ZNT - Zeitschrift für Neues Testament 25. Jahrgang, Heft 50 (2022) -  - E-Book

ZNT - Zeitschrift für Neues Testament 25. Jahrgang, Heft 50 (2022) E-Book

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Beschreibung

Der Jakobusbrief leidet bis heute an der geringen Meinung, die Luther vom ihm hatte, musste allzu lange herhalten als schlechte theologische Alternative zu Paulus. Die aktuelle Forschung entdeckt ihn gegenwärtig neu als eigenständige Stimme zu Themen, die auch Paulus interessierten, als markante Position zu Fragen von Reichtumskritik und sozialem Statusdenken, als Fortschreibung jüdischer Weisheit und als einen frühchristlichen Zeugen hellenistisch-römischer Bildung. Zu entdecken ist der Jakobusbrief nicht zuletzt auch in postkolonialer Perspektive und als wichtige Schrift im Zusammenhang einer erheblich in Bewegung geratenen Kanondiskussion. Mit Beiträgen von Sigurvin Lárus Jónsson, Matthias Klinghardt, Susanne Luther, Rainer Metzner, Ingeborg Mongstad-Kvammen, Karl-Wilhelm Niebuhr, Manuel Vogel.

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Susanne Luther / Christian Strecker / Manuel Vogel

ZNT - Zeitschrift für Neues Testament 25. Jahrgang, Heft 50 (2022)

Themenheft: Jakobusbrief

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 1435-2249

ISBN 978-3-7720-8759-2 (Print)

ISBN 978-3-7720-0186-4 (ePub)

Inhalt

EditorialNT aktuell   Der Jakobusbrief in der aktuellen DiskussionFazitZum Thema   Luther und der JakobusbriefDer Jakobusbrief und die antike literarische BildungEin Ritter und ein BettlerKontroverse   Der Jakobusbrief im neutestamentlichen KanonWie und warum ist der Jakobusbrief ins Neue Testament gekommen?1 Methodische Begründung: Jak als Teil der Kanonischen Ausgabe2 Materiale Begründung: Kanonische Lektüre des Jak3 Einige FolgerungenEin NachzüglerHermeneutik und Vermittlung   Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung1 Einleitung2 Das Präskript (Jak 1,1)3 Von der Versuchung reich sein zu wollen (Jak 1,2–12)4 Versuchung und Begierde (Jak 1,13–18)5 Vom aggressiven Reden hin zum lindernden Handeln (Jak 1,19–27)6 Gott ist parteiisch wider die Reichen (Jak 2,1–13)7 Vom „Glauben“, der den Bruder oder die Schwester hungern und frieren lässt (Jak 2,14–26)8 Wider das rhetorische Sprachspiel der Eliten (Jak 3,1–12)9 Wider das agonistische Bildungsideal als Ausdruck einer dämonischen Pseudo-Weisheit (Jak 3,13–18)10 Innenansichten einer assimilierten Synagogengemeinde (Jak 4,1–12)11 Wider den Wettbewerb um Wohlstand (Jak 4,13–17)12 Vom Zusammenhang von Reichtum, Ausbeutung und Unrecht (Jak 5,1–6)13 Leiden als Gegenkonzept zu handlungsmächtiger Selbstbehauptung (Jak 5,7–11)14 Von der Wahrhaftigkeit und Kürze der Rede (Jak 5,12)15 Krankheit, Sünde und Irrtum als Felder solidarischen Redens und Handelns (Jak 5,13–19)16 Der Jakobusbrief: Kurze Paraphrase der HauptgedankenBuchreportRegister zu den bislang erschienenen Heften der ZNT   Register der HefteHeft 1, Jg. 1/1998, Themenheft „Jesus Christus“Heft 2, Jg. 1/1998, Allgemeines HeftHeft 3, Jg. 2/1999, Allgemeines HeftHeft 4, Jg. 2/1999, Allgemeines HeftHeft 5, Jg. 3/2000, Themenheft „Interreligiöser Dialog“Heft 6, Jg. 3/2000, Allgemeines HeftHeft 7, Jg. 4/2001, Themenheft „Wunder und Magie“Heft 8, Jg. 4/2001, Allgemeines HeftHeft 9, Jg. 5/2002, Themenheft „Gericht und Zorn Gottes“Heft 10, Jg. 5/2002, Allgemeines HeftHeft 11, Jg. 6/2003, Themenheft „Ethik“Heft 12, Jg. 6/2003, Themenheft „Kanon“Heft 13, Jg. 7/2004, Allgemeines HeftHeft 14, Jg. 7/2004, Themenheft „Paulus“Heft 15, Jg. 8/2005, Themenheft „Mission“Heft 16, Jg. 8/2005, Allgemeines HeftHeft 17, Jg. 9/2006, Themenheft „Gewalt und Gewalterfahrung“Heft 18, Jg. 9/2006, Themenheft „Apostelgeschichten“Heft 19, Jg. 10/2007, Themenheft „Auferstehung“Heft 20, Jg. 10/2007, Themenheft „Der erinnerte Jesus“Heft 21, Jg. 11/2008, Themenheft „Lernen und Lehren“Heft 22, Jg. 11/2008, Themenheft „Apokalypse“Heft 23, Jg. 12/2009, Themenheft „Johannes“Heft 24, Jg. 12/2009, Themenheft „Bergpredigt“Heft 25, Jg. 13/2010, Themenheft „Geist“Heft 26, Jg. 13/2010, Themenheft „Übersetzungen“Heft 27, Jg. 14/2011, Themenheft „Religion und Körper“Heft 28, Jg. 14/2011, Themenheft „Teufelszeug“Heft 29, Jg. 15/2012, Themenheft „Der Hebräerbrief“Heft 30, Jg. 15/2012, Themenheft „Sex und Macht“Heft 31, Jg. 16/2013, Themenheft „Die neue Politik des neuen Testaments“Heft 32, Jg. 16/2013, Themenheft „Sünde“Heft 33, Jg. 17/2014, Themenheft „Anders lesen“Heft 34, Jg. 17/2014 Themenheft „Lebenskunst“Heft 35, Jg. 18/2015, Themenheft „Rituale“Heft 36, Jg. 18/2015, Themenheft „Matthäusevangelium“Heft 37, Jg. 19/2016, Themenheft „Perspektiven des Jüdischen“Heft 38, Jg. 19/2016, Themenheft „2. Korintherbrief“Heft 39/40, Jg. 20/2017, Themenheft „Sola Scriptura“Heft 41, Jg. 21/2018, Themenheft „Judas“Heft 42, Jg. 21/2018, Themenheft „Johannesoffenbarung“Heft 43/44, Jg. 22/2019, Themenheft „Synoptische Hypothesen“Heft 45, Jg. 23/2020, Themenheft „Jerusalem“Heft 46, Jg. 23/2020, Themenheft „Gabe und Handlungsmacht“Heft 47, Jg. 24/2021, Themenheft „Markusevangelium“Heft 48, Jg. 24/2021, Themenheft „Kinder“Heft 49, Jg. 25/2022, Themenheft „Gender, Feminismus und Queer“Heft 50, Jg. 25/2022, Themenheft „Jakobusbrief“Register der Autorinnen und AutorenRegister der rezensierten Bücher

Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

Mit dem vorliegenden fünfzigsten Heft der ZNT blicken die Herausgeberinnen und Herausgeber dankbar auf 25 Jahre des Bestehens dieser Zeitschrift zurück, die unter den exegetischen Periodika ihren Platz „in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft“ gesucht und, wie wir wohl sagen dürfen, auch gefunden hat. Der Zeitschrift ist zu wünschen, dass sie auch weiterhin und je länger desto mehr das Neue Testament auch außerhalb der exegetischen Binnendiskurse zu Gehör bringt, ohne den fachwissenschaftlichen Anspruch zugunsten der (dann zu teuer bezahlten und zu billig angebotenen) außerfachlichen Verständlichkeit zu ermäßigen. Zusätzlich zu den üblichen Beiträgen enthält dieses Heft ein Register der Aufsätze und Buchrezensionen sämtlicher bisher erschienenen Hefte. Wir danken herzlich dem Verlag für seine Zustimmung zu der dadurch entstandenen nicht unerheblichen Überlänge des Heftes.

Der Jakobusbrief, dem das aktuelle Heft gewidmet ist, leidet bis heute an der geringen Meinung, die Luther über ihn äußerte, musste allzu lange herhalten als schlechte theologische Alternative zu Paulus. Die aktuelle Forschung entdeckt ihn gegenwärtig neu als eigenständige Stimme zu Themen, die auch Paulus interessierten, als markante Position zu Fragen von Reichtumskritik und sozialem Statusdenken, als Fortschreibung jüdischer Weisheit und als einen frühchristlichen Zeugen hellenistisch-römischer Bildung. Zu entdecken ist der Jakobusbrief nicht zuletzt auch in postkolonialer Perspektive und als wichtige Schrift im Zusammenhang einer erheblich in Bewegung geratenen Kanondiskussion.

Susanne Luther informiert unter der Rubrik „Neues Testament aktuell“ zu diesen und weiteren Trends der aktuellen Forschung.

Die drei Beiträge „zum Thema“ werden eröffnet von Karl-Wilhelm Niebuhr, der das geflügelte Lutherwort von der „strohernen Epistel“ in den Kontext zahlreicher auch positiver Referenzen Luthers auf den Jakobusbrief stellt, sowie in den größeren historischen Zusammenhang von Äußerungen anderer Reformatoren des 16. Jh. über seinen theologischen und kanonischen Rang. Sigurvin Jónsson beleuchtet in seinem Beitrag die profunde literarische und literarisch-rhetorische Bildung, über die der Verfasser des Jakobusbriefes verfügte, und die auch Rückschlüsse auf den Bildungsstand der intendierten Adressaten zulässt. Deutlich wird, dass sich frühchristliche Sozialkritik auch eines gehobenen Stils bedienen konnte, um die gehobene gesellschaftliche Schicht zu erreichen. Den sozialkritischen Aspekt pointiert auf eigene Weise Ingeborg Mongstad-Kvammen, die den Reichen in Jak 2,2f. als römischen Ritter identifiziert, der seine Kontakte zur Gemeinde für seine politischen Zwecke nutzen will. Hier zeigt sich, dass die vom Briefverfasser geforderte Orientierung am Mosegesetz sich tiefgreifend auf die soziale Selbstpositionierung der Adressierten auswirken musste.

Die zwischen Matthias Klinghardt und Rainer Metzner ausgetragene Kontroverse berührt nicht nur Fragen der Datierung und Zuschreibung des Jakobusbriefes, sondern auch das komplexe Problem der Entstehung des neutestamentlichen Kanons.

Unter der Rubrik „Hermeneutik und Vermittlung“ skizziert Manuel Vogel eine soziokulturelle Lektüre des Jakobusbriefes, die den Brief als vehementes Plädoyer für soziale Abwärtsorientierung und als ebenso vehementen Einspruch gegen soziales Aufwärtsstreben zum Sprechen bringt. Der ebenfalls von Manuel Vogel verfasste Buchreport stellt eine Monographie vor, die den Jakobusbrief unter postkolonialer Perspektive als nativist letter erschließt und die Frage nach dem Verhältnis von Jakobus(brief) und Paulus(briefen) in neuem Licht erscheinen lässt.

An Personalia ist zu vermelden, dass Matthias Klinghardt mit Eintritt in den Ruhestand aus dem Kreis der Herausgebenden der ZNT ausscheiden wird. Matthias Klinghardt war Gründungsmitglied der ZNT und hat die Zeitschrift über 25 Jahre mit wichtigen eigenen Beiträgen und zahllosen guten Ideen begleitet und mitgestaltet. Ihm gebührt unser besonderer Dank. Zu danken ist auch Christian Strecker und Manuel Vogel, die künftig als Mitglieder des erweiterten Kreises weiterhin bei der ZNT mitarbeiten werden. In den Jahren ihrer Hauptherausgeberschaft haben sie sich um die ZNT überaus verdient gemacht und hierbei keine Mühen gescheut. An ihre Stelle treten nun Jan Heilmann und Michael Sommer, denen an dieser Stelle ein herzliches Willkommen gesagt sei, ebenso Heidrun Mader, die neu zum Kreis der Herausgebenden hinzugekommen ist. Und last but not least soll hier auch dem Verlag ein großer Dank ausgesprochen werden für alle Unterstützung, die wir im Laufe von 25 Jahren in allen Belangen der ZNT erfahren haben.

 

Und Ihnen, liebe Leserinnen und liebe Leser, wünschen wir nun eine anregende Lektüre unseres Jubiläumsheftes.

 

Susanne Luther

Jan Heilmann

Michael Sommer

NT aktuell   Der Jakobusbrief in der aktuellen Diskussion

Tendenzen und Perspektiven der neueren Forschung

Einführung

Der Stellenwert der „strohernen Epistel“1 hat sich in der Forschung der letzten Jahrzehnte stark verändert. Zwar trägt Martin Luthers vielfach zitiertes Verdikt nach wie vor zur Marginalisierung des Briefes in der neutestamentlichen Wissenschaft bei, doch hat sich die Forschung zum Jakobusbrief in den letzten 30 Jahren redlich bemüht, den Text zu rehabilitieren und hat Luthers Urteil auch vielfach widerlegen können.2 Neuere sprachwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche, epistolographische und hermeneutische Zugänge wurden genutzt, um den Jakobusbrief als einen eigenständigen Beitrag zu einer frühchristlichen weisheitlichen Theologie und Ethik ohne direkten Bezug auf Paulus wahrzunehmen und seine Bedeutung für die Erfassung der frühchristlichen Auseinandersetzung mit dem jüdischen wie auch dem griechisch-römischen Kontext aufzuzeigen. Diese – von Karl-Wilhelm Niebuhr als new perspective on James3 bezeichnete – Wende bereitete mit einer Vielzahl an neuen Erkenntnissen und Beobachtungen den Weg für eine neue Würdigung des Jakobusbriefs im Kontext der neutestamentlichen Forschung. Im Folgenden kann der Anspruch nicht darauf liegen, eine umfassende Darstellung aller neueren Publikationen zum Jakobusbrief zu bieten; dazu sei auf die vorliegenden Literatur- und Forschungsberichte verwiesen.4 Zudem ist ein derartiger Anspruch am Vorabend der Publikation dreier großer Kommentare zum Jakobusbrief ohnehin nicht einholbar.5 Daher möchte ich im Rahmen dieses Beitrags lediglich eine kleine Auswahl an vielversprechenden neueren Ansätzen kurz darstellen.

1Die Diskussion um die Autorschaft

Die Frage nach dem Autor des Jakobusbriefs beschäftigt die Forschung seit langem, da sie bedeutende Auswirkungen auf die Datierung, das Verhältnis zu anderen neutestamentlichen Schriften und das Verständis des Textes generell hat. Sofern der Jakobusbrief nicht, wie zum Teil in der jüngeren, v. a. englischsprachigen Forschung, im Kontext der kanonischen Sammlung von Briefen gelesen wird und somit seine individuelle Autorschaft und Theologie nicht mehr vorausgesetzt werden,6 lassen sich zwei Positionen grundlegend voneinander unterscheiden: Einerseits wird vorgeschlagen, dass der Autor, der als „Jakobus, Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus“ an die „zwölf Stämme in der Diaspora“ schreibt (Jak 1,1),7 von einer historischen Person namens „Jakobus“ verfasst wurde, die der Tradition bekannt war. Dieser orthonyme Verfasser wird dann entweder mit dem Zebedaiden oder mit dem Bruder Jesu identifiziert.8 Andererseits wird erwogen, ob der Jakobusbrief als pseudepigraphes Schreiben zu betrachten sei, das sich der Autorität des Herrenbruders bedient.9

Dahingegen hat Rainer Metzner in seinem 2017 erschienenen Kommentar zum Jakobusbrief in der Reihe Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament – gegen die bis dahin dominant vertretenen, oben genannten Positionen – eine bislang in der Forschung nur marginal in Erwägung gezogene Position stark gemacht, nämlich dass „der Brief von einem sonst unbekannten Jakobus geschrieben wurde“.10 Als ein orthonymes Schreiben, wie sie im frühen Christentum ab dem 2. Jh. belegt sind, stamme der Brief von einem der christlichen Oberschicht zugehörigen „Lehrer, dem nicht an seiner Person, sondern an seiner Botschaft gelegen“ sei.11 In den in Jak 1,1 genannten Adressaten sieht Metzner im übertragenen Sinn „alle Christen und überall angesprochen“ und verortet das Schreiben somit dezidiert im Kontext des frühen Christentums.12 Wenngleich Metzner konstatiert, dass „Informationen zu Lokal- und Zeitkolorit [weitgehend] fehlen“,13 so versucht er doch, den Brief anhand der Annahme der orthonymen Autorschaft sowie der Rezeption des Schreibens auf eine Datierung um 130–140 n. Chr. festzulegen, als Entstehungsort wird Rom angenommen. Wenngleich dieser These zur Verfasserschaft des Jakobusbriefs kritisch entgegengehalten werden kann, die Aussagen des Briefes über den Verfasser für bare Münze zu nehmen und somit die gängige Praxis der Pseudepigraphie in der Antike in den Hintergrund zu rücken, während doch kein Nachweis für den angenommenen orthonymen Verfasser „Jakobus“ erbracht werden kann, so kommt sie im Vergleich zu den beiden vorher genannten Positionen doch mit den wenigsten Vorannahmen über die Person des Verfassers aus.

Die Frage der Autorschaft bleibt trotz der genannten, mit den unterschiedlichen Hypothesen einhergehenden Schwierigkeiten von Interesse und bietet weiterhin Anlass zur Diskussion, da sie eng mit der Interpretation des Briefinhalts sowie mit der Frage nach der Stellung des Briefes im Verhältnis zu anderen frühchristlichen Schriften verbunden ist. Einen etwas anderen Weg gehen die Beiträge in dem von Eve-Marie Becker, Sigurvin Lárus Jónsson und Susanne Luther herausgegebenen Sammelband Who was ‘James’? Essays on the Letter’s Authorship and Provenance,14 die nach dem Profil des Autors fragen. Der Ausgangspunkt ist die vieldiskutierte und doch letztlich unlösbare Frage nach dem historischen Autor des Jakobusbriefs, die dem methodischen Neuansatz stattgibt, den Fokus auf die Analyse der epistolaren Autorschaftskonzeption und die Rückfrage nach der intellektuellen Provenienz des Verfassers zu richten. Dabei werden innertextliche, kontextuelle und literaturgeschichtliche Indikatoren zur umfassenderen Bestimmung des literarischen und religiösen Autorenprofils herangezogen. Von besonderer forschungsgeschichtlicher Bedeutung ist, dass die konventionelle Debatte um den historischen Autor durch die Einbeziehung antiker Konzepte von Autorschaft eine Bereicherung erfährt.15

Der maßgebliche Beitrag dieses Bandes zur Fachdiskussion besteht darin, aufzuzeigen, dass die einzelnen vorgelegten Ansätze jeweils nur ein Mosaiksteinchen zu einem Autorenprofil beitragen – allein in ihrer Polyphonie vermögen sie (in Ansätzen) das Profil des Autors zu zeichnen.16 Dafür bedarf es eines mehrdimensionalen Konzepts der Briefautorschaft, in dem Beobachtungen zum expliziten, zum impliziten, zum historischen und zum literarischen Autor mit Studien zu Stil, Rhetorik, Gattungskritik und Literaturgeschichte, religiösen Kontexten, literarischen Autorenschaftskonzeptionen, kommunikativen Strukturen und zur Linguistik miteinander kombiniert werden. Zudem ist die Berücksichtigung der spezifischen im Jakobusbrief rezipierten und adaptierten literarischen und literaturgeschichtlichen Traditionen wie auch der im Text thematisierten sozioökonomischen, ethischen und theologischen Fragestellungen und ihrer diskursiven Kontexte für ein Autorenprofil von Bedeutung. Dieser multidimensionale Zugang ermöglicht eine umfassende und differenzierte Profilierung von „Jakobus“ als antikem (Brief-)Autor.

Die Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes plädieren folglich für eine Heuristik der (literarischen, theologischen, sprachlichen usw.) Profilierung anstatt einer (historischen) Identifizierung von „Jakobus“ als Briefautor. Zugleich wird deutlich, dass aufgrund der hermeneutischen Brille einer diversifizierten, pluralen Profilierung des Autors neue Erkenntnisse in Bezug auf Inhalt und Gestalt des Textes sowie die historischen, religiösen, sozialen, kulturellen, literarischen und intellektuellen Kontexte des Autors gewonnen werden.17

2Der Jakobusbrief in seinen sozialen, religiösen, kulturellen, literarischen, intellektuellen und historischen Kontexten

Die kontroverse Diskussion über die lokale Verortung des Jakobusbriefs, die zuvorderst auf Vorannahmen über den Autor und die Kommunikationssituation sowie auf sprachlichen und thematischen Anhaltspunkten im Vergleich zu anderen frühjüdischen, neutestamentlichen und frühchristlichen Texten basierte, erlebte in den letzten Jahren wiederum aufgrund vergleichender Untersuchungen neue Impulse. Zum einen wurden verstärkt Parallelen zu weisheitlichen Traditionen und frühjüdischen Schriften18 erhoben, zum anderen wurde vertieft die Relation des Jakobusbriefs zur Jesustradition untersucht.19 Darüber hinaus wurde der Text in den griechisch-römischen literarischen Kontext eingebunden.20 All diese Studien tragen dazu bei, den Jakobusbrief besser in seinem Entstehungskontext verorten zu können. Im Folgenden soll auf zwei Ansätze, die das Entstehungsmilieu des Jakobusbriefs zu differenzieren suchen, eingegangen werden.

Der enge Zusammenhang zwischen dem Matthäusevangelium und dem Jakobusbrief ist in der Forschung seit langem gesehen worden; in dem von Huub van de Sandt und Jürgen Zangenberg herausgegebenen Sammelband Matthew, James, and Didache: Three related documents in their Jewish and Christian Settings wurde er umfassend herausgearbeitet.21 Die Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes gehen nicht von einer literarischen Abhängigkeit der Schriften voneinander aus, doch können sie auf unterschiedlichen Ebenen (sozialer Hintergrund, Rezeption von Jesustradition22 usw.) und bezüglich verschiedener inhaltlicher Aspekte (Stellung zur Thora und zum Ritualgesetz, ethische Schwerpunktsetzung, Identitätsfragen usw.) enge Parallelen aufzeigen, die auf ein gemeinsames religiöses und soziales jüdisch-christliches Milieu rückschließen lassen. Dies führt zu der Schlussfolgerung:

The three documents could reflect various stages in the development of a network of communities that shared basic theological assumptions and expressions, or they may represent contemporaneous strands or different regional forms of the same wider phenomenon we now call Jewish Christianity.23

Doch werden die theologischen Übereinstimmungen, gemeinsamen Themen und anerkannten Formen religiöser Praxis sowie sprachliche Entsprechungen, die die drei Schriften vereinen, kritisch gegenüber den Differenzen zwischen den Schriften und den je individuellen Parallelen mit anderen neutestamentlichen Schriften abgewogen, um aufzuzeigen, dass – wenngleich jede der Schriften ihr eigenes Profil erhalten hat – doch die Gemeinsamkeiten auf ein gemeinsames soziales und religiöses Milieu schließen lassen, das sich zwar nicht ähnlich kohärent darstellt wie die paulinische und die johanneische Schule, das aber die Vermutung zulässt: „Matthew, James, and the Didache represent a third important religious milieu within earliest Christianity, which is characterized by its distinct connections to a particular ethical stream of contemporary Jewish tradition“.24 Wenngleich dieses Milieu nicht ebenso klar definiert und kohärent ist wie die anderen beiden, so lässt es sich doch anhand der Gemeinsamkeiten der drei Schriften beschreiben.

Neben der engen Vernetzung des Jakobusbriefs mit dem literarischen Kontext des Frühjudentums und des frühen Christentums wurde auch die Verortung des Schreibens im Kontext der griechisch-römischen Literatur verstärkt in den Blick genommen. So liest Sigurvin Lárus Jónsson den Jakobusbrief in seiner Monographie James among the Classicists25 vor dem Hintergrund des Konzeptes des literarischen Klassizismus und fragt nach der rhetorischen Funktion des Schreibens. Ausgehend von der antiken Literaturtheorie und Rhetorik – Jónsson beruft sich z. B. auf Dionysius von Halikarnassos, Aristoteles, Demetrius, Longinus und Theon – argumentiert er, dass der Jakobusbrief als Ethopoiie beschrieben werden könne, d. h. als „the imitation of the character of a person supposed to be speaking“,26 unabhängig davon, ob der vermeintliche Sprecher eine reale oder fiktive Person ist. Da Ethopoiie oder Speech-in-Character „the ability of an author to depict himself in speech as authoritative and righteous“27 beinhaltet, kann für den Jakobusbrief gelten, dass der (pseudonyme) Autor bekannte Techniken der antiken Rhetorik gebrauchte, um sich als glaubwürdig und autoritativ zu inszenieren. Durch die spezifische Verwendung von Vokabular und Stil (wiederholende Strukturen, umfangreiche Variationen im Vokabular, innovative Wortwahl, poetische Prosa, Neologismen) in seinem epistolographischen Schreiben, impliziert er seine Bildung; er nimmt die Rolle des Weisen, des Lehrers und Exegeten ein. Aus dieser Position heraus kann er die Probleme bei den Adressaten (z. B. die sozioökonomische Ungleichheit) autoritativ kommentieren und ethische Weisung bieten. Jónssons Textanalysen zeigen, dass der Verfasser des Jakobusbriefes viele Kriterien eines rhetorisch versierten Autors erfüllt und sein Text somit in den breiteren literarischen Kontext der griechisch-römischen Literatur eingeordnet werden kann. Zugleich lassen sich aber auch deutlich Abweichungen erkennen, die vielleicht auf den Einfluss der frühjüdischen Literatur zurückzuführen sind. Die Frage der historischen Autorschaft – d. h. die Frage der Sprache und des Stils, sofern der Text Jakobus, dem Bruder Jesu, zuzuschreiben wäre – wird nicht beleuchtet; das Interesse der Studie liegt vielmehr auf der Rekonstruktion des intellektuellen und ästhetischen Hintergrunds, der kulturellen Prägung und des Profils des pseudonymen Autors.28

In ihrem Beitrag „Scriptural Classicism? The Letter of James as an Early Christian Literary Document“29 fokussiert Oda Wischmeyer auf die literarische Qualität und die Form des Jakobusbriefs. Sie argumentiert, dass im Kontext der frühjüdischen und frühchristlichen griechischen Literatur „James’ letter can be characterized as an independent text of literary quality, connecting the features of imitation and emulation with the literary technique of blending, thereby combining scriptural Classicism with innovative elements“.30 Sie benutzt – mit Bezug auf Wiater31 – den Begriff des Klassizismus in einem erweiterten oder figurativen Sinn, indem sie ihn von der literatur- auf die kulturgeschichtliche Ebene überträgt. So verwendet, dient er zur Beschreibung einer literarischen Tätigkeit, die auf der Grundlage der literarischen Überlieferungen – z. B. unter Rückgriff auf die Septuaginta, die paulinischen Briefe und die Jesustradition – eine kulturelle, soziale und religiöse Identität ausformt. So lässt sich anhand intertextueller Analysen aufzeigen, dass sich der Jakobusbrief bestens in die frühchristliche griechische Literatur des 1. und frühen 2. Jh. n. Chr. einfügt, indem er einerseits die Tradition aufgreift und weiterführt, andererseits innovative Formen und Inhalte erschafft:

[W]e perceive the connection between a literary movement that may be labelled as a certain kind of Early Christian Classicism, but at the same time comes up with innovative forces. Both directions of the origins of Christian literature should be considered when it comes to the task of interpreting James: carefully cultivated stylistic traditionalism, currently (metaphorically) interpreted as Classicism, and innovation or modernism, i.e. the claim to create new kinds of sub-genres and new forms of linguistic and stylistic expression.32

Oda Wischmeyer legt dar, wie das Konzept des literarischen Klassizismus die Perspektive eröffnet, Texte wie den Jakobusbrief als literarische Grundlage für die Herausbildung eines identitätsstiftenden religiösen und moralischen Kosmos der gebildeten, literarisch anspruchsvollen, griechischsprechenden Mitglieder der Gemeinden von Christusgläubigen zu verstehen.

3Neue Perspektiven auf die Ethik des Jakobusbriefs

Die „moral world“ des Jakobusbriefs wurde in den vergangenen Jahren intensiv untersucht. Zum einen finden sich Überblicksdarstellungen,33 die die traditionsgeschichtlichen Hintergründe der ethischen Topoi zu eruieren suchen,34 zum anderen widmeten sich Studien vertieft methodischen, sprachlichen und inhaltlichen Einzelaspekten, z. B. der sprachlichen Darstellung und Argumentation ethischer Inhalte (bildhafte Sprache, Rollenmodelle, Polemik, Narratologie),35 den anthropologischen36 und theologischen37 Aspekten und Bedingungen ethischen Handelns, sowie einzelnen ethischen Topoi. Im Folgenden möchte ich eines dieser Einzelthemen, die – bereits vor langem angestoßene38 und vor dem Hintergrund von hate speech und fake news wieder sehr aktuelle39 – Debatte um die Ethik des rechten Sprechens, aufgreifen.

Susanne Luther geht in ihrer Studie Sprachethik im Neuen Testament davon aus, dass im Jakobusbrief – wie auch in anderen neutestamentlichen Texten wie z. B. dem Matthäusevangelium – zwischen einer ‚Bereichsethik‘ des rechten Sprechens und einer ‚Bereichsethik‘ des rechten Handelns unterschieden werden muss. Im ethischen Referenzrahmen der brieflichen Argumentation, der sich auf die sprachliche wie auf die nicht-sprachliche Dimension bezieht, konvergieren diese beiden Aspekte der Ethik. Dennoch liegt im Jakobusbrief ein Schwerpunkt der ethischen Argumentation und Unterweisung auf dem Aspekt des rechten Sprechens.40 Ein breites Spektrum an Topoi der antiken sprachethischen Tradition wird rezipiert und zugleich der ethischen Argumentation des Autors entsprechend adaptiert, so z. B. das Verbot des zornigen Sprechens (Jak 1,19–27), die Forderung der Integrität in Wort und Tat (Jak 1,26f.; 3,9–12), die Ermahnung zur Kontrolle der Zunge (Jak 1,26f.; 3,1–18), die Kritik des Streits und der unangemessenen Rede (z. B. Jak 4,1–4) sowie auch des Richtens (Jak 4,11f.) und Schwörens (Jak 5,12). Besonders hervorgehoben wird die (eschatologische) Bedeutung der (gegenseitigen) Zurechtweisung (Jak 5,19f.).41

Zentral für die jakobeische Sprachethik ist Kap. 3,42 das den Diskurs mit der Feststellung eröffnet, dass „wir alle“ im Wort versagen – alle, außer dem vollkommenen Menschen, dem teleios anēr (Jak 3,2). Der Autor begründet die Möglichkeit des angemessenen Sprechens durch die Zugehörigkeit zur neuen Schöpfung durch das Einpflanzen des Wortes der Wahrheit (Jak 1,18).43 Dennoch ist unangemessenes, ungezügeltes Sprechen ein empirisches Phänomen (Jak 4,1–3), das der erneuten Annahme des emphytos logos, des eingepflanzten Wortes, bedarf und eines Lebens in Übereinstimmung mit dem logos alētheias, dem Wort der Wahrheit (Jak 1,19–27).44 Allerdings gelingt es selbst dem vollkommenen Menschen, dem teleios anēr (Jak 3,2), nur, die Zunge vorübergehend zu zügeln, nicht aber, sie zu zähmen, d. h. sie dauerhaft positiv zu nutzen. Zu stark sind der Einfluss der Welt (Jak 1,27) und ihrer Begierden (Jak 1; 4,1–4).45 Die Diskrepanz zwischen dem Bereich der neuen Schöpfung und der irdischen Lebenswelt spiegelt sich in der inneren Zerrissenheit des Menschen wider (Jak 1,6–8; 3,9–12),46 der sich selbst täuscht, wenn er glaubt, auf Gott und den Dienst an ihm bedacht zu sein (Jak 1,26). Die wiederholte Rückkehr zum Wort bzw. Gesetz ist notwendig, um nicht durch unangemessene Worte die Beziehung zu Gott zu beeinträchtigen (Jak 1,26). Jak 4,11f. vertieft das Thema der unangemessenen Rede: Richten wird gleichgesetzt mit Verurteilen, d. h. mit der kritischen Bewertung in negativer Absicht, der Konsequenzen im eschatologischen Gericht drohen; daher folgt ein nachdrückliches, uneingeschränktes Verbot, die menschlichen Kompetenzen zu überschreiten und andere zu verurteilen. Kritisch-richtende Äußerungen sind nicht gestattet; ermahnende Beurteilung mit positiver Intention hingegen wird als notwendig erachtet (Jak 5,19f.). In Jak 5,12 wird die Wahrhaftigkeit des Menschen und die Zuverlässigkeit seiner Worte thematisiert. Der Jakobusbrief fordert Klarheit der Rede und eine eindeutige Disposition; wenn die Rede bedingungslos wahrhaftig ist, sind Eide überflüssig.47 Die jakobeische Sprachethik bietet eine historische Perspektive, die als Hintergrund für gegenwärtige Debatten über die Ethik des rechten Sprechens dienen kann. Die antiken Diskurse spiegeln unsere heutigen Herausforderungen, zeigen aber auch die Unterschiede auf und können daher unseren Blick auf aktuelle Diskurse über Identität und Sprachkultur im Zusammenhang mit der Ethik des rechten Sprechens schärfen.

4Theologische Schwerpunkte im Fokus

Während die Frage einer Christologie des Jakobusbriefes seit langem diskutiert wird,48 ist in der jüngeren Zeit auch die Theologie des Textes in den Fokus der Forschung gerückt.49 In Rahmen dieses Beitrags soll Stefan Wengers Studie Der wesenhaft gute Kyrios50 vorgestellt werden, in der er sich in monographischer Form mit dem Gottesbild des Jakobusbriefs beschäftigt. Wenger stellt dar, „dass Jakobus in jüdisch-christlicher Tradition stehend selbstverständlich vom einen wahren Gott, Schöpfer und Herrn allen Lebens ausgeht“, zugleich wird deutlich, dass „Jakobus den als wesenhaft gut gedachten Gott einerseits zwar als Geber nur guter und vollkommener Gaben, andererseits aber eben auch als Gott in Erinnerung ruft, der (als Anwalt) Recht einfordert und (als Richter) herstellt bzw. anerkennt“.51 Daher kommt Wenger zu dem Schluss:

Wenn Jakobus Gott als den wesenhaft Guten charakterisiert, impliziert dies ihm zufolge zwar zwingend auch dessen Richtersein (v. a. im Blick auf diejenigen, denen zu ihrem Recht verholfen werden soll), aber gleichzeitig lässt sich seine Rede vom richtenden Gott (v. a. hinsichtlich derjenigen, die wegen des von ihnen begangenen Unrechts zur Rechenschaft gezogen werden) nur schwer ins Bild eines als wesenhaft gut gedachten Gottes integrieren, sondern muss eher komplementär und in einer gewissen Spannung dazu gedacht werden.52

Diese grundlegende Spannung zwischen dem „wesenhaft guten Gott“ und dem zu erwartenden Richter und souveränen Kyrios wird unter vier Aspekten exegetisch analysiert und religionsgeschichtlich profiliert. Hinsichtlich der Prädikate „Gott als der wahre Gott, Schöpfer und Herr allen Lebens“ beleuchtet Wenger z. B. den traditionellen Hintergrund des Monotheismus und die Verwendung der kurios- und patēr-Terminologie, in Bezug auf „Gott als der wesenhaft Gute“ wird z. B. auf Gott als apeirastos und Geber aller guten Gaben eingegangen (Jak 1,13–16; 1,17; 1,18–25; 1,2–4; 3,13–18; 4,1–10). Das Unterkapitel „Gott als derjenige, der Recht einfordert, herstellt und anerkennt“ beleuchtet Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Richter und Anwalt; abschließend wird Gott „als der barmherzige Geber eschatologischen Heils“ dargestellt. Wenger kann in seiner Studie aufzeigen, dass der Jakobusbrief ein facettenreiches Gottesbild entwirft, das sowohl auf alttestamentlich-frühjüdischen und frühchristlichen Traditionen fußt, als auch Traditionen aus der paganen, insbesondere hellenistischen Umwelt rezipiert und für seine Belange fruchtbar macht. In Anbetracht des Anliegens des Jakobusbriefs und seiner durch das Gottesbild geprägten, auf ethische Themen ausgerichteten Argumentation wird daher konstatiert, dass das Schreiben

Gott als den begreifen lässt, der das Gute seinem Wesen nach will, sucht und fördert, dass er zugleich aber immer auch als majestätisch-souveräner Gott verstanden werden muss, vor dem sich menschliches Leben zu rechtfertigen hat und auf dessen Barmherzigkeit auch der „vollkommenste“ Christ geworfen bleibt.53

5Neuere hermeneutische Ansätze

In der Forschungsliteratur zeichnet sich des Weiteren die Tendenz ab, den Jakobusbrief verstärkt aus der Perspektive unterschiedlicher hermeneutischer Brillen zu lesen. Bereits seit den 1990er Jahren werden feministische Ansätze für die Auslegung des Jakobusbriefs in Anschlag gebracht, die hervorheben, dass der Jakobusbrief Frauen nur randständig erwähnt (Jak 1,27; 2,15.25; 4,4), jedoch die Thematisierung von Armut, Unterdrückung und Ungerechtigkeit die Argumentation des Schreibens prägt:

[T]he author consistently demonstrates that social and economic disparities, immoral judgments, and insensitive favoritism must be eradicated. This writing offers many resources for exploring contemporary injustices against women and children, as well as other injustices emanating from inequitable distribution of resources (e.g., financial, health care, educational, etc.) that continue to affect women across the globe.54

Insbesondere die Forderung nach Integrität (Jak 1,5–8; 2,4; 4,8) wird unter der feministischen Perspektive erweitert interpretiert:

Another way of understanding the call for wholeness is a communal sense. According to James, one can understand the meaning of faith only in the context of a community of individuals striving to become ‚mature‘ and ‚complete‘, lacking nothing (1:4). Womanist interpreters argue for this type of wholeness through their commitment to the wholeness of the collective community, which transcends the boundaries of racism, sexism, heterosexism, classism, and able-ism. In the warnings to avoid favoritism, class distinctions, and any other forms of partiality (2:1–13), James provides a paradigm for community accountability whereby all members are free of judgment and empowered to strive or wholeness and hope (2:13).55

Im Zusammenhang mit der Polemik gegenüber den Reichen und Mächtigen wird betont, dass „God is on the side of the oppressed and responds to those of different ethical, economic, social, and cultural backgrounds“,56 und es werden Rückschlüsse auf die historische Situation und Sozialstruktur der Gemeinden erwogen. Weiterhin lässt sich dadurch die Forderung einer Lebenshaltung der „kämpferischen Geduld“57 begründen, die in der Anweisung zum Ertragen des Leids (Jak 1,5f.; 5,10f.) und zum beharrlichen Gebet (Jak 5,4.16–18) ihre konkrete Ausformung finde und sowohl eine eschatologische (1,9–12; 2,5) als auch eine präsentische (2,5.8) Perspektive aufweise.58

Eine befreiungstheologische Perspektive legen James Coker und Ingeborg Mongstad-Kvammen auf den Jakobusbrief: Laut James Coker59 vertritt Jakobus eine konservative Position, wenn er die Identität der Gläubigen in einer reinen Form der Frömmigkeit begründet sieht, die im Gegenüber zu den sie umgebenden kulturellen Normen steht und eine Kontinuität mit dem Althergebrachten, den jüdischen Traditionen, aufweist. Paulus hingegen plädiere für eine Identität, die auf etwas Neuem und – mit postkolonialer Terminologie gesprochen – Hybriden beruht:

James and Paul’s argument can then be seen as an argument between nativist resistance to colonial power, which is characterized by reproducing colonial representations in order to resist colonial influence, and hybrid resistance, which is characterized by blurring the boundaries of colonizer/colonized in order to renegotiate a new set of power relations.60

Coker liest den Jakobusbrief – insbesondere auch das in der Forschung vieldiskutierte Verhältnis zwischen Jakobus und Paulus – politisch, als eine vielschichtige Auseinandersetzung des Jakobusbriefs mit der jüdischen Identität im Gegenüber sowohl zum römischen Imperialismus als auch zur paulinischen Hybridität.61 Jakobus’ Vorstellung einer „reinen“ Frömmigkeit könne, so Coker, dem Druck des Imperiums nicht standhalten. Die hybride Form der religiösen Identität bei Paulus hingegen habe an Popularität gewonnen, da sie eine gangbare Alternative darstellte, um in einem kolonialen Kontext zu bestehen und Widerstand zu leisten. Den heutigen Lesern hingegen, so Coker, seien beide Formen des Widerstands in den literarischen Texten des Jakobus und des Paulus erhalten, die miteinander kombiniert werden und durch diese Zusammenführung zweier Arten von Widerstand zu ethischen Lesarten der Texte anleiten sollen. Aus einer postkolonialen Perspektive biete die Kontroverse zwischen Jakobus und Paulus einen fruchtbaren Boden für Kirche und Wissenschaft, um die Auswirkungen des Kolonialismus auf die biblischen Autoren wie auch auf die modernen Leser zu rekonzeptualisieren.62

Ingeborg Mongstad-Kvammen63 liest die Passage Jak 2,1–13 unter postkolonialer Perspektive und identifiziert den anēr chyrsodaktylios in Jak 2,2 als römischen Ritter, als Repräsentanten des römischen Imperiums, den ptōchos als einen Bettler.64 Anhand der Kritik des Verfassers des Jakobusbriefs am Verhalten der Gemeinde diesen beiden Personen gegenüber und anhand seiner Argumentation, die mit Binaritäten arbeitet (Kolonisator – Kolonisierte, Macht – Machtlose, reich – arm, Ehre – Schande usw.), zeigt sie auf, dass das zentrale Problem in den hybriden Identitäten der Diasporagemeinden (Jak 1,1) liegt, die in einem Kontext der Unterdrückung lebten65 und – beeinflusst durch die römische Kolonialmacht66 – ihre soziale und kulturelle Prägung und ihr Verhalten den sozialen und kulturellen Standards der römischen Umgangsformen angepasst hatten. Damit entsprach es jedoch nicht mehr dem jüdisch-christlichen Verständnis der Gleichbehandlung. Der Verfasser des Jakobusbriefes appelliere, so Mongstad-Kvammen, daher an die Gemeinden, ihre hybride Identität zu reflektieren, sich auf ihre ursprüngliche Prägung zu besinnen und somit eine Distanzierung von der Kolonialmacht vorzunehmen, die gegebenenfalls gar Situationen der Verfolgung und Unterdrückung erzeuge, da ihr Verhalten aufgrund ihrer hybriden Identität ihre Verurteilung als Übertreter des Gesetzes Gottes nach sich ziehen würde.67

Eine Brücke zwischen den befreiungstheologischen zu den kontextuellen Hermeneutiken bietet Margaret Aymer mit ihrer rezeptionsgeschichtlich und ideologiekritisch ausgerichteten Studie über die Rolle des Jakobusbriefs im Kontext der Antisklavereibewegung (Abolitionist Movement) in den USA des 19. Jahrhunderts. Sie legt dar, wie Frederick Douglass, ein ehemaliger Sklave und späterer Abolitionist und Autor, den Jakobusbrief, insbesondere Jak 3,17, in seinen abolitionistischen Reden verwendete, um vor dem Hintergrund dieses biblischen Textes und seiner spezifischen Rhetorik die „Finsternis“ der Sklaverei und des sklavenhaltenden Christentums seiner Zeit zu interpretieren. Sie arbeitet heraus, wie Douglass anhand von rhetorischen Strategien wie Parodie, Inversion und Polemik „penetrates and redefines the hegemonic ideology of his day – the Bible and Christianity – by means of the very texts that were originally intended to uphold that hegemony“.68

Zu den kontextuellen Hermeneutiken lassen sich insbesondere afrikanische Perspektiven auf die Interpretation des Jakobusbriefs anführen,69 die den Text mit historisch-kritischer Methodik auslegen, zugleich aber auch durch die Brille der afrikanischen (bzw. afroamerikanischen) Geschichte und der gelebten Erfahrungen der afrikanischen (bzw. afroamerikanischen) Kirchen lesen. Auf diese Weise wird der historische Kontext, in dem der Jakobusbrief geschrieben wurde, ebenso berücksichtigt wie der soziale, historische, politische und wirtschaftliche Kontext, der die heutigen Leser und ihre Perspektive auf den Text bestimmt. Im Kommentarband True to Our Native Land: An African American New Testament Commentary werden Artikel über afroamerikanische Hermeneutik (slavery in the early church, Africa and African Imagery in the Bible, Womanist Biblical Interpretation, African American Preaching and the Bible usw.) dem Kommentarteil vorweggestellt; in den Kommentaren zu den einzelnen biblischen Büchern werden neben wissenschaftlichen Studien auch Poesie, Literatur und bildende Kunst sowie einzelne Stimmen afroamerikanischer Ausleger für die Interpretation fruchtbar gemacht, die die Überschneidung der biblischen Traditionen und der afroamerikanischen communities aufzuzeigen.70 Im African Bible Commentary werden im Rahmen der historisch-kritischen Auslegung des Jakobusbriefs durchwegs Verweise auf die Situation in afrikanischen Kontexten geben, der Text auf konkrete Missverhältnisse und referenzierbare Fehlverhalten bezogen oder zur Erläuterung Parallelen zur traditionellen Volksweisheit aufgezeigt.71 So wird z. B. thrēskeia kathara in Jak 1,27 folgendermaßen kontextualisiert:

But pure religion is not just a non-governmental organization, an NGO doing social work. The work done by believers is the product of their faith and the religion is characterized by the holy lives of its memsbers. Briefly put, the word must produce in us acts that prove our relationship to God and a way of life that glorifies him.72

Dem Kommentar zu Jak 2,1–13 wird ein separates Textfeld beigegeben, das von Jakobus ausgehend aus kanonischer Perspektive biblische Positionen zur Vetternwirtschaft („favoritism“) darlegt:

Christian communities in Africa are not immune to this sometimes unconscious discrimination in favour of the rich since the power of money is strong when many are poor. The rich are easily noticed and gain respect of leaders. Then the poor find themselves shoved to one side because, as the proverb says, ‚thin cows are not licked by their friends‘. They are ignored because they are ‚thin‘ and cannot make a financial contribution to the community.73

Fazit

In dieser skizzenhaften Darstellung konnten nur einige der aktuellen Tendenzen in der Forschung zum Jakobusbrief aufgegriffen und innerhalb derer jeweils nur wenige ausgewählte Ansätze präsentiert werden. Vieles musste mit Verweisen in den Fußnoten abgedeckt oder gänzlich unerwähnt bleiben – so z. B. weitestgehend die Debatte um die Relation zwischen dem Jakobusbrief und Paulus oder die Auseinandersetzung mit der Struktur des Jakobusbriefes und seiner epistolographischen Form.1 Auch auf die in Bälde erscheinenden großen Kommentare zum Jakobusbrief sei hier nochmals explizit verwiesen.2

Was sich aus dem hier Dargelegten jedoch deutlich erheben lässt, ist die in den letzten Jahren stetig fortschreitende, aufwertende Würdigung des Jakobusbriefs, die sich im Kontext der Forschung (insbesondere z. B. in Bezug auf die Theologie, Christologie und Ethik des Schreibens) in einer Vielzahl an exegetischen Publikationen und der Einbindung des Jakobusbriefs in die breitere Forschungsdiskussion niederschlägt. Aber auch im Kontext der gelebten Frömmigkeit (z. B. in Hinsicht auf seine konkreten ethischen, ekklesiologischen und frömmigkeitspraktischen Weisungen) erfährt der Jakobusbrief eine Neuentdeckung.3 Es wäre wünschenswert, dass diese zunehmende Wertschätzung des Textes über die neutestamentliche Exegese und die kirchliche Rezeption hinaus auch in der breiteren theologischen Diskussion wahrgenommen würde.

Nach dem Studium in Erlangen und Durham (GB) war Susanne Luther von 2007–2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen, von 2009–2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Universität Mainz. 2012 wurde sie in Erlangen promoviert. Nach der Habilitation (2018) war sie Assistenzprofessorin für Neues Testament an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften der Universität Groningen in den Niederlanden. Seit 2020 ist sie Professorin für Neues Testament an der Universität Göttingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Ethik im NT, Wundererzählungen im frühen Christentum, Hermeneutik sowie Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis im NT.

Zum Thema   Luther und der Jakobusbrief

Zur Diskussion um die „stroherne Epistel“ im frühen 16. Jahrhundert

1Vorbemerkungen

1.1Die Skaryna-Bibel (1517–1525) – eine östliche Perspektive

Im Jahr 15171 nahm nicht nur in Wittenberg mit dem Thesenanschlag Martin Luthers, ob historisch oder fiktional,2 die Reformation ihren Anfang. In demselben Jahr erschienen auch in Prag die ersten Bände der sogenannten Skaryna-Bibel, der ersten volkssprachlichen Bibelausgabe für orthodoxe Christen im ostslavischen Sprachraum. Skaryna war damit Luther um fünf Jahre voraus, der sein „Septembertestament“ erst 1522 herausbrachte. Ein Reprint der Skaryna-Bibel wird z. Z. von der Belarussischen Nationalbibliothek Minsk herausgegeben.3 Francysk / Franzischak / František Skaryna (1486–1552)4 war ein Buchdrucker aus Polazk / Polozk, einer Stadt im heutigen Belarus, die seinerzeit zum Großherzogtum Litauen gehörte.5 Nach seinem Studium in Krakau (1504) promovierte er in Padua zum Doktor der Medizin (1512) und siedelte später nach Prag über, wo er in den Jahren 1517 bis 1520 insgesamt 20 Bücher des Alten Testaments in einer ostslawischen Volkssprache publizierte, dem sogenannten Ruthenischen.6 In den Folgejahren kehrte Skaryna nach Wilna / Vilnius zurück, wo er seine eigene Druckerei gründete und weitere Lieferungen seiner Bibel herausbrachte. Seine späteren Lebensjahre bis zum Tod 1551/52 verlebte er dann wieder in Prag, wo er auch begraben liegt. In den wenigen Jahren zwischen 1517 und 1525 hatte Skaryna eine große Anzahl7 von Lieferungen seiner „vollständigen Ruthenischen Bibel“ herausgebracht, gedruckt in kyrillischen Lettern und versehen mit kurzen Einleitungen des Übersetzers und Herausgebers in die Gesamtausgabe wie in die einzelnen biblischen Bücher.8 Ob tatsächlich am Ende alle biblischen Bücher des Alten und Neuen Testaments in der Skaryna-Bibel gedruckt vorlagen, ist nicht ganz klar. In Vilnius brachte er jedenfalls im Jahr 1525 auch einen „Apostol“ heraus, ein Lektionar für die Epistellesungen in der Göttlichen Liturgie. Auch davon gibt es ein modernes Faksimile mit Kommentar.9 Eine wahrhaft europäische Vita und eine herausragende Leistung eines Gelehrten und Unternehmers in der frühen Neuzeit!

Textgrundlage für Skarynas Bibelausgabe war eine tschechische Bibel, die erste gedruckte slavische Bibelübersetzung überhaupt, und zwar wahrscheinlich deren als „Prager Bibel“ bezeichnete vierte Revision von 1488. Skarynas Text ist aber offenbar auch von der kirchenslavischen Manuskriptüberlieferung beeinflusst. Ob er direkt auf die Vulgata zurückgriff, die der tschechischen Bibel zugrunde liegt, ist unklar.10