Zukunft der Aufführung -  - E-Book

Zukunft der Aufführung E-Book

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Beschreibung

Im Zentrum von Erika Fischer-Lichtes theaterwissenschaftlichem Schreiben steht der Begriff der Aufführung. Die Beiträge dieser Festschrift zeigen, wie heute in der Theaterwissenschaft und in den Performance Studies mit dem Aufführungsbegriff gearbeitet wird, welche Tendenzen der Veränderung von Aufführungen aktuell zu beobachten sind und welche Perspektiven der Begriff für die Zukunft eröffnet.

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Seitenzahl: 488

Veröffentlichungsjahr: 2023

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herausgegeben von Friedemann Kreuder und Matthias Warstat   unter Mitarbeit von Stephanie Amarell, Stefanie Hampel, Antonia Ruhl und Kaya Wittrock

Zukunft der Aufführung

Festschrift für Erika Fischer-Lichte

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057854

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

ISBN 978-3-7720-8785-1 (Print)

ISBN 978-3-7720-0242-7 (ePub)

Inhalt

1. Resonanzen/AffekteAlles vergessen? Zeitfolgen – Resonanzräume von Aufführungen (Christel Weiler)„Si vis me flere…“. Emotionen als Chance und Herausforderung für die Theaterhistoriographie (Clemens Risi)Ästhetik der Rührung. Der Aufführung heftige Wirkungen (Natascha Siouzouli)2. Praxeologie von Kunst und AlltagWearing Masks. Maskeraden in Performance und Alltag (Gabriele Brandstetter)Aufführung und Improvisation. Szenarien der Zukunft (Christopher Balme)Vom Üben als Wissenspraxis (Barbara Gronau)Mehr Leben im Museum? Zum Verhältnis des Institutionsbegriffs „Museum“ und performativer Kultur (Christian Horn)3. Zugänge, Differenzen, CrossoverThe future is fe:male*. Queer-feministische Entwürfe von Zukünftigkeit (Jenny Schrödl)The future is accessible. Über Theater, Inklusion und Aufführungsanalyse (Benjamin Wihstutz)Anziehen, ausziehen, umziehen. Kostüme im Theater und die Aufführung als kritische Praxis (Jens Roselt)Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen. Pelenakeke Browns Enter // Return (2022) (Torsten Jost)4. Theatralität und FormStaging Differences. Erforschung zeitgenössischer experimenteller Theaterformen als ethnographisch erweiterte Aufführungsanalyse (Friedemann Kreuder)Jenseits der Aufführung. Überlegungen zur szenisch-medialen Praxis der Gesellschaft Jesu in der Frühen Neuzeit (Peter W. Marx)Theaterform und Aufführung. Beobachtungen zum theatralen Formwandel (Matthias Warstat)5. Neue Medialität(en)Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film?. Reminiszenzen an die Dekade um das Millennium (Andreas Kotte)Asynchron - Hybrid - Phygital. Fragmente einer erweiterten Aufführungsterminologie (Ramona Mosse und Nina Tecklenburg)Aufführungen als soziales Beziehungsgeschehen (Doris Kolesch)Autorinnen und Autoren

Vorwort

Im Zentrum von Erika Fischer-​Lichtes Ästhetik des Performativen und überhaupt ihres theaterwissenschaftlichen Schreibens steht der Begriff der Aufführung. Von einer Aufführung kann nach ihrem Verständnis dann gesprochen werden, wenn Agierende und Zuschauende zur selben Zeit im selben Raum zusammenkommen und in eine Beziehung zueinander treten. Demnach finden sich Aufführungen beileibe nicht nur im Theater – aber gerade auch dort. Diese Festschrift für Erika Fischer-​Lichte soll danach fragen, wie heute in der Theaterwissenschaft und in den Performance Studies mit dem Aufführungsbegriff gearbeitet wird, welche Tendenzen der Veränderung von Aufführungen aktuell zu beobachten sind und welche Perspektiven der Begriff für die Zukunft eröffnet.

Insbesondere folgende Leitfragen sollen erörtert werden: Wie wird der Aufführungsbegriff in der Beschäftigung mit dem Gegenwartstheater und der Theatergeschichte heute verwendet, wie kann er auf neue Weise fruchtbar gemacht werden? Welchen Stellenwert haben Aufführungen heute in der Gesellschaft, wie ändert sich ihre Funktion im Wandel von medialen Konstellationen und Öffentlichkeiten? Welchen Beitrag kann der Aufführungsbegriff für die Auseinandersetzung mit interdisziplinären und transkulturellen Zukunftsfragen der Geistes- und Sozialwissenschaften leisten? Seit den 1980er Jahren arbeitet Erika Fischer-​Lichte mit vielen Kolleginnen und Kollegen, von denen nur einige wenige in diesem Band versammelt sind, national wie international an diesen Fragen und überhaupt an einer Weiterentwicklung aufführungstheoretischer und -analytischer Zugänge zu Theater und Performance. Diese Arbeit setzt sich fort – und bis heute ist Erika Fischer-​Lichte eine leidenschaftliche Impuls- und Ratgeberin für alle, die performative Kulturen in Kategorien der Aufführung untersuchen und verstehen möchten.

Das Fach Theaterwissenschaft hat durch den Aufführungsbegriff ein terminologisches Fundament erhalten, das uns heute hineinträgt in eine Welt hybrider, vielfältig verflochtener medialer Dispositive, polyphoner kultureller Codes und intersektional konfligierender Perspektiven. Die Digitalisierung ändert nichts daran, dass es Aufführungen gibt, allerdings scheint sie den Charakter von Aufführungen nachhaltig zu transformieren. All diese Veränderungen der Gegenwart kommen in den Sinn, wenn man über die Zukunft der Aufführung nachdenkt. Auch wenn sich Aufführungen im Hier und Jetzt entfalten, ist ihnen Zukünftigkeit immer schon eingeschrieben. Niemand weiß das besser als die Jubilarin, der diese Festschrift gewidmet ist.

 

Friedemann Kreuder / Matthias Warstat

1. Resonanzen/Affekte

Alles vergessen?

Zeitfolgen – Resonanzräume von Aufführungen

Christel Weiler

1

Wie lässt sich „Zukunft der Aufführung“ denken? Die Frage kann unterschiedlich verstanden und entsprechend umformuliert werden, beispielsweise so: Wie wird in Zukunft möglicherweise eine Aufführung im Theater aussehen? Wird es Roboter auf der Bühne geben? Werden die Bühnenräume nur noch digital hergestellt werden? Wird die Technik menschliche Schauspieler:innen überflüssig machen? Usw. usf., d.h., es lässt sich mit Vergnügen spekulieren, was wohl in Zukunft das Theater ausmachen wird. Interessanterweise – wenn man die Frage so stellt – sind es häufig nicht-​menschliche Akteure, die über die Aufführung in Zukunft entscheiden werden. Die Frage könnte somit auch präzisiert werden: Welche Rolle werden in Zukunft materielle Agenzien auf der Bühne spielen? In welchem Verhältnis zueinander werden sich nicht-​menschliche und menschliche Akteure befinden? Man kann es drehen und wenden, wie man möchte: Es geht hier um die Möglichkeit von Inszenierung als Grundlage für Aufführungen und ihre diversen – auch räumlichen – Ausgestaltungen. Also noch einmal von vorne: Zukunft der Aufführung, wie lässt sich dies denken? Vielleicht ist es Unsinn, diese Frage zu stellen. Vielleicht ist es aber auch die Frage schlechthin, die mit den Formen von Theater, so wie wir sie kennen, unauflöslich verbunden ist.

2

Lässt man die materiale Grundlage zunächst beiseite und betont eher das Gegenwärtige, die Ereignishaftigkeit, die Lebendigkeit von Aufführung (im Gegensatz zu einer möglichen Aufzeichnung), um nur ein paar der zahlreichen Eigenschaften zu nennen, die einem Aufführungsgeschehen zugeschrieben werden – dann scheint es auf einen ersten Blick hin vermessen, nach der Zukunft zu fragen. Es ist, als ob man fragen würde: Wie wird sich Leben in Zukunft ereignen? Wie wird sich künftig Lebendigkeit gestalten? Wie werden in Zukunft Ereignisse geschehen? Auf diese Fragen kann man mit Fug und Recht antworten: wer weiß? Das Leben ist voller Überraschungen. Wir wissen nicht, wie es künftig aussehen wird. Und was heißt schon künftig? Wann soll diese Zukunft stattfinden? Morgen? In einem Monat? In einem Jahr? In zehn Jahren? Allerdings darf man auch fragen: Wie ‚lebendig‘, wie gegenwärtig ist das Theater denn tatsächlich? Was heißt schon ‚lebendig sein‘? Bedeutet es, dass Theater mit unserem Leben, mit unserem gegenwärtigen Dasein auf mehr als eine Weise verbunden ist? Dass es uns anspricht, einen Resonanzraum erzeugt? Was hat es auf sich mit Text, mit Proben und immer wieder mit den Elementen, die von Dauer und vergänglich zugleich sind wie Kostüme und Requisiten? Was hat es auf sich mit der Materialität, die das Aufführungsgeschehen auch ausmacht und mit ihrer jeweiligen Lebendigkeit eng verbunden ist? Nicht zuletzt darf man fragen: Welche Rolle spielt das Theater künftig in der Gesellschaft, für die Kultur und für wen wird es tatsächlich von Belang sein? Wohin wirkt sich seine Ereignishaftigkeit aus? Who knows? Shakespeare und die synkopische Zeit im Sinn, die in Hamlet zum Thema wird, richtet Rebecca Schneider (2011) ihr Augenmerk auf die in den Performance Studies/in der Theaterwissenschaft immer wieder hervorgehobene „Liveness“ des Theaters im Unterschied beispielsweise zu Filmaufnahmen. Auf sehr präzise Art und Weise zeigt sie, wie komplex die einer Aufführung innewohnenden Zeitverhältnisse zu denken sind. Auch wenn beispielsweise das dramatische, einem Text folgende Theater gegenwärtig nicht mehr ausschließlich die Bühnen beherrscht und unterschiedliche Zeitebenen, die an dramatis personae gebunden sind, nicht vorherrschen mögen, so ist doch jeder Aufführung auf einer Bühne etwas vorgängig. Selbst das postdramatische Theater und seine Betonung des Performativen kommt ohne einen Ablaufplan nicht aus, selbst die Improvisation braucht einen Vor-​satz, ein vorheriges Bedenken und erlernte Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Liveness der Mehrheit der Aufführungen ist Ergebnis von Proben, endlosen Wiederholungen, die im Moment der Aufführung auf besondere Weise er-​innert, ver-​körpert und präsent sind. Ganz zu schweigen von den Geschichten, die erzählt werden und die ihre je eigenen Zeitstrukturen entfalten. Somit eignet dem Gegenwärtigen, dem Aufführungsgeschehen im Hier und Jetzt, stets ein Bezug zu etwas, das ihm vorausgeht, es enthält Elemente von Geschichte, die längst nicht ‚vergangen‘ sind. Es scheint also verkürzt, nur zu fragen, welche Arten von Zukünftigkeit dem Begriff von Aufführung, Aufführungen selbst eingeschrieben sind, sondern man müsste logischerweise auch fragen, welche damit verschränkten Momente des Bewahrens, der Archivierung, des bereits schon einmal Gewesenen, welche Möglichkeiten des Lebendig-​Haltens usw. mit Aufführungen einhergehen. So gesehen oszilliert ein jegliches Aufführungsgeschehen in einem Zeit-​Raum-​Gefüge, welches Gegenwärtigkeit auf der Grundlage von ‚Vergangenem‘ generiert, die Aufführung selbst bringt Zeitlichkeit in ihrer Komplexität erst hervor. Dennoch könnte man sich natürlich darauf fokussieren, dass dieses Geschehen sich unmittelbar und leibhaftig vor unseren Sinnen abspielt, nicht vorher in einem anderen Medium aufgezeichnet wurde. Eine Definition von Aufführung vorzunehmen, indem man sie von medialen Aufzeichnungen abgrenzt, ist jedoch nicht zuletzt selbst einem historischen Moment geschuldet. Philip Auslander weist darauf hin, dass die Idee von Liveness erst entstand, als die Möglichkeit der medialen Aufzeichnung zeitgleich gegeben war: „[…] live performance cannot be said to have ontological or historical priority over mediatization, since liveness was made visible only by the possibility of technical reproduction. […] The live can exist only within an economy of reproduction.” (Auslander nach Schneider 2011: 91) Zudem verweisen ,Lebendigkeit‘ (was man auch mit liveliness übersetzen könnte) und ‚Liveness‘ im Gegensatz zu ‚recorded‘ durchaus auf verschiedene Bedeutungsräume. Dies gilt es zu bedenken, selbst wenn sich mittlerweile die Sprachen vermischen, das Deutsche und das Englische keine klaren Grenzen ziehen, sondern ineinanderfließen. Kurz gefasst könnte man sagen: ‚Liveness‘ verweist aus unserer Perspektive auf den gegenwärtigen Moment, auf das Hier und Jetzt, auf das, was sich unmittelbar vor den Sinnen abspielt. In diesem Sinne war und ist Theater, ist eine Aufführung immer schon ‚live‘. Im Gegensatz zu ‚Lebendigkeit‘ zielt dieses ‚live‘ sein nicht in erster Linie auf Bewertung. Liveness im Sinne von Gegenwärtigkeit kann dennoch durchaus ‚tödlich‘ sein, wie Peter Brook sehr eindrucksvoll in seinem Buch Der leere Raum beschreibt und damit auf Erstarrtes, Mechanisches, Automatisches verweist, das jeder Form von gegenwärtiger Aufführung durchaus auch zugrunde liegen kann. ‚Lebendigkeit‘ hingegen könnte ein Sprühen, Flirren, Bewegung, Unberechenbarkeit, Überraschung meinen, etwas, das unverfügbar scheint, sich gerade jetzt entfaltet, tatsächlich nur dem Augenblick und seinem Vergehen geschuldet. Interessanterweise verwendet Brook selbst diesen Begriff nicht, wenn er diese Phänomene des Theaters reflektiert. Er spricht stattdessen vom „heiligen“, vom „derben“ und dem „unmittelbaren“ Theater (dead, holy, rough and immediate), wobei „unmittelbar“ eben das Theater bezeichnet, dem er sich verpflichtet fühlte und das seiner Praxis als Theatermacher entsprach (Brook 1985).

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Bleiben wir bei Peter Brook, der im Juli 2022 mit 97 Jahren verstarb. Wer – wenn man das Glück hatte, dabei gewesen zu sein – erinnerte sich nicht an eine Brook-​Inszenierung? Mahabharata, Carmen, The Tempest, L’homme qui, Hamlet, wie sie alle hießen… Man spricht von diesen Arbeiten als von Meilensteinen der Theatergeschichte. Welche Spuren haben sie hinterlassen? Wie haben sie als Ereignisse in eine damals noch unbekannte Zukunft hineingewirkt? Wo und wie hat sich ihr Zukunftspotential entfaltet? Die künftige Brook-​Forschung wird sich sicher dieser Fragen annehmen. Man wird das Konzept des „leeren Raums“ im Theater des 20. Jahrhunderts verfolgen, das Weiterwirken der Innovationen in seiner Opernregie, die Diversität der Zusammensetzung seiner Ensembles; man wird vielleicht die Gruppe Forced Entertainment als gelehrige Schüler:innen des Meisters betrachten, wenn es um Shakespeare-​Inszenierungen geht oder die Fähigkeit, mit dem zu arbeiten, was gerade ‚at hand‘ ist, wie dies auf so wunderbare Weise im Shakespeare-​Zyklus von Forced Entertainment der Fall gewesen ist. Vielleicht also – wenn es um die Zukunft der Aufführung geht – muss man sich immer wieder nach hinten wenden, in die Vergangenheit zurück. Der Wind weht aus dem Paradies heraus… Wäre es somit in erster Linie die Theaterhistoriographie, die dazu beitragen könnte, einen Blick ins verlorene Paradies zu erhaschen, um so Künftiges zu denken, zu inspirieren und zu gestalten? Brook selbst sagte in einem Interview: „Man sollte alles, was mit dem Theater zusammenhängt, nicht so ernst nehmen. …Was wir tun ist ein Spaß! Wir sind keine Professoren, sind nicht Goethe und Shakespeare – und darum sage ich, wenn Sie mich fragen, woran ich mich erinnere: An nichts! Das Theater ist dazu gemacht, dass es vergeht.“ (Laages 2010) Die versteckte Koketterie und der Hintersinn, der mit dieser Bemerkung einhergeht, lassen sich schnell entlarven. Letztlich war Brooks Art des Nicht-​Erinnerns für den Regisseur, den Theatermacher eine Notwendigkeit, um immer wieder neu beginnen zu können, um die Flamme immer wieder neu zu entzünden, die es seiner Auffassung nach braucht, um eine lebendige Arbeit zu erzeugen. Dies zeigt sich deutlich in seinen Bemerkungen zu Shakespeares The Tempest/Der Sturm, den er mehrere Male auf je unterschiedliche Weise inszeniert hat, zum Umgang mit Proben und Vorbereitungen dazu. Das Nicht-​Erinnern ist die Grundlage für wachzuhaltende Neugier und Forschungsdrang; das Nicht-​Erinnern schafft die Voraussetzung für Künftiges. „Im Theater ist jede Form, die einmal geboren ist, sterblich, jede Form muss neu konzipiert werden, und ihre neue Konzeption wird die Zeichen aller Einflüsse tragen, die sie umgeben. In diesem Sinne ist das Theater ein Stück Relativität.“ (Brook 1985: 20) In diesem Kontext wäre auf eine spannende Differenz hinzuweisen, nämlich auf den Unterschied zwischen ‚nicht erinnern‘ als einem bewussten Akt, der sich in ein Erinnern verwandeln ließe und ‚vergessen‘ als etwas, was wir uns kaum vornehmen können, sondern uns widerfährt.

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Den Einwänden Brooks zum Trotz: Der gegenwärtige, individuell oder auch gemeinschaftlich erfahrene Moment und die Fähigkeit, sich künftig zu erinnern sind zuweilen eng verzahnt. Man sagt dann: Etwas hat Spuren hinterlassen. Sowohl die Theaterkritik als auch die Theaterwissenschaft und hier beileibe nicht nur die Aufführungsanalyse, um die es im Folgenden partiell gehen wird, machen sich dieses Phänomen auf je unterschiedliche Art und Weise zu eigen, indem sie das Erleben eines Aufführungsgeschehens versprachlichen bzw. verschriftlichen und es so – zumindest vorübergehend – einem möglichen Vergessen entziehen. Wenn man so möchte, ist in diesen Transformationen in Sprachlichkeit und Schrift eine wie auch immer sich entfaltende Zukunft der Aufführung angelegt. Wahrscheinlich begann, beginnt jede Theaterkritik als eine Art Erinnerungsprotokoll – man setzt sich hin, lässt die Bilder, Töne der Aufführung/von Aufführungen noch einmal vor dem inneren Auge und Ohr auferstehen, nimmt andere Materialien zu Hilfe – Programmhefte, Bilder, Zeitungsberichte –, die das Nach-​Denken unterstützen können und den Wahrnehmungen, Gefühlen und kritischen Einwänden einen Rahmen, eine Grundlage verleihen. So gesehen sind Erinnerungsprotokolle oder Erinnerungsnotizen nichts Neues. Für die Theaterwissenschaft jedoch, als methodisch ersten Schritt der Aufführungsanalyse, lassen sich so genannte Erinnerungsprotokolle in die frühen neunziger Jahre zurückverfolgen. In der Lehre der Autorin erfolgte die Etablierung dieser Praxis am Institut für Theaterwissenschaft der Universität in Mainz. Die Möglichkeit der Videodokumentation von Aufführungen war zwar schon gegeben, aber noch längst nicht selbstverständlich, ganz zu schweigen von heimlich per Smartphone gefilmten Sequenzen. Das mit den eigenen Augen und Ohren Aufgenommene wurde in den 1990er Jahren nach dem Aufführungsbesuch zu Papier gebracht – in welcher Form auch immer. Es gab keine Vorschrift dafür, wie die Erinnerung zu erfolgen hatte. Sie konnte an jedem Punkt eines Aufführungserlebnisses beginnen, sich von hinten nach vorne arbeiten, fragmentarisch sein. Mit dem Ausdruck des Erinnerten wurde durchaus auch experimentiert. Es gab Semester, in denen das Erinnerungsprotokoll nicht unbedingt eine schriftliche Form annehmen musste, sondern sich in einem Nachbau der Bühne, in einem Bild artikulieren durfte. Das Schreiben selbst und jede andere Art nachträglicher Beschäftigung mit der Aufführung, so wurde deutlich, half wiederum der Erinnerung auf die Beine. Mittlerweile hat sich diese Ausgangssituation zwar geändert, es gibt nahezu von jeder Aufführung Video-​Aufzeichnungen, Mitschnitte etc., aber das Verfassen von Erinnerungsprotokollen wurde als Schritt zur Aufführungsanalyse beibehalten. Im Berliner Institut für Theaterwissenschaft liegt mittlerweile eine Sammlung von Aufzeichnungen vor, die bis 1996 zurückgehen. Alle Protokolle sind Aufzeichnungen dessen, was von Studierenden unterschiedlicher Jahrgänge erlebt, wahrgenommen, gehört, gesehen wurde, in einen gedanklichen Kontext, Horizont gestellt, sich an der Gestaltung eines Diskurses beteiligt hat. Die Verschriftlichung musste auch hier keinem bestimmten Muster folgen, sie konnte ein Gedicht sein, eine Liste, ein kohärenter Text, die Form einer Kritik annehmen – je nach Vermögen und Belieben. Natürlich gab es Widerstände gegen diese verordnete Erinnerungsarbeit. Warum soll ich darüber schreiben, wenn ich es doch gesehen habe? Weshalb soll ich für eine weitere Beschäftigung mit der Aufführung keine Videoaufzeichnung verwenden? Auf der Verschriftlichung wurde bestanden, weil Schreiben nicht nur für eine Möglichkeit gehalten wird, sich mitzuteilen, den Fluss der Gedanken und Eindrücke zu ordnen, sich darüber bewusst zu werden, es hat auch eine eigene Dynamik, es bahnt (sich) einen eigenen Weg durch die Gehirnwindungen… Zukunft der Aufführung und Erinnerungsfetzen also – was lässt sich damit beginnen, welches Zukunftspotential lässt sich daraus entfalten? Ich mache ein Experiment und wähle aus der Fülle des Materials den Ordner WS 1999/2000. Nachträglich schien mir diese Entscheidung gerechtfertigt dadurch, dass möglicherweise die Jahrtausendwende einen interessanten Rahmen abgeben könnte für die Vielfalt der aufgeschriebenen Eindrücke. Ich hatte weder eine Vorstellung davon, wer damals meine Seminare besucht hatte, noch war mir in Erinnerung, welche Aufführungen wir damals gemeinsam besucht hatten. Bei der ersten Sichtung des Ordners sah ich dann, dass Protokolle vorlagen zu Volksbühnen-​Inszenierungen (keine besondere Überraschung) und einige Namen der Teilnehmer:innen kamen mir durchaus auch bekannt vor, bzw. ich konnte sie mit einem Gesicht verbinden. Letzteres, wie auch die Tatsache, dass manche Protokolle in getippter Form vorlagen, manche handschriftlich verfasst, dürfte für die weitere Beschäftigung mit dem Material zunächst unerheblich sein. Bezeugt ist, dass wir uns gemeinsam Trainspotting, Gespenster, Schmutzige Hände und Dämonen angeschaut haben. Romanverfilmung, bekannte dramatische Literatur und ein weiterer Roman als Ausgangsmaterialien, typisch für die Volksbühne damals. Die jetzt interessante Frage lautet allerdings: Wohin führt dieses Material heute, im Jahr 2022? Was kann damit in welche Zukunft hinein beginnen? Welche Art von Transformation lässt sich aus dem Niederschlag der Aufführungen in Text und Schrift jetzt anstoßen? Ca. 50 unterschiedliche Stimmen (?) aus einem Wintersemester, die sich artikulieren in Aufzeichnungen zu drei Castorf-​Arbeiten und einer Inszenierung von Sebastian Hartmann. Um welche Art von Aufführungen geht es hier und jetzt? Um die vergangenen Ereignisse? Oder nicht vielmehr in erster Linie um Tänze von bits und pieces, von Erinnerungsfragmenten? Tatsache ist: Ich hatte alles vergessen: die Namen der Studierenden, die Aufführungen, den von mir gesetzten Schwerpunkt im Analyse-​Seminar. Durch das Herausgreifen des Ordners und durch die erste Lektüre der einzelnen Niederschriften entstand jedoch ein vages Bild unterschiedlicher Ereignisse, dem durch weitere Durchsichten immer wieder etwas hinzugefügt wurde. Es tauchten Details auf, Aha-​Momente, ja ja, jetzt fällt es mir wieder ein, und natürlich, so war das… Als würde ich in einem Album blättern… Mit welcher Frage jedoch, die über individuelle persönliche Erinnerungen hinaus reicht, würde ich sinnvoll an die Aufzeichnungen herantreten können? Welcher gegenwärtige Impuls könnte sie lebendig halten, ihnen ein Fortleben ermöglichen? Sollte die Vielzahl der Stimmen maßgeblich sein? Das ergäbe ein interessantes Forschungsprojekt im Rahmen historischer Publikumsforschung. Sollten die Aufführungen noch einmal zu Wort kommen? Aus welchem Grund wäre der Blick auf sie heute relevant? Ich greife wahllos einige der Protokolle zur Inszenierung von Gespenster heraus. Eine Protokollantin beschreibt z.B. detailliert, wie sie die unterschiedlichen Ebenen von Zeit in der Aufführung wahrgenommen hat und kommt zum Schluss, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für ein geglücktes Leben unabdingbar ist. Für sie sind die Wiedergänger, die Gespenster der Vergangenheit und die Einspielung alter Filmaufnahmen die signifikanten Elemente. In einem anderen Protokoll wird genau auf den Bühnenraum eingegangen, seine Ähnlichkeit mit einer Burg, einer Festung, einer uneinnehmbaren Behausung herausgestellt. Der Bühnenaufbau wird verglichen mit Freuds Struktur-​Modell der Psychoanalyse bzw. den drei Instanzen der Psyche Über-​Ich, Ich und Es und am Ende mit Blick auf Alice Millers Buch Am Anfang war Erziehung wird die Frage gestellt, wie und ob man verhindern kann, dass wir werden, wie wir werden bzw. sind. Eine weitere Erinnerung beschäftigt sich mit der Vielfalt von Fragen, die auftauchen, wie z.B. weshalb die Darsteller alle als Personen mit kindlichen Verhaltensmustern angelegt sind, welche Rolle traumatische Erlebnisse spielen, in welcher Beziehung das ‚norwegische Drama‘ mit der deutschen Nazi-​Vergangenheit gesehen werden kann. Zum Ende hin wird darauf hingewiesen, dass durch das Schreiben des Protokolls neue Einsichten gewonnen wurden, die sich beim Zuschauen und Hören nicht einstellten. Alle Protokolle weisen somit über die Aufführungen hinaus, zielen auf die Fragen, die möglicherweise der Beschäftigung mit dem Ausgangsmaterial zugrunde lagen. Anders jedoch als der erneute Blick in ein Buch, von dem man glaubt, eine zweite Lektüre könne nur mit Vergnügen und weiteren Einsichten verbunden sein, lässt sich eine individuelle Re-​Lektüre von Aufführungen – so mein Eindruck nach der Sicht der Protokolle – kaum oder nur schwer bewerkstelligen. Frühere Aufführungen als Aufführungen sind nicht ohne Mühe verfügbar. Selbst wenn wir über professionelle Aufzeichnungen verfügen, so ist zu vermuten, dass ein Interesse daran noch am ehesten mit forschenden Absichten verbunden ist. Somit könnten wir die These wagen, dass ein den Aufführungen eingeschriebenes Zukunftspotential zum einen in individueller und durchaus auch kollektiver Erinnerung münden kann – eventuell begleitet von wehmütigen Gefühlen –, zum anderen die Entfaltung dieses Potentials an (theater-)wissenschaftliches Forschungsinteresse gebunden ist, welches über die einzelne Aufführung hinausgeht. Nicht zu vergessen auch: Für Theatermacher:innen wie Peter Brook ist eine bestimmte Form des Nicht-​Erinnerns Voraussetzung für Künftiges. Etwas vergeht, ein Neues entsteht. Zwischen Damals und Heute, zwischen individueller Erinnerungsarbeit und Neugestaltung sind feine unsichtbare Fäden gesponnen. Nicht immer müssen es Gespenster, Wiedergänger sein, die Künftiges bestimmen.

5

Schließlich und endlich wird die Zukunft der Aufführung in hohem Maße davon abhängen, wie wir uns heute aufführen. Die Möglichkeit eines erweiterten Aufführungsbegriffes hat nicht zuletzt einen gewichtigen Grund darin, dass wir unterscheiden können zwischen ‚etwas aufführen‘ und ‚sich aufführen‘. Im Nachdenken über Letzteres stellt sich die Frage, wer die Akteure sind, welchen Stellenwert nicht-​menschliche Akteure einnehmen – seien es alle unsere mittlerweile lieb gewonnen Gadgets, Robots oder Lebewesen der verschiedensten Art, die mit uns sind und ohne die unser Dasein auf diesem Planeten fragwürdig zu werden beginnt. In welcher Beziehung stehen wir zu ihnen? Wie führen wir uns auf, damit diese Welt, dieser Planet weiterhin bewohnbar bleibt? Verharren wir bei Gewohntem, Bekanntem? Sind wir bereit für einen anderen Umgang miteinander? Die Programmvorschau des Hebbel am Ufer (HAU) für die letzte Septemberwoche 2022 formuliert dies folgendermaßen: „Wir leben in einer mehr-​als-​menschlichen Welt, die alle natürlichen Wesen und künstlichen Kreaturen einschließt. Die Herausforderung ist es, diese Verflochtenheit neu zu denken.“ Es gelte, eine Zukunft zu avisieren, „in der Technik und Natur nicht in einer Ökologie der Ausbeutung verbunden sind, sondern durch konstruktive Resonanz.“ (Hebbel am Ufer 2022) Es gilt somit, neue Verhaltens- und Handlungsweisen zu erlernen, die Sinne zu schärfen für bisher Unerhörtes und nicht Beachtetes; vielleicht müssen wir begreifen, dass beispielsweise die Störrischkeit eines Esels weniger ein Hindernis auf dem zielstrebigen Weg nach vorne ist als vielmehr ein willkommendes Innehalten, das uns hilft, zu neuen Kräften zu kommen.1

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Während ich diese Zeilen schreibe, beginnt die neue Spielzeit 2022/23. Wie sieht es aus, das Theater der kommenden Gegenwart? Wohin wird es sich in diesem Winter, im nächsten Frühling bewegen, welcher Art werden die Aufführungen sein, die uns erwarten, die wir erwarten dürfen? Wohin und wie bewegt sich die Zukunft gegenwärtiger Aufführung? Im Folgenden beziehe ich mich ausschließlich auf Berichte, Kritiken, Ankündigungen. Ich habe (noch) keine der angeführten Aufführungen gesehen. Bei der Auswahl wurde bewusst darauf geachtet, dass sie aus unterschiedlichen Regionen Europas kommen, dass es sich nicht ausschließlich um deutschsprachige Produktionen handelt. In der taz vom 30. August 2022 berichtet Katja Kollmann unter der Überschrift „Wie der Krieg das Theater verändert: Flucht vor der Propaganda“ über ein Solo von Tschulpan Chamatowa, eine bekannte russische Schauspielerin, die aus Russland nach Lettland geflohen ist. Ihr gemeinsam mit dem Intendanten des Rigaer Theaters Alvis Hermanis erarbeiteter Monolog nennt sich Post-​Scriptum und ist – wie die taz schreibt – „der persönliche Kommentar der beiden zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine.“ (Kollmann 2022) Er basiert auf Texten von Anna Politkowskaja, einer russischen Journalistin, die 2006 ermordet wurde. Im Zentrum steht eine weibliche Figur, Nadja, die 2002 beim Anschlag auf das Moskauer Dubrowka-​Theater während einer Vorstellung des Musicals Nord-​Ost ums Leben kam. Sie ist quasi eine Wiedergängerin, der es durch das Erzählen ihrer Lebensgeschichte gelingt, die Gegenwart des Krieges in der Ukraine gleichzeitig mit der leidvollen Erfahrung der sowjetischen Besetzung Lettlands aufzurufen und zugleich ein russisch- und ein lettisch-​sprachiges Publikum zu erreichen, das den Krieg aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und erleidet. Weiter westlich, in Weimar auf dem alljährlichen Kunstfest, gibt es außer einem Schwerpunkt in der Sektion „Diskurs“ zum Thema „Erinnerung“ unter dem Label „Performance“ zwei Arbeiten, die sich mit dem Thema Klima befassen. Chris Salter hat mit großzügiger internationaler finanzieller Unterstützung, unter anderem auch durch die Kulturstiftung des Bundes, ein hybrides Projekt realisiert, das durch den Einsatz neuester Technik virtuelle Welten herstellen kann und die anwesenden Zuschauer:innen genau dorthin entführt. Animate, so der Titel der Arbeit, fand in einer Weimarer Industrie-​Halle statt, in der früher Maschinen zur Kartoffelernte produziert wurden und die dank ihrer Größe den projizierten Landschaften Ausdruck verleihen kann. Zugleich ist sie als realer Raum stets präsent. Wie man der Kritik entnehmen kann (Laages 2022), gibt es Bildräume von Katastrophen, die wir aus zahlreichen Nachrichten kennen: Überschwemmungen, Steinschlag, Hitze, Weltuntergangsstimmung – all dies verbunden mit einem Drama zwischen Mann und Frau. Die Zuschauer:innen – besser gesagt: die in der Halle Anwesenden – bewegen sich ebenso wie die beiden Schauspieler:innen zeitgleich in unterschiedlichen Welten – einer technisch erzeugten – möglicherweise künftigen – Realität und einem manifesten physischen Raum. Alanna Mitchells Sea Sick beschäftigt sich auf eine davon sehr verschiedene Weise mit der Krankheit der Meere. Im Programmheft wird ihre technisch eher niederschwellige Arbeit wie folgt angekündigt:

Der fortwährende Ausstoß von Treibhausgasen beeinflusst nicht nur die Erderwärmung, sondern lässt auch die Meere versauern. Ein Zustand, der folgenschwere Auswirkungen auf das größte zusammenhängende Ökosystem unseres Planeten hat: Die Weltmeere. Doch bleibt dies absehbar auch für Natur und Klima des Festlandes nicht ohne dramatische Folgen. Alanna Mitchell, prominente kanadische Wissenschaftsjournalistin, recherchierte die Daten und Fakten zur Gefährdungslage der Ozeane – über viele Jahre und weltweit. Umgetrieben von dem Thema schrieb sie nicht nur ein Buch darüber, sondern entwickelte auch eine Performance: Eindrücklich vermischen sich in dem Format wissenschaftliche Erkenntnisse mit journalistischer Analyse und engagierter Performance. Sprachgewaltig, dabei genauso klar verständlich wie eingängig und immer ihre eigene Rolle als Journalistin reflektierend, bringt Mitchell so ihren Zuschauer:innen auch komplexe Zusammenhänge bildhaft näher. (Kunstfest Weimar, Programm 2022)

Chris Salter als auch Alanna Mitchells kommen beide aus Kanada. Sea Sick wird in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln präsentiert, Animate kann man auf Deutsch erleben, zusätzlich gibt es eine englische und eine französische Übersetzung, die Festivalbesucher:innen können sich bewegen zwischen einer künstlich erzeugten Realität und einem wissenschaftlich fundierten Vortrag, sie können wählen zwischen unterhaltsam zu erwerbendem Wissen und möglicherweise überwältigenden Bildräumen. Die Salzburger Festspiele 2022 sind in ihrer Programmausrichtung eher als konservativ zu bezeichnen. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie keines der aktuell häufig diskutierten Probleme plakativ aufgreifen: weder Klimawandel noch Fragen der Migration beispielsweise sind als Programmschwerpunkte benannt. Vielleicht vertraut man darauf, dass die brennenden Fragen, die uns alle angehen, eh immer wieder aufgegriffen werden. Unter dem Label „Schauspiel“ gibt es außer der traditionellen Jedermann-Inszenierung (Hugo von Hofmannsthal) Marieluise Fleißer mit Ingolstadt, Kristo Sagors Text Ich lieb dich, inszeniert von Joachim Gottfried Goller und eine Neubearbeitung von Arthur Schnitzlers Reigen. Letztere ist insofern hervorzuheben, als es sich um ein Weiterschreiben, ein Neuschreiben des Schnitzler’schen Textes handelt und damit dem Thema „Zukunft der Aufführung“ ein bemerkenswerter Akzent verliehen wird, indem Geschichtlichkeit als Bewegung von Rückgriff und Anpassung verstanden wird. Zehn Autor:innen wurden damit beauftragt, je eine Szene aus Schnitzlers Vorlage neu zu denken und an heutige Gegebenheiten anzugleichen.2 Gewahrt werden sollte die von Schnitzler vorgegebene hierarchische Struktur, bzw. das soziale Gefälle der Figuren, Schauplatz aller Szenen ist ein Gasthaus, d.h. es gibt ein einziges Bühnenbild (Fischer 2022). Die Regie wurde an Yana Ross vergeben,3 die bekannt dafür ist, klassische Texte zu überschreiben, d.h. sie aus einer heutigen Perspektive unter eine kritische Lupe zu nehmen und eben fortzuschreiben. Abschließend soll noch auf die neueste Arbeit von Miet Warlop verwiesen werden, die ebenfalls Historizität mit Gegenwärtigkeit verbindet. Dabei geht es allerdings nicht um ein Weiterleben von Texten sondern um die individuelle künstlerische Arbeit selbst, die sich in und mit der Zeit entwickelt und verändert, sich also immer wieder neu aufführt. Man könnte auch sagen: Es geht um das unmittelbare Theater im Brook’schen Sinn. Die Frage, die an die Künstlerin herangetragen wurde, lautete: „What is your history as a theatre maker?“ Anders als Peter Brook erinnert sich Miet Warlop sehr wohl und sieht in ihrer Arbeit wiederkehrende Elemente, die sich über die Jahre in ihrem Facettenreichtum präsentieren können. Sie beginnt die Erzählung ihrer Künstlergeschichte mit dem Hinweis auf ihre erste Produktion 2005 De Sportband / Afgetrainde Klanken, die sie als Requiem für ihren Bruder bezeichnet. Als darstellerisches Mittel benutzte sie damals Musik und Bewegungen aus dem Sport und verlangte von ihren Performer:innen, sich in einem Höchstmaß auf der Bühne zu verausgaben. Zwischen De Sportband und ihrer letzten Arbeit One Song gibt es eine Art von innerer Kohärenz, die sie folgendermaßen beschreibt:

In ONE SONG, I’m exploring the idea that my artistic practice is cyclical, that it is an ongoing process, a living research that becomes itself a character. This world I’ve built and which is still being built is a character in and of itself. It can look back on past events, with or without nostalgia, or even ponder that very past. I like it when the traces of the past are visible in the work in the present. That’s why the metaphor used in De Sportband as a requiem for my brother can be read as a palimpsest in ONE SONG. Between those two moments in my life as an artist, there are twenty years of artistic practice and personal experiences. Those years are of course present in this play, which appears as the repetition of cycles, of a certain history of theatre.4

Wenngleich es ihre persönliche Geschichte mit dem Theater ist, die sie mit den Mitteln des Theaters erzählt, so ist diese Geschichte dennoch nicht ausschließlich an sie gebunden. One Song, wie alle anderen Arbeiten der Künstlerin Miet Warlop, wird zwar genährt aus persönlichen Erfahrungen, aber ist zum einen Ergebnis künstlerischer Zusammenarbeit und benutzt zudem eine Sprache, die mit den Zuschauer:innen geteilt werden kann. Durch Metaphern, Bewegungen, Musik wird an deren Erfahrungsräume angedockt, sich damit verbunden, sich also mit-​geteilt. Als weitere Besonderheit kommt hinzu, dass die Einladung des Theaters in Gent, ihre persönliche Theatergeschichte zu schreiben, nicht nur an sie alleine erging. Mit von der Partie waren Milo Rau, Faustin Linyekula, and Angélica Liddell, die ebenso ihre Theatergeschichten mit ihren je spezifischen Mitteln und auf ihre je besondere Art kreierten. Jede individuelle Geschichte ist somit im zweifachen Sinn Teil einer größeren Erzählung, die sich möglicherweise so beschreiben lässt:

The past is the present is the future. And as human beings, we are, willingly and unwillingly, a gladiator, in conflict with time. Beauty and comfort cannot be grasped but happen to us. The need to connect makes us both vulnerable and tragic. Vulnerable in our physical limitations, despite the efforts we make to strengthen our bodies. And tragic in our existential loneliness, the result of an awareness that is peculiar to mankind.

7

Wie wir uns heute, morgen, später, in einem Jahr aufführen werden, sei es als Einzelne, als Kollektiv, als People of Color, als Migrant:innen, mit einem queeren Selbstverständnis oder als Klimaaktivist:innen, als Künstler:innen, als Gesellschaft im Ganzen – dies wird in erster Linie die Zukunft der Aufführung bestimmen. Sie wird – wie es den Ankündigungen und obigen Beschreibungen zu entnehmen ist – in hohem Maße daran gebunden sein, wie es Autor:innen, Regisseur:innen, Performer:innen – Künstler:innen ganz allgemein – gelingen wird, alltägliche Aufführungen, alltägliche Erfahrungen zu transformieren. Dazu werden alte Texte neu geschrieben, neue Erfahrungen in einem früheren Licht gesehen, Ungeheuerliches in Worte und Bilder gefasst, auf Bewährtes zurück gegriffen, neueste Technologie angewandt werden. Es werden nicht nur die nationalen Sprachen zu hören sein, künftige Aufführungen werden in mehreren Sprachen sprechen, es werden bislang unerhörte Geschichten erzählt werden, es wird zahlreiche Verflechtungen der Künste auf unterschiedlichen Ebenen geben, ein Zusammenspiel von Technik und Manpower, von Künstler:innen unterschiedlicher Herkunft. Das Publikum wird sehen und hören und mitgestalten dürfen, sich schließlich begeistern und langweilen, es wird vielleicht etwas lernen, berührt sein oder protestieren. Auf den Bühnen, in den Innen- und Außenräumen wird es sich um Fluchtgeschichten, Kriegserfahrungen, Klimakatastrophen, Verletzungen und Kränkungen handeln, nicht zuletzt um Streben nach Macht, es werden alle unsere kleinen und großen Anstrengungen zur Sprache kommen, unsere Freuden und Leiden, unser Werden und Vergehen ins Bild gesetzt werden. Das letzte Wort soll die Künstlerin haben: „On stage, it’s all about going on and on and on, even if it means reaching a point of physical and moral exhaustion and risking failure. The idea is to try again and again, to begin again differently each time. Just like in life. […]“ Das klingt fast schon wieder wie Beckett …

Literatur

Brook, Peter (1985). Der leere Raum. Berlin: Alexander.

Festival d’Avignon (2022). https://festival-avignon.com/en/edition-2022/programme/one-song-190920 (abgerufen am 10.12.2022).

Fischer, Juliane (2022). Wir glauben nur, wir sind frei. https://www.sn.at/themenwelten/salzburger-festspiele-2022-15591/freizeit-reise/wir-glauben-nur-wir-sind-frei-54239 (abgerufen am 10.12.2022).

Hebbel am Ufer (2022). Spy on me #4. https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/festivals-projekte/spy-on-me-4 (abgerufen am 10.12.2022).

Kollmann, Katja (2022). Wie der Krieg das Theater verändert. https://taz.de/Wie-der-Krieg-das-Theater-veraendert/!5874879/ (abgerufen am 10.12.2022).

Kunstfest Weimar (2022). Programmübersicht. https://www.kunstfest-weimar.de/programm?full=0&tx_jokunstfest_pi5%5Bcontroller%5D=Elements&tx_jokunstfest_pi5%5BjoDetailUid%5D=660&tx_jokunstfest_pi5%5BjoDetailView%5D=1&tx_jokunstfest_pi5%5BjoModeOverride%5D=1&cHash=185936684b3b6b305240ed424664a990 (abgerufen am 10.12.2022).

Laages, Michael (2010). Theater-​Erfinder und Menschen-​Forscher. https://www.deutschlandfunkkultur.de/theater-erfinder-und-menschen-forscher-100.html (abgerufen am 10.12.2022).

Laages, Michael (2022). Alle Steine fliegen hoch. https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=21334:animate-kunstfest-weimar-chris-salter-laesst-in-seinem-performance-und-vr-projekt-die-steine-fliegen&catid=1476:kunstfest-weimar&Itemid=40 (abgerufen am 10.12.2022).

NT Gent (2022). One Song – Histoire(s) du Théâtre IV. https://www.ntgent.be/en/productions/histoires-du-th%C3%A9%C3%A2tre-iv (abgerufen am 10.12.2022).

Schauspielhaus Zürich (2022). https://www.schauspielhaus.ch/de/personen/87/yana-ross (abgerufen am 10.12.2022).

Schneider, Rebecca (2011). Performance Remains. New York: Routledge.

Wiemann, Mareike (2022). Selbstversuch beim Kunstfest Weimar. https://www.mdr.de/kultur/ausstellungen/weimar-kunstfest-animate-augmented-reality-selbstversuch-102.html (abgerufen am 10.12.2022).

„Si vis me flere…“

Emotionen als Chance und Herausforderung für die Theaterhistoriographie

Clemens Risi

Wie Riccoboni so gar habe behaupten können, der Schauspiehler müsse sich hüten, sich zu sehr in die Empfindung seiner Role hineinzusezen, aus Furcht die Regeln darüber zu vergessen, verstehe ich nicht. […] Je mehr […] der Schauspiehler von dem wahren Gefühl seiner Role in sich erweken kann, je sicherer wird er sie auch ausdruken, und Zuschauer, denen es um würkliche Rührung zu thun ist, werden es ihm sehr gerne vergeben, wenn der Schmerz oder die Freude ihn verleiten, die Aerme höher auszustreken, oder die Füße weiter auseinander zu sezen, als der Tanzmeister es vorschreibt. (Sulzer 1774: 10)

Hatte Horaz also recht, als er in seiner Ars poetica die berühmte Forderung aussprach? „si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi“ – „Willst du, daß ich weine, so traure erst einmal selbst.“ (1972: 101ff.) Und weiter gefragt: Ist es für die Übertragung von Affekten dienlicher, ein Regelsystem zu befolgen oder gar effektvoller, sich jenseits der Regeln zu bewegen? Der eingangs zitierte Johann Georg Sulzer hat sich jedenfalls entschieden.

Um die Frage, wie Schauspieler:innen sich zu den von ihnen darzustellenden Emotionen verhalten sollen, ob sie diese in sich selbst erregen und fühlen sollen oder im Gegenteil gerade nicht durchleben dürfen, um sich von den Gefühlen nicht mitreißen zu lassen, sondern in Distanz zum Gefühl die äußerlichen Zeichen des Körpers ausführen sollen, kreisen die Schauspieltheorien nicht erst und nicht nur, aber ganz besonders jene des 18. Jahrhunderts in immer wieder neuen Aushandlungen. Dass die Positionen beileibe nicht geklärt sind und die Re-​Lektüre scheinbar bekannter Quellen interessante neue Einsichten zutage fördern kann, haben am Beispiel der schauspieltheoretischen Quellen neben Erika Fischer-​Lichte (1993) u.a. auch Klaus Schwind (1996; 1999), Jens Roselt (2005), Peter-​André Alt (2008) und Doris Kolesch (2009) vorgeführt. Re-​Lektüre als immer wieder neue Auseinandersetzung mit scheinbar geklärten Positionen, als aktiver Prozess, Geschichte zu schreiben, Geschichte immer neu zu schreiben – im Bewusstsein der aktiven, produktiven, konstruierenden Rolle des Schreibenden – ist das, was mich an der Theaterhistoriographie fasziniert und was ich immer wieder von Erika Fischer-​Lichte lernen durfte. Dass dies im Falle des Theaters, der flüchtigen, in Lessings Worten „transitorischen“ Kunst des Theaters, besonders herausfordernd ist, hat schon derselbe Lessing selbst hervorgehoben, als er in seinen Ausführungen zur Aufgabe der Theaterkritik meinte:

[…] die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat. (Lessing 1981 [1767]: 12)

Es ist die Rolle und Bedeutung der Zuschauenden im Prozess der Aufführung, die von Lessing hier betont wird und die für eine performativitätstheoretische Perspektive von Theaterhistoriographie, wie ich sie im Folgenden einnehmen möchte, zentral ist.

Wenn man die performative Dimension einer Aufführung als einen Prozess begreift, der sich zwischen ausführenden Akteur:innen und wahrnehmenden Rezipient:innen ereignet – in Goethes Worten: „Die Bühne und der Saal, die Schauspieler und die Zuschauer machen erst ein Ganzes“ (nach Krippendorff 2005: 183), mit Erika Fischer-​Lichtes Ästhetik des Performativen einschlägig als autopoietische Feedbackschleife bekannt –, so ist zu fragen, wie diese besondere Relation theoretisch und analytisch zu erfassen ist, ganz besonders, wenn es sich um Aufführungen der Vergangenheit handelt. Es soll im Folgenden um die dringliche Frage gehen, wie über die Aufführungsdimension von performativen Konstellationen der Kopräsenz von Agierenden und Zuschauenden zu handeln sei, die vergangen sind.1 Ich möchte vorschlagen – inspiriert von der aktuellen Emotionsforschung –, dass der Blick auf und die Auseinandersetzung mit Emotionen in herausragender Weise geeignet ist für eine performativitätstheoretische Perspektive auf Theaterhistoriographie. Dafür möchte ich mir zwei zentrale und bereits viel diskutierte Quellen der Theatergeschichte, genauer: der Geschichte der Schauspieltheorie, noch einmal vornehmen und mit einer doppelten Fragestellung neu zum Quillen bringen:2 die Dissertatio de actione scenica, also die Abhandlung über die Schauspielkunst des Jesuitenpaters Franciscus Lang, erarbeitet während seines langen Wirkens als Lehrer und Leiter verschiedener Stationen des Jesuitenordens und ‑theaters seit 1678, geschrieben in den letzten Jahren vor seinem Tod, zwischen 1720 und 1725, und zwei Jahre nach seinem Tod – 1727 – postum veröffentlicht, sowie Goethes Regeln für Schauspieler, 1803 als Anweisungen für „die aus Augsburg nach Weimar gereisten Eleven Karl Franz Grüner und Pius Alexander Wolff“ zusammengestellt und „nach seinem Tod durch Eckermann […] im vierten Nachlaßband der Ausgabe letzter Hand auf der Grundlage einer Mitschrift von Goethes Schreiber Geist publiziert“ (Alt 2008: 24).

Vornehmen möchte ich mir diese beiden Klassiker der Geschichte der Schauspieltheorie unter einer doppelten Fragestellung: grundsätzlich unter der Frage, welcher Umgang mit den Quellen es ermöglichen kann, einer theatralen Praxis einer vergangenen Epoche näher zu kommen, eine Spur davon zu entdecken, eine Spur, die zwar zarter und dünner ist als die breiten, neu gelegten Spuren der vielen, gerade in letzter Zeit vermehrt praktizierten Rekonstruktions-​Versuche, dabei aber vielleicht aussagekräftiger. Und zweitens die These verfolgend, dass für diesen Fokus die Emotionen gleichzeitig in idealer Weise geeignet sind und dabei auch die größten Probleme bereiten. Es geht mir dabei nicht in erster Linie um die Frage nach den je Epoche und Kultur unterschiedlichen Definitionen oder Codierungen von Affekten und Emotionen oder um die Frage nach dem Prozess der Zivilisation im Angesicht der Affektregulierung, die Norbert Elias aufgeworfen hat, sondern darum, inwiefern das performative Potential von Affekten und Emotionen in ihrer doppelten Funktion im Theater, nämlich als Ausdruck und Übertragung sowohl eine Chance als auch eine Krise für die Theaterhistoriographie bedeuten kann. Die Frage, ob zur Affektübertragung heiße oder kalte Schauspieler:innen geeigneter sind, tritt dabei vor derjenigen nach der Wirkweise zurück.

Was die im historischen Kontext natürlich notwendige Differenzierung der Begriffe Emotion, Affekt, Leidenschaft und Gefühl angeht, so möchte ich um die Lizenz zu einer gewissen Großzügigkeit bitten, da ich eher auf die übergreifenden Prozesse der Übertragung abziele, als auf die Fragen nach dem Ursprung der Empfindung – von außen über den Menschen hereinbrechend, also Affekt, oder aus seinem Inneren erwachsend, Emotion – oder nach der Dauer der Empfindung – etwa bei Kant die Unterscheidung zwischen Leidenschaft als lang anhaltend im Gegensatz zum überraschenden „Affect“.

Franciscus Langs Unternehmung, eine Abhandlung über die Schauspielkunst zu schreiben, beginnt mit der für meine Fragestellung einschlägigen Definition von Schauspielkunst: „Als Schauspielkunst in meinem Sinne bezeichne ich die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen“ (Lang 1975 [1727]: 163). Eine ähnlich prominente Rolle hat Goethe für die Emotionen in seinen Regeln nicht vorgesehen. Vorderhand stehen bei Goethe gerade nicht die Emotionen im Vordergrund, sondern die von allen Eigenmächtigkeiten und Idiosynkrasien der Schauspieler:innen gereinigte bzw. zu reinigende, ideale Vermittlung dichterischer Absicht auf der Bühne. Mehrfach möchte Goethe sein Erziehungsprogramm gar explizit vom Einfluss der Leidenschaften abgegrenzt wissen, insbesondere wenn es um das Einüben neuer Rollen geht:

Bevor man […] seinem Gedächtnis etwas anvertrauen will, lese man langsam und wohlbedächtig das zum Auswendiglernen bestimmte. Man vermeide dabei alle Leidenschaft, alle Deklamation, alles Spiel der Einbildungskraft […]. (nach Krippendorff 2005: 171)

Doch blickt man einmal über die Regeln hinaus, sind bei der Beurteilung eines Schauspielers auch für Goethe die Emotionen von zentraler Bedeutung. In einem Bericht über die Eröffnung des neuen Theaters in Weimar und die Uraufführung von Schillers Wallenstein 1798 schreibt Goethe:

In der gefühlvollen Darstellung unsers Graff erschien die dunkle, tiefe, mystische Natur des Helden vorzüglich glücklich; was er sprach war empfunden und kam aus dem innersten. […] Vohs, als Max Piccolomini, war die Freude des Publikums […]. […] das feinste zarteste Gefühl wußte er am glücklichsten auszudrücken. Der Auftritt, wo er Wallenstein von der unglücklichen Tat zurückzubringen bemüht ist, war sein Triumph, und die Tränen der Zuschauer bezeugten die eindringliche Wahrheit seines Vortrags. (nach Krippendorff 2005: 222)

Und im April 1825 bemerkte Goethe in einem Gespräch mit Eckermann:

Würden die Schauspieler durch öftere Wiederholung sich in ihre Rollen so hineinspielen, daß die Darstellung ein Leben gewönne, als wäre es nicht eingelernt, sondern als entquölle Alles aus ihrem eigenen Herzen, so würde das Publikum sicher auch nicht ohne Interesse und ohne Empfindung bleiben. (nach Krippendorff 2005: 104)

Aus diesen Aussagen ließe sich also folgern, dass auch Goethe die Unternehmung, Regeln aufzustellen, aus dem Grund anstellt, um die Schauspieler:innen in die Lage zu versetzen, genau diese Kraft der Emotionen regulieren zu können.

Was müssen Schauspieler:innen nun beachten, um die „Beherrschung des Körpers“, die „moderatio corporis“ (Lang 1975 [1727]: 164), zu erlangen, also die Fähigkeit, „jene Körperteile, gemeinsam und einzeln, zu beherrschen und zu ordnen“ (1975 [1727]: 169)?3 Was müssen sie machen, um die Affekte richtig auszudrücken, damit dann bei den Zuschauenden die richtige Wirkung erzeugt wird, „die Zuschauer wirksamer zum Affekt geführt werden“ (1975 [1727]: 164)?4 Lang gibt den Schauspielenden Anweisungen – wortwörtlich „vom Scheitel bis zur Sohle“ (Roselt 2005: 74), also anfangend von den Fußsohlen, dem richtigen Positionieren der Füße,5 über den korrekten Bühnenschritt,6 über die Knie, die Hüften, die Arme, die Hände, die Finger, den Kopf, das Gesicht, die Augen. Haben die Schauspieler:innen die Kontrolle über alle diese Einzelteile ihrer Körper erlangt, sind sie in der Lage, die einzelnen Affekte nach Langs Anleitung auszuführen, wie es etwa in folgender Anweisung zum Ausdruck kommt: „Wir leiden und trauern, indem die Hände kammweise ineinander geflochten und entweder zur oberen Brust oder zum Gürtel gesenkt werden. Dasselbe bekunden wir mit der mäßig ausgestreckten und zur Brust gelenkten Rechten.“ (Lang 1975 [1727]: 168f.)7

Viele der bei Lang aufgestellten Regeln finden sich – zum Teil fast identisch – bei Goethe wieder. Auch bei Goethe – vielleicht noch viel stärker als bei Lang – geht es um ein Disziplinierungsprogramm: „Jeder Teil des Körpers stehe […] ganz in seiner Gewalt, so daß er jedes Glied, gemäß dem zu erzielenden Ausdruck frei, harmonisch und mit Grazie gebrauchen könne“ (nach Krippendorff 2005: 176). In beiden Quellen nimmt zudem die Orientierung der Schauspielenden zu den Zuschauenden einen großen Raum ein, als explizite Form der Kontaktaufnahme und Ermöglichung einer Interaktion von Agierenden und Zuschauenden über den Blick, ein Auffälligwerden der das Performative fundierenden Austauschprozesse (siehe Lang 1975 [1727]: 188f., 193; Goethe nach Roselt 2005: 182).

Indem es bei den Affekten und Emotionen immer sowohl um den Ausdruck als auch um die Übertragung auf die Zuschauenden geht, kommt mit dem Fokus auf die Affekte und Emotionen ein zentrales Moment des Performativen in den Blick: die Wechselwirkung von Agierenden und Zuschauenden. Die Affekte und Emotionen können also als herausragende Möglichkeiten und Chancen angesehen werden, das Performative in den Blick zu bekommen. Doch in eben dem Maße, in dem das Aufführungsgeschehen transitorisch und flüchtig ist, sind es korrespondierend auch die Übertragungsprozesse der Affekte und Emotionen, wodurch sie im selben Moment auch zum Problem, zur Herausforderung für die Theaterhistoriographie werden wie die vergangenen Aufführungen selbst. Also wie mit der Frage nach der Wirkungsdimension vergangener Aufführungen umgehen?

Hier lassen sich grundsätzlich zunächst einmal zwei verschiedene Wege beschreiten; zum einen kann man bei den theaterhistorischen Quellen und ihren Autoren selbst nach Hinweisen für deren Verständnis und Auffassung der Wirkungsdimension suchen, was im Falle Langs und Goethes aber zu keinen direkt befriedigenden Ergebnissen führt. Zum anderen gilt es daher, sich auch die jeweils zeitgenössischen Körperkonzepte und medizinischen Diskurse vor Augen zu führen, von denen sich im besten Fall Beziehungen (im Sinne von Interaktionen und Interdependenzen) zu den anderen Quellen herstellen lassen.8 Es geht also um die Frage, wie die Übertragung der dargestellten Affekte und Emotionen von den Zeitgenossen gedacht wurde und wie diese Konzeption Einfluss auf das Aufstellen der Regeln ausgeübt hat. Für eine solche historische Diskursanalyse müssen entsprechend verschiedene Diskurse um das Ereignis Aufführung herumgestellt und die Interaktionen und Interdependenzen neu in Bewegung gesetzt werden.

Von zentraler Bedeutung für das Wissen des 17. und 18. Jahrhunderts über den Körper und die physiologischen Vorgänge sind René Descartes’ Schriften, insbesondere seine Passions de l’âme von 1640 sowie der Discours de la méthode von 1637 mit der darin als Anhang enthaltenen Dioptrique, in der Descartes den Vorgang der Lichtbrechung und des Sehens erläutert. Vielversprechend erscheint auch die Hinzunahme der nur wenig später als Descartes’ Passions de l’âme im Jahr 1650 erschienenen Musurgia universalis des jesuitischen Universalgelehrten Athanasius Kircher. Nach Descartes’ Optik-​Theorie wird das Gesehene im Augenhintergrund abgebildet. Descartes denkt das Sehen als körperlichen Akt der Übertragung kleiner unsichtbarer Teilchen, die – wie auch bei Kircher formuliert – in Impulsen an die Nerven weitergeleitet werden. Dabei bedient er sich des Bildes eines Blinden, der mit Hilfe von Stöcken seine Umwelt erkundet. Wie bei der Bewegungsübertragung mit einem Seil, bei dem man das eine Ende bewegt und sich die Bewegung am anderen Ende in gleicher Weise ereignet, also überträgt, werden die Objekte

über den Gesichtssinn […] dadurch mitgeteilt […], daß sie nämlich durch vermittelnde durchsichtige Körper [corps transparens] zwischen ihnen und uns die kleinen Fasern der optischen Nerven auf unserem Augenhintergrund berühren und damit die Hirnregion, aus der diese Nerven kommen. Sie bewegen sie […] in entsprechend verschiedenen Weisen, daß sie uns entsprechende Verschiedenheiten in den Dingen sehen lassen können […]. Nach diesem Beispiel ist es leicht zu begreifen, daß […] alle Gegenstände sowohl der äußeren Sinne, als auch unserer inneren Triebe, bestimmte Bewegungen in unseren Nerven hervorrufen, die durch sie dem Gehirn zugeleitet werden. (Descartes 1999 [1640]: 25)

Transportstoffe sind neben und mit den hier genannten Nerven die berühmten Lebensgeister, „esprits animaux“, die auch bei Kircher als „spiritus animales“ für den Übertragungsprozess der Affekte von der äußeren Einwirkung auf die Sinne zur Produktion des entsprechenden Affekts – vermittels Resonanz der Bewegung, also direkter analoger Bewegungsbeeinflussung, wie mit den Stöcken des Blinden – verantwortlich zeichnen. Bezeichnenderweise erklärt Kircher den Vorgang des Sehens am Beispiel der „harmonischen Liebs=Bezauberung“ (1650: 321), also des denkbar schönsten und einsichtigsten Affektübertragungsprozesses.9 Was die Ansteckung bzw. die Übertragung über das Sehen angeht, so stimmen also Descartes und Kircher insofern überein, als die betrachteten „objecta“ mittels Strahlen, die körperlich/materiell gedacht werden, in die Augen (bei Descartes: in den Augenhintergrund) dringen und via resonierender Übernahme der Impulse der Lebensgeister für die Ansteckung mit dem Affekt sorgen. Nimmt man nun das von Lessing, der selbst auch Medizin studiert hat, formulierte Gesetz der psycho-​physischen Wechselwirkung hinzu, nach dem nicht nur innere Bewegungen, also „Modifikationen der Seele“, äußere körperliche Bewegungen produzieren, sondern auch umgekehrt die Ausführung der äußerlichen Zeichen zu einer Erregung der entsprechenden inneren Gemütsverfassung führt (vgl. Roselt 2005: 129f.), so lässt sich folgender Übertragungsvorgang konstruieren: Wenn ein:e Zuschauer:in eine:n Schauspieler:in dabei beobachtet, wie diese:r weint, so wird sie:er nach der Regel der Resonanz dieselben Regungen des Gesichts, also dieselbe Mimik produzieren, was unweigerlich zu Tränen und schließlich zu einer „Modifikation der Seele“ – zur Trauer – führen wird.

Was bringt aber nun diese Einsicht für die Beschäftigung mit den Regeln für Schauspieler:innen? Aufgrund dieser physiologischen Erklärung der Möglichkeit der Affektübertragung über die Augen leuchtet ein, wieso Lang den Augen eine so große Bedeutung beimisst. So ist es nur konsequent, dass die Schauspielenden sich immer den Zuschauenden zuwenden müssen und den Zuschauenden immer ermöglicht werden muss, die Augen der Schauspielenden zu sehen. Lang schreibt:

[…] der vornehmste Teil des Menschen [ist] das Haupt […] und darin das offene Antlitz, in dem, wie auf einer Tafel geschrieben, die Regungen der Seele zu lesen stehen. […] Daher ist es die erste Aufgabe der Augen, daß sie sowohl auf die Zuhörer als auch darauf, wovon auf der Bühne die Rede ist, gebührend gerichtet sind. […] Über den Auftritt im Theater ist zuerst zu bemerken, daß der Schauspieler, wenn er aus den Kulissen auf die Bühne tritt, unverzüglich Antlitz und Körper den Zuschauern zuwenden und sein Gesicht so darbieten soll, daß die Zuschauer in den Augen lesen können, in welcher Gemütsverfassung er kommt. (Lang 1975 [1727]: 188f.)

Auch Goethe legt auf die Sichtbarkeit der Schauspielenden und die Hinwendung der Schauspielenden zu den Zuschauenden großen Wert:

[…] der Kopf [sei] ein wenig gegen den gewendet mit dem man spricht, jedoch nur so wenig, daß immer dreivierteil vom Gesicht gegen die Zuschauer gewendet ist. Denn der Schauspieler muß stets bedenken, daß er um des Publikums willen da ist. […] sie sollen nie im Profil spielen, noch den Zuschauern den Rücken zuwenden. (nach Krippendorff 2005: 176f.)

Noch hierin zeigt sich eine Prägung durch diesen älteren klaren Zusammenhang von Seelenempfindung und Augen. Im Sprechen über die Sichtbarkeit und das Sehen geht es zuletzt also auch in den Passagen, in denen Goethe nicht explizit von den Empfindungen spricht, implizit um eine Reflexion der Bedingungen ihrer Übertragung.

Die Privilegierung des Auges als wichtigstem Organ der Affektdarstellung und ‑wahrnehmung wird in Franciscus Langs Dissertatio und Goethes Regeln zum Garanten für gelingende Übertragung ausgerufen. Gleichwohl scheint ihnen dies nur unter der Maßgabe strenger Regeln zur Eindämmung des Kontingenten möglich. Bei beiden Quellen handelt es sich um Disziplinierungsprogramme,10 die unwillkürlich – und dies ist das große Glück für die performativitätsorientierte Theaterhistoriographie – das jeweilige Gegenteil des Gelingens, den Widerspruch, den Fehler (und dies sogar ganz explizit) hervortreiben. So beginnt Langs Abhandlung auch nicht mit der Darstellung der korrekten Bühnenhaltung, sondern mit einem Fehler: „Um verständlich zu sprechen, füge ich einige figürliche Darstellungen bei […]. Und zwar zeige ich zuerst eine Gestalt voller Fehler, damit aus dem Gegensatz der Unterschied klar werde.“ (Lang 1975 [1727]: 170) Was hier als völlig unmöglich angeprangert wird, ist die fehlende „crux scenica“, also der fehlende Kontrapost in den Beinen und den Armen; die Füße stehen fälschlicherweise auf selber Höhe, die Arme hängen ebenso falsch beide herunter etc. Wenn in der Literatur zur Schauspieltheorie über Lang gehandelt wird oder über Goethes Regeln, werden in aller Regel immer die Forderungen und Anweisungen fokussiert und damit einem gereinigten Theater das Wort geredet, das so nur in den Köpfen der Macher, aber wohl nie in der Praxis existiert hat. Das Interesse gilt immer der Innovationskraft der Regeln hinsichtlich einer Disziplinierung des Körpers, der intentionalen, wohl rein theoretischen, nur imaginären, nur prospektiven Idee einer Schauspielpraxis und nicht den in beiden Quellen zuhauf angeprangerten Fehlern. Es sind aber gerade die Fehler, denen beide Autoren so viel Platz einräumen, in denen im Widerspruch zur intentionalen Anweisung Spuren einer performativen Praxis aufscheinen. Die aufgezählten Fehler und Unarten auf der einen und die geforderten Regeln auf der anderen Seite sind zwei Pole, zwischen denen sich die Realität der performativen Praxis abgespielt haben wird, die durch das diskursive Zusammendenken der beiden Pole von uns heute wieder in Bewegung gebracht werden kann. Ein paar Beispiele, zunächst von Lang:

Endlich trägt es zu einem höchst lobenswerten Spiel der Hände bei, gewisse Fehler kennengelernt zu haben, deren wichtigste wir zusammenfassen. 1. Falsch und unschicklich ist es, die Finger der Hände so auszustrecken, daß sie zu weit gespreizt sind. 2. Die Finger einer Hand an ihren äußersten Enden, ganz nach der Art eines Schreibenden, mit der Daumenspitze zusammenzufügen. […] 5. Die Hände zu reiben, zu säubern, zu betrachten, die Nägel zu reinigen, mit ihnen den Kopf oder einen anderen Körperteil zu kratzen, ist unschicklich. (Lang 1975 [1727]: 187f.)

Oder bei Goethe:

Es gehört unter die zu vermeidenden ganz groben Fehler [also in meiner Lektüre zu den üblichsten Praktiken], wenn der sitzende Schauspieler, um seinen Stuhl weiter vorwärts zu bringen, zwischen seinen obern Schenkeln in der Mitte durchgreifend, den Stuhl anpackt […]. Der Schauspieler lasse kein Schnupftuch auf dem Theater sehen, noch weniger schnaube er die Nase, noch weniger spucke er aus. (nach Krippendorff 2005: 182)

In diesen Regelverstößen scheint – für die beiden Theoretiker unangenehm – der phänomenale Leib der Darstellenden auf, entweder in einer Übertreibung ihrer Gesten oder jenseits der Rolle als etwas Privates, als körperliche Notwendigkeit oder gar der Körper als ein sexualisierter. In den Fehlern aber manifestiert sich eine Gleichgültigkeit oder ein Widerstand der Körper gegen die Regeln, der auf gängige performative Praktiken verweist.

Mit dieser Betonung der Fehler und Widersprüche gerät noch eine weitere Dimension des Performativen bzw. eine Dimension einer weiteren Definition in den Blick – nämlich die des Urvaters des Begriffs, John L. Austin, der sich – um den Begriff zu explizieren – auf das Scheitern der Sprechakte konzentriert hat. Austins extensive Diskussion von scheiternden Sprechakten („infelicities“/„Unglücksfällen“) weist auf die produktive Kraft des Fehlers, die sich auch in den Regelwerken Langs und Goethes als gegen den Strich zu lesende performativitätstheoretische Perspektive auf Theaterhistoriographie auffinden lässt. Nach Sybille Krämer und Marco Stahlhut nimmt Austin eine „Misslingensperspektive“ ein. Sie schreiben:

Für Austin gehört das Scheitern zum Handeln, ist das Verfehlen dem menschlichen Tun inhärent. Allerdings kann diese Dimension der Fehlleistung als ein Charakteristikum des menschlichen Handelns nur dann in den Blick kommen, wenn […] wir uns […] jenem Stadium zuwenden, „in dem wir eine Handlung, auf die wir uns eingelassen haben, wirklich (actually) ausführen müssen (carry out).“ […] Austin interessiert sich […] für die Brechungen im Vollzug eines Handelns, in welchem die Ausführung dem Vorhaben zuwiderläuft, die Realisierung das System unterminiert, die Phänomene die Ordnung durchkreuzen, die Aktualisierung die Regel verletzt, kurz: das Sein vom Sollen nicht einfach zu unterscheiden ist, sondern dieses Sollen – um einen Ausdruck von Austin zu benutzen – geradezu verpfuscht (to muff) wird. (Krämer/Stahlhut 2001: 43)

Die produktive Kraft des Fehlers lässt sich in der performativitätstheoretischen Re-​Lektüre von Regeln für Schauspielende gerade in jener wirklichkeitskonstituierenden Potenz der Abweichung ausmachen, die über die (eigentlich zu unterbindenden) Unglücksfälle Indizien für Wirkweisen von (Affekt‑)Übertragungen liefert. Gerade die berichteten Ärgernisse, die Abweichungen von den Regeln und die Fehler im System lassen sich nicht nur als Scheitern von gewünschter Affektübertragung verbuchen, sondern funktionieren in hohem Maße als Übertragung eigenen Rechts mit einer eigenen Dynamik performativer Verschiebung, die sich erst in einer peripheren Historiographie der Anekdoten und Verbote als solche entpuppen. Dazu aus den Gesprächen Goethes mit Eckermann vom Mai 1824:

Ich habe in meiner langen Praxis, sagte Goethe, Anfänger aus allen Gegenden Deutschlands kennen gelernt. […] Eingeborene unserer lieben Stadt Weimar haben mir viel zu schaffen gemacht. Bei diesen entstehen die lächerlichsten Mißgriffe daraus, daß sie das B. vom P. und das D. vom T. [nicht unterscheiden gelernt haben]. […] Eine hiesige junge Sängerin, […] die das T. und D. […] nicht unterscheiden konnte, hatte neulich zu sagen: „Ich will dich den Eingeweihten übergeben.“ Da sie aber das T. wie D. sprach, so klang es, als sagte sie: „Ich will dich den Eingeweiden übergeben.“ […] Gleicherweise, fuhr Goethe fort, wird hier das Ü. häufig wie I. ausgesprochen […], wodurch nicht weniger die schändlichsten Mißverständnisse veranlaßt werden. […] Dieser Art, versetzte ich, ist mir neulich im Theater ein sehr spaßhafter Fall vorgekommen, wo eine Dame in einer mißlichen Lage einem Manne folgen soll, den sie vorher nie gesehen. Sie hatte zu sagen: „Ich kenne dich zwar nicht, aber ich setze mein ganzes Vertrauen in den Edelmut deiner Züge.“ Da sie aber das Ü. wie I. sprach, so sagte sie: „Ich kenne dich zwar nicht, aber ich setze mein ganzes Vertrauen in den Edelmut deiner Ziege.“ Es entstand ein großes Gelächter. Dieser Fall ist […] gar nicht schlecht, erwiderte Goethe, und wir wollen ihn uns […] merken. (nach Krippendorff 2005: 187f.)

Zwischen dem geforderten Ideal und den abgelehnten Fehlern gibt es sowohl bei Lang als auch bei Goethe noch eine für das Performative höchst interessante Zwischenstufe, nämlich die Lizenz zum Überschreiten der Regel:

Über den Zorn führe ich folgendes an: […] man […] gestikuliert heftig, stößt die Finger gegeneinander, knirscht mit den Zähnen und tut anderes dieser Art, worin die Leidenschaft des Zorns sich ausdrückt. Dies über den gewöhnlichen Zorn. Wenn er aber das Maß überschreitet und in Raserei ausartet, dann hält sich freilich auch die Darstellung an kein Maß. Deshalb soll dem Rasenden verstattet sein, was dem Besonnenen nicht ziemt. (Lang 1975 [1727]: 200f.)

Und auch Goethe erteilt den Schauspielenden die Lizenz zur bewussten Regelverletzung als angemessenes Darstellungsmittel des Bäurischen (vgl. Krippendorff 2005: 184).

Indem die Regelverletzung nicht nur in Kauf genommen, sondern geradezu eingefordert wird, wird die Verantwortung für die konkrete Ausgestaltung des Emotionsausdrucks- und ‑übertragungsszenarios damit unwillkürlich an den unplanbaren und als unplanbar akzeptierten Moment der Aufführung und des einzelnen Akts delegiert. An die Stelle des Glaubens an planbare Wirkungen tritt das Eingeständnis von Emergenz – wie wir dies von heute aus bezeichnen würden –, also das Eingeständnis des Eintretens eines Ereignisses, das nicht vorhersehbar war, aber im Nachhinein rückwirkend erklärbar ist.

Theaterhistoriographie aus der Perspektive des Performativen lässt sich letztlich vielleicht ähnlich wie das Konzept Aufführung beschreiben, in permanenter Wechselwirkung der gegenseitigen Hervorbringung. Die Re-​Lektüre der Quellen produziert Geschichte ebenso wie ihre Leser:innen, überträgt Emotionen auch auf sie, und sei es im Staunen über die Fremdheit, in der Freude über den Fund, oder in dem Bedauern, nicht dabei gewesen sein zu können.

Literatur

Alt, Peter-​André (2008). Klassische Endspiele: Das Theater Goethes und Schillers. München: Beck.

Descartes, René (1999). Die Leidenschaften der Seele. Französisch/Deutsch. Hrsg. und übers. von Klaus Hammacher [1640]. Hamburg: Meiner.

Fischer-​Lichte, Erika (1999). Der Körper als Zeichen und als Erfahrung: Über die Wirkung von Theateraufführungen. In: Fischer-​Lichte, Erika/Schönert, Jörg (Hrsg.). Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts: Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen: Wallstein, 53–68.

Fischer-​Lichte, Erika (1993). Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen/Basel: Francke.

Fischer-​Lichte, Erika (1983). Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen: Theater des Barock und der Aufklärung. Semiotik des Theaters: Eine Einführung, Band 2, Tübingen: Narr.