Zombie Zone Germany: Elegie - Janika Rehak - E-Book

Zombie Zone Germany: Elegie E-Book

Janika Rehak

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Beschreibung

Lüneburger Heide, Mai 2020 Star-Pianist Yosh Maibach steckt in der Krise: Frau weg, Inspiration weg, die Karriere ödet ihn nur noch an. Als dann auch noch Zombies durch seinen Vorgarten laufen, schließt er sich in seinem Herrenhaus ein, ohne Absicht, es je wieder zu verlassen. Yosh hat immer für die Musik gelebt. Nun ist seine Welt verstummt. Bis eines Tages eine Gruppe unerwarteter Gäste vor seiner Tür steht. Unsere Städte wurden Höllen. Sie kamen über Nacht. Ihr Hunger war unstillbar. Sie fielen wie Heuschreckenschwärme über die Lebenden her. Zerrissen sie, fraßen, machten aus ihnen etwas Entsetzliches. In den Straßen herrscht verwestes Fleisch. Zwischen zerschossenen Häusern und Bombenkratern gibt es kaum noch sichere Verstecke. In Deutschland ist der Tod zu einer seltenen Gnade geworden. Hohe Stahlbetonwände sichern die Grenzen. Jagdflieger und Kampfhubschrauber dröhnen darüber. Es wird auf alles geschossen, was sich (noch) bewegt. Deutschland wurde isoliert - steht unter Quarantäne. Die wenigen Überlebenden haben sich zu Gruppen zusammengeschlossen, oder agieren auf eigene, verzweifelte Faust. Gefangen unter Feinden. Im eigenen Land. Doch ist der Mensch noch des Menschen Freund, wenn die Nahrung knapp wird und ein Pfad aus kaltem Blut in eine Zukunft ohne Hoffnung führt?

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Playlist

Bach, Johann Sebastian: Prelude 1 in C Major, Bach-Werke-Verzeichnis 846

Beethoven, Ludwig van: Klaviersonate Nr. 14 in cis-Moll, op. 27 Nr. 2 (1801) „Mondscheinsonate“

Brahms, Johannes; Dietrich, Albert; Schumann, Robert: F-A-E-Sonate (1953)

Debussy, Claude: Suite Bergamasque, L. 75, 3. Satz „Claire de lune“ (1890)

Mussorgsky, Modest Petrowitsch: Bilder einer Ausstellung (1874)

Newmann, David: Once upon a time in December (1997)

Schumann, Robert: Op. 15; Kinderszenen (1838)

Schumann, Robert: Op. 113; Märchenbilder (1851)

Content Notes

Bei Triggerwarnungen oder Content Notes handelt es sich um die Benennung von sensi­blen Themen, damit die Leser*innen selbst die Verantwortung ergreifen und sich entscheiden können, ob sie einen bestimmten Text (in einer bestimmten seelischen Verfassung) lesen wollen. In einem Buch über Zombies ist grundsätzlich mit drastischen Szenen zu rechnen.

Suizidgedanken / Suizidalität, Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, dysfunktionale Familienkonstellation

© 2021 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein11/2021

Idee: Torsten Exter

Herausgeberin der Reihe: Claudia Rapp

Lektorat: Claudia RappUmschlaggestaltung: Christian Günther Atelier Tag Eins - tag-eins.de

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-469-9ISBN E-Book – 978-3-95869-470-5Printed in the EU

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/21

Prelude

Die letzten Töne von Running for Rain klangen aus. Yosh schloss die Augen und ließ die Finger noch einen Moment auf den Tasten liegen. Er spürte den Nachhall als ganz leichtes Zittern.

Die Noten stiegen unter die Decke, drehten dort einen Reigen, verdichteten sich und tropften auf die Zuschauerränge hinunter. Wenn sich jetzt jemand umsah, nach oben blickte und sich fragte, ob da gerade wirklich ein zarter Sommerschauer auf ihn niederging, dann hatte Yosh alles richtig gemacht.

Das erste, zaghafte Klatschen erklang. Es setzte sich schnell bis in die letzten Ränge fort und wurde zu einer Gewitterkaskade. Yosh ließ sie mit geschlossenen Augen auf sich einprasseln, stand auf und verbeugte sich.

Die Elbphilharmonie präsentiert: Leon Yoshio Maibach, live in concert.

Er hatte dem Publikum einiges abverlangt. Zuerst Mussorgsky. Bilder einer Ausstellung. Zwei Stunden lang hatten die sperrigen Klänge von einem imaginären Kunstwerk zum nächsten geführt. Dann Schumann, komplex, aber verträumt. Eine reichlich überspannte Darbietung, so wie man es von Yosh gewohnt war, die sich dann aber ganz zum Schluss im Regenlied auflöste. Ein Fingertanz für Klavier, seine Eigenkomposition, schon etwas älter, doch sie bekam immer noch eine Menge Klicks auf den gängigen Musikplattformen. Ein Stilbruch allererster Güte.

Die Zuschauer waren irritiert. Sollten sie.

Die Kritiker rätselten, wie beides zusammenpasste. Die Antwort war simpel: Gar nicht.

Ein holpriger Anfang, ein flirrendes Zwischenspiel, am Ende Regen.

Fenja würde es verstehen.

Yosh verharrte einen Moment, hielt den Kopf gesenkt und richtete sich wieder auf. Vor ihm lag eine Wand aus Gesichtern. Pailletten glitzerten. Hier und da blinkte ein Armband auf. Zuerst fixierte Yosh einen Punkt ganz hinten über dem letzten Rang, lächelte, verbeugte sich dann noch einmal. Seine Augen suchten die erste Reihe ab.

Fenja, du kommst doch…?

Da war sie, in ihrem nachtblauen Kleid. Sie hatte die kurzen Haare zurückgekämmt, an ihrem Ohrläppchen funkelte ein Schmuckstein.

Sie trug wieder ihren Ehering.

Jemand reichte Yosh einen Blumenstrauß. Er nahm ihn entgegen, nickte, bedankte sich, ohne wirklich hinzusehen. Das Scheinwerferlicht blendete. Er musste blinzeln und hatte Angst, Fenja könne verschwinden, wenn er zu lange nicht hinsah.

Das Mädchen im Regen. Sommergewitter in Hamburg. Zwei Menschen am Straßenrand, beide durchnässt, die Blicke aneinander festgesaugt.

Lust auf einen Regenspaziergang?

Jemand reichte Yosh einen zweiten Strauß, einen dritten. Die Leute erhoben sich von den Plätzen. Yosh verbeugte sich noch einmal. Eine Levkoje fiel zu Boden.

Der Applaus wurde zu weißem Rauschen. Fenja lächelte. Alle lächelten. Die Levkoje verwelkte, schrumpfte zusammen, ein toter Ast mit trockenen Kelchen. Mundwinkel zogen sich auseinander, rotes Zahnfleisch blitzte.

Fenjas Lippen formten: »Ich liebe dich.«

Dann kroch etwas aus ihrer Nase.

Das weiße Ding wand sich aus dem rechten Loch, wogte einen Moment hin und her, es konnte sich für keine Richtung entscheiden. Der Körper zog nach, schob sich vorwärts, kroch über die Lippen aufs Kinn zu. Dort blieb er einen Moment lang hängen, fiel zu Boden und zerplatzte.

Das Geräusch war trotz des Händeklatschdonners zu hören.

Das weiße Rauschen wurde lauter, verwandelte sich in einen einzelnen hohen Fiepton. Körper standen aufrecht, schwankten hin und her. Graue Haut platzte, Lippen rissen auf, Knochenhände schlugen aufeinander, Totenschädel zeigten ihr Dauerlächeln.

Yosh spürte eine Bewegung, blickte hinunter auf die Blumen und sah ein Gewimmel von Maden. Er schleuderte die Sträuße von sich und schlug auf die glänzenden Körper ein, doch da kamen immer wieder neue. Sie krochen unter das Jackett und in die Hemdärmel.

Das Publikum setzte sich in Bewegung, Körper drängten zur Bühne, quollen über Gänge und Stühle hinweg, Krallenhände griffen um sich, Kiefer schlugen aufeinander.

Mittendrin stand Fenja, lachte und klatschte - »Ich liebe dich!« - während ihr Maden aus Nase und Augen krochen, ihr Gesicht einhüllten, bis es nur noch eine grauweiße Masse war.

Yosh schrie.

Er schrie und schrie, stürzte durch einen Nebel aus Körpern, Gesichtern und Händen. Er schlug um sich, schlug auf die Maden ein, die ihn bis hierher verfolgt hatten, auf seinem Körper herumkrochen, über die Haut, unter die Kleidung, immer auf der Suche nach einer Öffnung. Er schlug nach dem Kissen, den Laken, der Matratze, schlug nach den Händen, die nach ihm griffen.

Kleine, kraftvolle Finger schlossen sich um seine Handgelenke.

»Shh«, machte Kiyomi.

Sie hielt seine Arme fest, drückte ihn zurück auf die Matratze, schließlich saß sie mit ihrem ganzen Gewicht auf ihm und verschloss seinen Mund. Irgendwann schluchzte Yosh nur noch lautlos gegen ihre Handkante.

Durch das Fenster fiel ein schmaler Lichtstrahl. Er beleuchtete Kiyomis Scheitel, Stirn, Nase und Schlüsselbein.

Yosh konnte nicht klar fokussieren. »Nacht oder Tag?«

»Ist doch egal«, sagte sie ihm ins Ohr.

Yoshs Körper gab nach, er kämpfte nicht weiter gegen die Bilder an, obwohl ein Teil von ihm genau dorthin zurückwollte. Wieder Klavier spielen, die Tasten berühren, wenigstens im Traum.

Fenja sehen. Sogar in dieser Gestalt.

Yosh ertastete zerwühlte Laken. Sein Blick war immer noch unscharf, aber er wusste, wie das Zimmer aussah. Doppelbett, Bauernschrank mit Schnitzereien, weiße Gardinen. Der Boden war ein Parcours aus leeren Flaschen. Man kam nur schwer vom Bett bis zur Tür, ohne eine davon umzustoßen. Besser, man blieb einfach liegen. Besser, man sah gar nicht hin.

In der Luft lag ein sauer-scharfer Geruch. Kein guter, aber ein lebendiger Geruch.

Die Dinger da draußen rochen anders.

Auf dem Nachttisch lag der MP3-Player, Musikfetzen drangen aus den Kopfhörern. Kiyomi drückte auf »off«. Sie nahm die Flasche vom Nachttisch, trank einen Schluck und überließ Yosh den Rest. Er schluckte, zu viel und zu schnell. Ein rotes Rinnsal floss über seine Lippen und versickerte im Kopfkissen, ein neuer Fleck blühte auf.

Kiyomi stellte die Flasche weg und leckte den Rest von Yoshs Lippen. Yosh starrte nach oben, sah winzige Staubpartikel im Lichtstrahl schweben, auf und ab. Auf und ab.

Kiyomi stupste ihn mit der Nase an, leckte noch einmal seine Unterlippe, tastete sich mit der Zunge vor. Sein Unterleib lag zwischen ihren Schenkeln, sie streichelte, spielte und knabberte, bis er reagierte. Sie setzte sich auf ihn.

Yosh schaute weiter zur Decke.

Da oben: Staub.

Über ihm: Kiyomi.

Draußen: Tagnachtgleiche.

Kiyomi hatte Recht. Es war vollkommen egal.

Sie murmelte, flüsterte, wurde schneller, auf und ab, stieß einen Schrei aus und sank auf ihm zusammen, die Lippen ganz dicht an seiner Ohrmuschel.

»Erzähl mir das Märchen vom Gespensterschrank«

Ihr Atem roch nach Wein und Erdbeeren. Wie konnte sie nach alldem immer noch nach Erdbeeren riechen?

1. Satz

Kapitel 1

Lüneburger Heide

Heidekreis, Anfang Mai 2020

Die Birken standen zu weit auseinander.

Yosh stand am Schlafzimmerfenster, blickte in den Garten hinaus und versuchte ein Problem zu lösen. Die Birken standen zu weit auseinander. Die Lichterkette war zu kurz. Siebeneinhalb Meter, ein bunter Lampion neben dem nächsten. Es hätten neun Meter sein müssen. Ein Vermessungsfehler.

Yosh kniff die Augen zusammen und verschob die linke Birke um ein kleines Stück.

Na bitte.

Das Smartphone summte. Yosh blinzelte. Die Birke rückte wieder an ihren ursprünglichen Platz. Blätter und Astgabeln grinsten Yosh triumphierend an.

Es war Fenja. Yosh wusste immer, wenn sie anrief. Das Telefon vibrierte auf eine ganz bestimmte Weise, und sein Herz vibrierte mit.

»Na?« Fenja lächelte vom Display. Sie war ungeschminkt. Ihr Haar war länger geworden. Inzwischen bedeckte es ihre Ohrläppchen. Yosh sah sich selbst durch die Kamera. Er war blass, wie immer. Die schwarze Sportjacke verstärke den Effekt. Stubenhocker-Look, heute kombiniert mit blau­schwarzen Augenschatten.

»Was machst du?«, fragte Fenja.

»Ich muss eine Lichterkette kaufen.«

Natürlich. Eine neue Kette musste her. Wenn Fenja da war, dann lösten sich alle Probleme von selbst.

»Neuneinhalb Meter«, sagte Yosh.

»Nimm zehn.« Da war keine Ironie in ihrer Stimme. Nicht das kleinste bisschen. »Gehst du laufen?«

»Was?«, fragte Yosh.

»Die Jacke.«

Yosh tastete nach dem Softshellkragen. »Ja. Laufen.«

»Gut.«

Sie warteten. Yoshs Kopfhaut kribbelte, er strich sich die Haare zurück. »Was macht Hamburg?«

Er hörte sie durch die Wohnung gehen, auf dem Balkon drehte sie die Kamera. Yosh sah Häuser, Straßen und Autos, Motorenlärm drang herauf. Eine Möwe schrie.

»Alles noch da«, sagte Fenja.

»Warte kurz.« Yosh ging an sein eigenes Fenster, richtete die Kamera ins Freie und bewegte sie langsam. »Die Skyline Lüneburger Heide. Man beachte zwei Birken, die viel zu weit auseinander stehen. Im Hintergrund der Höpenberg, Felder und Waldwege, ideal zum Ausreiten. Das Haus liegt in Alleinlage, viel Platz, eigenes Pferd vorhanden.«

Die Möwe schrie wieder. Der Hamburger Himmel war grau. Über der Heide schien die Sonne. Garten, Bäume und Streuobstwiese lagen unter blauem Himmel. Ein Postkartenmotiv.

»Ich kann Judy sehen«, sagte Fenja.

Yosh kniff die Augen zusammen. Hinter der Streuobstwiese wanderte ein brauner Fleck über die Weide und rupfte Grasbüschel aus. Wenn Fenja jetzt hier wäre, würde sie das Fenster öffnen, die Finger in den Mund stecken und pfeifen. Die kleine Stute würde den Kopf wenden und Fenja würde ihr zuwinken.

Von Hamburg aus funktionierte das nicht und Yosh konnte nicht auf den Fingern pfeifen.

»Sie fehlt mir.« Der verspielte Ton war aus Fenjas Stimme verschwunden.

»Du fehlst ihr auch.«

Eine Weile atmeten beide schweigend in die Kamera.

»Du kommst doch?«, fragte Yosh. »Zur Party, meine ich.«

»Yosh–«

»Bitte. Ich schaffe das nicht ohne dich.«

»Es ist nur ein Release.«

»Eben.«

Eine Party bedeutete, es würden Menschen da sein. Leute, mit denen er reden musste. Es bedeutete Smalltalk, Dauerlächeln, Händeschütteln, in Gedanken Rachmaninow spielen und dabei hoffentlich die richtigen Töne treffen.

»Du kannst das, Yosh.«

»Ja.« Er nickte hastig. »Natürlich. Aber du kommst doch?«

Sie seufzte. Es war ein sehr kleines Geräusch. »Ich hab den Termin notiert. Samstag. Release-Party bei uns zu Hause. Bisher steht nichts anderes im Kalender.«

Wieder nickte Yosh. »Okay. Gut. Prima.« Er räusperte sich. »Tja, also …«

»Du wolltest laufen gehen«, erinnerte sie ihn.

»Richtig.«

»Bis dann.« Sie wartete noch einen Moment, dann drückte sie ihn weg.

»Ich liebe dich«, sagte Yosh zu dem leeren Display. Er warf das Telefon beiseite. Es landete auf Fenjas Kissen und schlug eine Delle in den unberührten Bezug.

»Scheiße«, murmelte Yosh.

Das Telefon klingelte wieder. Diesmal war es jemand anderes; das wusste er, ohne hinzusehen.

Yosh drückte auf Annahme. »Hey, Vero. Was kann ich für dich tun?«

****

Sie war schon wach. Der Küchentisch war halb gedeckt. Die Cornflakespackung stand neben dem Orangensaft. Hannes holte die Milch aus dem Kühlschrank und schenkte Kaffee ein.

»Guten Morgen.« Er stellte ihr die Tasse hin.

Sie fuhr zusammen und drehte das Tablet um, doch Hannes hatte genug gesehen. Er wusste, was sie in die Suchmaschine eingegeben hatte.

Drogenkonsum, Jugendliche.

Sie legte das Tablet zur Seite, nahm die Tasse und lächelte ihn über den Rand hinweg an. Sie hatte nicht gut geschlafen.

Hannes schüttete Cornflakes in eine Schale. Sie tastete nach der Milchtüte und erwischte stattdessen den Orangensaft. Ein kräftiger, gelber Schuss landete in ihrem Kaffee.

Beide schauten zuerst auf die Tasse, dann einander an.

Sie war müde und durcheinander, hatte zu viel zu tun und seit ein paar Tagen eine neue Sorge.

Ehrlich, Hannes? Jetzt auch noch Koks?

In ihrer Stimme hatte nicht einmal ein Vorwurf gelegen.

»Mama«, begann Hannes.

»Wir reden heute Abend. Ich muss los.« Sie streckte die Hand aus. Die Geste war untypisch, sie hatte sie sich abgewöhnt, weil Hannes ihr auswich, seit er elf war. Heute hielt er still. Sie war es, die sich zurückzog. »Bis nachher.« Wenig später rollte der Wagen vom Hof.

Hannes sah ihm durchs Fenster nach. Gaststätte Kahlert, stand auf der Seitentür, Lieferservice und Catering. Hannes winkte. Seine Mutter sah es wohl nicht. Jedenfalls winkte sie nicht zurück.

Hannes löffelte matschige Cornflakes. Den Orangenkaffee kippte er ins Waschbecken.

****

Als Yosh die Küche betrat, goss Senta gerade das Teekännchen auf. Das Radio lief, die Wettervorhersage kündigte heiter bis wolkig an.

»Guten Morgen.« Lächelnd reichte Senta ihm eine Tasse. Schwarztee, zwei Löffel Zucker.

»Danke.« Yosh nahm einen Schluck und tastete zerstreut am Tresen herum.

Senta reichte ihm ein Zopfband.

»Danke«, sagte er noch einmal und band sich die Haare zusammen. »Sind die anderen schon auf?«

»Die Prinzessin residiert im Musikzimmer, der Herr Starfotograf ward noch nicht gesehen.« Senta füllte noch einmal Wasser ins Teekännchen und ließ den Aufguss dieses Mal länger ziehen. Kiyomi mochte es stark und bitter.

»Wir brauchen eine neue Lichterkette«, sagte Yosh. »Zehn Meter. Bis Samstag.«

Senta stellte den Wasserkocher auf seinen Platz zurück.

»Ich weiß«, fügte Yosh hinzu, »es ist kurzfristig. Aber wenn es keine Umstände macht …«

»Umstände!« Senta lachte auf. »Eines Tages werden Sie mich entlassen, Leon Yoshio, bloß weil Sie mir keine Umstände machen wollen.«

»Es ist wegen Fenja«, sagte Yosh. »Sie mag Lichterketten, und wenn sie zur Party kommt …«

»Ich verstehe schon«, lächelte Senta.

»Fenja kommt?« Vincent kam in die Küche geschlurft. Sein Hemd stand halb offen und gab den Blick auf die magere Brust preis. Vincents Blick klebte am Handy, unter seiner Nase eine Spur weißes Pulver. Yosh gestikulierte, Vincent sagte »Oh« und wischte die Überreste seiner morgendlichen Line weg.

Senta verfolgte das Schauspiel mit erhobenen Brauen. »Stoned vor dem Frühstück. Wie reizend.«

»Stoned anstatt Frühstück«, gab Vincent zurück. »Das ist der Trick.« Er bedachte Yoshs Trainingsjacke mit einem langen Blick. »Die Morgenrunde?«

»Komm doch mit«, schlug Yosh vor.

»Danke, Bro, ich steh hinter der Kamera, nicht davor, außerdem rennst du mir viel zu schnell. Kriegt man hier irgendwo Kaffee?«

Senta legte ihm die Hamburger Morgenpost hin. Aufgeschlagen beim Immobilienteil.

»Ja, ja.« Vincent wischte die Zeitung beiseite. »Ich suche ja. Der Markt ist gerade in Bewegung und Ateliers sind schwer zu kriegen.«

»Wissen wir«, sagte Senta.

»Die Lage muss stimmen.«

»Wissen wir auch.«

»Die Mieten gehen durch die Decke.«

»Besonders in Hamburg«, half Yosh aus und fing sich dafür einen scharfen Blick von Senta ein.

»Genau, besonders in Hamburg.« Vincent setzte sich an den Tisch. »Was ist jetzt mit Fenja?«

»Sie kommt«, sagte Yosh.

»Wirklich?«

»Sie kommt«, wiederholte Yosh, barscher als es nötig war.

Vincent hob die Hände. »Alles gut, Bro! Keiner behauptet was anderes.«

Senta reichte Yosh einen zweiten Tee, bitter und stark, ganz nach Kiyomis Geschmack. »Wenn Sie«, raunte sie durch die Zähne, »ihn nicht bald rausschmeißen, tu ich es.«

»Jaaa«, rief Vincent, die Ellbogen auf dem Tisch. »Ich sagte doch, es ist gerade schwer bei der Marktlage.«

Yosh nahm die Tasse und suchte Sentas Blick. »Nach der Party. Okay? Lassen Sie mich bitte erst diese Party hinter mich bringen.«

»Richtig.« Vincent nickte. »Alles wird gut. Nach der Party.«

Yosh ging eilig aus der Küche. Im Flur hörte er Vincent sagen: »Senta, meine Liebste. Mein Goldstück. Kaffee? Bitte!«

Im Wohnzimmer waren die Gardinen zugezogen, das Dämmerlicht ließ nur Umrisse von Bücherregalen und Ledersofas erkennen. Die Bilder waren undefinierbare Rechtecke an der Wand, das Steinway ein sanft geschwungener Umriss. Weißes Papier stapelte sich auf dem Notenständer.

Das neue Stück. Arbeitstitel: Elegie. Yosh hatte es schon viel zu lange nicht mehr angerührt.

Nach der Party.

Helles Displayleuchten verriet Kiyomis Position. Sie lümmelte auf der Couch, ein dünnes, weißes Bein auf die Rückenlehne gestützt. Yosh stellte ihr die Teetasse hin, legte den Kopf zur Seite und entzifferte die Buchstaben auf dem Tablet.

Die Verwandlung in japanischer Übersetzung.

»Kafka?«, fragte Yosh.

»Mh-hm. Hab grad meine existentialistische Phase.«

»Wohl eher surrealistisch.«

»Hä?« Kiyomi blinzelte.

Yosh lachte. »Was studierst du noch mal?«

Sie stieß einen langen Seufzer aus, Weltschmerz und Lebensüberdruss, gepaart mit einer Ladung Kaugummi mit Erdbeergeschmack. Sie streckte die Hand aus, betastete seine Softshelljacke, ertastete den MP3-Player in der Tasche und zog kurz am Kopfhörerkabel. »Du bist so alt!« Sie grinste ihn an.

»Hab dich auch lieb, Schwesterchen. Bis dann!«

Auf der Vordertreppe stellte Yosh die Playlist ein und lief in gemäßigtem Tempo los. Am Tor drehte er sich noch einmal und bedachte zuerst das alte Herrenhaus, die Blutbuche in der Einfahrt und schließlich die beiden Problembirken mit einem ratlosen Blick.

Das, was Vincent die Morgenrunde nannte, führte parallel an der Straße entlang, anschließend ging es durch ein Wäldchen. Der Boden war sandig und etwas zu weich, es hatte mehrere Tage nicht geregnet. Die Kiefern endeten auf einer Anhöhe, von dort hatte man kilometerweit freie Sicht über die Heide. Das war der beste Teil seiner Tour.

»Was tun Sie, um sich zu entspannen?« Diese Frage wurde ihm regelmäßig in Interviews gestellt.

»Ich laufe«, sagte Yosh. »Mit Musik.«

»Was für Musik?«

»90er Jahre Partycharts.«

An dieser Stelle geriet das Gespräch ins Stocken. Man fragte sich, ob er einen Scherz machte, erinnerte sich dann, dass Leon Yoshio Maibach jenseits des Klaviers als scheu und zurückhaltend galt und nicht gerade für seinen Humor bekannt war. Die Partycharts wurden als eine Marotte von vielen verbucht, anschließend ging es zurück auf sicheres Terrain. Tourdaten. Das nächste Album. Fenjas neuer Film. Umzugsgerüchte. Sie wollen fort aus Hamburg, ja? Ein Herrenhaus in der Heide, hieß es. Ob da etwas dran sei? War vielleicht Nachwuchs geplant? Oder am Ende gar schon unterwegs?

Die Nachwuchsfrage ignorierte Yosh, in Interviews und im echten Leben. Alles andere beantwortete er der Reihe nach und benutzte dabei niemals ein Wort zu viel.

Die Partycharts waren sein voller Ernst. Girl Groups und Techno-Vibes waren so weit weg von seiner eigenen Musik, sein Kopf wurde vollkommen leer dabei. Die meisten Leute verstanden das nicht. Fenja schon. Die war ja auch ein 90er-Jahre-Mädchen.

Du kommst doch zur Party? Ich schaffe das nicht ohne dich.

Dein Pferd vermisst dich.

Idiot, sagte Yosh im Takt seiner Schritte. Idiot, Idiot, Idiot.

Er hatte Partys schon immer gehasst, die eigenen Release-Veranstaltungen am allermeisten. Aber er bekam es hin. Vincent sorgte für brauchbare Fotos. Die Organisation oblag Senta, fürs Essen sorgte Gaststätte Kahlert aus Verborn, und sein Agent erledigte den Rest. Yosh musste es nur überstehen.

Komm heim, Fenja. Ich vermisse dich.

Das klang zwar genauso bedürftig, aber es war wenigstens ehrlich.

Yosh blieb kurz auf der Anhöhe stehen und entschied sich dann für die kürzere Tour. Für mehr reichte seine Energie heute nicht. In letzter Zeit hatte er oft Rückenschmerzen, sein Arzt sagte, er müsse auf sich aufpassen, jetzt, wo er auf die vierzig zuging.

»Sechsunddreißig«, korrigierte Yosh.

»Genau«, sagte der Arzt.

Die Partyhits waren kein Scherz, Sport war ein notwendiges Übel, und er nutzte den MP3-Player nicht etwa aus den von Kiyomi angenommen Altersgründen, sondern weil die Morgenrunde seine einzige Stunde am Tag war, die er ohne Anrufe und Nachrichten zubringen wollte.

Ein neues Geräusch mischte sich unter die Mädchenband, lang, laut und durchdringend. Yosh fasste sich ans Ohr und zog den Kopfhörer heraus.

Drüben in Verborn heulten die Sirenen. Ein langgezogenes Crescendo, ein Plateau, langsam leiser werdend, dann begann alles wieder von vorn. Das war kein Übungsalarm. Es brannte wohl irgendwo. Oder es hatte ein Unfall auf der Autobahn gegeben.

****

Vero lag im Bett und bewunderte Faruks Wangenknochen. Sein Mund stand beim Schlafen ein kleines Stück offen und er schnarchte ganz leise. Doch darüber konnte Vero hinwegsehen.

Es war sogar ziemlich süß.

Die Nacht war eine Punktlandung gewesen. Blickkontakt auf der Tanzfläche, Lächeln, das zu einem Grinsen wurde, und zwei Flaschen Bier später stellte Vero fest, dass man sich mit dieser Schönheit mit den fantastischen Wangenknochen tatsächlich gut unterhalten konnte.

Er stand auf Musik.

»Zeitgenössisch?«

»Klassisch.«

Bingo, dachte Vero.

Sie war mit einem Kribbeln im Bauch aufgewacht, hatte eine halbe Stunde lang vor sich hin gegrinst, dann hatte sie Yosh angerufen und sich selbst zur Party eingeladen.

»Kann ich jemanden mitbringen?«

»Klar«, sagte Yosh.

Damit stand das nächste Date. Vero schlüpfte ins Bett zurück und schmiegte sich an Faruks Rücken. Klassische Musik. Die sollte er haben.

****

Die Sirenen heulten immer noch. Yosh lief neben der Landstraße her. Militärfahrzeuge fuhren vorbei, Lastwagen und Jeeps, ein ganzer Konvoi. Die Luft war dieselgeschwängert. Yosh zog den Kragen über Mund und Nase und beschleunigte noch etwas mehr, um die Abgase hinter sich zu lassen.

Er hatte vergessen, Senta zu grüßen. Das fiel ihm ein, als der Feldweg in Sicht kam, der wieder zu seinem Haus führte. Vero hatte Grüße ausgerichtet. Senta steckte bis zum Hals in Arbeit, und er hatte den Anruf ihrer Tochter nicht einmal erwähnt.

Inzwischen waren einfach zu viele Menschen an seiner Morgenroutine beteiligt.

»Ist nur vorübergehend«, hatte Vincent gesagt, nachdem er sich sein Fotostudio am Ende tatsächlich erfolgreich durch die Nase gezogen hatte, entgegen allen Beteuerungen, dass es niemals so weit kommen würde.

»Klar«, hatte Yosh gesagt und dem Freund eins der leeren Gästezimmer gegeben.

Inzwischen dauerte dieses Vorübergehend schon ziemlich lange. Yosh würde etwas unternehmen müssen. Schon Senta zuliebe.

Außerdem musste er Kiyomi vorbereiten. Kiyomi war klein, jung und furchtbar bezaubernd, und jeder hielt sie für Yoshs neue Freundin. Das wurde wohl erwartet, jetzt, da er auf die vierzig zuging.

»Schwester«, sagte Kiyomi. Es war eines von etwa fünf deutschen Wörtern, die sie beherrschte.

»Stiefschwester«, ergänzte Yosh, bevor jemand die Familienähnlichkeit entdecken wollte.

Für Kiyomi war dieser Unterschied unwichtig. Sie war die kleine Schwester aus Tokio, gerade zwanzig und zum Studieren in Deutschland. Yosh musste nur noch herausfinden, was sie studierte.

Ein Wagen hupte Yosh von der Seite an. Gaststätte Kahlert, Lieferservice und Catering. Yosh hob die Hand, grüßte, lächelte.

Der Wagen bremste und setzte zurück, Petra Kahlert stieß die Seitentür auf. »Was machen Sie denn hier draußen? Los, steigen Sie ein.«

Yosh trabte auf der Stelle. »Danke, ich hab es nicht mehr weit.«

»Einsteigen!« Da war etwas in ihrem Blick.

Yosh setzte sich auf den Beifahrersitz.

Die Fahrerkabine war warm. Yoshs Jacke klebte ihm am Körper, der Innenraum roch sofort nach Schweiß. Yosh wollte sich entschuldigen, doch Frau Kahlert zischte »Shh« und hantierte am Radio herum.

In Yoshs Ohren rauschte es. Die Radiostimme sagte Worte wie Katastrophenfall, Seuchenschutz, Militär, Großeinsatz. Alle Hörer sollten »in den Häusern bleiben« und »Fenster und Türen geschlossen halten.«

Dann sagte sie etwas von Hamburg.

Yosh wurde kalt.

»Ein Terroranschlag?«, fragte er.

Sie blickte auf die Straße, Ratlosigkeit in den Augen. Das war schlimmer als Angst.

Sie setzte ihn vor seinem Grundstück ab.

»Passen Sie auf sich auf.«

Einer von ihnen sagte das wohl. Vielleicht dachte Yosh es auch nur. Die Dinge schoben sich übereinander. Yosh sah dem Van nach, dann schloss er das Tor. Der Kies knirschte unter seinen Turnschuhen, die Blutbuche fing mit raschelnden Blättern den Wind ein. Das alte Herrenhaus lag im Sonnenschein. Stare sangen. Ein verfrühter Junikäfer zog vorbei. Yosh ging sehr langsam, dehnte den Weg zur Vordertreppe, die Illusion von Normalität so lange wie möglich aus.

Sie waren alle im Wohnzimmer. Es war immer noch abgedunkelt.

»Holy Shit, endlich, Bro!«, begrüßte ihn Vincent. Das war seine Version von: Ich hab mir Sorgen gemacht.

Über den Flachbildschirm liefen Bilder, tauchten das Zimmer in Gespensterlicht. Vincent blockierte Yoshs Blickfeld. Er stand sehr dicht vor dem Screen. Sein Fuß wippte, seine Finger zupfen an den Hemdknöpfen herum, er bleckte immer wieder die Zähne.

Eindeutig stoned.

Senta stand vor der Couch, umarmte sich selbst und hatte die Finger einer Hand vor dem Gesicht aufgefächert.

Vero studierte in Hamburg.

Bilder wechselten in schneller Folge, am unteren Slider liefen Buchstaben vorbei, formierten sich zu Worten, Sätzen, Informationen. Sie klopften an Yoshs Bewusstsein, genau wie zuvor die Worte im Radio. Yosh weigerte sich immer noch, sie einzulassen.

Luftaufnahmen zeigten die Alster, die Hafenkräne, die Philharmonie, rennende Gestalten, Blut, Schüsse.

Yoshs Telefon war voller Nachrichten. Anrufe in Abwesenheit, Meldungen, Nachrichten.

Mehrere Voicemails von seiner Mutter aus Göteborg, sie klangen hysterisch: »Mein Gott, was ist los bei euch?!«

Vero hatte noch einmal geschrieben, direkt nach dem Anruf. Bis Samstag! Ich freu mich!

Die Party. Das war Yoshs erster Gedanke. Er musste die Party absagen.

Kleine, verschwitzte Finger schoben sich in Yoshs Hand. Erdbeerduft hüllte ihn ein.

»Ist das ein Film?«, fragte Kiyomi.

Yosh gab keine Antwort. Er ging die Anrufe noch einmal durch, suchte nach einem ganz bestimmten und fand ihn nicht. Er drückte auf Kurzwahl.

Geh ran, flehte er stumm, geh ran, geh ran…!

»Hi, hier ist Fenja. Ich kann leider gerade nicht ans Telefon gehen. Nachrichten bitte nach dem Piep.«

Kapitel 2

Heidekreis, einige Wochen später

Die Fahrerkabine roch immer noch nach Neuwagen. Hannes fand das seltsam. Der Van war zwei Jahre alt und hatte in dieser Zeit eine Menge Geburtstage, Hochzeiten und sämtliche Vereinsfeiern in Verborn versorgt. Kalte Platten, Hochzeitssuppe, Heidschnuckenbraten. Der Essensgeruch hatte sich nie festgesetzt. Das sprach wohl für eine gute Isolierung.

Auch jetzt drang nichts durch. Keine Fäulnis, kein Blut. Dabei musste der Laderaum stinken wie ein Schlachthaus.

Die Fahrerkabine roch nach Mamas Shampoo – Zitrone –, nach Schlüsselbund und Kleingeld. Nach den Zigaretten im Handschuhfach und ein ganz klein wenig nach kaltem Rauch.

Er fühlte sich schläfrig. Die Luft war verbraucht. Hannes zählte, was noch da war. Das half beim Wachbleiben.

Eine Jeansjacke. Gürtel. Autoschlüssel. Schraubenzieher. Knöpfe, drei Stück. Er hatte keine Verwendung dafür, konnte sie aber auch nicht wegwerfen. Er hatte es versucht. Einmal war es ihm auch gelungen. Doch keine fünf Minuten später war er losgerannt und hatte alle drei Knöpfe wieder eingesammelt.

Sportpistole vom Schießstand. .22 Kleinkaliber. Patronen. Vier Stück.

Vier Patronen, drei Knöpfe, ergab insgesamt sieben.

Vier mal drei ergab zwölf. Zwölf plus sieben machte neunzehn. Neunzehn Schuss wären gut. Neunzehn Knöpfe brauchte kein Mensch.

Der Mond leuchtete durch das Seitenfenster, direkt auf Hannesʼ Gesicht. Das weckte ihn wieder. Er schlüpfte aus der Fahrerkabine, atmete tief ein. Die Tür ließ er offen. Nur einen Moment. Sonst entwich der Duft. Bloß für den Luftaustausch, so lange wie es dauerte, den Schriftzug an der Seite zu lesen.

Gaststätte Kahlert, Lieferservice und Catering. Dazu die Telefonnummer und eine Webseite. Wenn man die Nummer wählte, passierte gar nichts. Die Webseite existierte wohl noch. Es gab bloß keinen Standort mehr, um sie aufzurufen.

Das Ende der Welt brach herein, und was blieb, waren Knöpfe, Jeansjacken, wandernde Tote und eine Netzadresse.

www.zombiezonegermany.com

Die Fahrertür stand schon zu lange offen. Hannes knallte sie zu. Das Geräusch hallte durch den Nachtwald, brachial und fremd, ein menschengemachter Laut, wo es keine Menschen mehr gab.

Hannes lauschte auf eine Antwort, auf ein Knacken im Unterholz etwa, verweste Füße auf Moos und Blättern.

Etwas raschelte. Im Wald raschelte es ständig.

Ein Windhauch strich Hannes über den Nacken, der Schweiß zwischen Haut und Kragen wurde kalt. Hannes wischte den feuchten Film fort.

Das Rascheln kam nicht wieder.

Eine Zigarette. Die bräuchte er jetzt. Er könnte sich einfach eine holen, direkt aus dem Handschuhfach. Aber die gehörten der Mutter. Sie hatte sie immer nur heimlich hervorgeholt und immer nur unterwegs, nie daheim. Dann stand sie am Straßenrand, eingehüllt in blauen Qualm und drehte sich weg, wenn ein Auto vorbeifuhr.

Die Kahlert raucht wieder. Hannes wusste es. Ganz Verborn wusste es.

Seine Mutter rauchte heimlich, aber ihn überwachte sie mit Argusaugen.

Ehrlich, Hannes? Jetzt auch noch Koks?

Nach der Maifeier war das gewesen, als sie gemeinsam den Getränkestand abbauten.

»Ich hab dich gesehen, Hannes. Dich und die Kleine von Maibach. Ich habe alles gesehen.«

»Mama …«

»Nicht jetzt.«

Im Auto hatten sie geschwiegen, und das war es dann gewesen. Der Abschluss der Maifeier. Als die Welt noch gut war, sogar wunderschön. Mia bandelte mit Felix an, Arne stritt mit seiner Frau, wegen der Bibi aus Wintermoor. Kiyomi in ihrem kurzen Sommerkleid sorgte bei Hannes für Schmetterlingsflattern. Er hätte ihr gern erklärt, wie alles zusammenhing, wie Verborn funktionierte. Aber ihm fehlten die Worte dafür, außerdem verstand Kiyomi es auch so.

Sie hatte die Line gehabt. Es reichte kaum für sie beide. Was hätte Hannes denn machen sollen? Kiyomi den letzten Spaß ihres Lebens verderben?

Im Laderaum regte sich etwas. Körper richteten sich auf, Fingernägel kratzten über die Innenseite.

»Ganz ruhig.« Hannes legte die Hand auf die Rückwand. »Ich bin ja da.«

Aber sie beruhigten sich nicht. Das taten sie nie, wenn es einmal angefangen hatte. Sie hörten ihn. Vielleicht spürten sie ihn auch, mit einem Restinstinkt, einem Reiz ihres toten Hirnstamms.

»Seid still.«

Das Knacken war ganz nah. Hannes griff nach dem Schlüssel und verriegelte den Wagen von innen. Dann kauerte er sich im Fußraum zusammen.

Er spürte die Wesen mehr als er sie hörte. Sein Verstand übersetzte das Gefühl in Bilder. Sie wankten wie betrunken. Hannes hatte Leute gesehen, die beim Anblick der Toten in lautes Gelächter ausgebrochen waren. Sie lachten zuerst und dann schrien sie, und manchmal dauerte es entsetzlich lange.

Hannes tastete den Sitz ab, fand Gürtel, Knöpfe und endlich die Waffe.

Im Wageninneren flüsterten und keuchten sie. Mia, Felix und alle anderen, tote Münder wisperten im Chor.Hannes presste sich die Hände auf die Ohren, sein Gesicht war nass.

»Seid still!« Er schluchzte gegen die Stimmen an. »Seid doch endlich still!«

Marah blickte auf den Straßenatlas, sie suchte nach einem Punkt, an dem ihre Augen andocken konnten. Der Weg war uneben; es war schwer, die Taschenlampe gerade zu halten.

Rot bedeutete: Autobahn. Gelb: Landstraße. Blaue Abfahrten, schwarze Ortsnamen und viel zu viel freie Fläche dazwischen. Und nirgendwo der beruhigende rote Punkt. Nichts, was Standort und Ziel anzeigte. Eine Welt ohne GPS.

Marah spürte Simons Blick. »Guck auf die Straße. «

»Guck auf die Karte«, gab er zurück.

Sie fuhren mit Standlicht, ohne Klimaanlage. Die Tanknadel rückte in den roten Bereich. Simons Atem ging langsam, sehr ruhig, ein sicherer Vorbote für das, was bald kommen würde. Simons Ausraster entluden sich regelmäßig, die Abstände dazwischen wurden in letzter Zeit immer kürzer. Die Haare auf Marahs Unterarmen stellten sich auf.

Sie sah in den Rückspiegel. Nicole lächelte ihr zu, ihr Gesicht legte sich in ein Netz aus Mimikfalten. Izzie starrte aus dem Fenster. Wiesen. Felder. Und wieder Wiesen. Die Lüneburger Heide war ein einziges, ausgedehntes Flachland.

Bispingen. Dort hatten sie die Hauptstraße verlassen. Das lag auf gleicher Höhe wie Bremen, doch sie waren weiter nach Süden gefahren.

Straßen. Felder. Nur Punkte und Linien auf Papier, Namen mitten im Nirgendwo. Marah fühlte keinerlei Bodenhaftung.

Auf dem Weg vor ihnen sammelte sich Laub. Zu früh für die Jahreszeit.

Wieder Felder. Ein Wäldchen. Bäume rechts und links. Marah zog unwillkürlich den Kopf ein.

Walsrode musste hier in der Gegend sein. Und Soltau.

Heidepark Soltau.

Marah summte den Werbejingle. Der war so einprägsam.

Nicoles Gesicht bekam wieder Lachfalten. Marah kicherte etwas zu laut. Simon knurrte. Dann schrie er »Scheiße!« und stieg auf die Bremse. Der Wagen ruckte nach vorn. Die Taschenlampe fiel Marah aus der Hand, rollte unter den Sitz und ging aus. Marah bückte sich, tastete fluchend den Boden ab, fühlte das kalte Metall und leuchtete durch die Frontscheibe.

Im Lichtkegel stand jemand, kniff geblendet die Augen zu und schirmte das Gesicht ab.

»Lebt«, stellte Simon fest. Man lernte schnell, die Augen zu deuten. Der Funke des Bewusstseins war unverkennbar.

Die Gestalt kam näher, sie legte die Hand auf das Seitenfenster. Lippen bewegten sich. Izzie fing leise an zu wimmern.

Das Gesicht draußen hatte kaum Bartflaum. Noch ein Junge, nicht viel älter als Izzie. Er hatte gerade den Führerschein, wenn überhaupt. Marah besah ihn von oben bis unten, tastete seine Kleidung mit der Taschenlampe ab. Keine Risse im Stoff. Kein Blut. Keine sichtbaren Wunden.

Aber auch keine Ausrüstung.