Zuhause ist, wohin mein Herz mich führt - Laura Taylor Namey - E-Book

Zuhause ist, wohin mein Herz mich führt E-Book

Laura Taylor Namey

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Beschreibung

Eine bezaubernde Liebesgeschichte - so kuschlig wie ein britischer Wollpulli und so feurig wie kubanische Enchiladas

Ein Sommer in England stand noch nie auf Lilas Bucketlist. Ihr Plan war vielmehr, nach dem Abschluss mit ihrer besten Freundin zusammenzuziehen, die kubanische Bäckerei der Familie zu übernehmen, und für immer glücklich mit ihrem Freund zusammenzusein. Als alle drei Träume innerhalb weniger Tage platzen, liegt Lilas Welt in Trümmern. Als ihre besorgten Eltern sie zu Verwandten nach England schicken, scheint das zunächst nur die Krönung dieses Alptraums namens Leben zu sein. Doch als Lila Orion kennenlernt, sind Dauerregen und schreckliches Essen bald vergessen. Ihr persönlicher England-Guide gewinnt sie nicht nur für England, sondern auch für die Vorstellung, dass ihr Leben vielleicht völlig anders aussehen könnte, als immer geplant ...
Eine bezaubernde kubanisch-britische Romanze – demnächst als großer Kinofilm mit Kit Connor (»Heartstopper«) und Maia Reficco (»Pretty Little Liars – Original Sin«)

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Laura Taylor Namey

Aus dem Amerikanischen von Mareike Weber

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© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2020 Lara Taylor Namey

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel:

»A Cuban Girl’s Guide to Tea and Tomorrow« bei Atheneum,

einem Imprint der Simon & Schuster Children’s Publishing Division, New York

Übersetzung: Mareike Weber

Lektorat: Christina Neiske

Coverkonzeption: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung eines Fotos von © Getty Images (Amanda Siegal Photography); © Shutterstock (Johan_R, VaLiza); © iStockphoto (enviromantic, OceanProd); © Dreamstime.com (Chipus)

MP · Herstellung: UK

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30887-2V001

www.cbj-verlag.de

Für Hildelisa Victoria, meine mutige und wunderschöne Mutter

Wenn du im Bodensatz deiner Teetasse unaufgelösten Zucker findest, hat sich jemand in dich verliebt.

Aberglaube

Mañana bedeutet übrigens nicht morgen:

Es bedeutet nicht heute.

Billy Collins

Kapitel 1

Man kann es nennen, wie man will. Einen Urlaub. Ein Geschenk zum Highschool-Abschluss. Vielleicht sogar eine Flucht. Alles, was ich weiß, ist, dass ich so weit von Miami weg bin wie noch nie in meinem Leben.

Ich bin hier, weil das kubanische Heilmittel versagt hat. Es ist uralt und liest sich wie ein Rezept. Die Zutaten mögen von Familie zu Familie variieren, doch der Anwendungszweck ist immer der gleiche: Wenn du Herzenskummer hast, wird deine Familie dich wiederherstellen. Nur, dass mein Herzenskummer mit noch so viel Essen und noch so viel Familie nicht zu beheben war, und deshalb haben sie sich eine List ausgedacht – wie in den Telenovelas, die Mami immer so gerne guckt.

»Der Nächste bitte.« Der Zollbeamte von London Heathrow winkt mich heran. »Der Grund Ihres Besuches, Miss?«, fragt er, als ich meinen Pass vorzeige.

Zwei Sekunden verstreichen, dann vier, dann meine unverhohlene Lüge: »Urlaub.«

Ich halte den Mund, denn mein Gastgeber dieses Sommers, Spencer, wartet auf mich, und zu einer weiteren Kontrolle gezerrt zu werden, wäre fast so unangenehm wie Zähneziehen oder eine Gyno-Untersuchung. Aber Dios, ich könnte diesen Beamten und diesen ganzen Tag verfluchen. Ich kann mich gerade noch zurückhalten, diesen Typen in seiner adretten Zolluniform anzufauchen: »Ich werde Ihnen sagen, warum ich hier bin. Als Erstes ist meine über alles geliebte Abuelita gestorben, und in den zwei Monaten nach ihrem Tod hat mich dann meine beste Freundin hängen lassen, und mein Freund hat nach drei Jahren Beziehung Schluss gemacht, ausgerechnet kurz vor dem Abschlussball. Ich nenne es den Dreifachen Fluch. Angeblich bin ich nicht schnell genug über all das hinweggekommen, und so hat meine Familie mich hierhergeschickt, damit ›ich mich wieder fange‹. Ich wollte überhaupt nicht in euer England reisen, aber dann hat Mami ihren größten Trumpf aus dem Ärmel gezogen, noch effektiver als Guaventeigtaschen und andere übliche kubanische Heilmittel gegen Kummer. Ihr Trumpf hieß Abuela. Also, um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe keinen Grund, hier zu sein.«

Zack. Der Beamte drückt einen Stempel in meinen Pass und schiebt ihn zurück zu mir. »Angenehmen Aufenthalt.«

Wohl kaum.

Nach einer ziemlich schweigsamen Busfahrt, gefolgt von einer komplett stummen Taxifahrt, setzt der Fahrer uns zwei Stunden später an einem Ort ab, den ich bisher nur von Bildern kenne. Allerdings hat heute leider jemand die Sonne vergessen. Ich zittere unter einem farblosen Himmel, während Spencer meine beiden großen Koffer aus dem Auto wuchtet.

Das also ist Winchester, Hampshire, England.

Ich überquere die schmale Straße und gehe auf das Gasthaus Owl & Crow zu. Wie so viele der Gebäude, an denen wir in der Stadt vorbeigekommen sind, sieht das Owl & Crow aus, als wäre es direkt einem Jane-Austen-Roman entsprungen. Eine klotzige Hochzeitstorte aus orangerotem Backstein, die alle Häuser in der Nachbarschaft überragt. Kletterefeu rankt sich vom Eingangsportal die drei Stockwerke des Gasthauses empor, wie grüne Adern an der Wand. Dieser Ort atmet Geschichte.

Nichts in Miami ist so alt – nicht einmal Señora Cabral, die immer noch jeden Montag in die Bäckerei meiner Familie humpelt und schon tan vieja war, bevor meine Eltern geboren wurden.

Spencer Wallace rollt meine Koffer unter einem Rosenbogen hindurch zur Eingangstür. Jetzt, da ich Spencer hier sehe und nicht in Miami, wo er uns ein paarmal mit seiner Frau und seinem Sohn besucht hat, begreife ich erst, wie perfekt sein ganzes Äußeres zu diesem traditionellen Gasthaus passt. Rotes, schon ein wenig ergrautes Haar. Gepflegte Kinn- und Schnauzbart-Kombi. Er trägt sogar einen dicken Tweed-Blazer. Und genau das war es, was mir beim Anblick meines entfernten Verwandten auf dem Flughafen als Erstes auffiel. In dem Moment war mir meine Reise sogar noch surrealer vorgekommen als bei meinem Abflug. Mami und Papi haben mich in ein fremdes Land geschickt, in dem Männer Tweed-Blazer tragen. Im Juni.

»Komm doch rein, Lila«, sagt Spencer, der jetzt im Hauseingang steht. »Cate müsste inzwischen von der Physio zurück sein. Komm, drinnen ist es mollig warm.« Er stößt gegen meine Schulter, als er die Tür hinter uns schließt. »Sorry«, sagt er und wirft einen weiteren besorgten Blick auf mein Reise-Outfit, das er schon kritisch beäugt, seit ich durch die Zollkontrolle kam. Wie ich bei jedem Schritt durch Heathrows Terminal fünf feststellen musste, sind mein hauchdünnes pinkes Tanktop, meine weißen Jeans und goldenen Sandalen nicht gerade die ideale Wahl für einen Englandurlaub, selbst im Frühsommer. Aber für Miami ist das ein vollkommen normales Outfit. Ob mir kalt ist oder nicht, spielt keine Rolle.

Im Gasthaus ist es warm, aber nicht stickig, und es duftet nach Butter und Zucker. Ich atme tief ein und versuche den Duft festzuhalten. Diese vertrauten Gerüche sind das Einzige, was mir im Moment ein Gefühl von Zuhause geben kann.

Tía Cate kommt eine polierte Holztreppe herunter.

»Ah, da ist sie ja.« Sie kommt auf mich zu und schließt mich in die Arme. »Tut mir leid, dass ich nicht mit Spencer zum Flughafen kommen konnte. Und dann hab ich auch noch das Auto gekapert.«

»Der Bus war auch okay«, murmele ich in ihren kratzigen Wollpulli. Ihr blonder Dutt sieht genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe, aber ihr Akzent ist kaum noch zu hören. Ist es das, was fünfundzwanzig Jahre in England mit einer venezolanischen Frau, geborene Catalina Raquel Mendoza, machen? Hier, in dieser mittelalterlichen Stadt in Hampshire, mit diesem Ehemann, ist sie Cate Wallace.

»Lass dich mal ansehen. Fast schon achtzehn!« Cate macht einen Schritt zurück und mustert mich stirnrunzelnd. »Jetzt komm erst mal mit in den Gästesalon und trink einen Tee mit mir, während Spencer deine Koffer nach oben trägt. Der Kamin ist an, und ich kann dir einen Pulli holen, bis du ausgepackt hast. Diese dünne Bluse – wir wollen ja nicht, dass du dich erkältest.«

Mein Herz zieht sich zusammen und dann … passiert es. Hier im warmen Flur des Owl & Crow mit den verwitterten Holzdielen unter meinen Sandalen und den großen Ständern voller spitzer Regenschirme neben der Tür. Es ist nicht am Flughafen von Miami passiert, wo ich meine mürrische Miene nicht einmal abgesetzt habe, als ich mich mit den obligatorischen Küssen von mis padres und meiner Schwester Pilar verabschiedete. Es ist auch nicht passiert, als ich zusah, wie die funkelnden Lichter meiner Stadt hinter den Tragflächen des Jumbojets verschwanden. Da habe ich nicht geweint. Habe mich dagegen gewehrt. Aber Catalina-Cate Wallace hat mich eiskalt erwischt und jetzt kann ich nichts dagegen tun. Meine Augen füllen sich mit Tränen, und eine Erinnerung, die mich nie loslassen wird, schnürt mir die Kehle zu.

¡Ponte un suéter, que te vas a resfriar!

Zieh einen Pulli an, sonst erkältest du dich noch! Das kubanische Mantra aller Mantras. Es wird uns auf die Stirn tätowiert. Es wird mit unlöschbarer Tinte auf unser Notizpapier mit Veilchenduft geschrieben. Und es wird aus vollem Halse aus dem Fenster gerufen, wenn die Kinder in den Straßen von Little Havana spielen und Eis am Stiel essen. Meine Abuela hat, wo sie stand und ging, Pullis hervorgezaubert. Bis zu jenem kalten Märzmorgen, an dem sie es nicht mehr konnte. Dem kältesten aller Tage.

Instinktiv greife ich nach der Kette mit der goldenen Taube um meinen Hals, die Abuela mir vor vier Jahren geschenkt hat. Cate bemerkt es und ihre gelassenen Gesichtszüge entgleiten. »Oh, deine liebe Abuelita. Sie war so eine wunderbare Frau, meine Süße.«

Süße. Nicht mija. Nicht aus dem Mund der englischen Cate.

»Abuela hat auch mich praktisch großgezogen.« Cate sieht mir in die geschwollenen Augen. »Ich war untröstlich, dass ich nicht zur Beerdigung kommen konnte.«

»Mami hat das schon verstanden. Es ist ja ganz schön weit.« Über siebentausend Kilometer.

Cate nimmt mein Gesicht in beide Hände. Diese Geste erinnert mich so sehr an Abuela, dass mir schon wieder die Tränen in die Augen steigen. »Sag mir die Wahrheit«, hakt sie nach. »Bestimmt hat deine Mutter einen Grund gefunden, mir Vorwürfe zu machen, obwohl ich gerade meine Halswirbel-OP hinter mir hatte, nicht wahr?«

Ich muss lachen. England hat ihr doch nicht alles genommen. Ihre gekräuselten Lippen, ihre keck ausgestellte Hüfte und ihr herausfordernder Blick – das ist ganz die Cate, die ich vom letzten Besuch der Wallaces in Miami in Erinnerung habe. »Wie hast du das erraten?«

»Ich hab deine Mutter von Herzen gern. Aber sie stellt sämtliche mujeres aus ihren geliebten Telenovelas in den Schatten.«

Seifenoper-Dramen. Mami ist nie aufs College gegangen und trotzdem hat sie sozusagen Drama im Hauptfach studiert. Statistenrollen waren Nebenfach. Außerdem hat sie sich darauf spezialisiert, das Gegenteil von dem zu tun, was das Beste für mich ist.

»Setz dich doch schon mal in den Salon. Ich hole schnell den Tee, den Polly für uns zubereitet hat«, sagt Cate und deutet auf den Durchgang, bevor sie davonwuselt.

Ich streife meine schwarze Umhängetasche ab, aus der das Einreiseformular herausguckt. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Wütend knülle ich das Papier zu einem winzigen Ball zusammen. Kein sogenannter Urlaub wird mich wiederherstellen.

Kapitel 2

Ich kann nachvollziehen, warum Owl & Crow-Gäste von dem Afternoon Tea im Salon schwärmen, aber in diesem Scone ist einfach zu viel Zucker. Auch wenn die Konsistenz nahezu perfekt ist, scheitern viele Bäcker an dem Süßigkeitsgrad. Mehl, Butter und Zucker sind nur die Bühne für andere Aromen – Gewürze und Extrakte, Früchte und Sahne und Schokolade. Ein Gebäck muss nie übermäßig süß sein. Es muss nur unvergesslich sein.

Nicht, dass ich eine Scone-Expertin bin. Genau genommen habe ich noch nie einen gebacken. Einen Scone gegessen habe ich zuletzt vor vier Monaten, als Pilar sich zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag einen Afternoon Tea im Miami Biltmore Hotel gewünscht hat.

Genau wie jener altehrwürdige Ort wirkt dieser Salon mit seinen eisblauen Wänden und Brokatstoffen eher wie ein Gemälde als wie ein Zimmer. Hier bin ich eine Figur, gezeichnet in das Leben anderer Leute.

Ich nenne es Kubanisches Mädchen mit überzuckertem Scone in Nicht-Miami.

»… und Spaziergänge, und man ist sehr schnell im Grünen. Du kannst mit einem unserer Gästefahrräder überall hinfahren und dich wirklich erholen. Und in der Innenstadt gibt es Cafés und kleine Geschäfte, die du lieben wirst«, schwärmt Cate, während sie in kleinen Schlucken von dem starken schwarzen Tee trinkt. In den letzten fünf Minuten hat sie versucht, mir Winchester schmackhaft zu machen wie ein Immobilienmakler.

Ich habe mir das alles mit einem starren Lächeln angehört, als ob sie mich tatsächlich überzeugen könnte. »Klingt nett. Danke, dass ich hier sein darf.« Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Drang, all meine Worte in dieser geblümten Teekanne zu ertränken, und dem Respekt vor dieser Frau, die ich seit meiner Geburt kenne.

»Mach mir nichts vor«, sagt Cate. »Du kannst ehrlich mit mir sein.«

»Na gut.« Ich stelle meine Teetasse mit einem wenig eleganten Scheppern auf den Tisch. »Ich will überhaupt nicht hier sein.« Familie hin oder her.

Cate zuckt nicht einmal mit der Wimper. Ihr Blick ist kühl wie der weiße Marmorhimmel vor den Fenstern, als sie mit den Fingern den Rand ihrer Teetasse entlangfährt. Ihre ovalen Nägel glänzen in einem dunklen Kirschrot. »Natürlich willst du das nicht. Du musst auch nicht so tun, als ob. Aber deine Eltern sind der Meinung, dass etwas Abstand dir helfen –«

»Und was ist mit meiner Meinung? Mit meinen Gefühlen?« Ich bin wie eine kaputte Schallplatte und wiederhole immer wieder den Text, den ich herunterbete, seit meine Eltern diesen Flug für mich gebucht haben. Alle Hilfe, die ich brauche, befindet sich siebentausend Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks. Das ist der Ort, wo ich noch vor einigen Wochen alles hatte, was ich wollte. Dort steht unsere Bäckerei, die ich übernehmen und weiterentwickeln werde – die Bäckerei, die immer auf Abuelas Wurzeln ruhen wird. Panadería La Paloma. Ihr Geist und die Erinnerungen an sie leben in diesen Räumen fort und jetzt bin ich auf einmal weg.

Ich brauche England nicht. Miami ist meine Glücksstadt. Meine Heimatstadt, wo ich in den letzten siebzehn Jahren so viele Erfolge erzielt habe. Sie ruft mich, ich spüre es in Mark und Blut. Du gehörst mir, sagt sie. Du kannst neue Erfolge feiern.

Aber nicht hier. Nicht in England.

Miami hat meine wichtigsten Beziehungen hervorgebracht – diejenigen, um die ich heimlich weine. Abuela. Andrés. Stefanie. In meinem Kopf, meinem Herzen und meiner Erinnerung sind sie noch ganz präsent. In diesen fünfundachtzig Tagen in England können sich zu viele weitere Dinge ändern, und ich werde nicht zu Hause sein, um das zu verhindern.

»Du bist verletzt, Lila. Und du hast deinen Eltern einen Schrecken eingejagt«, sagt Cate. »Deine mentale Gesundheit ist wichtiger, als La Paloma jetzt gleich zu übernehmen.«

Bueno. Na gut. Nichts vormachen – das gilt wohl für beide Seiten. Dabei wäre ich schon damit fertiggeworden. Ich brauche mehr Zeit, nicht mehr Gespräche. Nicht mehr Abstand. Warum kapieren meine Eltern das nicht?

Cate zwirbelt eine blonde Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hat. »Du musst mir nur eines versprechen, denn wir kennen beide den Zorn von tu mamá.«

Das vertraute Spanisch aus ihrem Mund lässt mich aufblicken.

»Versuch dich hier etwas einzuleben. Vielleicht sogar etwas Spaß zu haben. Aber pass dabei auf dich auf, okay?« Es hört sich an, als hätte sich ihr Akzent nach der letzten halben Stunde mit mir schon wieder ein bisschen in Richtung Südwesten bewegt. »Geh nicht nachts alleine joggen oder tue sonst irgendetwas … Leichtsinniges.«

Leichtsinnig. So wie das, was ich vor zwei Wochen gemacht habe? Meine Wangen glühen vor Zorn und Reue. Ich war total gedankenlos. Unvorsichtig.

Aber das sage ich nicht. Stattdessen schlucke ich meine Erwiderungen mit den letzten Bissen von Pollys Johannisbeer-Scone hinunter. Eindeutig: zu süß.

Meine Teetasse ist noch halb voll, als Cate mich in den Unterarm knufft. »Jetzt richte dich erst mal ein. Spence hat inzwischen bestimmt deine Koffer aufs Zimmer gebracht.« Sie steht auf und macht mir ein Zeichen, ihr in die Diele und die ausladende Treppe hinauf zu folgen.

Im ersten Stockwerk des Owl & Crow sind acht Gästezimmer untergebracht. Cate hat erzählt, dass alle belegt sind, aber jetzt im Moment sind auf dem getäfelten Korridor nur ein paar Wandleuchter zu sehen. Große goldene Vogelschwingen flankieren die Halterungen.

Wir bleiben vor einer breiten Tür ohne Nummer stehen, an der ein Keypad angebracht ist. »Hier ist der Aufgang zu unserer privaten Wohnung. Der Türcode ist unsere alte Postleitzahl in Miami.« Cates Gesichtszüge werden weich vor Nostalgie. Als ihre Eltern aus Venezuela nach Miami zogen, verbrachte Cate so viel Zeit mit Mami bei Abuela, dass es ihr zweites Zuhause wurde. Pilar und ich haben sie nie Großcousine genannt. Sie wird immer unsere Tía sein.

Sie bedeutet mir, die fünf Zahlen einzugeben, die ich so gut kenne. Mit einem Piepen und einem Klick öffnet sich die Tür zu einer weiteren Treppe mit gedrechseltem Holzgeländer.

Die Stufen führen uns in einen weitläufigen, loftartigen Raum. Cate deutet auf einen der Korridore. »Da hinten haben Spence und ich unsere Zimmer.« Dann dreht sie sich um und führt mich durch das Wohnzimmer hindurch zu den gegenüberliegenden Räumen. »Auf dieser Seite sind dein Gästezimmer, ein Bad und Gordons Zimmer. Er ist gerade mit einer Lerngruppe in der Bücherei.«

Ich erinnere mich dunkel, gehört zu haben, dass die Schulprüfungen sich hier bis in den Sommer hinziehen. »Ich fasse es nicht, dass Gordon sechzehn ist.«

Sie grinst. »Und so hochgeschossen, dass du ihn kaum wiedererkennen wirst. Als ihr euch das letzte Mal gesehen habt, muss er etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Kurz vor unserer Key-West-Reise.«

»Ja, er ist in La Paloma immer total gern in der Küche herumgerannt, während du und Mami auf der Terrasse Cafecito getrunken habt.« Mein dunkles Haar fällt mir ins Gesicht, es riecht nach Flugzeug. Ich kämme es mit den Fingern zurück. »Und er hat jedes Mal versucht, eine Empanada zu stibitzen, wenn Abuela ein Blech aus dem Ofen geholt hat. Sie hat immer wieder mit ihrem Geschirrtuch nach ihm ausgeholt, aber das hat ihn nicht davon abgehalten.«

Die aufblitzenden Erinnerungen brennen wie ein Gummiband, das einem gegen die Finger schnellt.

Ich wende den Blick ab, bis Cate eine Hand auf meine Schulter legt. Sie öffnet eine getäfelte Tür und deutet hinein. »Hier ist es. Du weißt ja, wo du mich findest. Abendessen gibt es um sieben.«

Dann stehe ich allein in dem Zimmer, das für die nächsten fünfundachtzig Tage mir gehören soll. Es hat doch tatsächlich ein Himmelbett. Nicht irgendeine Ikea-Anfertigung, sondern ein authentisches Teil, das in die Regency-Ära gepasst hätte. Ich lasse meine Tasche fallen und streiche mit den Fingern über die Kirschholzmaserung. Wie alles in diesem Inn fühlt es sich alt an.

Spencer hat meine Koffer neben eine Sitzbank mit grauem Samtpolster gestellt. Ich sehe mich um – eine Kommode mit Fernseher, ein kleines Sofa mit grauem Blumenmuster, ein Schreibtisch. An einer Seite ist ein großes Sprossenfenster, durch das jetzt das dämmerige Licht von der Straße fällt. Die andere Außenwand hat ein breiteres Fenster, aber mit einem Schiebemechanismus. Ich ziehe die cremefarbenen Seidenvorhänge zur Seite. Der Rahmen des Fensters gibt ein übernatürliches Jaulen von sich, als ich es nach oben schiebe und meinen Oberkörper hindurchquetsche. Wenn ich mich über den Fenstersims beuge, kann ich über die Baumwipfel in einen kleinen ummauerten Kirchhof gucken, der an meine Seite des Gasthauses grenzt. Meine Augen haben Schwierigkeiten, sich umzustellen, von Palmen und pfirsichfarbenem Stuck zu verwitterten Backsteinmauern und Kirchen mit Türmen – wie diese winzige steinerne Pfarrkirche nebenan.

Mein neues Zimmer ist wunderschön. Und trotzdem will eine Hälfte von mir mit den Fäusten gegen die Wand trommeln und die animalischen Laute ausstoßen, die schon den ganzen Tag durch meinen Kopf hallen. Eigentlich schon den ganzen März und April und Mai. Und meine andere Hälfte will sich trotzdem am liebsten unter der weichen Daunendecke verkriechen.

Ich begnüge mich damit, meine Koffer neben die Tür zu rollen. Ich bin noch nicht bereit, mich in meiner neuen Realität einzurichten. Ich stelle meine große Umhängetasche auf das Bett und öffne den Reißverschluss. Miami ist darin. Spuren von Mamis Zitronenessig-Fliesenreiniger und meinem Gardenienduft-Raumspray haften an all den Sachen, die ich heute Abend brauchen werde. Abuela könnte diese Tasche gepackt haben.

Ihretwegen würden Pilar und ich nie wagen, in ein Flugzeug zu steigen, ohne eine Extra-Garnitur Unterwäsche und ein paar Wechselsachen im Handgepäck zu tragen. Schließlich könnte die Fluggesellschaft dein Gepäck verlieren! Abuela hat diesen Gepäckabfertigern nie über den Weg getraut.

Und ich hatte ihnen diese Dinge nicht anvertrauen wollen. Nach Leggings und einem langen T-Shirt hole ich Abuelas geliebte weiße Schürze aus der Tasche. Die Schürze, die ich während ihrer Beerdigung auf meinem Schoß gehalten habe. Dann ein Familienfoto von mir mit meinen Eltern und Pilar im Garten meines Großonkels. Und noch einen kleinen Schnappschuss von Abuela, den ich letztes Jahr gemacht habe. Ihre schwarzen Haare, die allmählich grau werden, trägt sie in einem feschen Kurzhaarschnitt, der ihre zarte Gestalt betont. Sie sitzt vor ihrem einfachen Frühstück aus Café con Leche und Pan tostado und lächelt mich an.

Abuela und ich waren die Einzigen in der Familie, denen es total wichtig war, Erinnerungsstücke aufzuheben – los recuerdos. Pili hat das sentimentale Gen nicht geerbt, und Mami hasst es, Dinge anzuhäufen. Trotzdem hat Mami den kleinen Altar aus Karten, Fotos, Figürchen und getrockneten Blumen auf Abuelas Kommode noch nicht weggeräumt. Sie hat Abuelas Zimmer noch nicht zu einem Gästezimmer gemacht oder ihre abgetragenen Gartenschuhe von der Veranda entfernt. Im Moment hebt sogar meine Mutter Dinge auf.

Ich baue meinen eigenen mitgebrachten Altar auf, indem ich meine Miami-Sachen auf den Nachttisch stelle. Mein Herz zieht sich zusammen, als ich das letzte Teil aus meiner Tasche hole: ein weißes University of Miami-T-Shirt, das ich für Stefanie gekauft habe. Es ist un recuerdo von ganz besonderer Bedeutung, eine Erinnerung an einen Beste-Freundinnen-Plan, den ich noch nicht so einfach in eine Schublade stopfen kann.

Dieses T-Shirt ist ein wesentlicher Grund dafür, dass ich hier bin.

Vor zwei Wochen kam das bestellte weiße T-Shirt in der Panadería La Paloma an, ausgerechnet am selben Tag, an dem Stefanies Flug ging, wie ein schlechter Scherz. Stef würde nicht an die UM gehen und studieren. Meine Freundin würde überhaupt nirgendwo in Miami mehr hingehen. Nicht mit mir.

Der Anfang von unserem Ende ereignete sich zwei Tage vor der Lieferung des T-Shirts. Ich hatte mich auf ihr Bett gefläzt, wie ich es immer tat, nur dass jetzt eine riesige Reisetasche in ihrem Zimmer stand, die den ganzen Teppich einnahm. Ihr Pass, stapelweise Reisedokumente und der Info-Pack vom katholischen Missionsverein Südfloridas lagen verstreut auf ihrem Schreibtisch.

Das Ende unseres Endes ereignete sich, als ich türenschlagend aus einem Haus flüchtete, in dem ich seit Jahren willkommen gewesen war, als gehörte ich zur Familie.

Und irgendwann dazwischen hatte meine beste Freundin mir eröffnet, dass sie seit November dabei war, sich auf einen zweijährigen Einsatz in der Gesundheitshilfe vorzubereiten. Monatelange Schulungen, die sie mit keinem Wort erwähnt hatte. Stillschweigend hatte Stef ihren Studienplatz an der University of Miami gegen ein entlegenes afrikanisches Dorf eingetauscht.

Vor zwei Wochen hatte ich allein im Büro der Bäckerei gestanden und das UM-Logo auf dem T-Shirt angestarrt. Die Worte, die wir uns an den Kopf geworfen hatten, prasselten noch einmal auf mich ein wie Hagel.

Wie, du konntest es mir nicht erzählen?

Lila, es tut mir echt leid. Du hättest versucht, mich davon abzubringen.

Das ist nicht wahr.

Ich muss jetzt gehen.

Du hast hinter meinem Rücken dein ganzes Leben umgeplant?

Ich wollte es dir ja erzählen, aber dann hast du deine Abuela verloren. Und nach der Sache mit Andrés … Außerdem weißt du genau, dass du dagegen angegangen wärst. Und du hättest gewonnen, genau wie immer.

Dann war ich nach Hause gerannt und hatte mir heulend das Schulabschlussfoto von uns beiden angesehen. Meine brünette Mähne und ihr blonder Stufenschnitt schauten unter den Absolventenhüten hervor, die schon in der dunklen Farbe des Betrugs zu glänzen schienen.

Als ich dort im Panadería-Büro stand und das weiche Jersey-T-Shirt in den Händen hielt, wurde mir eine Tatsache immer klarer: Meine Trauer hatte sich verändert. Aus einer Linie zwischen zwei schmerzvoll pulsierenden Endpunkten – Abuela und Andrés – war eine neue Form geworden. Ein Dreieck.

Und dieser Dreifache Fluch war so übermächtig, dass ich mich nicht davon befreien konnte. Unter all der schwarzen Leere konnte ich mich selbst nicht mehr finden. Mein Herz zersprang in Stücke, und mein Atem ging immer schneller, wie ein aufbrausender Sturm. Ich musste mich bewegen. Ich musste rennen.

Was du tun musst, wenn dich deine beste Freundin hat sitzen lassen

Rezept aus der Backwerkstatt von Lila Reyes

Zutaten: Eine gepackte Sporttasche, die in Papis Büro steht. Ein Paar Nike-Laufschuhe. Ein neonblaues Tanktop. Ein Paar Adidas-Kompressionsleggings.

Zubereitung: Ziehe deine Sportklamotten an und flüchte durch den Lieferanteneingang. Mach dich auf in deine geliebte Geburtsstadt, dein Miami. Die Stadt ist groß genug, um dich aufzunehmen. Erobere die Orte und Straßen zurück, die dich kannten, die deine Liebe und dein Glück kannten, bevor die letzten drei Monate dir so viel geraubt haben. Erobere alles zurück.

* Vermeide es, die Stefanie-Geschichte mit deiner Familie noch mal aufzuwärmen. Es ist dein Verlust, und du entscheidest, wie du damit umgehst.

Backtemperatur: 475 Grad Fahrenheit – genauso heiß, wie sich Miami anfühlt, wenn man am Nachmittag durch die Stadt joggt.

An jenem Nachmittag vor zwei Wochen ging ich also zum Parkplatz hinter dem Haus und schloss alles außer meinem Schlüsselbund und meinem Handy in meinen türkisfarbenen Mini Cooper ein. Dann machte ich meine Dehnübungen und bereitete mich auf die Sache vor, die ich von allem am zweitbesten kann. Ich rannte weiter als je zuvor, eine Strecke, für die man sonst Plaketten und Medaillen bekommt. Doch mein einziger Preis war der ausgepowerte Zustand als Folge meines störrischen Trotzes. Stundenlang ignorierte ich jedes Warnsignal, das mein Körper mir gab, und durchquerte ein Stadtviertel nach dem anderen, bis es längst Zeit zum Abendessen war. Ein einziger Gedanke drang durch den Schweiß, die Hitze und den Schmerz, bis meine Beine irgendwann streikten: Wenn ich nur weit genug rannte, könnte ich vielleicht aus meiner eigenen Haut rennen.

Heute frage ich mich, ob Stef recht hatte, ob ich sie wirklich von ihrem Plan hätte abbringen können. Bei meiner eigenen Familie hatten meine Überzeugungskünste allerdings nicht funktioniert.

Ich sinke auf das graue Samtpolster der Sitzbank und versuche, mich nicht zu rühren. Ich rede mir ein, wenn ich mich nicht bewege, tut es der Ort meiner Herkunft auch nicht. In West Dade wird die Zeit stillstehen, bis ich wieder zu Hause bin.

Kapitel 3

Nach vierundzwanzig Stunden in meinem Zimmer habe ich keine Vorstellung von der Außentemperatur oder der Anzahl der Schritte zwischen dem Inn und dem Stadtzentrum von Winchester. Ich kenne jeden dubiosen Fleck an der Zimmerdecke und weiß, dass es von meiner Tür bis zum Badezimmer sechs Schritte sind. Fünfzehn Schritte zur Küche und zurück.

Die Familie Wallace beschwert sich nicht, dass ich mich so eingeigelt habe, und ich finde regelmäßig ein Tablett mit Essen auf der Küchentheke – echt süß von ihnen. Einmal lag ein Zettel dabei:

Ruh dich nur aus. Ich halte deine Familie auf dem Laufenden. Mami hat erst sechs Mal angerufen.

Cate

Cate hat auch nichts zu den Koffern gesagt, die noch immer neben meiner Tür stehen. Oder zu meinem ausgeschalteten Handy, das auf meinem ausgeschalteten Laptop liegt.

Und dann ist da noch Pilar. Ich sehe das schnippische Lächeln meiner Schwester und ihren gelassenen, rationalen Blick vor mir und frage mich, wie viele Nachrichten sie mir wohl schon geschickt hat. Oder hat sie sich auch nicht gemeldet, weil sie genau weiß, dass ich die Funkstille nicht lange durchhalten würde? Ich schiele zu meinem Telefon, die Stimme der wichtigsten Person in meinem Leben nur zwanzig Sekunden entfernt. Aber nein. Noch nicht. Ich bin noch nicht ganz bereit für ein wirkliches Gespräch mit ihr. Zumindest nicht für eines, das nicht gespickt ist mit den besten Schimpfwörtern, die ich kenne, in zwei Sprachen.

Ein weißes UM-T-Shirt hatte vielleicht den Anstoß zu meinem Lauf durch Miami gegeben, aber meinen Flug nach England hätte genauso eine gewisse Pilar Veronica Reyes gebucht haben können. Seit meiner Ankunft habe ich bestimmt ein Dutzend Mal über die mitternächtliche Szene in meinem Zimmer zu Hause in West Dade nachgedacht. Jene Szene, die sich abgespielt hat, nachdem ich stundenlang alleine durch die Stadt gerannt war. Die Nachwirkungen waren katastrophal. Ich bin wirklich sauer auf meine Schwester, aber noch mehr ärgere ich mich über mich selbst, dass ich so unvernünftig war.

Mein Körper hatte für meinen Leichtsinn ebenfalls einen hohen Preis gezahlt. Ich erinnere mich noch genau, wie mir alles wehgetan hat. Wie der Stoff meiner grau-weißen Bettdecke gegen meine schmerzenden Muskeln und sonnenverbrannte Haut scheuerte.

»Más«, hatte Pilar in jener Nacht gesagt und mir den hundertsten Löffel Caldo de pollo hingehalten. Ich hatte Abuelas magische Hühnersuppe auf Vorrat gekocht. Das und eine großzügige Anwendung von »Vivaporú« – Wick VapoRub – kann jedes Leiden heilen. »Mehr, hab ich gesagt, Lila«, beharrte sie, auch wenn ich den Kopf schüttelte und die Lippen zusammenkniff.

»Genug«, sagte ich. Es fühlte sich an, als hätte ich eine Basstrommel im Kopf.

Pili schnaubte verärgert und knallte die Schüssel auf meinen Nachttisch. Stoisch und entschlossen wie eine Armee-Krankenschwester marschierte diese Buchhaltungsstudentin zurück zu unserem kleinen Erste-Hilfe-Kasten.

Ihre Hände verteilten noch etwas mehr von dem kühlenden, prickelnden VapoRub auf meinen Waden. Ich zuckte zusammen, als sie noch einmal die Blasensalbe hervorholte.

»Geschieht dir recht.« Mehr Salbe auf meinen Fersen und Zehen, wo die Haut teilweise richtig abgerieben war. »Wenn du jetzt nie mehr diese roten Stiletto-Sandalen tragen kannst, bist du selbst schuld, hermana.«

Stimmt, meine Schuld. Das hatte ich nun davon, nachdem ich mehr als fünf Stunden und mehr als dreißig Kilometer gerannt war, bis ich praktisch nur noch kriechen konnte. Nachdem ich erst mal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Mir war einfach alles egal gewesen.

Pilar wuselte in meinem Zimmer umher, schüttelte Kissen auf und füllte mein Wasserglas. Dann steckte sie den Kopf durch die Tür, um zu sehen, wo Mami und Papi waren, und murmelte etwas auf Spanisch vor sich hin.

Du bist echt verrückt. Leichtsinnig. Kopflos und egoistisch. Was, wenn ich dich nicht gefunden hätte? Was dann? Mein Gott, Lila.

Das war das, was ich hörte.

Das war das, was ich sah.

Mami und Papi drängten sich in meinem Türrahmen, um mir ihr Gerichtsurteil zu verkünden. Papi senkte den Kopf, sodass man sein angegrautes Haar und die kleine kreisrunde Glatze sehen konnte.

Mami hatte ein paar zusammengeknüllte Taschentücher in der Hand. »Wir haben gerade mit Catalina und Spencer telefoniert.«

Ihre hastigen Worte klangen barsch: England. Sommer im Owl & Crow. Sich fangen. Eine Auszeit nehmen.

Am Ende fing Mami an zu heulen und ich fühlte mich ganz hohl und leer.

»England? Soll das ein Witz sein?«

Papi machte einen Schritt ins Zimmer. »Es geht um deine Gesundheit. Dieses Frühjahr war schon so unerträglich für dich und jetzt ist auch noch Stefanie fort.«

Sie mussten mich einfach nur in Ruhe lassen. Dann würde ich schon dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kam.

Mami strich sich ihre welligen schwarzen Haare aus dem Gesicht. »Denkst du, wir sehen das alles nicht? Wie du seit Wochen im Verborgenen weinst? Wie du gebückt gehst und fast gegen die Wände läufst? Einmal hat Papi dich sogar weinend im Tiefkühlraum der Panadería gefunden. Allein und völlig durchgefroren. Das ist doch nicht richtig, Lila.«

Dabei hatte es sich mehr als richtig angefühlt. Ich erinnerte mich noch gut an die Erleichterung, als sich von Kopf bis Fuß ein Gefühl der Taubheit in mir ausbreitete und die brennende Sehnsucht nach Abuelas Stirnküssen kühlte. Und die nach Andrés auch. Diese Art, wie er mich immer im Arm gehalten hatte – so fest, so vollkommen. Seine Umarmung hatte mich von den Zehenspitzen bis zu den Ohren gewärmt. Es war der einzige Ort gewesen, an dem ich mich so groß wie ein Planet und gleichzeitig so leicht wie eine Feder gefühlt hatte. Im Tiefkühlraum hatte ich nur ein paar Minuten Erleichterung und Ruhe gesucht. Aber Papi war hereingeplatzt und hatte vor Sorge vollkommen überreagiert.

»Ihr könnt mich nicht einfach wegschicken.« Nicht weg von La Paloma. Nicht weg von Miami. Von meiner Familie.

»Aber die Nachbarn, también. Sie reden über dich, mehr als je zuvor. Wie willst du dich wieder erholen, wenn …«

Wenn was? Wenn in der ganzen Stadt über meine Privatangelegenheiten getuschelt wurde? Also, nicht dass es mich wunderte. Das ging schon seit drei Jahren so. Dazu hatte ich mir nur Andrés schnappen müssen, den Sohn des prominenten Kongressabgeordneten Millan aus dem noblen Coral Gables. Andrés wurde in lokalen Klatschzeitschriften abgebildet. Er hatte sein Filmstargesicht sogar schon im Fernsehen gezeigt, wenn im Wahlkampf über seine Familie berichtet wurde. Kunden, Nachbarn und andere Ladenbesitzer hielten uns für das perfekte Paar. Sie fanden unsere Geschichte einfach hinreißend. Vier Jahre zuvor hatte ich für eine Fundraising-Veranstaltung seiner Eltern das Catering gemacht und er hatte seine erste von mir zubereitete Guaventeigtasche probiert. Zwei Jahre lang kam er jede Woche in unsere Bäckerei, um sich Nachschub zu holen, bis er mich endlich zu einem Rendezvous einlud. Da war ich fünfzehn und über alle Pastelitos in den Sohn des Kongressabgeordneten verliebt.

Ein kubanisch-amerikanisches Märchen in West Dade. Doch dann hat Andrés unser Luftschloss platzen lassen.

Meine Eltern sprachen mit Pilar, als wäre ich Luft. »Letzte Woche kam Elena von Dadeland Brautmoden in die Bäckerei«, sagte Mami und unterdrückte ein Schluchzen. »Sie hat mir erzählt, die Verkäuferinnen und einige der Stammkundinnen hätten Wetten abgeschlossen, wann Lila dort ihr vestido de boda aussuchen würde.«

Ein Hochzeitskleid? Im Ernst jetzt? Die Wut kochte wieder in mir hoch. »Mami! Merkst du eigentlich, was du da redest?« Da konnten sie mich auch gleich aufschneiden und die letzten drei Monate wie einen weiteren Anstrich blassblauer Farbe überall in meinem Zimmer verteilen.

»Aber es stimmt«, beharrte Mami. »Und es tut mir so leid.«

»Jetzt hat sich das Geschwätz geändert«, sagte Papi zu Pilar. »›Warum hat Andrés mit ihr Schluss gemacht? Wie konnte Stefanie ihre beste Freundin ohne Vorwarnung sitzen lassen? Furchtbar.‹ Die Leute reden in den bodegas, im Supermarkt, am Kiosk.«

Pilar setzte sich auf meine Bettkante. »Ich weiß. Ich hab es auch schon mitbekommen.«

Warum behandelten sie mich wie Luft? Ging es hier nicht um mein Leben? Die drei übertrieben es wirklich mit dem Oversharing, und dass sie dabei auch noch so taten, als sei ich überhaupt nicht im Zimmer, trieb mich zur Weißglut. »Genug jetzt, okay?«

Endlich sah Mami mich an. »Nein, es ist nicht genug, denn du sagst uns ja nie, wie du dich fühlst. Und wenn wir nicht wissen, was los ist, können wir dir nicht helfen.«

Ich setzte mich auf. Meine Glieder waren schwer und schmerzten. »Ich muss nicht über meine Verluste reden. Ich muss versuchen, über sie hinwegzukommen.«

»Und was, wenn das unmöglich ist?«, fragte Mami.

Unmöglich. Dieses Wort hatte ich schon mal gehört. Ich hatte es aufgeschlagen wie eine harte Kokosnussschale, und dann hatte ich das saftige weiße Fruchtfleisch genutzt, um einen Kuchen zu backen.

»Du hast deine Abuelita verloren«, sagte Papi sanft. »Den größten Teil deines Herzens.«

»Papi.« Meine Stimme klang dunkel und belegt, aber ich würde nicht weinen. Ich gönnte ihnen meine Tränen nicht. Der Schmerz war ganz real und er gehörte mir. Nur ich sollte ihn durchleiden, nur ich mich mit ihm auseinandersetzen. Über meine Verletzungen zu sprechen, machte sie nicht zu ihren, sie mussten nicht »helfen« und mir die Richtung weisen. Und jetzt wollten sie noch mehr »helfen«, indem sie mich wegschickten?

»England wird dir guttun. Diese chisme, das Brodeln in der Gerüchteküche, wird abebben, du wirst mit neuer Energie zurückkommen und –« Mamis Telefon klingelte. »Das ist Catalina.« Sie ging mit Papi aus dem Zimmer.

Ich sah Pilar an und streckte ihr hilflos die Arme entgegen. Sie musste einschreiten und dieser albernen Idee ein Ende bereiten. Und das würde sie auch tun. Wir waren schließlich ein Team: las Reyes.

Jetzt, wo ich mit der Schule fertig war, konnte ich endlich ganz in meine Rolle als Chefbäckerin und zukünftige Besitzerin der Panadería La Paloma schlüpfen, an der Seite von Pilar. Ich brauchte keinen College-Abschluss – alles, was ich brauchte, hatte ich schon von Abuela gelernt. Innerhalb eines Jahres wären wir so weit, das Geschäft zu übernehmen. Unsere Erbschaft, unsere Zukunft. Abuela hatte das Unternehmen gegründet und wir sollten es mit Beginn dieses Sommers in die Zukunft führen. Und das konnte ich von der anderen Seite des Ozeans nicht machen.

»Ich bin gespannt, was du jetzt vorhast«, sagte ich mit einem sarkastischen Lachen.

Pilar stand auf und hielt mir noch einmal das Wasserglas an den Mund. Dieses Mal gehorchte ich. »Was ich vorhabe?«

»Um dieses England-Komplott abzuwenden. Für so etwas haben wir doch keine Zeit. Wir müssen das neue Geschäftsmodell planen, das Backangebot und die Stellenbesetzung …«

»Lila.« Sie sah mich mit einem mitleidigen Blick an und wandte sich ab. »Sie haben recht. Du brauchst diese Auszeit. So wichtig du mir bist, ich muss dich gehen lassen. Nur für eine kleine Weile, okay?«

Es war, als würde jeder Schritt, den ich an diesem Nachmittag in Miami gemacht hatte, mich wieder einholen und auf meinem Brustkorb herumtrampeln. Ich zitterte am ganzen Körper. Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Nein. Nein.NEIN.

»Ich kann nicht.«

Pilar griff nach Abuelas weißer Schürze mit dem gedruckten blauen L vorne drauf. Dann legte sie die Schürze in meine Arme, die noch vor ein paar Stunden vor Schweiß und Salz getrieft hatten. »Was würde sie dazu sagen?«, fragte Pilar und deutete auf meinen vollkommen abgekämpften Körper.

»Deine Schwester hat recht, nena.« Das kam von Mami, die gerade zurück ins Zimmer trat. »Abuelita hat dir ihr Backtalent und ihre Begeisterungsfähigkeit vererbt. Mehr als nur ihre Rezepte. Das musst du würdigen, Lila. Stattdessen stehst du weinend im Tiefkühlraum. Du ruinierst deine Gesundheit, brichst dreißig Kilometer von zu Hause zusammen und jagst uns einen Riesenschreck ein. Glaubst du, sie würde wollen, dass du so weitermachst?« Tränen liefen über Mamis Wangen. »Wie kannst du zulassen, dass sie herabschaut und dich so sieht?«

Am liebsten hätte ich geschrien: Wie ich das kann? Ich kann es, weil Abuela mir ein Rezept nie beigebracht hat, nämlich das, mit dem ich meinen Schmerz hätte lindern können, als sie starb und uns viel zu früh verließ. Das Rezept für mich, als ein Junge mir das Herz brach und meine beste Freundin mein Vertrauen mit Füßen trat.

Aber was ich wirklich sagte, war: »…«

Schweigend und zitternd umklammerte ich die Schürze und hielt mich an der Erinnerung fest.

»Óyeme, mi amor«, hatte Abuela vor ein paar Monaten gesagt, als ich mich wieder einmal mit Andrés gestritten hatte. »Du liebst diesen Jungen, wie du das Backen liebst.« Sie war gerade dabei, eine Schüssel mit Mangoglasur zu rühren. »Aber manchmal gibst du zu viel von dir selbst in die Mischung, wie zu viel Zucker in ein Gebäck. Und du drehst die Temperatur zu hoch.«

Ich hatte damals etwas Spöttisches erwidert. Ihre Worte abprallen lassen.

»Mi estrellita, wenn du zu hell an seinem Himmel leuchtest, wirst du ihn ausbrennen. Wirst du selbst ausbrennen, también.«

An jenem Tag hatte ich meinen ganzen Körper ausgebrannt. Ich hatte meine eigene Temperatur hochgedreht und die Kontrolle verloren.

»Lila, du wirst nach England gehen«, hatte Mami schließlich gesagt. »Wir können das, was Abuela aufgebaut hat, nicht in deine Hände geben, wenn es dir nicht gut geht.«

Und damit hatte es sich.

Mein Lauf – die innere und äußere Erschöpfung – erstickten meine Widerworte. Als Papi sich auf der British-Airways-Website einloggte, konnte ich nichts tun, als das L auf der Schürze anzustarren.

Kapitel 4

Zwei Wochen nachdem Papi meinen Flug gebucht hat, liegt Abuelas weiße Schürze zusammengefaltet auf einem Nachttisch in England. Es ist schon mehr als einen ganzen Tag her, dass ich gelandet bin, aber ich bin bisher kaum aus dem Bett gekommen.

Ich werfe einen Blick auf den Wecker: zwanzig Uhr. Von der anderen Seite des Flurs sind schräge Synthesizerklänge und wummernde Beats zu hören. Das muss aus Gordons Zimmer kommen. Ich glaube kaum, dass Cate oder Spencer zu Musik aus den Achtzigern abrocken und gleichzeitig das Wirtshaus führen und Gäste unterhalten können. Gerade als ich die Band als Van Halen erkannt habe, hört die Musik auf. Keine zehn Sekunden später vibriert das Bass-Intro eines anderen Songs durch die dünne Holzverkleidung, die Lautstärke voll aufgedreht. Dann … setzt die Musik nach ein paar Takten wieder aus. ¿Cómo?

Mein Blick springt umher, um dann auf meinem kleinen Altar von Erinnerungsstücken zur Ruhe zu kommen. Es entspannt mich, die gerahmten Fotos und das weiße T-Shirt zu betrachten. Das verschnörkelt gestickte blaue L auf der Schürze.

Los recuerdos – solche Andenken haben eine einzigartige Kraft, eine Kraft der Liebe, der Geschichte und des Vermächtnisses. Und jetzt spricht dieses Erinnerungsstück mit deutlicher Stimme zu mir, in der Sprache meiner Kindheit und um einiges lauter als die Musik. Abuela würde nie dulden, dass ich so träge bin und mehr als einen Tag nicht aus dem Bett komme. Für sie werde ich zumindest aufstehen und auspacken.

Gerade als ich mich aus meiner Bettdecke schäle, schlägt mir eine Welle dröhnender Electro-Techno-Musik entgegen. Also gut, will mir jetzt auch noch das Universum, in der Gestalt von Gordon Wallace, sagen, dass meine Zeit des Einigelns offiziell vorbei ist? Wie auch immer – so einen Lärm halte ich nicht den ganzen Sommer über aus. Bevor ich die Tür erreicht habe, hört die Musik plötzlich wieder auf, genau wie vorhin. Ich warte darauf, dass es gleich wieder losgeht, aber es ist nichts mehr zu hören. »Hm«, sage ich zu mir selbst und mache mich ans Auspacken.

Zehn Minuten später, nachdem ich Schuhe und Kleidung auf den Schrank und die Kommode verteilt habe, bin ich schon beim zweiten Koffer. Mein Bügeleisen und meine Kosmetiktasche liegen obenauf. Aber unter meinem Bademantel finde ich eine quadratische Karte mit der vertrauten krakeligen Handschrift meiner Schwester.

Hermana, reg dich nicht auf, aber ich kenne dich.

Ich hab dich lieb und vermiss dich schon jetzt.

P

Reg dich nicht auf? Wenn Pili das zu mir sagt, ist das normalerweise eine Garantie dafür, dass ich mich aufrege, also bin ich extra misstrauisch, als ich ein dickes Paket hervorhole. Das Erste, was ich aus dem braunen Papier auspacke, ist ein schwarzer Pulli aus Merinowolle.

Ich habe keinen einzigen Pulli eingepackt.

Und es geht noch weiter: ein identischer Pulli in Grau. Ein kurzer, wasserfester Trenchcoat in Schwarz. Zwei Joggingjacken. Ein Paar dunkle enge Jeans. Zwei langärmelige Tops, eines blau-weiß gestreift und das andere einfarbig marineblau. Und schließlich ein übergroßer Schal in grau-schwarzem Leopardenmuster.

Misstrauisch durchwühle ich den Rest des Kofferinhalts. Auf der Suche nach weiteren in mein Gepäck geschmuggelten Dingen stoße ich auf die schwarzen Stiefeletten, die Pilar gekauft hat, als wir letzten Herbst in New York waren. Ich möchte sie umarmen. Ich möchte ihr einen dieser Stiefel gegen ihren runden kubanischen Hintern schleudern. Da keines von beidem möglich ist, breche ich mein schwesterliches Schweigen und greife nach meinem Telefon.

Der Lockscreen leuchtet auf: vier Sprachnachrichten und sechzehn Textnachrichten von Mami. Nichts von Pilar.

»Du hast es gewusst, Pili!«, sage ich, als das ovale Gesicht meiner Schwester auf dem Facetime-Bildschirm erscheint. Sie sitzt in Papis schwarzem Ledersessel im Büro der Panadería.

»Hallo erst mal«, sagt Pilar. »Totale Funkstille für zwei Tage und du hast nicht einmal ein Wort der Begrüßung für mich übrig?«

»Ich hab dir und Mami doch gleich nach meiner Landung eine Nachricht geschickt.« Ich wedele mit dem schwarzen Pulli vor dem Telefon. »Du hast es gewusst.«

»Was, dass du nicht ordentlich packen würdest?«

Ich stoße ein verächtliches Schnauben aus.

»Und«, fährt sie fort, »dass ich in deinem Koffer nichts als lascamisas pequeñas und Sommerkleider finden würde? Natürlich habe ich das gewusst. Und ich hatte recht. Ein englischer Sommer ist kein normaler Sommer. Mami hat dir gesagt, worauf du dich einstellen musst, Cate hat es dir gesagt und ich hab es dir gesagt, pero –«

»Ich werde anziehen, was ich will.«

Sie seufzt. Ich kann ihren heißen Atem fast spüren. »Winchester ist nicht Miami.«

Ich durchbohre den Bildschirm mit bösen Blicken.

»Lila, glaubst du etwa, ich weiß das nicht? Wir beide ohne einander, das ist nicht richtig, aber es war der einzige Weg.«

»Ich hatte alles im Griff«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Alles im Griff? Du bist einfach verschwunden, und Papi hat dein Auto auf dem Parkplatz gesehen und gedacht … na ja, was hättest du an seiner Stelle gedacht? Und als ich dich dann gefunden hab … in dem Zustand … Dios, Lila, das sah nicht so aus, als hättest du alles im Griff.«

Es kommt selten vor, dass Pilar weint. Sie wägt ab und analysiert die Dinge. Sie organisiert und strukturiert. Das ist einer der Gründe, warum wir so gut zusammenarbeiten. Ich träume und kreiere mit Augen, die größer sind als jeder Magen. Und dann mache ich Leckereien, mit denen sich alle die Bäuche vollschlagen, während Pilar tausend Wege findet, sie zu verkaufen. Doch jetzt schnieft und trieft sie wie ein tropfender Wasserhahn, und mir wird klar, wie dumm ich war, zu glauben, dass ich die ganze Zeit als Einzige traurig war. Dass ich die Einzige war, die ihre Abuela verloren hatte.

»Hör auf, Pili. Ich weiß, dass ich euch einen Schrecken eingejagt hab. Ich will einfach nur wieder nach Hause.« Nach Hause, wo ich die Scherben wieder zusammenfügen kann.

Sie bläst in ein Taschentuch wie in ein Nebelhorn. »Dein Zuhause hat dir aber in letzter Zeit nicht gutgetan. Das hast du uns bewiesen, okay?«

»Die Panadería –«

»Darüber haben wir doch schon x-mal gesprochen. Angelina wird schon zurechtkommen.«

Ich traue der neuen Bäckerin nicht, die erst seit ein paar Monaten bei uns lernt. »Übergangsweise.«

»Claro. Es werden immer wir beide sein. Aber ich brauche meine Schwester zurück. Nimm dir eine Auszeit und lass Cate sich um dich kümmern.« Sie putzt sich noch einmal die Nase und beugt sich vor. »Also, wie ist es dort so?«

»Du meinst draußen? Kann ich dir nicht sagen.«

»Das hätte ich mir denken können – bei diesem Krähennest auf deinem Kopf. Aber zwei Tage!«

»Ich werde schon noch …« Ich stoße einen tiefen Seufzer aus. »Morgen, okay?«

Musik übertönt ihre Antwort. Diesmal ist es ein schräger Gitarrenriff. »Gordon«, erkläre ich der verwirrt dreinschauenden Pilar.

»Klingt wie Gimme Shelter«, stellt sie fest.

»Wenn du das sagst.« Pilars Faible für klassischen Rock, besonders in Schallplattenform, ist etwas, das wir nicht teilen. »Er ist schon die ganze Zeit dabei –« Die Musik verstummt noch einmal. »Keine Ahnung, was er da macht, aber ich werde jetzt dafür sorgen, dass er sofort damit aufhört. Ich ruf dich morgen wieder an.«

»Espérate.« Pilar hält eine Hand hoch, damit ich sie noch nicht wegklicke. »Die neuen Klamotten sind doch schön, oder?«

»Sie sind grauenhaft«, sage ich, aber ich kann nicht aufhören, über die weiche Merinowolle zu streichen.

Sie stößt ein tränenersticktes Lachen aus. »Du versuchst doch schon seit Monaten, mir meine Stiefel abzuluchsen.«

»Sí, pero das bedeutet nicht, dass ich sie tragen werde.«

Die Mundwinkel meiner Schwester zucken. »Aber du wirst sie wenigstens in den Schrank räumen. Und die Tops und die Jacke auch.«

Und dann fällt auch mein beherrschter Gesichtsausdruck in sich zusammen. »Vielleicht.«

Dreißig Sekunden nachdem ich aufgelegt habe, dreht Gordon schon wieder die Musik auf. Diesmal renne ich auf den Flur und klopfe an seine Tür. Nach Klopfen versuche ich es mit Poltern und Schreien. Endlich hört der Lärm auf und der rücksichtslose DJ reißt seine Tür auf. Seine dunkelroten Haare – die hat er von seinem Dad – trägt er in einem zerzausten kleinen Pferdeschwanz im Nacken.

»Hi. Du bist also doch nicht tot.« Er hat einen Buntstift in der Hand.

Ich ignoriere die Bemerkung und stammele: »Also, die Musik.«

»Was ist damit?«

»Die Lautstärke.« Ich unterstreiche meine Worte mit einer ausladenden Geste. »Es ist einfach ein bisschen viel. Viel Lautstärke.«

Es ist, als würde mitten in seinem Kopf eine Glühbirne aufleuchten. »Aaah. Wir sind hier oben ziemlich schallisoliert, und ich bin es nicht gewohnt, dass noch jemand anders auf diesem Flur ist.«

»Ich hab mich hier nicht einquartiert.«

Gordon kratzt sich mit der Rückseite seines Zeichenstifts an der Schläfe. »Okay, nun, die Musik hilft mir, in eine bestimmte kreative Stimmung zu kommen.«

»Könnte vielleicht auch eine ruhigere Variante der gleichen Musik deine Kreativität befeuern – für was auch immer?«

»Oh. Für das hier.« Er tritt zur Seite und macht eine einladende Handbewegung.

Und … wow. Seine Wände sind übersät mit gerahmten Bleistiftzeichnungen von Häusern in allen erdenklichen architektonischen Stilrichtungen. Aufwendige Details und farbenfrohe Gartenausschnitte vervollkommnen jedes Bild. »Die hast du alle gemalt?«

Er deutet mit einem Kopfnicken auf einen Zeichentisch, auf dem diverse Messwerkzeuge bereitliegen, ein Regenbogen von bunten Stiften und ein neues Blatt elfenbeinfarbenes Pergamentpapier. »Über die Jahre, ja. Es ist eine Art Hobby für mich.«

Ich gehe an Gordons winziger Häuserreihe entlang, vorbei an Steincottages, an viktorianischen Gebäuden und Häusern aus der Tudor-Zeit. In der Nähe des Fensters entdecke ich einen schwarzen Crosley-Plattenspieler mit Lautsprechern. In einem Regal stapeln sich Schallplatten und warten auf Gordons Dezibel-Missbrauch. »Ah, daher kommt der Lärm.«

Er kommt auf mich zu. »Sorry wegen dem ständigen An und Aus. Ich hab einfach nicht genau den richtigen Song gefunden, weißt du? Ich versuch, das nicht mehr so oft zu machen.«

»Danke.« Ich nehme eine Rolling-Stones-LP in die Hand, auf der auch Gimme Shelter ist. »Pilar sammelt auch solche. Sie ist immer auf der Suche nach seltenen Schallplatten.«

»Es ist der Wahnsinn, wie viel für manche bezahlt wird. Wir haben einen Plattenladen hier – Farley’s. Der ist so gut, dass die Leute sogar von weit her kommen, um dort zu stöbern. In der Innenstadt, gleich um die Ecke von der High Street.«

Das merke ich mir gleich für Pilar, bevor ich mir den Rest von Gordons Kunstwerken ansehe. Vielleicht ist es die Farbe oder die Form, aber ein zweistöckiges Gebäude in einem hellen Pfirsichton mit Terrakottadach spricht mich besonders an. Zarte Palmwedel schwingen über der umgrenzten grünen Rasenfläche und pinkfarbene Bougainvillea-Ranken klettern über den hellen Stuck. Ich wirbele herum. »Ist das etwa …?«

Er hebt das Kinn. »Ich dachte mir schon, dass dir das am besten gefallen würde. Direkt aus Miami – Coral Gables, wenn ich das von meinem letzten Besuch richtig in Erinnerung habe. Ich mochte den Stil und die Farben.«

Zuhause. Mein Herz springt sofort darauf an. Dann mache ich einen Schritt zurück und betrachte die gesamte Wand. Neben der Coral-Gables-Zeichnung erkenne ich eine perfekte Nachempfindung des Owl & Crow und ein kleines Fachwerkhaus. Zwischen Herrenhäusern aus Backstein und reetgedeckten Cottages wirkt das pfirsichfarbene Stuckhaus vollkommen fehl am Platz.

Kapitel 5

Dafür, dass ich total spät eingeschlafen bin, wache ich am nächsten Morgen viel zu früh auf. Nach drei Tagen weigert sich mein Körper weiterhin, sich nach den Uhren hier zu richten. Wie mein ganzes bisheriges Leben lang schwinge ich noch immer mit dem Uhrenpendel der östlichen Zeitzone. Meine steifen Beinmuskeln protestieren, als ich die Treppe hinuntergehe. Der goldverzierte Spiegel im Foyer des Owl & Crow sagt mir, dass meine Augen sterbensmüde und verquollen aussehen.

Da nun mal klar ist, dass ich in nächster Zeit nicht zurück nach Miami komme, brauche ich etwas in England, das mir gehört. Necesito correr. Ja, ich muss unbedingt laufen.

Mein Joggingoutfit habe ich immerhin eingepackt. Über meine halblangen Sportleggings und das Trägerhemd ziehe ich ein langärmeliges Synthetik-Top. In meinem Schrank hängen auch zwei Joggingjacken (Pilar), aber die brauche ich in Miami so gut wie nie. Und hier brauche ich sie auch nicht.

Andere Frühaufsteher gehen vorbei, als ich in der Eingangshalle meine Aufwärmübungen mache. Mein Handy steckt in der Reißverschlusstasche an meinen Leggings. Seit Wochen versuche ich Instagram zu meiden, erst wegen Andrés und jetzt wegen Stef. Aber nach so viel Heimweh und Stille juckt es mir in den Fingern, nur einmal die Seite anzuklicken, die vor gar nicht langer Zeit genauso viel von meinem Leben enthielt wie von seinem. Hat Andrés schon eine neue Freundin?

Der Gedanke drängt sich immer mehr auf, aber der Schwur, den ich Pilar gegeben habe, hält dagegen.

Ich habe Pili geschworen, dass ich mit dem Insta-Stalking aufhöre. Ich habe versprochen, nach vorn zu schauen, auch wenn meine Füße eigentlich keinen Schritt nach vorn machen wollen. Aber ein Versprechen gegenüber meiner Schwester bedeutet etwas, auch wenn mich das fuchst. Also bleibt das Handy in der Tasche und ich mache weiter mit meinen Dehnübungen.

Zwei kreischende Mädchen mit Zöpfen flitzen vor ihren Eltern die große Treppe hinauf. Die Luft ist in Bewegung geraten und es duftet nach Gebäck. Ich kann nicht widerstehen. Statt nach draußen zu gehen, laufe ich den gegenüberliegenden Korridor entlang. Die süße Duftspur führt zu einer breiten Schwingtür mit einem Guckfenster. Die Küche.

Qué hermosa. Hinter der Tür befindet sich die offiziell zweitschönste Küche, die ich je gesehen habe. Nur der Anblick unserer Küche in der Panadería La Paloma lässt mein Herz noch höherschlagen. Eine Reihe von Glashängelampen erhellt einen weitläufigen Raum. In der Mitte steht eine Kücheninsel mit rustikaler Holzplatte, auf der jemand beim Teigausrollen weißen Mehlstaub hinterlassen hat. Mein Blick fällt auf französische Nudelhölzer, Rührschüsseln aus Glas, Vorratsbehälter und offene Regale, auf denen Geschirr, Kochutensilien und Töpfe in allen Größen stehen. Ich gehe auf den Etagenofen zu, in dem vier ovale Brotlaibe aufgehen und braun werden wie die Sonnenanbeter in Miami. Dieser Duft …