Zuhause ist ein großes Wort - Nina Polak - E-Book

Zuhause ist ein großes Wort E-Book

Nina Polak

0,0

Beschreibung

Sieben Jahre hat Skip auf See verbracht. Jetzt kommt sie zurück nach Amsterdam, wo sie nicht nur auf eine vom Zeitgeist veränderte Stadt trifft, sondern auch auf die Geister der Vergangenheit: den tristen Wohnblock, in dem sie aufwuchs, die wohlhabende Familie Zeno, die sie nun wie schon einmal bei sich aufnimmt, und ihren Ex Borg, Soziologiedozent mit unwiderstehlichen Händen, der inzwischen verlobt ist, aber trotzdem wieder etwas mit ihr anfängt. Skip, scharfsinnige und selbstironische Beobachterin, will sich in keine Rolle fügen, doch immer mehr rückt ihr das alte Leben mit neuen Fragen auf die Pelle. Hin- und hergerissen zwischen dem Drang nach Freiheit und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, steht sie vor der Entscheidung, die wir alle irgendwann treffen müssen: weiterziehen oder bleiben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 287

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nina Polak

Zuhause ist ein großes Wort

Roman

Aus dem Niederländischen von Stefanie Ochel

mare

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Gebrek is een groot woord bei Uitgeverij Prometheus, Amsterdam.

Copyright © 2018 by Nina Polak

Der Verlag dankt der Niederländischen Literaturstiftung für die Förderung der Übersetzung.

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Unterstützung ihrer Arbeit.

Die kursiv gesetzten Zitate auf S. 111–113 stammen aus:

Anton Tschechow, Die Möwe. Aus dem Russischen von Andrea Clemen. © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1995.

© 2023 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

Coverabbildung ImageZoo / Alamy Stock Photo

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-819-9

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-668-3

www.mare.de

Für meine Mutter und meinen Vater

Oh mein Gott, er ist es. Juda. Da an der Hotelrezeption, ich sehe ihn durch die Scheiben der Drehtür. Das Milchgesicht, der krumme Rücken, die schmollige Unterlippe, das kann nur einer sein. Wie lange ist es her? Sieben Jahre? Siebzehn wird er jetzt sein, um den Dreh. Er ist mager geworden, herrje, was ist der Junge dünn. Und was bitte schön treibt er in Cannes? Wie ein Fisch an Land sieht er aus. Hotel Martinez, nicht schlecht. Die werden aber nicht … Doch, na klar, Nico ist auch da.

Judas Vater, Nicolà Zeno höchstpersönlich. Grau wie eine Kellerassel. Noch kein Bauchansatz, alle Achtung. Aber wenn Nico hier ist, dann … Können die mich sehen, hier im Dunkeln? Nein, viel zu hell da drinnen. Einfach weitergehen. Einfach so tun, als … Verdammt, da ist sie schon. Der rote Vuitton-Rollkoffer, den kenn ich doch noch. Genau in der Bildmitte, zwischen den beiden Säulen auf dem Treppenabsatz, bleibt sie stehen.

Mascha Zeno.

Sie ist es. Sieben Jahre älter, aber dieselbe. Aus einem geparkten Auto hinter mir schallen Wagners Walküren (nein, Scherz, aber sie ist es wirklich. Sie ist es!). Sie läuft rein ins Bild und wieder raus, kramt in ihrer Tasche, fasanenfarbenes Haar fällt ihr vors Gesicht. Sie schüttelt die Strähnen zurück, sie lacht, lacht ihrem Nico zu, ihrem Juda. Die dreieinige Familie ist komplett. Jetzt legt sie ihre Hände um Judas blasse Wangen, ihr Daumen streift seine Unterlippe. Er zuckt zurück. Vor Scham wird er noch krummer, ich sehe es von hier: Dem Ärmsten quillt die Pubertät aus allen Poren. Mascha zieht ihn zu sich und gibt ihm einen Kuss. »Putto«, sagt sie. Ich höre es nicht, aber ich sehe, wie ihre bemalten Lippen den Kosenamen formen. Durch all das Glas ist es unmöglich, aber auf einmal rieche ich ihr Shampoo, ihre Handcreme und das arabische Öl, das sie sich hinter die Ohren tupft. Und dann, als ob eine Münze in einen Schacht fällt, ein anderer Duft – der tiefe, feuchte Garten in Oud-Amsterdam, zweite Kulisse meiner Jugend.

Als wäre ich nie weggegangen, riecht es hier auf dem Parkplatz auf einmal wie bei Zenos im Garten: schmelzende Käsestücke auf einem Holzbrett, Traubensaft, Willems Fell in der Sonne – Willem! Ob der noch lebt? Ich rieche Maschas Waschmittel, rieche ihre Jeans, körperwarm, wenn sie dicht neben mir vom Gartentisch aufsteht, um einen Gast zu empfangen, ihre Hüfte auf Augenhöhe. Sie lehnt sich über mich hinweg, ihr Oberschenkel streift meine Schulter.

Auf einmal bin ich wieder zweiundzwanzig. Zweiundzwanzig erst! Zweitkind nennen sie mich. Kind. Hinter den Scheiben der Terrassentüren das kühle, dunkle Haus, die Bücherwand, der Flügel, die Schiebetüren, das hohe Fenster zur Straße, zur feinen Straße, darauf die glänzenden Familienkutschen mit ihren sicheren Kindersitzen, und dann, hinterm rostigen Zaun des Parks, der Park, und hinterm übervölkerten Park, raus aus dem Zentrum der Karte, die andere Kulisse: die verdreckten Straßen, wo die Callshops sind, wo hinkende Tauben Fritten picken, wo zuckerkranke Mütter, traurige Mütter, Mütter mit Krebs schnaufend volle Plastiktüten an abgewetzten Tramschienen entlangschleppen, die sich in den fernen Westen schlängeln, wo die Wohnungen sich stapeln, Fenster über Fenster über kleinem, schäbigem Fenster.

Da, höher, nein, noch etwas höher, noch ein Stück, unser Balkon, dritter von oben, vierter von links, ringsherum Satellitenschüsseln vor schmutzigen Scheiben, meine Mutter und ich, ihr Gesicht …

Nein, zurück auf die Straße, Callshops, Tramschienen, Park, Zaun, hohe Fenster, Flügeltüren zum Garten, zum ach so tiefen, grünen Garten, mit reichlich Schatten und Platz zum Denken, Spielen und zum Glauben an Märchen, zum Märchenerfinden, Sich-selbst-Erfinden.

Die ganze verdammte Topografie eines vergangenen Lebens steckt hier, zwei krakelige Kringel auf der Karte von Amsterdam.

Alles ist so plastisch, gestochen scharf – die Magnolie im Garten der Zenos, die Adern der weißen Blätter, die großen und kleinen Spukgestalten um den Gartentisch, der Blick aus unserer Wohnung … Alle Autos hier auf dem Parkplatz drehen auf einmal ihre Nasen in dieselbe Richtung, das Licht aus der Lobby blendet mich. Wo geht das Blut hin, es sackt aus meinen Wangen, ein hohles Gefühl, nein, das lassen wir schön bleiben, ich muss … Das sind die Seebeine. Eben kurz hinsetzen …

»Menschenskind, Skip, du kannst doch nicht einfach mitten auf nem Parkplatz aus den Flossen kippen. Normal schipper ich mit dir bei Stärke neun übern Kanal, der reinste Klacks, und hier an Land machst du dich direkt lang.« Lood, mein treuer Käpten, nie um einen sinnlosen Anschiss verlegen, beugt sich über mich und zerrt an den Trägern meiner Segelhose. »Weißt du, wo du bist, Matrosin? Wie viele Finger sind das?«

Ich liege in meiner Koje, mir ist übel. Wir befinden uns an Bord der Zora. Dies ist der Jachthafen von Cannes, Frankreich. Wir haben 2014. Ich bin Nienke Nauta, genannt Skip. Geboren am 15. Juli 1986 in Amsterdam.

Und Lood friemelt immer noch an meiner Hose herum.

»Was machst du da?«

»Dir die Hose ausziehen.«

»Lass, das kann ich selbst.«

Ein Portier des Hotels hat mich auf dem Parkplatz umkippen sehen, anscheinend hab ich den Bordstein knapp verfehlt. Als ich wieder zu mir kam, sah ich als Erstes sein besorgtes Gesicht. Ruhig und vermutlich geübt im Umgang mit ohnmächtigen Filmdiven, gab er mir Anweisung, den Kopf zwischen die Beine zu nehmen. Ich wollte mich so schnell wie möglich aus dem Staub machen, aber er bestand darauf, mich in vollem Ornat bis zum Hafen zu begleiten. Es war bestimmt ein Bild für die Götter: grüngesichtige junge Frau in Segelklamotten und mit Sturmfrisur, untergehakt bei einem Monsieur mit Zylinder und wehenden Frackschößen. Was genau in mich gefahren war, ich weiß es auch nicht.

Meine Koje liegt auf der Steuerbordseite der Zora, ein fahrender Palast und die schönste Jacht, auf der ich je angeheuert habe. Nachts kuschle ich meinen Rücken in die Wölbung ihres wundervollen Rumpfs. Lodewijk schläft an Backbord, ich höre sein Schnarchen durch zwei Türen. Er ist fünfzig, sieht aber aus wie siebzig; Salz und Sonne haben sein Gesicht gegerbt und sein Haar gebleicht. Es gibt diszipliniertere Skipper als Lood, Skipper, mit denen man mehr Meilen macht, mehr Schotter für weniger Schlaf, aber mit ihm arbeite ich am liebsten. Er betüddelt seine Crew wie eine jüdische Mama.

»Ich setze dir einen Topf Hühnerbrühe auf.«

Sag ich doch. So ist Lood. An Hühnerbrühe mag ich lieber nicht denken, aber Lood, dieses fleischgewordene Stück Amsterdam, kann ein ertrunkenes Kätzchen wieder aufpäppeln. Bringt alles ins Lot. Er, nicht das Schiff, ist mein mobiles Zuhause. Seine hastlose Art tut mir gut. Die Welt ist zu eng, wenn man mich fragt, zu voll, zu schnell. Alles dreht sich so rasant, dass man nichts im Blick behält. Segeln hilft. Das träge, motorlose Dahingleiten, das störrische Schwappen an windstillen Tagen. Ineffizient, ja, aber nur verglichen mit Fliegen oder Fahren. Und öko ist es auch noch – Fortbewegung in Vollendung.

Und dann Lood und sein kompromissloses Schneckentempo. Jeder Zentimeter der Reise wird genauestens geplant. So braucht er für alles länger, aber die Reichen überlassen ihm gern ihre Schiffe. Sie haben Vertrauen in die großen niederländischen Hände. In seinen Ijsselmeeraugen erkennen sie die See, und darauf ihre Prinzessinnen, edel und frei.

Ich befreie mich aus meiner hochschließenden Segelhose. Lood bringt einen Teller Suppe und eine Scheibe Brioche. Er versucht, den Teller zwischen die Bücher auf meinem Schreibtisch zu stellen.

»Du liest zu viel.«

»Du meckerst zu viel.«

Um ihm eine Freude zu machen, stecke ich mir einen Löffel der fettigen Bouillon in den Mund. Mein Magen rebelliert. Was machen die Zenos hier?

Lood schiebt meine Beine zur Seite, seine Gelenke knacken, als er sich zu mir aufs Bett setzt. »Was war denn das eben für ne Flaute? Sag bloß nicht, du bist schwanger, Hafenpüppi?« Er findet sich witzig. »Ne trächtige Crew kann ich nicht gebrauchen.«

Ich rede mich raus, zu wenig gegessen, zu viel geraucht, Seebeine. Lood spürt, dass mehr dahintersteckt, aber er brummt zustimmend. »Dann schlaf mal, Leichtmatrosin. Morgen die letzten vierzig Meilen.«

Wir segeln die Zora nach San Remo: ich, Lodewijk und unsere Deckhand Marco, ein haariger Italiener, der seine Koje im Vorschiff hat. Am Zielhafen wird der Besitzer das Schiff von uns übernehmen, um es mit ein paar anderen Austern schlürfenden CEOs zum schwimmenden Bordell zu degradieren. Oder übertreib ich jetzt wieder? Lood lehrt mich, mein ererbtes Misstrauen gegen die Gutbetuchten zu zügeln. Manche sind einfach nur tüchtige, kluge Leute, Skip, brave Bürger, du steckst nicht drin.

Nein, ich steck nicht drin. Die einzigen Reichen, die ich aus der Nähe kenne, sind die Zenos. Bei ihnen gibt’s Meeresfrüchte nur sonntags, wenn ich mich richtig erinnere. Sie nehmen sich nicht so viel mehr, als sie brauchen: Sie haben nur ein Auto (und halt noch den türkisen Oldtimer, den Haifisch, aber der steht nur in der Garage), sie trennen ihren Müll, spenden an Habitat for Humanity, an den WWF, irgendwas mit gesunden Mahlzeiten für Asylsuchende in ihrem Stadtteil und an die Herzstiftung, sind Wohltäter im Großen wie im Kleinen – und sie fahren selten öfter als zweimal im Jahr in Urlaub. Aber dann schon nach Cannes, wie so drei Filmsternchen. Ausgerechnet Cannes, of all fucking places, ausgerechnet heute. Wer denkt sich so was aus? Ich drehe mich um, streichle Zoras edle Wandverkleidung, flehe um Schlaf. Ich bin froh, wenn wir wieder segeln. Morgen.

Der Morgen gehört dem Proviant. Im Marché Forville, dem überdachten Markt in der Nähe des alten Hafens, gibt es einen Bäcker, von dem Lood seine Brioche haben will. Er ist eine Diva, wenn es um sein süßes Brot geht, und weil er Menschenmengen noch weniger ausstehen kann als ich, muss ich es für his Loodship besorgen.

Meine Übelkeit ist weg, aber heute Morgen bin ich ohne Decke aufgewacht. Ich muss sie im Schattenkampf mit lästigen Fetzen von früher weggestrampelt haben: eine klemmende Balkontür, ein Hauseingang in der Vondelstraat, ein Paar Schuhe von Mascha – lose Abfälle von der Müllhalde meines Gehirns.

Das nervöse Gefühl, mit dem ich von Bord gegangen bin, löst sich in dieser lauten, grellen, duftenden Kulisse auf. Der Markt mit seinen hohen Stahlbögen und rosa-blauen Bleiglasfenstern wäre der perfekte Schauplatz für ein trashiges Musical. Hektisches französisches Geschacher dominiert den Soundtrack. Hinter den Reihen mit frischen Blumen, an einem Tisch mit dreihundert Sorten Pilzen, betatschen zwei ältere Damen in blauen und kamelbeigen Côte-d’Azur-Kostümchen die Morcheln und Röhrlinge mit dünnen, kritischen Fingern. Sie prüfen die Pilze, halten sie sich gegenseitig unter die Nase und lassen die schönsten in ihre Körbchen fallen. Dasselbe Spiel beim Käse, bei Wurst und Wein, all den gutartig fermentierten Dingen – etwas fault in diesem Land! –, den frischen Fischen mit dem Schreck noch in den Augen, dem Obst und Gemüse in allen Regenbogenfarben, den Konserven mit Cassoulets und Confits in Spitzenqualität. Nirgendwo sonst erscheint Luxus so vital und organisch wie auf einem schicken Wochenmarkt. Hierher kommt man, um zu spüren, was das gute Leben ist: ein Stillleben verderblicher Waren. Nach Tagen auf See mit nichts als Dosenfutter zieht es mich immer auf solche Märkte. Nichts gegen ein Captain’s dinner aus Frühstücksfleisch und grauen Erbsen, aber so ein Entrecôte mit grünem Salat kann einem nach langer Fahrt das Gefühl geben, aus dem Grab zu steigen.

Die Arterien des Markts verstopfen immer mehr, ich werde in Richtung Fleisch geschoben, schlängle mich aber in einen ruhigeren Seitengang, wo ein dunkelhaariger Junge mit Hundeaugen Crêpes für niemanden backt. Seine Bude steht im toten Winkel. Aus Solidarität heraus bestelle ich einen Crêpe mit Nutella, aber der Koch sieht mich nicht einmal an, während er den Teig über die heiße Platte streicht. Das Wechselgeld kann er behalten.

An der tropfenden Nepp-Schokolade verbrenne ich mir die Lippe, die Süße versetzt mich unwillkürlich in unsere kleine Osdorper Küche zurück – klebrige Plastiktischdecke, warme, weiße Aldi-Aufbackbrötchen mit Schokocreme, Industriekekse, die jede Apokalypse überstehen würden, Blick auf den Sloterplas-See, auf dem Verzweiflungsoptimisten von einem Ufer zum anderen schaukeln. Und Mam natürlich, rauchend mit irgendeinem Typen an der Strippe, »Ist mir egal, Dijkstra, ist mir alles scheißegal!«.

Das sagte sie immer, dabei glaube ich, ihr war zu wenig egal.

Plötzlich habe ich keinen Appetit mehr auf den fahlen Pfannkuchen und lasse die Reste mit einem flauen Schuldgefühl im nächsten Abfalleimer verschwinden.

Hello? Yes, äh, ja genau, Nienke Nauta hier, wer … Mann, Scheißtelefon! Nico? Nee, oder? Wow, hallo. Nein, hab mich nicht erschrocken. Klar kenn ich deine Stimme noch, Nico Zeno. Ja, furchtbar lang her. Hast du meine Nummer … Von der Werft, ah okay? Die geben die da einfach so raus? Wundert mich schon ein bisschen, ja. Aber supernett, von dir zu hören. Warte mal, Nico, ich versteh dich schlecht. Hallo? Jetzt geht’s wieder. In Südfrankreich. Cannes, genau, woher weißt du das? Nicht dein Ernst. Echt jetzt? Juda? Auf dem Markt? Dass der mich noch erkannt hat. Nein, ich hab ihn überhaupt nicht gesehen, komisch, warum hat er mich nicht angesprochen? Doch, doch, ich war das. Irrer Zufall. Ach, Hotel Martinez, da am Boulevard, das kenn ich. Schönes Hotel, toll. Ich? Nicht weit weg. Am alten Hafen. Wir machen uns gerade fertig für den Aufbruch morgen früh. Eigentlich wollten wir heute schon weg sein, aber es ist natürlich was dazwischengekommen. Irgendwas ist immer, genau. Morgen, ja. Früh … Ach, das wäre schön, Nico, aber ich glaube nicht, dass Lood … Das ist mein Skipper … Ich fänd es auch schön, euch wiederzusehen, aber hier an Bord ist echt noch eine Menge zu tun, mit der Schraube ist auch irgendwas, da kommt noch einer, um sich das anzugucken. Außerdem … Nur auf einen Drink, wo hab ich das schon mal gehört. Nein, wirklich, Nico, superlieb von euch, aber das Timing ist eher suboptimal. Ich bin bestimmt demnächst noch mal in Amsterdam, und dann … Ha, die große Romantikerin Nienke Nauta, wie das klingt … Das weiß ich jetzt noch nicht … Ja, metaphysischer Zufall, so kann man es auch nennen. Na, so wild waren die Abenteuer nicht.

Okay. Okay, Nico. Du hast gewonnen. Auf ein Glas Wein.

»Und wie es das Schicksal wollte, ging dann noch das Ruder kaputt. Der Schaft ist gebrochen. Wir waren pitschnass, bis auf die Knochen durchgefroren, und konnten nicht mehr steuern. Und die Wellen wurden immer höher. Dunkelgraue Mauern aus Wasser. Das war so eine Situation, in der ich dachte: Warum tu ich mir das an? Es gibt günstige Flüge nach Norwegen, in zwei Stunden ist man da, und wir torkeln hier im schlimmsten Sturm auf nem Scheißfjord rum, haben dreißig Stunden Dauerregen und tosende Wellen hinter uns, nichts als kalte Raviolipampe im Magen und einen morschen Kahn. In solchen Momenten wird das Meer zur Kreatur, zum Monster, und du mickriger Mensch bist nur noch ein Pingpongball, ein Büschel Gras oder …«

»Und dann?«

»Irgendwie mit den Segeln Richtung Hafen gesteuert. Zum ersten Mal im Leben einen Notruf abgesetzt. Gewartet, gebibbert, sogar ein bisschen gebetet. Als dann diese Wikinger endlich mit dem Rettungsboot kamen, hätte ich sie am liebsten abgeknutscht. Mit dem einen hab ich dann noch den ganzen Abend Aquavit getrunken, bis am Ende ich ihn retten musste.«

Rückgrat wird überbewertet. Plötzlich sitzen wir doch am Tisch, im altmodischen Bistro des Hotel Martinez. Es ist sieben Jahre später, und natürlich sitzen wir wieder am Tisch, ich und die drei Zenos, Mutter, Vater, Sohn, frisch vereint, und sehen vermutlich aus wie eine stinknormale Familie.

Nach dem einen Drink in der Bar habe ich mir doch noch ein schnelles Steak Tartare aufschwatzen lassen, das ich noch nicht angerührt habe, und jetzt plappere ich drauflos, wie immer, wenn ich mir keinen Rat weiß. Plappern und Menschen tiefer in die Augen gucken, als sie sich trauen, mir in die Augen zu gucken, in der Hoffnung, dass bei ihnen zuerst das Eis bricht. Es erzwingen. Nicht nachgeben. Im Hintergrund, gerade noch hörbar, kommt mir Chet Baker zu Hilfe, Oh, it’s a long, long while from May to December. Wie ausgerechnet die traurigsten Jazzklassiker eingesetzt werden, um die Bistrogäste zu entspannen – Melancholie als Massage. Niemand hört mehr die Schrammen, die Brüche, den Blues. Die Tischdecke ist frisch gestärkt, gebügelt, blütenweiß. Die Butter perfekt temperiert.

»Und bei euch so?«

»Bei uns? Derselbe alte Trott.« Mascha Zeno, die Schauspielerin, die Mutter, die Frau neben mir, die mal wieder kokettcharmant tiefstapelt. Sie lacht und legt ihre Hand auf die von Juda, der nervös mit einem Bein wippt. Er zieht seine Hand weg. Sie nimmt einen Schluck Wein. Warum hat eigentlich nicht sie mich angerufen statt Nico? Hoffentlich fällt ihr das Loch in meinem Kleid nicht auf (es ist das einzige anständige, das ich bei mir habe, und riecht nach Boot: Diesel, Schimmel). Sie hat sich gefreut, mich zu sehen. Mich fest umarmt. Mein Gesicht berührt. Und sie hat Nien zu mir gesagt. Liebste Nien.

»Trott«, sage ich. »Ich glaub dir kein Wort.«

»Mascha spielt bald die Rolle ihres Lebens«, sagt Nico ziemlich laut.

»Juda macht bald Abi«, sagt Mascha und sieht ihren Mann scharf an.

»Pap und Mam sind auf jeden Fall urlaubsreif«, erklärt Juda, der noch kein einziges Mal richtig von seinem Salat aufgeblickt hat, aber mit aufgekratztem Dauergrinsen meinen Geschichten folgt. Seine Stimme klingt schon fast erwachsen. Bei seinen drei unbeholfenen Begrüßungsküsschen ist mir ein reifender Männergeruch in die Nase gestiegen. Auf seinen Wangen schimmern nur noch Reste von Akne. Und auch sein weißes T-Shirt mit der Aufschrift CLIMATE CHANGE HOAX MY ASS spricht dafür, dass er zu einem ernsthaften, weltgewandten jungen Mann heranwächst.

Ich sage: »Abi, wow. Auf die Gefahr hin, wie ne alte Tante zu klingen, aber als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hattest du nur Pokémon im Kopf.«

»Das ist immer noch so«, witzelt er. »Pokémon ist was fürs Leben.«

Ich erwidere sein spöttisches Lachen. »Packst du die Prüfungen?«

»Easy.«

Eine wunderliche Mischung aus Arroganz und Unbeholfenheit bei diesem Kindmann. Das Zwischenstadium hat fast immer etwas Hässliches an sich; das Gesicht wird erst klumpig, bevor es emulgiert. Bei Juda äußert es sich in den kahlen Stellen in seinem Bartflaum und der zu großen Nase, die noch auf einen breiteren Kiefer wartet. Aber der Mund ist schön, immer noch die volle, leicht enttäuschte Unterlippe. Und unter all den wirren Zeichen des Erwachsenwerdens keine Spur von der tiefen Verunsicherung, von der meine eigene Pubertät geprägt war. In diesem knirschenden Teeniekörper steckt noch immer das privilegierte, pummelige weiße Baby, das Juda mal war.

Apropos pummelig, weiß und privilegiert. »Wie geht’s Robinson?«, frage ich. »Macht der jetzt auch Abi?« Judas bester Freund Robin, von Mascha liebevoll Robinson getauft, um ihm wenigstens einen Hauch von Klasse zu verleihen. Im Hause Zeno muss schließlich jeder ein bisschen Held sein. Vater baut Monumente. Mutter verkörpert auf der Bühne Königinnen. Sohn erobert die Welt vom Computer aus.

Mascha und Nico werfen sich einen Blick zu, Mascha nimmt einen großen Schluck Wein. Juda spießt ein Stück Rote Beete auf, steckt es sich in den Mund und kaut langsam. »Robin? Zieht sich wahrscheinlich gerade am Bildschirm ein Snickers nach dem anderen rein«, sagt er. »Ich sehe ihn gar nicht mehr. Der ist letztes Jahr von der Schule geflogen, weil er so saudumm war, das Notenverwaltungsprogramm zu hacken und sich auch noch erwischen zu lassen.«

»Der arme Junge konnte nie gut mit Menschen«, sagt Mascha. »Aber dafür war er umso brillanter mit Computern.«

Juda schnaubt. »Nicht brillant genug. Und mit Kalorien auch nicht.«

Harte Welt, die weiterführende Schule. Früher hat er nicht so geredet. Zehnjährige reden noch nicht so, gespielt gleichgültig.

Jetzt ist vielleicht nicht der richtige Moment, sich nach seinem Liebesleben zu erkundigen. Dann widme ich mich also dem rohen Fleisch, das mich schon eine Weile von meinem Teller anstarrt. Dem Koch ist der Tabasco ausgerutscht, ganz nach meinem Geschmack, und das Steak ist frisch. Zum Heulen frisch.

Wäre ich hysterischer veranlagt, würde ich sagen, dass mir schwindlig ist, aber das wäre zu stark. Zeit an Land fließt nicht, ist bröckelig, übervoll, hier werden Splitter der Wirklichkeit ins Abseits gedrängt. Ein drei viertel Steak, anderthalb Gläser Rotwein und die Bloody Mary vorher an der Bar – keine schlechte Bilanz.

Der arme Juda wird ins Hotelzimmer geschickt, um für Physik zu lernen, die erste Prüfung nächste Woche. Ob die Eltern sein Handy behalten sollen, damit er nicht abgelenkt wird? No way José. Ich bekomme eine Umarmung mit halbem Oberkörper, wie in einem Hip-Hop-Video. Es fühlt sich knochig an. »Komm mal vorbei«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Amsterdam ist öde, aber weißt schon.«

Ich weiß.

»Ach Nienke.« Kaum ist der Sohn im Lift verschwunden, sackt Mascha im Stuhl zurück und lässt sich das Muttercape von den Schultern gleiten. Ach Mascha. Sie sieht mich an … Ihr Blick ist ihr Metier, darin verbergen sich Landschaften, Wetterlagen und Sinfonien.

Jetzt gerade guckt sie müde, lieb und verschwörerisch zugleich: Frag ruhig, wie es ist, Mutter eines Heranwachsenden zu sein, du schmerzlich Vermisste, du glücklich Kinderlose, dann werd ich es dir offen und ehrlich erzählen, damit wir uns schnell besser verstehen, uns näher sein können – genau so guckt sie. Ich veranstalte irgendwas mit meiner Augenbraue und setze ein schiefes Lächeln auf, ungleich weniger raffiniert: Hab dich vermisst, muss gehen, berühr mich.

Oh. Nico ist ja auch noch da, breit grinsend, aber mit dunklen Schatten unter den Augen. Er ist so grau geworden. Selbstständige Architekten haben es schwer in diesen Zeiten, wer lässt heute noch Schlösser bauen?

»San Remo also.« Er wirkt ernsthaft interessiert. »Und danach?«

Ich ziehe die Schultern hoch. »Danach weiß ich noch nicht.«

Es stimmt, ich habe zum ersten Mal seit Langem keinen neuen Crewjob in Aussicht. »Ich wollte noch mehr von Italien sehen«, sage ich. »In Ventimiglia einen Freund besuchen und lernen, wie man gutes Ragù Bianco macht. Und lesen. Oh, und ich muss noch einen Text für Segeln abliefern.«

Ich bin keine große Stilistin, aber Schreiben fällt mir leicht, und so stocke ich ab und zu meinen Matrosenlohn mit Artikeln und Blogs für Zeitschriften auf. Gelesen werden sie vor allem von dickbäuchigen Jachtbesitzern, die auf dem Sofa von Sommersegeltörns und Seeluft träumen.

Nico schüttelt den Kopf. »Hilf uns auf die Sprünge, warum noch mal halst man sich Kinder und Hypotheken auf?«

Was will er hören? Man halst sich Kinder und Hypotheken auf, weil man erwachsen ist – oder selbst noch Kind, mit einem kindlichen Bedürfnis nach Sicherheit. Wahrscheinlich stimmt beides. Was weiß ich.

»Juda scheint mir ein ganz brauchbarer Typ zu werden.« Brauchbarer Typ, habe ich das gerade gesagt? Brauchbar wofür? Hypothek und Kinder?

Mascha wirkt müde, sie genehmigt sich einen leeren Blick auf die Tischdecke. »Ja, und uns braucht er bald nicht mehr.«

Nico krault seiner Frau den Handrücken. »Mascha hat es mit unserem Kronprinzen gerade nicht leicht, stimmt’s, Mücke?« Er sagt es ohne eine Spur von Vorwurf oder Herablassung, aber die Königin geht demonstrativ nicht darauf ein.

»Drogen, Pornos, Vandalismus?« Ich schlage einen leichten Ton an, aber eigentlich kann ich es nicht fassen: Plötzlich bin ich in der Therapeutenrolle gelandet. Was mache ich hier? Was machen Zenos hier, wieso lassen sie sich so gehen? Ist es die Müdigkeit, die sie so viel älter macht, als ich sie in Erinnerung habe? Und warum fühlt es sich trotz allem so gut an, wieder mit ihnen am Tisch zu sitzen?

»Wenn es das doch nur wäre«, sagt Mascha. »Weißt du, Nienke, man macht sich kein Bild davon, wie vertrackt alles ist, bis man mittendrin steckt und es aufdröseln muss. Wir können nicht klagen, ab und zu kurz und knackig leiden gehört einfach dazu. Du kannst es dir noch nicht vorstellen, aber du wirst das auch alles erleben. Und dass du hinterher trotzdem sagst: ›Ich hätte es um keinen Preis, für kein Geld der Welt missen wollen‹ – das ist das große, wunderschöne, schmerzhafte Wunder.« Die Aktrice, die mitten in diesem Monolog wieder in eine Rolle geschlüpft ist, blickt von der Tischdecke auf und mir, der jüngeren Tischdame, direkt ins Gesicht. Mitleidig, weil ich die Qualen der Mutterschaft entweder noch vor mir habe oder nie erleben werde.

Dann legt sie ihrem Mann doch noch die Hand auf den Arm und setzt ein warmes Lächeln auf, das von einem echten nicht zu unterscheiden ist. »Aber jetzt zu dir, Nienke, Liebes. Warum kommst du diesen Sommer nicht nach Amsterdam? Deine Freunde wiedersehen. Mal wieder Polder unter den Füßen. Nico, sie könnte doch ins Gartenhaus ziehen, wäre das nicht toll?«

Nico blinzelt schläfrig, sichtlich überrascht. »Ja, ach, warum eigentlich nicht? Nienke. Das Gartenhaus haben wir letzten Sommer bauen lassen, es ist so ruhig da, man vergisst fast, dass man in der Stadt ist.« Er wirft Mascha einen Blick zu. »Von mir aus kann sie auch in ihr altes Zimmer zurück«, sagt er, »aber dann müsstest du mit deinen Yogasachen ins Gartenhaus umziehen, Mücke. So oder so bist du herzlich willkommen, Nienke. Juda würde sich bestimmt auch riesig freuen.«

In meiner persönlichen Chronik der schlechten Ideen würde das hier ein eigenes Kapitel bekommen: »Das Gartenhaus«, in dem sich Skip Nauta einsperren lässt, um einem zurückgelassenen Leben die Chance zu geben, sich ihr wieder schön fest um den Hals zu wickeln. In den Nebenrollen Mascha, Nico und Juda Zeno, liebevolle Ersatzfamilie und lebende Kulisse, vor der die Pleiten der (immer noch recht jungen!) Protagonistin so stimmig wirken wie Schmeißfliegen in einem Glas Chardonnay.

Lieber lass ich mich kielholen, wäre die richtige Antwort.

»Klingt nicht schlecht. Ich überleg’s mir.«

Während Nico die Rechnung bezahlt und wir Mädels noch am Tisch trödeln, hakt Mascha den Zeigefinger in das Loch in meinem Kleid. Natürlich hat sie es bemerkt. Sie sagt nichts, grinst mich an: Komm doch nach Mokum, kleine Matrosin, dann kaufen wir dir ein neues Kleid, vielleicht auch zwei. Sie hat noch immer diesen winzigen Fleck im rechten Auge … Weiter im Text, Skip! »Die Rolle deines Lebens also«, erkundige ich mich.

»Ach, Nico übertreibt, das ist der Italiener in ihm. Ich wünschte, den würde er auch mal zum Kochen einsetzen.«

»Jetzt erzähl schon.«

»Du lachst mich bestimmt aus. Es ist ironisch. Und so ein Klischee. Ach, es ist so unwichtig.«

»Ein ironisches Klischee. Lass hören.«

Sie stellt sich vor mich und richtet mir den Jackenkragen, dann wispert sie es mir ins Ohr. »Gertrude.«

Hamlets Mutter. Wurde auch Zeit.

Pink Armadillo

An: [email protected]

Betreff: Cannes/Amsterdam

Hey Skip, Juda hier, deine Lieblings-Nervensäge. Dachte ich schreib dir mal ne Mail. Schön oldschool. Hoffentlich kommt die überhaupt an, scheinst ja eher nicht so viel online zu sein, nach deinem prähistorischen Handy zu urteilen. Vielleicht geht die Adresse auch gar nicht mehr.

Wollte nur kurz schreiben, wie nett/schön/special ich es fand, dich mal wiederzusehen. Ich war leider etwas abgelenkt und darum nicht so gechillt, was mir echt leidtut. Die Prüfungen haben inzwischen angefangen (jaja, ich prokrastiniere). Kann es kaum erwarten, dass ich alles hinter mir habe und nach Amerika kann. Auf jeden Fall weg aus Amsterdam. Eine Firma in Palo Alto hat mich eingeladen, vorbeizukommen und was über die Storyplattform zu erzählen, die ich programmiert habe. Wird dir nicht viel sagen. Aber ich kanns dir gerne mal erklären/zeigen. Sie heißt Auryn. Weißt du noch? Die unendliche Geschichte? Haben wir früher immer zusammen geguckt. Weißt du natürlich. (Keine Sorge, mittlerweile hab ich auch das Buch mehrmals gelesen. Ich hab mich nicht zum Banausen entwickelt, ich les sogar ziemlich viel.) Egal. Mascha und Nico sind echt unentspannt wegen der Sache mit Palo Alto, aber sie müssen sich dran gewöhnen, dass ich erwachsen bin. Mitnehmen werd ich sie bestimmt nicht, das käme eher semiprofessionell rüber. Es sind ja auch nur ein paar Wochen. Schon klar, dass Mütter sich da schwertun, aber Pech.

Sie haben übrigens erzählt, dass du vielleicht diesen Sommer kommst. Fänd ich echt mega. Dann können wir mal essen gehen oder so (ich lad dich ein!). Ich kenn da einen guten Japaner in West, ganz neu. (Ich esse kein Fleisch und auch fast keinen Fisch mehr, aber es gibt da auch sehr gute vegetarische Ramen mit Miso – fermentierte Sojapaste –, megalecker und gesund.) Und danach könnten wir vielleicht ins Filmmuseum (das ist jetzt nicht mehr im Park, und das neue Gebäude ist so James-Bond-mäßig, aber das hast du vielleicht schon mitbekommen?). Ich hab ziemlichen Nachholbedarf, was die Klassiker angeht. Übrigens hab ich die ganze Liste durchgeguckt, die du mir aus Sint Maarten geschickt hattest. Vor allem Akira Kurosawa fand ich beeindruckend. Rashomon hab ich schon dreimal gesehen und Dreams zweimal. (Wusstest du, dass er schon als Kind Kalligrafie und Schwertkampf gelernt hatte? Krass, oder? Passt auch irgendwie zusammen. Ich mach jetzt übrigens Aikido, für die Disziplin. Das ist eine von den friedlichen Kampfkünsten.) Apocalypse Now fand ich erst ziemlich enttäuschend. Aber irgendwie ging mir der Film trotzdem nicht mehr aus dem Kopf, und später hab ich ihn mir noch mal in besserer Qualität runtergeladen und danach sogar in einem Aufsatz verwendet. Da ging es um die Verbindung zwischen Kolonialismus und Interventionismus, falls dir das was sagt. (Hab ne Eins dafür bekommen!)

So, sorry für diesen Roman! Ich hoffe, du bist gut in Italien angekommen und wir sehen uns bald noch mal. Mascha hofft das übrigens auch, die redet schon von nichts anderem mehr. Ich glaube, sie findet ihre eigenen Freundinnen ein bisschen alt und will lieber mit Jüngeren abhängen. Jammert jedenfalls dauernd über ihr Alter. Aber gut. Noch mal sorry, dass ich in Cannes beim Essen so schlecht drauf war. Die beiden gehen mir manchmal echt auf die Nerven mit ihren First World Problems. Ich machs wieder gut, wenn du kommst.

LG Juda

Nienke Nauta

An: [email protected]

Re: Cannes/Amsterdam

Lieber Juda,

ich bin zwar prähistorisch, aber meine Mails lese ich noch so gerade. Das antike Handy wird übrigens bald ersetzt, aber nur, damit ich die Navigationsapp runterladen kann. Jetzt sitze ich hier mit dem Riesenlaptop von Lood (quasi mein Boss) in einem Straßencafé in San Remo. Mit Blick auf die Bucht und diese eigentlich viel zu schönen roten und gelben italienischen Fassaden. Viele Palmen. Und noch mehr verwöhnte Touristen, das ist eine Plage, die immer schlimmer wird, egal, wo man hinkommt. Aber in deinem Kopfkino kannst du sie ja zum Glück weglassen.

Ich hab mich gefreut, von dir zu hören, und fand es auch schön, euch wiederzusehen. Wundert mich nicht, dass Silicon Valley sich für dich interessiert, ist echt eine tolle Chance. Aber ich verstehe auch, dass deinen Eltern mulmig wird bei dem Gedanken. So sind gute Eltern nun mal. Kalifornien ist ja auch echt weit (ich bin die Strecke gesegelt, hat Wochen gedauert!). Aber schon sehr schön da, und japanisches Essen an jeder Ecke.

Auf Auryn bin ich gespannt, war das nicht dieses Amulett mit den Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen? Irgendwas mit Schutz oder Unendlichkeit? Musst du mir auf jeden Fall zeigen, wenn ich nach Amsterdam komme. Vielleicht ja schon bald.

Aber erst mal: Hau rein mit den Prüfungen! Du packst das!

Liebe Grüße von Skip

PS: Hast du auch Ikiru von Kurosawa gesehen? Ist eher was für Fortgeschrittene, aber echt großartig. Es geht um einen sterbenden Mann, der in einem Armenviertel einen Park mit Spielplatz anlegen lässt, weil er als letzte Tat anderen etwas Gutes tun will.

Backtracking, die eigenen Schritte zum Ausgangspunkt zurückverfolgen, für mich der Horror. Schon wenn ich früher mit Willem, dem Hund von Zenos, in die Dünen ging, uns plötzlich ein Zaun den Weg versperrte und wir auf demselben sandigen Pfad zurückmussten, überkam mich jedes Mal ein fieses Kribbeln. Sollen sie sich doch jemand anders suchen, der die Zora zurückbringt. Ich will vorwärts, die Richtung ist egal. Man muss nichts erreichen, nur wegkommen von da, wo man ist. War das nicht Marguerite Duras? Volle Kraft voraus, irgendwo anders hin, wo es nicht unbedingt besser ist – der klassische Denkfehler –, aber anders und neu, so halte ich es auch, seit Jahren schon, um mich immer wieder davon zu überzeugen, dass die Distanz die Vergangenheit verdünnt. Sie wird streichfähig, lässt sich über die zurückgelegten Meilen verteilen. So verteilte ich gebrochene Herzen zwischen Dover und Ostende, Gesichter zwischen Cuxhaven und Kopenhagen, nie eingelöste Versprechen zwischen Key West und Sint Maarten. Das geht, wirklich. Bleibt man am selben Fleck, konzentriert sich die Vergangenheit, Farben werden satter, dick wie Ölfarbe. Alle Leichtigkeit schwindet.

Solchen Typen wie mir – Bootsvolk, Meeresclochards, ich kenne einige davon – könnte man nachsagen, dass wir Runden drehen, um uns die Illusion vom Vorwärtskommen zu bewahren. Aber wenigstens sind unsere Runden glamourös. Wir bewegen uns, wir machen weiter, solange uns die Müdigkeit nicht packt. Die Frage Wo ist Zuhause? schütteln wir ab. Sehnsucht nach Zuhause, das gibt nur Tränen. Wir schweifen weiter umher. So seltsam ist das nicht – die Juden machen es seit Jahrhunderten so; der halbe Nahe Osten ist ohne Zuhause. Und wer keine Chance auf Heimkehr hat, der soll auch woanders sein Zuhause finden und dort seine Lieder singen, sein Lieblingsessen kochen, die Liebsten küssen, beschimpfen und ihrer gedenken. Kein Tyrann darf ihnen das wegnehmen.

Zuhause ist hier und da, und heute eben in einem italienischen Jachthafen, wo Lood und ich uns in der Kajüte zu starkem Kaffee Eier mit Speck brutzeln und in unseren weißen Supermarkt-Bademänteln einen sonntagigen Dienstag verbringen. Im CD-Player Graceland von Paul Simon. Wie ein altes Ehepaar sitzen wir da, mit unserem Stapel internationaler Zeitungen, und echauffieren uns folgenlos über das Grauen auf Lampedusa, gar nicht so weit weg von hier. Und sagen dann: Haben wir es gut. Und lächeln betreten.

Noch einen Tag diesen Himmel. Morgen geht’s für meinen Käpten zurück in die Heimat (seine Worte), wo er endlich wieder auf seiner geliebten Zuiderzee herumschaukeln kann, der lauschigen Badewanne. Mein eigenes Bett, schwärmt er andauernd. Ach, Skippie, zurück in mein Nest! Und ich denke: Du alter Spießer mit deinem Bett. Nur Kleinkinder brauchen ihr eigenes Bett.

Er fragt: Und du? Was machst du jetzt?

Lass mich mal, ich komm schon klar, ich zieh weiter nach Süden. Sizilien, Casablanca, Gran Canaria, Rio, Buenos Aires, Patagonien.

Gran Canaria, sagt er, bist du noch ganz dicht? Nein wirklich, Skip, du siehst müde aus, mit deinen Augenringen, und so dünn. Musst du nicht auch mal wieder nach Hause?