Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ruth Stern Gasten erzählt von ihrer Kindheit auf dem Land, von Nachbarn, die zu ihr hielten, aber auch von Türen, die sich für immer schlossen, und von nahen Verwandten, die von den Nazis ermordet worden sind. Mehr als 200 Jahre war die jüdische Familie Stern in Nieder-Ohmen zu Hause. Nach dem Pogrom von 1938 aber sehen Joseph und Hanna Stern keinen anderen Ausweg, als mit ihrer kleinen Tochter auszuwandern. Die Fahrt auf der "Deutschland" ist für die Fünfjährige ein einziges Abenteuer, der Neuanfang in Chicago für alle hart. Ihr Buch hat die Erziehungswissenschaftlerin ursprünglich für Jugendliche geschrieben, die wie sie in die USA eingewandert sind und ihren eigenen Weg suchen. Gleichzeitig wirft sie gemeinsam mit ihren Lesern einen liebevollen Blick zurück in ihre oberhessische Vergangenheit.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für junge Menschen, die wissen möchten, wie das Leben in der „alten Heimat“ war und wie das Leben für Einwanderinnen wie mich war, als wir in das „neue Land“ kamen.
Für Menschen jeden Alters, die einer turbulenten Zeit einen Besuch abstatten möchten.
Besonderer Dank
Vorwort
Hannas Geschichte
Wie Hanna Joseph getroffen und geheiratet hat
Was ich von meinem Vater gelernt habe
Drei sein und verwundert sein
Tante Rifka
Eine Begegnung am Sonntagmorgen
Schlittenfahrt im Mondlicht
Die Fahrt nach Stuttgart
Meine Freundin Rosi
Cousine Hilda ist berühmt
Abreise nach Amerika
Spielplatz auf hoher See
Die ersten beiden Tage in Amerika
Ein Ausflug in New York City
Die Busfahrt nach Chicago
Willkommen in unserem neuen Zuhause
Mein Held
Blond ist schön
Sich eingewöhnen
Meine gute Fee
Zurück in die „alte Heimat“
Anhang
Meine Lebensreise
Was ich gelernt habe
Schlussgedanken
Nicht in den USA geboren
Ruth (2010).
Dieses Buch ist von Fragen meiner Enkelkinder ausgelöst worden. Ich habe es in dem Schreibseminar von Nancy O’Connell am Las Positas College begonnen, deren Wissen und Ermutigung eine enorme Hilfe war. Ich bin Mary Adamson und Judy Barnett dankbar für ihre Unterstützung und für ihre Kritik. Hector Timourian und Rick Altman haben mich sehr unterstützt, weil sie mir gezeigt haben, wie man ein Buch selbst veröffentlicht.
Ich bin meiner Tochter Amy Gasten Shenon und meinem Schwiegersohn Michael Shenon dafür dankbar, dass sie mir ihre Kinder für eine Reise in die „ alte Heimat“ anvertraut haben. Meine Nieder-Ohmener Cousine Karola Stern Steinhardt und Werner Cohen, der Mann meiner Cousine Hilda, waren sehr hilfreich beim Überprüfen meiner Erinnerungen an lange zurückliegende Ereignisse. Geschichtliche Informationen über das Dorf stammen aus Hildas Buch „Words that Burn Within Me“.
Heinrich Reichel, der inzwischen verstorbene Nieder-Ohmener Heimathistoriker, hat mir erlaubt, Fotos aus seinen Büchern zu benutzen, auch das vom Haus der Familie Stern und von dem Aufmarsch der SA, und hat mir wertvolle Einblicke in das Dorf meiner Jugend gewährt.
Meine Familie und meine Freunde waren wunderbar geduldig mit mir während dieses langen Prozesses. Ich weiß es zu schätzen. Mein Lebensgefährte Sam Stone hat mich liebevoll unterstützt und viele Male das Abendessen zubereitet, während ich am Computer gearbeitet habe. Ohne die Hilfe von Euch allen hätte ich es nicht geschafft!
Ruthchen im Alter von zwei Jahren.
Hitler und ich sind im gleichen Jahr auf der Bildfläche erschienen: 1933. Er kam an die Macht, und ich bin als Tochter von Joseph Stern, einem Viehhändler, und dessen Frau Hanna, geborene Nussbaum, zur Welt gekommen. Unsere Familie wohnte in Nieder-Ohmen, einem Ort in Oberhessen mit 1400 Einwohnern.
Deutschland erlebte tumultartige Zeiten. Eine galoppierende Inflation vernichtete Arbeitsplätze und bedeutete den finanziellen Ruin für zahlreiche Menschen. Wegen der wirtschaftlichen und der sozialen Probleme nahm die Nazibewegung einige Leute in Nieder-Ohmen sehr schnell für sich ein, vor allem männliche Jugendliche und Schuljungen. Sie hatten den Eindruck, dass sich in Deutschland etwas Neues und Aufregendes tat. Voller Begeisterung traten sie in die Hitlerjugend ein.
Weil sie jüdisch waren, wurde meinen Eltern bald bewusst, dass das Hitlerregime die Juden als Sündenböcke benutzte, um die Probleme des Landes zu erklären. Die Familie meines Vaters hatte seit mehr als 200 Jahren in Nieder-Ohmen gelebt. Sie war bekannt und beliebt in der Gemeinde, und mein Vater war sich sicher, dass die anständigen Leute aus seinem Dorf seine Familie beschützen würden. Meine Mutter, die nicht aus dem Ort stammte, war sich da weniger sicher und fürchtete sich jeden Tag mehr angesichts dessen, was um sie herum geschah.
Meine Mutter kam aus Ulmbach, einem Ort in Südosthessen, etwa 160 Kilometer entfernt von Nieder-Ohmen. Ihr Vater war 1919 gestorben, und ihre sechs Brüder waren in größere Städte gezogen, als Hitler seine antisemitische Kampagne startete. Sie hatten gesehen, wie ernst es war. Einer nach dem anderen verließen sie Deutschland Mitte der Dreißigerjahre, um in andere Länder zu ziehen. Vier von ihnen und meine Großmutter Fannie emigrierten nach Südafrika. Einer ging in den Süden von Rhodesien, das heutige Simbabwe. Ein anderer fand eine neue Heimat in Palästina, dem heutigen Israel.
Die Brüder meiner Mutter hatten meine Eltern angefleht, Deutschland zu verlassen, aber das Vertrauen meines Vaters in sein Land und in seine Nieder-Ohmener Freunde hielt ihn und seinen Bruder dort. Immerhin hatten beide ehrenhaft in der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg gekämpft. Sicherlich würden ihre Tapferkeit und ihre Vaterlandsliebe zu ihren Gunsten gewertet. Falls meine Eltern eine andere Wahl getroffen hätten, wäre ich durch Zufall Südafrikanerin geworden oder durch Zufall Israeli anstatt durch Zufall Amerikanerin.
Was für ein anderes Leben hätte ich geführt!
Dieses Buch behandelt meine ersten zehn Jahre – Jahre, die geprägt waren von Aufruhr, Spannungen, Traurigkeit und einem Abenteuer, das mich aus dem stillen Nieder-Ohmen in die große, quirlige Stadt Chicago, Illinois, gebracht hat, damit ich ein neues Leben in den USA beginnen konnte.
Ich möchte, dass künftige Generationen unsere Geschichte kennen, aber nicht, damit sie die Deutschen hassen. Weit gefehlt! Meine eigenen Erfahrungen in Deutschland zeigen, dass wir nicht ein ganzes Volk wegen der Taten von einigen verdammen dürfen. Es ist notwendig, diese Geschichten zu erzählen, damit wir aus der Vergangenheit lernen können.
Es ist mein Traum, dass künftige Generationen aufstehen und das Wort ergreifen werden, wenn Ungerechtigkeit und Vorurteile in einem Land zunehmen. Mir schwebt eine Welt vor, in der jeder nach seinen Stärken beurteilt wird und die Chance bekommt, sie zu nutzen.
Ruth im Alter von sechs Monaten.
Meine Mutter Johanna Nussbaum war 1898 geboren, als zweites Kind und einzige Tochter von Meier und Fannie Nussbaum. Mit sechs Brüdern wuchs sie in einer der wenigen jüdischen Familien in Ulmbach auf, einer Kleinstadt im Kinzigtal, im Südosten von Hessen. „Ich habe als kleines Mädchen hart gearbeitet“, hat mir meine Mutter erzählt. „Deine Oma Fannie und ich haben das Haus geputzt, Wäsche gewaschen, gebügelt, gekocht und das Essen serviert. Wenn alle gegessen hatten, haben Oma und ich das Geschirr abgewaschen und weggeräumt, obwohl wir so müde waren. Meine Brüder haben mit Opa Meier draußen gearbeitet, aber sie hatten auch Zeit, Karten zu spielen, ihre Freunde zu treffen und über Bücher zu reden. Denk darüber nach: Es waren sechs da, um bei ‚Männerarbeit’ zu helfen, aber nur eine, um bei der ‚Frauenar-beit’ zu helfen.“ Ich hörte Neid heraus, wenn sie ihr Leben mit dem ihrer Brüder verglich.
Hanna ging bis zur achten Klasse auf die Dorfschule. Jeden Tag kam der katholische Pfarrer in die Schule, um mit den Schülern zu beten, und dann warteten die jüdischen Kinder draußen. Seit sie eingeschult worden war, wurde meiner Mutter beigebracht, dass sie und die anderen Juden sprichwörtlich und tatsächlich Außenseiter waren. Was eignet sich mehr dafür, dir als Kind das Gefühl zu geben, dass du ein Außenseiter bist, als die Aufforderung, draußen zu warten, während alle anderen etwas lernen, das nicht zu deinem kulturellen Erbe gehört?
„An langen Wintertagen schien es, als dauerten diese Gebete ewig“, erinnerte sich meine Mutter. „Es war so kalt. Wir konnten unseren Atem sehen, wenn wir uns unterhielten. Wir trugen Handschuhe. Trotzdem waren unsere Finger kalt wie Eis.“ Hanna war ein kluges Kind, gut in der Schule. Obwohl sie zu Hause sehr viel arbeiten musste und ihr nicht viel Zeit für ihre Schulaufgaben blieb, bekam sie sehr gute Noten. Mädchen aus kleinen Dörfern in Deutschland bekamen nicht die Chance, eine höhere Schule zu besuchen. Es gab kein Gymnasium in Ulmbach, und es war kein Geld da, um sie in eine Stadt zu schicken. Also blieb Hanna zu Hause und half bei der „Frauenarbeit“.
Es gab immer etwas zu tun im Hause Nussbaum. Die Freitage waren besonders arbeitsreich. Die Frauen des Hauses mussten immerhin alles für den Sabbat richten. Mama und Oma Fannie backten zwei große Challahs, gedrehte Hefezöpfe, die freitagabends und samstags gegessen wurden, eine große Menge Plätzchen und zwei Kuchen. Dann wurde es Zeit, die Hühnersuppe zuzubereiten – das war ein Ritual am Freitagnachmittag. Sobald das Huhn der Suppe Geschmack verliehen hatte, holte Oma Fannie die Stücke aus dem weißen Emaillesuppentopf und legte sie in den schwarzen Eisenbräter, in den Hanna schon klein geschnittene Karotten, Zwiebeln, Steckrüben und Kartoffeln gegeben hatte.
Bei Sonnenuntergang zündete Oma Fannie die Kerzen an und sprach den Segen, und damit begann die Feier des Sabbats ganz offiziell. Die jüdischen Gesetze verboten jegliche Arbeit, bis am Samstag drei Sterne am Nachthimmel zu sehen waren. Darum wurde am Freitag genug zu essen zubereitet, um alle neun Nussbaums einen ganzen Tag ernähren zu können. Die große Familie hatte immerhin ein herzhaftes Mittagessen am Samstag. Bei sechs heranwachsenden Jungen war eine große Menge an Essen vorzubereiten. Bis zum Sonnenuntergang am Samstag hatten sie alles verputzt.
Dann gab es auch noch die Feiertage. Pessach erforderte die meiste Arbeit. Das Fest lag im Frühling, im März oder April, je nach Mondzyklus. Mama und Oma Fannie machten kurz vor Pessach ihren Frühlingsputz. Sie schrubbten nicht nur die Böden und Schränke, klopften die Teppiche und säuberten den Abfluss und den Ofen, sondern beseitigten auch jedes noch so kleine Brotkrümelchen und Korn aus den Schränken. Fragt ihr euch, warum? Es ist wegen des Exodus. Als Moses die Juden aus der ägyptischen Sklaverei führte, blieb keine Zeit, um den Sauerteig gehen zu lassen. In der Wüstensonne wurde das Brot zu flachen Matzen. Um ihre gelungene Flucht zu feiern, essen gläubige Juden einmal im Jahr nur Matzen – nichts, was mit Hefe gemacht ist, und auch kein anderes Korn, das quillt, wie Reis, Gerste, Hafer oder Roggen. Als Kind konnte ich verstehen, warum Hefe verboten war, aber es wunderte mich, dass ich keinen Reis oder Gerste essen sollte. Das wundert mich heute noch.
Die Familie Nussbaum hat die Regeln nicht hinterfragt, sondern befolgt. Nachdem das Haus blitzblank war, rief Oma Fannie ihre Söhne: „Beeilt euch! Geht auf den Dachboden und bringt mir alle Kisten, auf denen Pessach steht!“ Du meine Güte! Wie viele Kisten das waren! Einige enthielten zwei Tafelservices – eines für die milchigen und eines für die fleischigen Gerichte. In einigen waren Töpfe, Pfannen und Backbleche. Zwei kleine Kisten waren mit Bestecken gefüllt – einem Set für Milchiges und einem für Fleischiges. Hanna und Oma Fannie räumten das Alltagsgeschirr, die Pfannen und Bestecke aus den Schränken, packten sie in leere Kisten, die vom Dachboden geholt worden waren, und ersetzten sie durch das Pessachgeschirr und die dazu gehörenden Pfannen und Bestecke. An einem Tisch zu sitzen, auf dem eine Pessachdecke lag, und das eigens zubereitete Feiertagsmahl von Pessachtellern zu essen, war eine schöne Abwechslung für die ganze Familie, außer für Hanna und Oma Fannie, die völlig erschöpft waren, wenn sie alles ausgetauscht hatten.
Und wir haben noch nicht einmal über die Vorbereitungen für die beiden Sedermahlzeiten gesprochen. Seder bedeutet erzählen. Jedes Jahr bereiten jüdische Familien ein zeremonielles Essen vor, das die Flucht aus Ägypten symbolisiert, die Reise aus der Sklaverei in die Freiheit. Als erstes muss der Sederteller bereitgestellt werden. Es ist ein großer runder, dekorativ bemalter Teller. Sechs kleine Kreise sagen dir, was wohin gehört. Du brauchst ein geröstetes Lammkotelett, ein bisschen geriebenen Rettich, Charoset (Apfelschnitzen und Nüsse), klein geschnittene Petersilie, ein Ei und ein Schüsselchen mit Salzwasser. Heutzutage kannst du geriebenen Rettich kaufen, aber Mamas Brüder wechselten sich ab, bis genug für die beiden Sedermahlzeiten da war. Sie beschwerten sich: „Dieser Rettich ist stark genug, um dir den Zahnschmelz kaputt zu machen.“ Und sie beklagten sich und stöhnten zum Spaß.
Gefillte Fisch war ein wichtiger Teil des Pessachmahls. Die Vorspeise, in Scheiben geschnittener Fisch, stammte aus dem Mittelalter, als die Juden zu arm waren, um einen ganzen Fisch zu servieren. Die Hausfrauen fanden einen Weg, um billige Süßwasserfische zu verwenden. Um die Menge zu strecken, schnitten sie die Fische auf und füllten sie, sodass jeder wenigstens ein bisschen etwas von dem Geschmack abbekam. Oma Fannie hatte eine große alte Holzschüssel und ein Wiegemesser. Zuerst schnitt sie drei verschiedene Sorten Fisch und Zwiebeln. Dann fügte sie Eier, Matzenmehl und Gewürze hinzu. Schließlich formte sie aus der Mischung eiförmige Klöße, die in einen Topf mit heißem Fischsud geworfen und zwei Stunden gekocht wurden.
Während Oma den Fisch zubereitete, legte Mama Rindfleischstücke ein und schnitt das Gemüse für das Zimmes klein, gebratenes Fleisch mit Gemüse, und schälte die Zwiebeln und Kartoffeln für die Kartoffelkugel. Weil du nicht anfangen konntest mit dem Kochen, bevor du die Pessach-Küche eingerichtet hattest, musste all das an einem hektischen Nachmittag erledigt werden. Was für eine Arbeit!
Mama träumte davon, Ulmbach zu verlassen und irgendwohin zu gehen, wo etwas los war und wo sie hübsche Kleider tragen, tanzen gehen und junge Männer treffen konnte, die nicht mit ihr verwandt waren. Sie hatte von einem jüdischen Hotel in Bad Nauheim gehört, einer Kurstadt in der Wetterau, die für ihre Heilquellen bekannt war. Junge Mädchen konnten dort arbeiten, während sie lernten, wie man einen schönen Tisch deckt, ein Zimmer dekoriert, und andere Fertigkeiten erwarben, die sie brauchen würden, um gute Hausfrauen zu werden. Mama flehte Oma an: „Bitte, bitte, kann ich dort eine Lehre machen? Ich weiß, ich werde dort viel lernen. Und ich bringe ein paar neue, leckere Rezepte mit, die wir ausprobieren können!“
Oma war hin- und hergerissen. Opa Meier war in der Grippe-Epidemie von 1919 gestorben, und sie brauchte ihre verantwortungsbewusste Tochter als Hilfe und moralische Stütze. Auf der anderen Seite wusste sie, dass es für Hanna keine Zukunft in Ulmbach gab. Oma seufzte, wischte eine Träne weg und sagte tapfer: „Ich werde dich vermissen, aber ich weiß, es ist das Richtige.“ Zu diesem Zeitpunkt gingen auch ihre Söhne in eine andere Stadt, um eine Lehre zu beginnen. Das Leben im Hause Nussbaum war einfacher, und Oma wollte, dass ihre Tochter neue Fähigkeiten erwarb, neue Leute traf und eine Chance bekam, ihre Jugend zu genießen.
Hanna lag auf den Knien, schrubbte den Küchenboden und summte „Geschichten aus dem Wiener Wald“, einen Walzer von Johann Strauß. Vor ihrem geistigen Auge sah sie gut aussehende junge Männer in adretten Sommeranzügen und hübsche Mädchen in pastellfarbenen Abendkleidern, die in einem eleganten Tanzsalon zusammen tanzten. Sie sah den Salon vor sich mit seinen Kronleuchtern aus Kristall, dem gebohnerten Parkett und den hohen, mit roten Samtvorhängen versehenen Fenstern. Bad Nauheim war für sie, was für euch oder mich Wien wäre – ein magischer Ort mit schönen Hotels und großen, stattlichen Villen. Ein Ort, an dem Träume wahr werden können.
Hanna schrieb an das Bad Nauheimer Hotel, um nach einer freien Stelle zu fragen. Einen Monat später brachte der Briefträger Hanna einen offiziell aussehenden Brief. Sie war so aufgeregt, dass sie Mühe hatte, den Umschlag zu öffnen. Beim Lesen schaute ihre Mutter ihr über die Schulter.
Oma Fannie mit ihrem Scheitel.
Zusammen lasen sie: „Liebes Fräulein Nussbaum, wir haben eine Lehrstelle zum 1. Mai zu vergeben, die wir Ihnen anbieten. Bitte lassen Sie uns wissen, ob Sie einverstanden sind. Hotel Weidman, Ella Weidman.“
Hanna umarmte ihre Mutter und wirbelte sie herum. Was für ein Anblick! Hanna in ihren schwarzen Strümpfen, der bedruckten Trägerschürze über ihrem blauen Baumwollrock und ihrer weißen Bluse, und ihre Mutter, die ein graues, sackartiges Kleid trug und einen „Scheitel“ auf dem Kopf hatte, eine Perücke, wie sie orthodoxe, verheiratete Jüdinnen tragen, um ihr Haar nicht zu zeigen. Die beiden tanzten spontan in der Küche, sehr zur Erheiterung der beiden jüngsten Söhne, Leo und Siegfried.
So viel war noch zu tun vor dem 1. Mai! Neue Unterwäsche musste gekauft werden. Hanna und ihre Mutter beschlossen, ihr ein modernes Kleid für ihr städtisches Leben in Bad Nauheim zu nähen. Meine Mutter sah sich die Stoffe im Dorfladen an und kaufte einen hellgrünen Baumwollstoff mit weißen Punkten, den Oma zuschnitt. Sie nähte ein Kleid mit einem V-Ausschnitt und kurzen Ärmeln daraus.
Der jung verstorbene Meier Nussbaum.
Hanna probierte es an, als es fertig war. Ihr gefiel, was sie sah: ein schlankes Mädchen mit graugrünen Augen und braunen Locken in einem hübschen Kleid, das ihre Augen eher grün als grau erscheinen ließ. Sie war eine glückliche junge Frau.
Endlich war der Tag der Abreise gekommen. Die Sonne schien, und eine leichte Brise strich durch die hohen Bäume, die das Haus der Nussbaums umgaben. Alle wollten mit Hanna zum Bahnhof gehen. Alle sechs Brüder waren dafür extra nach Hause gekommen. Was für einen Anblick boten sie auf dem Bahnsteig! Die Jungs trugen ihre schweren wollenen Sabbatanzüge aus Tweed, die warm und unbequem aussahen. Jakob nahm Hannas braunen Kunstlederkoffer. Hanna und Oma standen nah beieinander, Arm in Arm. Oma hatte ihr bestes schwarzes Kleid angezogen. Seit sie verwitwet war, kleidete sie sich schwarz, wenn sie ausging. Ihre Kinder hofften, sie würde damit aufhören. Schließlich war Opa Meier schon mehr als zwei Jahre tot. Falls sie in der Lage gewesen wären, in die Zukunft zu sehen, wären sie sehr traurig gewesen, denn sie sollte nie aufhören, Schwarz zu tragen.
Hanna, klein, schlank und energisch, sah aus wie eine Frühlingsblume in ihrem blassgrünen Baumwollkleid. Ihr ovales Gesicht war von welligem braunen Haar umrahmt, das von Oma zum Bob geschnitten worden war, um eine Frisur nachzuahmen, die Hanna auf einem Zeitungsfoto gesehen hatte. Auf die Schnelle erklärte sie jedem einzelnen ihrer Brüder, was es im Haushalt zu tun gab, und erinnerte sie daran, welche Arbeiten im Gemüsegarten erledigt werden mussten, der so wichtig war für die Ernährung der Familie Nussbaum.
„Mach dir keine Sorgen, Hanna, ich garantiere dir, dass das Haus noch stehen wird, wenn du zurückkommst, und es wird etwas zu essen geben. Wir werden uns um alles kümmern“, versicherte ihr Jakob, ihr älterer Bruder.
Ein Geräusch näherte sich aus der Ferne, wurde lauter und lauter und wurde zu einem Grollen, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Niemand anders wollte an diesem sonnigen Sonntagmorgen einsteigen. Die Jungs hörten auf zu schwatzen, als sie sahen, dass der Zug langsamer fuhr. Wolken von weißem Rauch stiegen aus der mächtigen schwarzen Maschine auf. Die Jungs liebten Züge und winkten dem Lokomotivführer zu, der hoch oben in seinem Führerhaus saß. Er winkte freundlich zurück. Das Pfeifen des Zuges machte alle darauf aufmerksam, dass der Zug gleich halten würde. Oma Fannie fing leise an zu weinen, aber Hanna nahm es kaum wahr. Sie konnte nur mit Mühe ihre Aufregung im Zaum halten. Wie würde wohl ihr Leben in dem glamourösen, lebhaften Bad Nauheim werden? Der Zug hielt in jedem Dorf und jeder kleinen Stadt auf der Strecke. Hanna sah unverwandt aus dem Fenster, ihr Blick streifte die Felder und die Weiden, aber eigentlich wollte sie nur ankommen. Es schien, als seien Stunden vergangen, als der Schaffner „Bad Nauheim!“ rief. Hanna griff sich ihren Koffer, eilte aus dem Zug und hinein in den schmucken Bahnhof mit seinen farbigen Fenstern, hohen Decken und schönen, hellen Bodenfliesen.
Hannas Mutter Fannie und Hannas sechs Brüder in Südafrika.
Eine lächelnde junge Frau mit kurz geschnittenem roten Haar und einem makellos weißen Kleid kam auf Hanna zu und sagte: „Ich bin Ella Weidman vom Hotel Weidman. Du musst Hanna Nussbaum sein. Lass mich deinen Koffer nehmen, und wir gehen zum Hotel.“
Hanna atmete tief durch, als sie die große, breite Straße vor dem Bahnhof sah. Auf beiden Seiten waren zwei- und dreistöckige, prächtige weiße Gebäude, die mit gebrannten Ziegeln gedeckt waren. Einige von ihnen hatten Hotelschilder an der Fassade. Sie sah Balkone mit Blumenkästen, die mit roten und rosafarbenen Geranien bepflanzt waren, in den zweiten und dritten Stockwerken.
Ella Weidman fragte Hanna, ob sie schon jemals zuvor in Bad Nauheim gewesen sei. „Nein, das ist mein erstes Mal hier“, antwortete Hanna schüchtern, „aber ich habe gehört, dass viele Leute hierher kommen, um Bäder zu nehmen und um sich zu erholen.“
„Ja, das ist wahr“, antwortete Ella Weidman. „1869 haben zwei Ärzte entdeckt, dass die Solebäder und die Übungen, die sie entwickelt haben, Herz- und Nervenkrankheiten linderten. Also wurden die Kliniken gebaut, und Nauheim wurde Bad Nauheim. Gäste aus ganz Europa und sogar aus den Vereinigten Staaten besuchen das Bad. Du wirst dich in dieser schönen Stadt wohlfühlen, Hanna.“
Hannas Augen leuchteten, als sie nickte und ausrief: „Oh ja! Ich weiß, das werde ich.“
Die beiden jungen Frauen liefen vier Straßen weiter und dann um die Ecke, in eine Allee. Hanna sah ein geschmackvolles Blechschild, auf dem stand: „Hotel Weidman“. Es war an der Fassade eines geräumigen weißen Holzgebäudes angebracht, das eine große, überdachte Veranda hatte. Leute saßen in Schaukelstühlen auf der Veranda, unterhielten sich und lächelten. Was für ein freundliches Haus, dachte sie. Hier wird es mir gefallen.
Ella Weidman brachte Hanna zu ihrem Zimmer im dritten Stock. Als Hanna die Tür öffnete, sah sie einen schmalen Toilettenschrank mit Spiegel, ein Einzelbett und einen Walnusskleiderschrank. Schnell packte sie ihre Sachen aus und rannte nach unten in den ersten Stock, um die anderen Lehrlinge zu treffen – drei junge jüdische Frauen, die sich darauf freuten, etwas zu lernen und in Bad Nauheim zu leben. Das große, elegante Mädchen mit den warmen braunen Augen und dem pechschwarzen Haar hieß Hedy. Die anderen zwei waren Paula und Friedel. Alle waren sie heute angekommen.
Sie kamen in dem lichtdurchfluteten Speisesaal zusammen, einem Raum mit hohen Decken und dunkelbraunen Holzpaneelen. Als sie aus dem Fenster sah, konnte Hanna Tische und Stühle auf dem backsteingesäumten Innenhof sehen, umgeben von Gras und blühenden Büschen an der Ecke des Hofes. Das gehört zur Kur, dachte sie.