergehalt«, sagte er mit beißendem Spott auf der Zunge. Dafür erntete er einen fragenden Blick. »Das wüsste ich. Lorenz, erst der Job. Die Lobhudelei folgt. In dieser Reihenfolge. Haben Sie das begriffen? Abtreten!«

Eine Stunde später jagte ein eisiger Schauer über die Haut. Sein Handy schaltete sich per Freisprechanlage im PKW zu. »Hier ist das Sekretariat der Stadtverwaltung. Sie sind Oberkommissar Lorenz?«

»Korrekt, der bin ich!«

»Na Gott sei Dank. Es dreht sich um den Fund menschlicher Skelettreste in der Bode. Ich verbinde Sie mit dem Bürgermeister.«

Seine Konzentration galt in dieser Sekunde unwiderruflich dem Anrufer. Obendrein hatte er eine geistige Notiz parat. Volltreffer! Das traf den Nerv des Stadtpolitikers. Der ursprüngliche Erregungszustand verblasste im Nu. Ein Funke von Sympathie sprang über.

»Herr Bürgermeister, wir sind beide einer Meinung. Hier steht eindeutig eine Menge auf dem Spiel. Ob Unfall, Totschlag oder Mord, es gibt ein Ergebnis, garantiert. Ich verbürge mich dafür. Es stimmt, die Umstände sind kurios.«

»Einzig aus diesem Grund befeuern sie kontroverse Diskussionen. Ein menschliches Skelett ohne Kopf in der Bode, das ist ein äußerst schreckliches Ereignis. Herr Lorenz, das Image der Stadt leidet. Degradiert da jemand den Tourismus in unserer Harzregion zu einem Tal der Tränen? Haben wir ein ernsthaftes Problem? Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen. Wir reden bei mir am Tisch darüber. Ich habe Verstärkung hinzugezogen. Das versetzt Sie garantiert in Erstaunen. Bei dieser Gelegenheit: Negativschlagzeilen verabscheue ich. Sie ebenfalls, meinte Ihr Vorgesetzter. Seien Sie nicht zimperlich«, gab er telefonisch mit auf den Weg. »Und, passt das? Im Übrigen, Sie fahren ja in ein Urlauberparadies«, folgte mit einem vernehmbaren Lachen. »Spaß beiseite. Kundige Kriminalisten besuchen uns nicht jeden Tag. Mein Vorschlag: Lernen Sie den Brunnen der Weisheit kennen. Das dient den Ermittlungen. Wo wir schon mal dabei sind, der Weg zu mir führt unmittelbar daran vorbei. Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter vom Harzklub erwartet Sie. Wann treffen Sie ein?«

»In einer Stunde, sagt zumindest das Navigationssystem.«

»Bestens, Herr Lorenz. Konzentrieren Sie sich auf das Café gegenüber dem Rathaus. Ist nicht zu verfehlen. Parkmöglichkeiten finden Sie in der angrenzenden Einkaufspassage.«

»Danke, ich komme klar. Sie kennenzulernen, ist mir eine Ehre«, brummte er zufrieden und drückte das Gespräch weg. Es gab nichts mehr zu sagen. Zurück blieb der Gedanke an die unzureichende Vorbereitung. Dem Termin fuhr er buchstäblich blind entgegen. Mit Wissenslücken aufzukreuzen, gefiel ihm absolut nicht. »Scheiße, die werfen mich in aller Ruhe in eine Sache rein, die mir unter Umständen das Genick bricht«, murmelte er mit Blick auf den Straßenverkehr. Die bloße Erkenntnis, dass der Harzklub mit dem Zweigverein der Stadt enormen Druck auf den Stadtvater ausübte, drängte sich im Gedächtnis nach vorn. Ein bis dahin unbekannter Fakt verblieb. Der Vermisste hatte engen Kontakt zum Verein. Da blieb die Frage offen, wieso sein Verschwinden nicht auffiel. Keine Anzeige bei der Polizei. Und ebenfalls keine Nachfragen im Bekanntenkreis. Einzig die Enkelin reagierte. Für sie war ihr Opa nicht nur ein Teil der Familie, sondern ein Geschichtenerzähler, stetig vermittelnd, um Zusammenhalt der Menschen bemüht. Klar zählte er zu den prominenten Wanderführern in der Region. War ein meisterhafter Kenner der germanischen Mythologie in der Harzer Sagenwelt. Darauf aus, nicht auf der Erde, sondern problemlos über Meere und sogar auf den Wolken zu reiten. Wie Sleipnir, das gewaltige Schlachtross, Wotans achtbeiniges Zauberpferd? War es denkbar, dass sich hier jemand verbarg, der den Zorn Andersgläubiger auf sich zog? Züngelte da ein Glaubenskrieg? Für Lorenz blieb das weitestgehend unbeantwortet. Die Frage drängte nach einer Lösung. Ungestüm, jeden Kilometer anmahnend, den der Passat auf dem Weg in die Harzstadt zurücklegte. Wie gefährlich war ein Skelett? Oder der vermisste Wanderführer? Für die Öffentlichkeit offenbarte sich mit dieser Person jemand, der in den Sommermonaten die Walpurgisnacht mit der Götterdämmerung den Zuhörern nahebrachte. Ein Künstler, in der Lage, die großflächigen Wandgemälde an der Seitenfassade eines Hauses inmitten der Stadt zum Leben zu erwecken. Ein Meisterredner, der die Mythologie zur Werbemasse erkor, um die Lobpreisung seiner Gottesansichten mit dem Einzug ins Paradies zu verweben. Die verhieß Rettung vor dem grausamen Tod. Eine Botschaft, die den sensationshungrigen Harztouristen zeitweise ein bloßes, primitives Lächeln entrang. Fragmente an Daten, die er dem flüchtigen Stöbern in einem dünnen Ordner entnahm.

»Hier lesen Sie das. Der Rest obliegt Ihrer Intelligenz. Und vergessen Sie nicht, Sie sind im Augenblick meine einzige scharfe Klinge. Mit dem Status des Sonderermittlers verfügen Sie über ausreichende Kompetenzen. Fragen Sie nicht, handeln Sie!«

Erst auf dem Parkplatz, im Auto sitzend, sammelten sich die einzelnen Bilder. Die Zigarettenlänge brachte Klarheit. Unterm Strich hing da eine banale Begebenheit dran. Zwei furchtbar nüchterne Fakten. Ein teilskelettierter menschlicher Körper ohne Kopf und eine Vermisstenanzeige. Alles eingepackt in den Bericht der Kollegen von der Polizeidirektion. Mehr Fragen, keine Antworten. Was stimmte daran nicht?

Am Zielort eingetroffen, schwächelte er. Der heiße Augusttag trieb unnachgiebig den Schweiß auf die Haut.

»Mir ist übel«, murmelte er. Das hielt ihn nicht davon ab, sich die nächste Zigarette anzuzünden. Verständlicherweise draußen unter dem Sonnendach des Eiscafés am Rathausplatz. Den Rauch von vierzig Stück hatte er lange im Vorfeld inhaliert. Im Moment vertrieben die Glimmstängel die Wartezeit auf den angekündigten Besuch. Von dem erhoffte er sich Einsichten über die vermisst gemeldete Person.

Sein Gastgeber stürmte sprichwörtlich auf ihn zu. Alle Achtung. Der Kerl zog das Interesse der Kaffeetrinker, Kuchenesser und Raucher an den Tischen auf sich. Seine massige Gestalt schob sich unaufhaltsam auf seinen Platz zu. Er hatte die Hände ausgebreitet. Das Gesicht von der Anstrengung gerötet und mit Schweißperlen auf der Stirn, stoppte er den Schnellgang. Sein Atem glich dem austretenden Dampf aus einem defekten Rohr. Heiß und zischend schlug er Lorenz ins Gesicht.

Die Sekundenwahrnehmung endete mit der dominanten Aussage: »Ah, Sie sind der Gast des Bürgermeisters. Der Herr Kriminaloberkommissar vom LKA Magdeburg. Treffer, stimmt´s? Scheiß Hitze heute. Na egal, ein herzliches Willkommen in der Stadt der Mythen.« Der gedrungene Vierziger schob zur Begrüßung die Hand vor. »Ich bin Wilhelm Feist, Immobilienmakler, Mitglied im Harzklub. Auf Bitten des Ratsherrn der zuständige Ansprechpartner, Ihr Führer durch den Harzer Mythendschungel.«

»Korrekt! Ihre Annahme stimmt.« Dem folgte sein stummes Lächeln. »Ich würde heute besser schlafen, wenn unsere Verabredung mir weiterhilft. Verehrter Herr Feist, trinken wir einen Kaffee zusammen? Kommen Sie. Setzen Sie sich.«

Die Antwort erstaunte ihn.

»Habe ich Ihre Erlaubnis, das da zu sehen?«, tippte der Begleiter mit dem Finger in Richtung der Ausbeulung unter der Sommerjacke.

Lorenz grinste unverhohlen. »Was ist derart wissenswert? Bin ich bekleckert, ein Kaffeefleck? Ist ja ein merkwürdiger Empfang.«

»Äh, äh, Verzeihung. Hab niemals eine richtige Polizeikanone in der Praxis gesehen. Ich frage mich, ob das die Gelegenheit ist. Problem damit?«

»Nein! Bin gespannt, wie Sie die Antwort interpretieren. Wenn die Waffe hilft, Gefahr von mir abzuwenden, beflügelt das aus Ihrer Sicht Zufriedenheit? Ergo, in fremde Hände geben funktioniert nicht. Die Pistole ist wie eine Lady, auf Befingern reagiert sie kopflos.«

»Klar. Akzeptiert!«

Irritiert fuhr sich Wilhelm Feist über das dünne Kopfhaar. Die Gesichtshaut wechselte innerhalb von Sekunden die Farbe. Aschfahl zeigte sie sich grade.

»Verzeihung, hab mich blöd benommen. Bitte, das bleibt hoffentlich unter uns, Herr Oberkommissar.«

»Hmm, hab es dauerhaft zurückgedrängt. Scheiß Idee, Ihr Interesse. Okay, beschließen wir das Thema. Auf jeden Fall ist das Vorkommnis an der Teufelsbrücke ein unheilvolles Omen. Ohne Aufsehen gerät die Sache nicht in Vergessenheit.«

»Diese Vorstellung trage ich mit, Herr Lorenz. Hier ist mein Vorschlag. Sie hatten einen langen Weg in den Harz. Wechseln wir den Gesprächsort. Es ist heiß. Bitte folgen Sie mir. Der Weg da hinten rund um die Skulpturen ist entspannend. Die Wasserspiele bringen Abkühlung.« Zugleich wies er mit einer Hand in diese Richtung, um fortzufahren: »Ich hoffe, Sie nicht zu überfordern. Schauen Sie.«

Lorenz verzog die Lippen. Er begriff nicht, warum sich dieser Wilhelm hinter einer Fassade versteckte. Wovor, das blieb ein Rätsel. Zumal sie sich nicht kannten. »Vorsicht!«, zischte er denkbar knapp. »Das ist nicht grade cool.«

»Was ist los?«, hob der Gastgeber an, um zugleich fassungslos die Luft auszustoßen. »Ich beabsichtige, Ihnen nichts anderes als die nackte Schönheit der Figuren aus der germanischen Götterwelt nahebringen. Die könnten Teil der Recherchen sein. Vergessen? Sie verweilen auf dem Boden einer Harzer Mythenstadt.«

Lorenz guckte erstaunt auf. »Ist das denn nicht gewollt? Droht uns hier Gefahr? Von dem imposanten Kerl mit dem Speer dort drüben?«

»Nein, um Himmels willen, das ist Wotan, der höchste Germanengott«, traf ihn unbekümmertes Lachen. »Leisten wir ihm Gesellschaft. Er trinkt aus dem Brunnen der Weisheit, die Zukunft vorhersagend. Ein Grund, wie mir scheint, dem Harz einen Besuch abzustatten. Liege ich falsch?«

»Sie haben akkurat den Punkt getroffen«, fuhr es knapp aus seinem Mund. »Herr Feist, wenn ich des Philosophierens wegen angereist bin, würde ich es Sie wissen lassen. Klar?«

»Hmm, Pech, das nennt man angearscht. Hab ich verdient, den Tadel.« Er wandte den Blick ab, schien ins Leere zu starren. Mit gesenktem Kopf fuhr er in bewusst demütigem Ton fort: »Nochmals, äh, äh, äh, tut mir leid«, krächzte er hustend.

Lorenz lachte. »Sie sind ein komischer Kauz. Das die Knarre eine solche Anziehungskraft hat, gottverdammt, ist mir partout nicht bewusst. Sie haben´s versucht. Strich drunter. Erklären Sie mir, wie es sich mit den Proportionen der Skulptur verhält. Wo bleibt das Geheimnisumwobene? Was hat es mit dem gigantischen Kerl auf sich?«

»Sie sprechen von Wotan mit dem Speer?«

»Ja! Das sind Ihre Worte.«

Feist zuckte die Achsel. »Klingt erhellend. Hab das nie in der Form betrachtet. Ich frage Sie, sind Sie denn bereit, dafür ein Opfer zu bringen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Symbolisch! Wotan gab ein Auge. Sind Sie ebenfalls für einen solchen Schritt aufgeschlossen?«, versuchte er schmunzelnd den Blick des Kripobeamten einzufangen. Der zeigte sich baff, im gewissen Sinne vom Ansturm der Worte überfordert. Hinzu kam das Gefühl, dass sich Feist auf unerklärliche Art versteckte. Die Angst, dass er dem auf die Spur kam, erzeugte einen erbärmlichen Gestank. Der Gedanke verlor sich abrupt, weil sein Gastgeber grade sagte: »Oberkommissar, ich bin der Auffassung, Sie bedürfen dringend der beiden Raben Hugin und Munin. Die Vögel berichten der Legende nach mit ihren täglichen Erkundungsflügen über das Geschehen in der Welt.« Er sah auf, grinste frech und redete weiter. »Ich helfe, soweit es mir machbar erscheint. Staunen Sie! Es verwundert mich nicht, wenn Sie erschrocken um Rat bitten und beten, um abschließend dem Fest der Verbrüderung zu frönen. Habe ich den Nerv getroffen?«, sprudelte es aus ihm in einer Art Befreiungsschlag heraus.

»Oh Gott, was war das denn? Eine Überraschung wie ein Picknick im Grünen?«, lachte Lorenz entspannt auf. »Das ist eine dummdreiste Vorstellung. Wer hat Ihnen die eingeflüstert? Poesie ist nicht meine Sache. Mich reizt, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Skelett und dem Vermissten gibt. Wie sehen Sie das? Wen suche ich? Einen Mörder? Oder hat sich derjenige aus freien Stücken aus dem Leben gestohlen?«

»Entschuldigung, Oberkommissar, wenn ich Sie bedrängt habe. Setzen wir unseren Disput im Rathaus fort. Der Bürgermeister erwartet Sie. Meine Aufgabe ist es, die Harzstadt zu vertreten. Nebenbei bemerkt, die Raben sind auf eine gewisse Art eingenordet. Dutzende verbundene Seelen sind aufgefordert, Informationen zu beschaffen. Das ist, zumindest symbolisch betrachtet, ihre Passion. Spaß beiseite, sehen Sie sich um. Kommen Sie! Den Mörder finden Sie früh genug. Ich verspreche Ihnen, es Sie wissen zu lassen, wenn die Raben mir was soufflieren.«

Lorenz strich sich mit der Hand über das Gesicht. War das ein Signal dafür, sein aufgebauschtes Gehabe wegzuwischen? Nein, zumindest verschaffte es ihm Millisekunden des Nachdenkens. Der Gastgeber schob sich grade ins rechte Licht. Er buhlte um seine Gunst. Die Herausforderung erforderte eine Reaktion.

»Ist ein weiser Spruch. Fangen wir mit dem ersten Schritt an. Greifen Sie zu. Meine Hilfe kostet nichts«, sagte er mit den Achseln zuckend. Stracks schob er nach. »Alleingang hat keinen Sinn. Die Alteingesessenen legen Wert auf eine effiziente Vernetzung. Zum gegenseitigen Vorteil, egal ob sie in irgendeiner Form gläubig oder Freidenker sind. Sie geben nichts preis ohne speziellen Grund, Herr Lorenz.«

Der sah in ein Gesicht, das einer undurchdringlichen Maske ähnelte. Darin fuhr der Mund unablässig fort zu reden.

»Wissen Sie, es ist Zeit, zu akzeptieren, weshalb Sie mich zum Bürgermeister begleiten. Ich bin hierher gereist, um Ihr Städtchen von einem üblen Omen zu befreien. Meine Ausbildung hilft mir, Täter zu entlarven. Das biete ich Ihnen an. Hilfe anzunehmen betrachte ich, wie ein Geschenk zu beanspruchen. Mit Anstand und Würde. Hätte ich einen Wunsch offen, beträfe der die Entscheidung, hier zu leben. Dafür gäbe ich alles, was Ihnen jeden Tag zufliegt.«

»Sie scheinen ein prima Kerl zu sein. Egal. Ich hätte mit einer wärmeren Begrüßung gerechnet. Ein gemeinsames Bekenntnis zum Beispiel. Vorschlag, erlauben Sie mir, Sie mit Ihrem Namen anzusprechen? Ehe ich jedes Mal Kriminaloberkommissar ausspreche, ist Weihnachten.«

»Einverstanden! Der bloße Dienstgrad bringt keinerlei Erkenntnisfortschritte.«

»Danke! Egal was passiert, weihen Sie mich und die Kameraden rechtzeitig ein. Unterm Strich haben wir alle einen untadeligen Ruf zu verlieren.«

»Sie haben es drauf, Spannung zu erzeugen«, gab Lorenz Minuten später beim Gang ins Rathaus eine Erklärung ab. »Überraschen Sie mich.«

Das trat mit der Präzision eines Uhrwerks ein. Das Räderwerk schaltete zugleich den höchsten Repräsentanten zu.

»Schlau eingefädelt, mein Gott«, schüttelte Lorenz den Kopf. Er grinste und behielt für sich, was er nicht auszusprechen gedachte: »Für mich nicht ausgekocht genug! Dieser Wilhelm ist mir unsympathisch. Schleim trieft aus ihm heraus. Ich werde ihn in die Enge treiben.«

Er hatte das Gefühl, dass Feist Teil dieses von ihm kreierten Netzwerkes war. Der beste Weg, ihn zu überführen, würde sich öffnen, wenn er sich dem Kult anschloss, um ihn von innen heraus zu sprengen. Verlockung pur, von der eine enorme Anziehungskraft ausging. Sie brachte die Entscheidung, Feist wie einen Rammbock zu benutzen. Eine unsagbare Erregung verbreitete sich mit diesem Gedanken. Sie beinhaltete die Lösung des Rätsels innerhalb eines Geheimnisses. Ein Privatkrieg, eine Verschwörung lag im Reich des Möglichen. Zu weiteren Überlegungen reichte die Zeit nicht, denn der Bürgermeister begrüßte ihn mit hartem Handschlag.

»Willkommen Herr Kriminaloberkommissar!«, sagte ein flott daherkommender, geringfügig fülliger Mittvierziger. Gutherzige, dunkelbraune Augen schauten in sein Gesicht. »Ergreifen Sie meine Hand. Ich bin zuversichtlich, mit Ihrer Hilfe dem Verbrechen auf die Spur zu kommen. Bitte, setzen Sie sich. Sie haben die Raben aufgesucht. Das lässt sich nicht verheimlichen. Um Sie bei der Informationsbeschaffung zu unterstützen, dafür sind wir angetreten.« Er erhob sich, zeigte mit einem Lächeln auf zwei Personen in der Tischrunde. »Das hier ist der Chef der Bergwacht, dort mein Pressesprecher, Herr Steiner. Ansonsten sind wir bestens mit der hiesigen Feuerwehr vernetzt. Schön, dass ich Sie als Vertreter der Polizeidirektion begrüßen darf. Ich hörte, es war ihr Wunsch, zunächst mit den Stadtvertretern zu sprechen. Das ist eine gute Idee. Sie können jede Menge Unterstützer gebrauchen, um dem Geheimnis im Bodetal auf die Spur zu kommen.«

Gesichter voller Erwartung sahen ihn an. Die Hand auf den Griff der P6 im Holster erhob er sich. Aufmerksame Augen verfolgten die Geste. Lorenz ließ keine Zeit verstreichen. Betont trocken sagte er: »Ich verstehe! Der Job verlangt von mir, eine Identität zu klären. Die Frage bedarf der Klärung, ob im Zusammenhang mit dem Fund ein Verbrechen vorliegt. Wäre ein Unfall vorstellbar? Ist es möglich, dass ein Wanderführer in der unwegsamen Bergwelt vom Weg abkommt. Ein krankheitsbedingter Sturz ist ebenso nicht ausgeschlossen.«

»Unwahrscheinlich, Herr Lorenz.«

»Bitte, was spricht dagegen? Bedenken Sie. Das reißende Wasser, Geröll und Tierfraß haben den Körper arg geschädigt. Zum Glück fanden unsere Spezialisten auswertbare Spuren, die Schlüsse zur Person zulassen. Eine Reihe von Fragen bleiben auf jeden Fall offen.«

»Welche, Oberkommissar?«, meldete sich der Pressesprecher. »Was erwarten Sie vom Team an diesem Tisch?«

»Eine berechtigte Frage, meine ich. Die Antwort darauf klingt eine Kleinigkeit theoretisch. Habe ich dennoch Ihre Aufmerksamkeit?«

»Legen Sie los. Die Kripo beehrt unser Haus nicht jeden Tag.«

»Okay, Ihr Wunsch. Die Aussage hört sich nüchtern an. Seien Sie nicht geknickt. Es stimmt. Das Landeskriminalamt in Magdeburg beauftragte mich mit der Aufklärung des Falls. Ich bin der Tatortgruppe zugeordnet. Mein Job besteht in der Unterstützung der Kollegen von der hiesigen Polizeidirektion. Es ist Sommer, Urlaubszeit. Ich leiste bei der Zuordnung erkennungsdienstlicher Aufgaben Hilfestellung.«

»Entschuldigung, Sie sind ein Ausputzer? Ich war der Auffassung, wir brauchen hier Spezialisten. Von dem Toten in der Bode existiert ja weiter nichts als ein paar Knochen. Der Kopf fehlt. Was gibt es denn da zu ermitteln?«, presste Steiner giftig raus.

Automatisch füllte sich die Raumluft mit Spannung. Winzige, elektrisch geladene Teilchen ließen die angewärmte Luft knistern.

»Meine Herren, Anspannung ist fehl am Platze. Sind wir einer Meinung?«, griff Lorenz in den Disput ein. »Sie sind Pressesprecher, stimmt’s? Sehen Sie, das Fest kommt gerade erst ins Rollen. Wir tanzen gemeinsam in einem Kreis voller Unbekannter, fern jeglichen lautstarken Beifalls.«

»Bei Gott, Herr Lorenz, ich versichere Ihnen ...«, nickte der bedeutsam. »Bei all dem, das ist wundersam«, rief er aus, in dem Bemühen, seine Stimme erschrocken klingen zu lassen. »Erklären Sie, was uns den Atem anhalten lässt. Das hier riecht nach Geheimnissen.«

»Hmm, Sie springen ungeprüft in den Teich der Gerüchteküche. Dachte ich mir’s. Typisch Journalist!«

Er hielt kurz inne, sah den Herrn an, um festzustellen, dass der sich durch sein Aussehen von den Teilnehmern der Runde abhob. Die angestaute Wut ließ sich nicht verheimlichen. Zumindest erklärte das dieses verdammte ständige Zusammenziehen der Pupillen, was die Iris vergrößerte. Dadurch erschienen die graublauen Augen leuchtender, was auf solcherart Emotionslage hinwies. Das verlieh ihm im Übrigen einen vorteilhaften Touch. Mit seinem gebräunten Teint und dem dunkelblonden Haar gehörte er ohnehin zu den gutaussehenden Menschen. Er sah jünger aus und setzte sich dadurch von den Teilnehmern der Tischrunde ab. Die saßen erstarrt auf den Stühlen. Wie angeschmiedet, unfähig zu reden. Diesem einschneidenden Erlebnis entzog sich niemand. Es war die verwegene Art, mit der er Probleme zu lösen anging. Nicht die des vertrauten Trottes, wie in Stadtratsversammlungen üblich.

Lorenz grinste. »Ich bin kein Gespenst, vielmehr jemand aus Fleisch und Blut, einem Hirn, dem Gefühle entspringen. Sie entschuldigen mein Aufbäumen. Wachrütteln ist angebrachter. Bitte, Herr Steiner, für wie blöd halten Sie mich? Ich hoffe, Sie brechen keinen Streit vom Zaun. Am besten scheint mir, Sie aus der Höhle der Unvernunft zu befreien. Seien Sie nicht das Arschloch in Ihrer eigenen, wundersamen Welt. Wir sind quitt, was den Ausputzer betrifft.«

Der Bürgermeister ließ die paradoxen Gedanken auslaufen. Ein paar Sekunden Verschnaufpause vergingen.

»Hmm, das war erhellend. Ich hab Sie ausreden lassen, um den Frust in eine Richtung zu lenken. Sowas gab es in dieser Oase der Vernunft bisher nicht. Ihre Empfindungen wie ein Heilmittel einzusetzen, alle Achtung, cool! Herr Lorenz, das genügt. Belassen Sie es dabei. Der Polizeichef hat uns um Hilfe gebeten. Hier sitzt ein bevorrechtetes Gremium in Warteposition. Sie sind dran. Ich bitte Sie, Ihren Vortrag fortzusetzen. Unser Wohlwollen gehört Ihnen.«

Das war der Zeitpunkt für Einsicht. Der Bürgermeister hatte dafür gesorgt, dass ihm niemand mehr was vormachen würde. Der erste Sieg. Diesen Augenblick zu nutzen, gebot die Vernunft. Er stieg darauf ein. Und Tatsache, die Augen und Münder der Gefolgsleute passten sich ihm jedes Wort verschlingend an. Lorenz sprach in den Raum hinein, bemüht, die Teilnehmer zu einer Aussage zu bewegen.

»Ich bemühe mich, den Blick für den Job des Kriminalisten zu öffnen. In diesem Fall arbeite ich eng mit den Spezialisten vom Bundeskriminalamt zusammen. Hierbei dreht es sich vor allem um die sichere Identifizierung der Personen im Tathergang. Reicht das?«

»Nein! Ist mir zu allgemein«, erklärte sich der Bergwachtchef.

»War das ein Todessturz von den Felswänden im Bodetal? Ein Unfall? Der vermisste Erich ist es garantiert nicht. Der Wanderführer gehört zu den absoluten Kennern der Materie.«

Mit eiskaltem Blick in den Augen mischte sich Wilhelm Feist ein.

»Entschuldigung! Die Wahrheit besteht meiner Ansicht darin, dass bisher nichts passiert ist, was die Aufklärung erhellt. Na ja, abgesehen vom Auffinden der Skelettreste durch Wanderer.«

»Und die Bergung durch örtliche Polizeikräfte?«, schloss sich der Pressesprecher fragend an. »Was meinen Sie, Oberkommissar, liegt hier ein Verbrechen vor? Handelt es sich bei dem Knochenfund um den Vermissten?«

»Sie haben den wunden Punkt getroffen. Jede Menge Fragen, deren Antworten wir im Moment nicht kennen. Darum sitze ich hier. Geben Sie mir ausreichend Input. Sie heben den Herrgott in den Himmel, verfügen auf der anderen Seite über schmalbrüstiges Wissen. Ist ja komisch!«

Sein Gegenüber übernahm die Antwort mit einem Scherz. »Meine Erfahrungen im Bergrettungsdienst stelle ich gern bereit, wenn es das Wohlergehen von Menschen betrifft. Bitte, ich fange bei Ihnen an. Zeigen Sie mir Ihre Schuhe«, sagte er breit lächelnd.

Stumm zählte Lorenz die Sekunden. Eins. Zwei. Drei ... da traf ihn eine schnippisch-ernüchternde Antwort.

»Na hoffentlich halten Sie im Gepäck brauchbare Wanderschuhe bereit. Die Fundstelle ist mit PKW nicht erreichbar. Zu Fuß ist angesagt. Leider auf einem spärlich ausgebauten Wanderweg. Nix von Gefahr, dagegen Aufmerksamkeit einfordernd. Der führt auf der rechten Seite des Bodeufers entlang. Endstation ist der Bodekessel nahe der Teufelsbrücke. Von Interesse ist das erst, wenn Sie bei Ihrer Version bleiben: tragischer Unfalltod oder Selbstmord. Scheidet beides aus, haben wir ein echtes Problem. Angenommen, dem Erich Feist saß einer der Getreuen im Nacken, spitzt sich die Lage zu. Ein Glaubensstreit ist der einzige Grund für eine interne Auseinandersetzung.«

»Weil?«

»Ist ja den meisten ansässigen Personen in der Region bekannt. Der Erich war über Jahrzehnte Chef der ortsansässigen Glaubensgemeinschaft. Er hat die Menschen missioniert, um sie auf die Gottergebenheit der Sekte einzuschwören. Erst der grausige Selbstmord seines Sohnes im Stahlwerk hat ihn gebrochen. Der Junge war dort Ingenieur.«

Lorenz stand kurz davor zu explodieren. Ungläubig fragte er: »Wieso, in Gottes Namen, leiern Sie das emotionslos herunter?« Seine Augen blitzten gefährlich auf. »Was stimmt nicht mit dem Herrn? Ist es richtig, dass er den Job eines religiösen Anführers mit dem des Harzer Wanderführers eingetauscht hat? Trägt diese Überlegung ebenfalls seine Enkelin?«

Abrupt endete er. Für Sekunden herrschte Schweigen. Lorenz unterbrach die Stille und fuhr gelassen fort.

»Das ist alles, verehrte Herren? Ich bin auf die drei Kilometer vom Ortskern bis an den Fundort vorbereitet. Schauen Sie«, reagierte er aus der Lage heraus. Er hob ein Bein an. »Da, festes Schuhwerk, reicht das?«, entwickelte sich sein Grinsen zu einem lauthalsen Lachen. »Es gibt ausreichend Urlaubslektüre, um den Harz zu erwandern. Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein durchgehend befestigter Weg.«

Das Feixen der Teilnehmer überstieg auf Anhieb alle anderen Geräusche. »Angeschmiert, Jürgen«, hob Pressesprecher Steiner an. »Sagte ich ja, du wirst dich blamieren. Reize den Beamten nicht.«

Der Bürgermeister erhob sich zwischenzeitlich. Lorenz sah darin einen taktischen Zug, um die Lage zu entspannen.

»Kommen Sie bitte hierher ans Fenster. Den Herren ist es nicht gelungen, Sie einzuschüchtern. Freut mich. Das verzapfen die hauptsächlich, wenn Fremde in unser Reich eindringen.« Er nickte spielend mit dem Kopf in Richtung des Brunnens. »Sehen Sie, Wotan beschützt uns. Wir vertrauen auf seinen imposanten Speer in der Hand. Diesen Anspruch übertragen wir ebenfalls auf Sie und Ihre Kollegen. In diesem Sinne. Trinken wir Kaffee, einverstanden?«, fragte er. Im selben Moment griff er zum Telefonhörer der Haussprechanlage, um den bei der Sekretärin anzufordern. »Ach bitte, die rote Keramikdose mit den Keksen nicht vergessen«, folgte im Nachsatz.

Lorenz nutzte die Chance, um die Stille zu durchbrechen. »Ich beabsichtige keinerlei Schuldzuweisung, verehrte Herren, denn ich habe einen Ruf zu verlieren. Der verbindet sich logischerweise mit dem LKA. Legen wir die Fakten auf den Tisch. Ihr sagenumwobener Landstrich verdient das«, traf auf verblüffende Gesichter. »Fragen Sie mich, was ich sehe. Die Antwort lautet: Ein Flussbett, wo das Wasser zu kochen scheint. Die in die Tiefe gerissene Luft schäumt perlend wieder auf. Über der Bode reflektieren kleinste Wassertröpfchen. Das sind die Edelsteine im Harz, antworten Sie mir gleich verklärend. Dem halte ich nichts entgegen. Wenngleich mittendrin der Tod lauert. Die Frage ist, wie kam der an diesen Ort?«

Ein Raunen war deutlich hörbar. Die Anwesenden saßen konzentriert am Konferenztisch. Niemand schien die Ruhe durchbrechen zu wollen. Bis sie der Weckruf des Beamten traf.

»Was sieht der erfahrene Ranger? Massen an Touristen. Die spazieren vom Gasthaus Königsruhe zur Teufelsbrücke, den Bodekessel, bis tief in die Felsschlucht des Harzgebirges hinein. Ich frage Sie allen Ernstes: Einhundert Kilometer Harzer Hexenstieg, was vermitteln die uns? Sind die Augen und Ohren der Mitglieder in den Verbänden der Harzregion verschlossen? Nein, sagen Sie? Das glaube ich nicht. Da badet kein Mensch bei der sommerlichen Hitze in den Fluten der Bode? Ist ja ein Witz. Verbotene Kletterei und Abstürze in den Felsschluchten der Region sind ebenfalls nicht bekannt. Hmm, was ist mit dem vermissten Wanderführer? Wann hat ihn letztmalig jemand gesehen? Wer und wo? Sieht sich die Stadt in der Pflicht?«

»Moralisch betrachtet, ja! Weil das Team hier am Tisch den Erich bestens kennt«, kam halbwegs gehemmt über die Lippen des Chefs der Bergwacht. Er richtete den Blick auf den Nebenmann aus. »Bitte Wilhelm, erkläre du das.«

»Gern, wenn das jemand wünscht«, sagte er auf eine Antwort wartend. »Ja«, schob Holger Steiner dazwischen. »Ich rate, zügele deinen Eifer für den Herrgott. Der Kriminalbeamte dankt es dir. Ah, Entschuldigung, das ist unfair von mir.«

»Meine Herren. Rumfrotzeln bringt nichts. Das haben wir nicht nötig. Gebt euer Wissen weiter. Die Lage ist heikel. Erich Feist war ein hochbetagter Mensch. Dass die sterblichen Überreste einen Hinweis auf ihn liefern, ist im Moment Spekulation. Keine Ahnung, ob die Galionsfigur im Sagenharz einem Verbrechen zum Opfer fiel. Ich versichere, die Ratsmannschaft trägt zur umfassenden Aufklärung bei. Versprochen!«

»Ja«, fuhr Lorenz geistesgegenwärtig fort. »Das ist der einzig brauchbare Ansatz. Hand in Hand mit der Polizei vorzugehen. Die Lage zwingt uns zur Ordnung. Kommen wir alle wieder runter auf den Teppich. Bürgermeister, bitte übernehmen Sie das.«