Zur See - Dörte Hansen - E-Book

Zur See E-Book

Dörte Hansen

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Beschreibung

Der dritte Roman von Bestsellerautorin Dörte Hansen.

Woher kommt unsere Liebe zum Meer und die ewige Sehnsucht nach einer Insel?


Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel, manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt in einem der zwei Dörfer seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf, erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht.

Klug und mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Wandel einer Inselwelt, von alten Gesetzen, die ihre Gültigkeit verlieren, und von Aufbruch und Befreiung.

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DASBUCH

Woher kommt unsere Liebe zum Meer und die ewige Sehnsucht nach einer Insel?

Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel, manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf, erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht.

Klug und mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Wandel einer Inselwelt, von alten Gesetzen, die ihre Gültigkeit verlieren, und von Aufbruch und Befreiung.

DIEAUTORIN

Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt Altes Land wurde 2015 zum »Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels« und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman Mittagsstunde erschien 2018, wurde wieder zum SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet.

Dörte Hansen

zur

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Roman

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Das dem Roman vorangestellte Gedicht von Stevie Smith, »Not Waving but Drowning«, ist erschienen in den Collected Poems of Stevie Smith. Copyright © 1972 by Stevie Smith. Reprinted with the permission of New Directions Publishing Corporation. Source: New Selected Poems (New Directions Publishing Corporation, 1988)

Copyright © 2022 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Covermotiv: Universal History Archive/UIG/Bridgeman Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28497-8V003

www.penguin-verlag.de

Nobody heard him, the dead man,

But still he lay moaning:

I was much further out than you thought

And not waving but drowning.

Poor chap, he always loved larking

And now he’s dead

It must have been too cold for him his heart gave way,

They said.

Oh, no no no, it was too cold always

(Still the dead one lay moaning)

I was much too far out all my life

And not waving but drowning.

Stevie Smith,

Not Waving but Drowning

1

Knochenzäune

Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens. Falls er an Herbst- und Wintertagen eine Mütze trägt, bedeckt sie keinesfalls die Ohren. Handschuhe trägt er nie. Zwischen seinen steifen Fingern klemmt, sobald das Schiff an- oder abgelegt hat, eine Kippe. Sein Haar ist lange nicht geschnitten worden, seine Haut von Meerwasser und Alkohol gebeizt, und immer hustet er in seinen ungekämmten Bart und spuckt das, was da hochgehustet wird, ins Hafenbecken. Und immer sieht die Jacke, die er trägt, so aus, als hätte sie den Ahnen schon gehört.

Der Mann, der Leinen los- und festmacht, ist nie freundlich zu den Fremden, die vom Festland auf die Insel fahren. Mit schroffen Gesten weist er beim Verladen ihre Wagen in die Spuren, treibt mit knappen Kopfbewegungen die Fahrradfahrer und die Fußgänger aufs Schiff, die sich wie Schafe von ihm scheuchen lassen.

Der Decksmann friert aus einem Grund, den er wohl selbst nicht kennt. Er tut nur das, was schon die Vorbesitzer seiner Jacke taten: das kleine Frieren üben, weil irgendwann das große Frieren kommen wird. Der große Sturm, die große Flut oder die eine große Welle. Wer dann nicht frieren kann, ist schon verloren.

Und, ja, auch schwimmen kann der Mann an Deck, auch wenn es von den Seeleuten von jeher heißt, sie wollten es nicht lernen. Er hat es früh gelernt, von seiner Mutter.

Dass Festlandfrauen sich in ihn vergucken, kennt er schon. Dass sie ein bisschen in den wilden Bart verliebt sind, in seine alte Seemannsjacke und in den kleinen Ring aus Gold in seinem Ohr, das will er doch stark hoffen.

Für die Dauer einer Überfahrt, für eine Stunde oder zwei, ist er das Standbild eines Inselmannes. Steht an Deck, macht Leinen fest und los und lässt die Messingknöpfe mit dem Ankermuster glänzen. Übt das Frieren, pfeift ein altes Lied. Und Winde wehn.

Sein Vater, seine Brüder, seine Onkel frieren jetzt vielleicht auf einem Krabbenkutter, einem Frachter, einem Seenotrettungskreuzer, einem Ausflugsdampfer, einer Bohrinsel, und alle halten klaglos eine kleine Unterkühlung aus, als müssten sie den Vorfahren Respekt bezeugen.

Sie alle sind die Nachkommen von Männern, die das große Frieren noch beherrschten: Grönlandfahrern, die auf Walfangschiffen in die Arktis segelten.

Und etwas hat sich eingedrückt und auf sie abgefärbt, ist in sie eingesickert von diesen Schiffsjungen und Harpunierern, Steuermännern, Kapitänen, die jedes Jahr vom Frühjahr bis zum Herbst ins Nordpolarmeer fuhren, ihre Kleider niemals trocken, ihre Körper niemals warm.

Irgendetwas in dem Mann, der zu dünn angezogen ist, erinnert sich an diese Zeit, auch wenn sie schon dreihundert Jahre her ist.

Vielleicht steckt es in den Knochen seiner rot gefrorenen Hand, in seinen Rückenwirbeln, in der Haut auf seiner Stirn, in seinen Blutgefäßen, in den Wurzeln seiner Zähne, seines Bartes.

Und vielleicht glauben das auch alles nur die Fremden, die vom Festland kommen und ihn auf der Fähre stehen sehen, das Original, den waschechten Insulaner, der sie kaum eines Blickes würdigt.

Der Mann, der wortlos seine Gästeherden auf die Inselfähre treibt, ist unter Deckenbalken aufgewachsen, die so niedrig waren, dass er mit fünfzehn schon den Kopf einziehen musste. In einem Haus mit alten Mauerankern und mit Delfter Fliesen an den Wänden.

Der Vorfahr, der es bauen ließ, war noch zwei Handbreit kleiner als die Inselmänner heute, aber ein Großmeister des Frierens: mit zwölf das erste Mal an Bord und dann ein Seemannsleben lang den Sommer nicht gesehen. Vom Kombüsenjungen hochgefroren bis zum Kapitän.

Er baute sich ein großes Haus, ließ seine Initialen in die Wand des Giebels schlagen und um sein Grundstück einen Zaun errichten, nicht aus Holz gezimmert, sondern aus den Kieferknochen eines Grönlandwals.

Von diesem Knochenzaun ist nicht mehr viel zu sehen, nur eine Reihe Stümpfe, schartig und verwittert, die von grünen Algen überwuchert sind. Ein schadhaftes Gebiss, kein schöner Anblick. Aber niemand denkt daran, den Zaun herauszureißen, und am wenigsten der Mann, der jeden Morgen über ihn hinwegsteigt und sich auf den Weg zum Hafen macht, in einer Jacke, die so aussieht, als hätte sie den Ahnen schon gehört.

Am Abend, nach der letzten Überfahrt, wenn alle Fahrzeuge und Fußgänger das Schiff verlassen haben, geht er von Bord und wartet auf dem Fähranleger drei, vier Zigarettenzüge lang, bis er ein großes Auto kommen sieht. Es ist zu schnell, wie immer, und die Frau im Wagen steuert auf ihn zu, als wollte sie ihn überfahren. Dann bremst sie doch noch, lässt ihm gerade Zeit genug, die Kippe wegzuwerfen, einzusteigen und die Tür zu schließen. Noch bevor er richtig angeschnallt ist, gibt sie wieder Gas. Der Motor heult wie ein gequältes Tier, der Lack des Wagens ist vom Salz der Seeluft ziemlich angefressen.

Sie hat nicht viel Geduld mit Autos und mit Männern, die von Schiffen kommen.

Auf einer Nordseeinsel, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es eine Frau, die einen Mann von einem Hafen abholt wie von einem Tatort, schnell und schweigend. Lebensretter fahren so, Komplizen eines Überfalls – und Inselfrauen, die nicht mehr an Hafenkanten stehen wollen, winkend, wartend, Ausschau haltend nach dem Schiff, das kommen wird oder auch nicht, nach Messingknöpfen, Bärten und verfrorenen Gesichtern.

Sie steigt nie auf der Inselmole aus, sie bleibt am Steuer ihres Wagens sitzen, ganz egal, ob er nur einen Tag auf See gewesen ist, zwei Wochen, sieben Monate, ein Jahr. Und wenn er wieder fährt, macht sie es ebenso: nicht aus dem Wagen steigen und nicht winken. Motor laufen lassen und den Mann absetzen wie ein Stück Expressgut. Schiffe geh’n und Schiffe kommen, und das Abschiednehmen, das Willkommenheißen muss man beiläufig erledigen, gleichmütig wie die See, die immer da ist, aber auch auf keinen wartet.

Es gibt für einen Mann, wenn er von einem Schiff nach Hause kommt, nie eine Zeit der Schonung. Kein Essen in der guten Stube, von den feinen Goldrandtellern. Nach einem Abendbrot am Küchentisch spült sie die alten Tassen mit dem Zwiebelmuster und wirft ihm das Geschirrtuch zu.

Die Frau, die nicht an Hafenkanten winkt, bewahrt in ihrem Haus die Dinge auf, die alle Kapitänsfamilien hüten: Seemannskisten und Sextanten, Kompasse und Messingzirkel, Seefahrtsbücher. Nachlässe der Väter, Brüder, Ehemänner, ihre handgeschriebenen Berichte von entbehrungsreichen Reisen. Von den Schiffen, die sie liebten, und den Walen, die sie töteten, von Mast- und Knochenbrüchen und Erfrierungen und schweren Stürmen, alles glücklich überstanden. Es sind die Chroniken der Überlebenden und Tüchtigen, die in den Seemannskisten liegen, und in den guten Stuben stehen ihre Ablassgaben, von großen Fahrten mitgebracht, um Frauen, die zu lange warten mussten, zu besänftigen: blau-weißes Teegeschirr aus Porzellan, durchscheinend wie Papier, und Silberschalen, nie benutzt. In den Vitrinen ausgestellt wie glänzende Pokale, die für Treue oder Tapferkeit verliehen wurden.

Irgendwo in diesem Haus, verborgen unter Deckenbalken, hinter Mauerankern oder alten Fliesen, in den Ritzen eines Knochenzauns vielleicht, müssten auch noch die Geschichten sein, die nicht geschrieben wurden: die Erinnerungen der Ertrunkenen, von einem Mast Erschlagenen, Verschollenen, Erfrorenen und an Skorbut Gestorbenen.

Und in den Wäschetruhen, tief versenkt, die Nachlässe der Seemannsfrauen: Chroniken des Wartens und Alleinseins, der Winterhochzeiten, des Kindersterbens und der Witwenschaft, vermutlich eingestickt in Taufkleider und Bettbezüge, eingenäht in Trachtensäume, eingeklöppelt in die Spitzendecken, für die Töchter.

Die Frau bewahrt auch diese Dinge auf.

Es könnte sein, dass ihre Ungeduld ein Erbstück ist von Müttern, die ihr halbes Leben lang ein Weltmeer zwischen sich und ihren Männern hatten. Und dass ihr Haus in einem alten Rhythmus atmet: schwer im Frühjahr, schnell im Sommer, kurz im Herbst und tief im Winter, wie der Mann, der es gebaut hat, und die Frau, die ihn im Februar in Richtung Eismeer segeln sah, im Juni auf den Heufeldern gebraucht hätte und im Oktober auf ihn wartete, mit einem neuen Kind im Arm. Wenn es ein Mädchen war, bekam es mit der Muttermilch wohl schon die Antikörper gegen alle Krankheiten des Wartens.

Das alles weiß man nicht. Ob sich das Frieren und die Ungeduld vererben, wie der Atem eines alten Hauses geht und wo sich die Erinnerungen der auf See Gebliebenen verbergen, das alles fragen sich vielleicht nur Menschen, die zu lange mit den Händen in den Taschen an der See gestanden haben. Sie wirft dann Fragen an den Strand wie Muscheln oder kleine Stöcke. Ein altes Spiel der See, die meisten spielen mit.

Die Frau, die jeden Abend schnell und schweigend einen Mann von einem Schiff abholt, hält nichts von Händen in den Taschen, und sie bückt sich nicht nach Muscheln, Steinen oder Stöckchen.

Am rechten Mittelfinger trägt sie einen Ring mit einem gletscherblauen Stein, den ihr vor vielen Jahren einer mitgebracht hat. Auch eine dieser Ablassgaben, hochkarätig, die sie aber nicht besänftigt hat, im Gegenteil. Er war von Anfang an ein bisschen groß, sie trägt ihn trotzdem alle Tage, weil er schön ist und sie findet, dass sie ihn verdient hat. Seemann geht, Gold besteht. Beide Hände fest am Steuer, fährt sie abends Richtung Hafen, etwas Puder im Gesicht und etwas Lippenstift, die Kleider selbst genäht, aus guten Stoffen. Keine Landfrau, keine Stadtfrau, eine Inselfrau, die ihren Sohn vom Hafen holt.

Den Ältesten, der schwimmen kann und trinken muss.

Es gibt auf einer Insel kein Geheimnis. Man kann sich hinter Knochenzäunen nicht verstecken, wenn die Nachbarn und Verwandten seit Jahrhunderten die Augen- und die Ohrenzeugen des Familienlebens waren. Alle sehen es, wenn Hanne Sanders Ältester von seinen Hafenkneipentörns nach Hause schlingert. Sie hören, wie er singt und lacht und flucht und in die Hecke aus Kamtschatka-Rosen kotzt. Und alle wissen, dass sich Ryckmer Sander, Sohn von Jens und Enkelsohn von Henrik, Urenkelsohn von Ove und so weiter, langsam, aber konsequent von der Kommandobrücke eines Tankers auf einen Nordseependelkahn herabgesoffen hat. Vom Kapitän auf großer Fahrt zum Decksmann, der auf einer Inselfähre durch das Küstenwasser schippert und noch ein bisschen Seebär spielt für die Touristen, die sich von ihm scheuchen lassen. Sie kaufen ihm die Schweigenummer ab, den wilden Bart, das grimmige Gesicht und diese alte Seemannsjacke. Die Fremden lassen sich ganz gerne blenden von den Messingknöpfen mit dem Ankermuster und dem Ring in seinem Ohr. Ein Ryckmer Sander passt in ihren Nordseeurlaub wie der Austernfischer und der Seehund und die Kutterscholle.

Sie merken nicht, dass ihr Original nur eine gut gemachte Fälschung ist.

Der Inselfährenreeder weiß, wie es um seinen Decksmann steht, auch seine Ahnen waren Grönlandfahrer. Man sitzt hier seit Jahrhunderten in einem Boot, und darum schickt man einen Ryckmer Sander nicht von Bord, auch wenn er manchmal nicht ganz sicher auf den Beinen ist. Den Poller trifft er noch.

Und Hanne Sander sorgt dafür, dass er am Morgen jedenfalls noch nüchtern ist, bis er zur Fähre kommt. Mehr kann die Mutter eines Trinkers nicht versprechen. Sie kann nur hoffen, dass er nicht im Bordbistro schnell eine halbe Flasche Küstennebel kippt oder ihm einer seiner handzahmen Passagiere einen Grog ausgibt, man weiß es nie, sie nimmt es, wie es kommt. Sie ist nur schwer zu überrumpeln.

Auf allen Inseln gibt es Frauen, die man nicht erschrecken kann, weil sie in ständiger Bereitschaft leben. Hanne Sander ist zu jeder Zeit auf Springfluten gefasst, auf schwere Stürme und auf Männer, die nach Hause kommen, volltrunken oder nüchtern, mit gletscherblauen Steinen oder ohne.

Ihr Kofferraum ist groß genug, um Lebensmittel für vier Wochen einzukaufen, und in ihrem Haus gibt es zwei Tiefkühltruhen. Sie bräuchte nicht zu hungern, wenn die Insel für ein halbes Jahr vom Festland abgeschnitten wäre. Was immer ihr die Nordsee vor die Haustür spülen mag – Seefahrer, Schiffbrüchige, Sommergäste –, ihre Betten sind bezogen, ihre Vorratsschränke immer voll. Es fehlt an nichts in ihrem Haus, und trotzdem sieht man ihren alten Kombi mit den Salzrostflecken jeden Morgen in der Stadt, weil Hanne Sander etwas zu besorgen hat.

Es gibt nur eine kleine Stadt auf dieser Insel, nicht viel mehr als ein paar Einkaufsstraßen, die wie die Finger einer Hand am Hafen hängen. Eine Strandkorbpromenade, eine Waffelbude, ein paar Krabben- oder Backfischstände und ein Eiscafé, das in der Nachsaison zu einem Tee- und Kerzenladen wird. Regenjacken, Möwenbecher und Piratenflaggen in den Läden, eine Bernsteinschleiferei und ein paar Restaurants und Kneipen, allesamt zu Schiffskajüten umgetakelt. Messinglampen in den Sprossenfenstern, an den Wänden Fischernetze, auf den Tischen Treibholzkunst und vor den Türen alte Bojen oder Schiffslaternen. Seemannslieder aus der Stereoanlage, und alle Tresenkräfte tragen Fischerhemden.

Hanne Sander wüsste nicht, was sie in einer Hafenkneipe soll. Sie ist auch nicht gemacht für eine Inselpromenade, das Geschlurfe und Geflatsche dieser Badeschuhe, all die Hände in den Taschen. Meistens meidet sie die Innenstadt und fährt auf der Umgehungsstraße von der Hafenmole bis zum Inselsupermarkt. Sie steuert gar nicht erst den Parkplatz an, hält vor der Eingangstür am Straßenrand, zwei Reifen auf dem Fußweg, Blinker eingeschaltet, und die Frauen an der Kasse wissen schon Bescheid, wenn sie den Kombi sehen.

Sechs Flaschen Bier abzüglich Pfand für die sechs leeren Flaschen, die sie morgens wieder abgibt. Es ist die Tagesdosis eines Mannes, der den Poller treffen muss.

Ryckmer Sander trinkt die erste noch im Wagen auf dem Weg nach Hause, wenn sie ihn abends von der Fähre holt. Sobald er eingestiegen ist, nimmt er den Öffner aus dem Handschuhfach, reißt seine Flasche auf und trinkt, als hätte er die Wüsten dieser Welt durchwandert.

Sechs Flaschen sind ein Witz für einen Mann, der sich betrinken will. Sie reichen allenfalls für eine Halbbetäubung zwischen Feierabend und dem frühen Morgen.

Aber er weiß, dass er das ganze Haus durchsuchen kann, die Seemannskisten und die Wäschetruhen und den Garten mit dem Knochenzaun, und er wird nirgends eine siebte Flasche finden. Auch keinen Fingerbreit Likör und keine Weinbrandbohne mehr, keine Rumrosine irgendwo im Küchenschrank. Er weiß es, weil er viele Nächte lang gesucht hat. Er trank die Schwedenkräuter seiner Mutter, aß die Madeirapflaumen aus dem Backregal und löffelte drei Gläser Calvadosgelee, die sie von einem Gast geschenkt bekommen hatte. Dann gab es ein paar klare Sätze in einer Nacht am Küchentisch – und einen Schwur, wie ihn wohl jeder Trinker hundertmal geleistet hat.

Nur hat nicht jeder Trinker eine Mutter, die wie Hanne Sander ist. Die ihrem Sohn fünf Tage in der Woche seine Flaschen rationiert und ihn an freien Tagen trinken lässt, bis er auf allen vieren an den Knochenzaun gekrochen kommt.

Er trifft den Poller noch.

Auf allen Inseln gibt es einen, der die Sagen kennt, die alten und die neuen Mythen, all die wahren, halbwegs wahren, frei erfundenen Geschichten über diese See, die Menschen, ihre Schiffe, ihre Angst. Er muss sie weitersagen, ob er möchte oder nicht, denn die Geschichten suchen den Erzähler aus, nicht umgekehrt.

Auf dieser Insel ist es Ryckmer Sander, der die Sagen kennt.

Er kann die Stürme auseinanderhalten wie andere Menschen Vogelstimmen. Er weiß, wann sie nur spielen wollen, nur ein bisschen toben oder grölen. Und wann man sie persönlich nehmen muss.

Seit vielen Jahren führt er Buch und zeichnet Wind und Wasserstände auf. Er kann, wie eine lange, schreckliche Ballade, alle schweren Nordseefluten der vergangenen tausend Jahre aufsagen. Er kennt die Namen aller Orte, aller Kirchen, die versunken sind, die Namen aller Inseln, die die See zerrissen und verschlungen hat.

Es sieht nicht gut aus, findet er. Da kommt noch was.

Manchmal, wenn die Nacht sehr still ist und die Bierbetäubung zu früh nachgelassen hat, ist Ryckmer Sander sich fast sicher, dass er vom Meeresgrund die Kirchenglocken hören kann und auch die Stimmen der Ertrunkenen. Sehr alte Stimmen, manchmal singen sie, oft ist es nur ein Murmeln oder Raunen.

Das wäre schon genug, um einen Inselmenschen wach zu halten.

Und da ist noch etwas, das er sehr gern vergessen und hinunterspülen will, wenn er in seinem alten Kapitänsbett liegt: Er hat, auf der Kommandobrücke eines Tankers stehend, eine weiße Wand gesehen – die eine große Welle, die ein Seemann selten überlebt und nie wieder vergisst.

Für die er, ohne es zu wissen, in der Jacke seiner Ahnen friert.

Ryckmer Sander findet, dass er zu viel weiß, um nüchtern einzuschlafen. Er wüsste gerne ein paar Dinge weniger – oder Dinge, die ihm jemand glaubt.

Kirchenglocken, alte Stimmen, weiße Wände – alles viel zu tief und viel zu hoch, um wahr zu sein. Die Grenzen zwischen Rausch, Hellhörigkeit und Wasserfühligkeit sind fließend, und er schwimmt.

Man sollte meinen, dass ein Mensch das Weite sucht, wenn er auf einer Insel aufgewachsen ist. Dass er, sobald er flüchten kann, den kleinen Brocken Land verlässt, der da halb abgesoffen in der Nordsee liegt. Was hat er da verloren? Er ackert auf versalzten Böden, die doch bald im Meer versinken werden, und lässt sich von den Stürmen prügeln. Schickt seine Söhne in das Eis, lässt sie im walblutroten Meer ertrinken, wenn sie nicht vorher schon erfroren sind. Er meißelt ihre kurzen Lebensläufe in die Grabsteinplatten, schickt den nächsten Sohn und dann den übernächsten. Einer wird wohl wiederkommen, mit Silberschalen im Gepäck und einer Ladung Kieferknochen.

Und warum baut sich dieser Sohn, der nicht im walblutroten Meer ertrunken ist, sein Haus dann wieder hier, auf dieser Insel, die schon halb der See gehört? Und warum gibt es hier noch eine Frau für ihn, die wartet und das schlechte Land allein beackert, die Stürme übersteht und ihre Söhne in das Eismeer schickt?

Ohne Not fährt niemand zu den Walen, aber keine Not scheint jemals groß genug zu sein, um einen Inselmenschen auf das Festland zu vertreiben.

Es gibt auf einer Insel eigene Naturgesetze, eine andere Art der Schwerkraft und der Anziehung vielleicht. Gezeitenströme, die noch nicht verstanden werden. Einen unerforschten Sog, dem Heimweh ähnlich, aber stärker.

Ein Mensch, der hier geboren ist, kehrt irgendwann zurück, lebendig oder tot, egal, wie weit er segelt und wie lange er verschwunden bleibt, so lautet ein Gesetz der Insel.

Und für die meisten gilt es noch. Nur wenn sie jung sind, wagen sie den Sprung aufs Festland. Manche bleiben dann und leben mit dem Heimweh wie mit einem Rheuma, das in Schüben kommt und geht.

Hanne Sander hat in ihrem Haus vier Fremdenzimmer, die sie jeden Morgen lüftet. Sie putzt die Fenster oft, weil ihre Scheiben sonst von Salz und Sand erblinden.

Alle Betten sind bezogen, aber es hat lange niemand mehr darin geschlafen, weil ihre Zimmer alt sind und mit schweren Möbeln eingerichtet, ohne Fernseher, das Bad im Flur.

Sie stammen noch aus einer Zeit, als man Touristen »Badegäste« nannte und wie Verwandte unterbrachte, Familien aus dem Rheinland oder Schwaben, die jeden Sommer wiederkamen und mindestens zwei Wochen blieben. Sie buchten Vollpension und aßen das, was Hanne ihnen morgens, mittags, abends auf die Teller legte, sie durften manchmal in der guten Stube auf dem Sofa sitzen. Man spielte Karten mit den Gästen, lachte über ihre Art zu sprechen, kannte die Geburtstage der Kinder. Sie schickten Weihnachtskarten.

Manche schreiben heute noch, und hin und wieder kommen sie vorbei, auf einem Mietfahrrad, wenn sie in einem der Hotels am Strand drei Tage Wellness machen. Trinken Tee an Hannes Küchentisch, erinnern sich an all die schönen Inselsommer, erzählen von den Enkelkindern, und dann radeln sie zurück zu ihrem Spa mit Nordseeblick.

Manchmal wohnen in den alten Zimmern noch Studenten, die aus irgendeinem Grund die Inselsprache lernen wollen. Professoren schicken sie mit Wörterlisten, und die jungen Leute klappern dann vier Wochen lang die Häuser ab und hoffen, dass noch irgendwo ein Seemann lebt, eine alte Hebamme oder ein zahnloser Krabbenfischer, der ihnen ein paar Sätze dieser fast verstummten Nordseesprache in die Mikrofone nuscheln kann. Irgendwann erbarmt sich Hanne Sander meistens, setzt sich an den Tisch mit ihnen, spricht ihnen die alten Inselwörter für »Strandhafer« oder »Seeschwalbe« in ihre Aufnahmegeräte, und beim Frühstück fragt sie die Vokabeln ab für »Brot« und »Ei« und »Milch«.

Die beiden Musiker, die viele Jahre lang von Juni bis September bei ihr wohnten, sind dieses Jahr nicht wieder aufgetaucht. Gábor und Zsófia, Bassist und Sängerin der ungarischen Kurkapelle, sie wollten jedes Jahr dasselbe Zimmer.

Nur in den Sommerwochen waren sie ein Paar, dann reisten sie getrennt zurück zu Mann und Frau und Kindern, und Hanne hat sich jedes Mal gefragt, wie sie zu Hause wohl empfangen worden sind. Ob jemand sie erwartet hat mit einem Blumenstrauß und einem Fest. Ob ihnen ein Geschirrtuch zugeworfen wurde nach einem Abendbrot am Küchentisch.

Und ob es anders ist, auf einen Musiker zu warten als auf einen Seemann, der sich ein Kreuz, ein Herz und einen Anker in die Haut gestochen hat.

Der Glaube ist ein krankes Kind, die Liebe ist ein Biest. Die Hoffnung ist nicht tot zu kriegen.

Die Sehnsucht auch nicht, jedenfalls nicht ganz. Wenn in den kalten Monaten der Himmel wie versteinert über dieser Insel liegt, die See so stumpf und räudig wie ein Rattenfell, träumt Hanne manchmal von der Welt, die nicht an einem Hafen endet. Wie anderen Menschen in bestimmten Wetterlagen die Gelenke schmerzen, brennt bei ihr ein altes Fernweh. Nach Hügeln oder Wäldern, warmem Licht. Nach Kleidern, die auf Inseln nicht getragen werden.

Sie hätte es wie ihre Schwester machen können, durchbrennen mit einem Badegast – und dann mit ihren Heimwehschüben leben. Aber das tut man nicht, wenn man Jens Sander haben kann.

Und Hanne hängt an diesem Brocken Land, sie weiß nur manchmal nicht, ob dies noch ihre Insel ist.

Vielleicht gehört sie längst den Wellenreitern und den Wolkenmalern, den Nacktbadern und Muschelsuchern – oder den Eintagsfliegen, die in Schwärmen jeden Tag vom Festland kommen, eine Inselrunde mit der Pferdekutsche drehen, Kaffee trinken in der Leuchtturmstube, weiterzuckeln Richtung Inselkirche, Vogelkoje und Museum, einmal kurz die Promenade rauf und runter, Abendessen im Klabautermann und mit der letzten Fähre wieder auf das Festland, wo die Reisebusse auf sie warten. Oder den Ausgebrannten und Asthmatikern und den Erschöpften in den Mutter-Kind-Kur-Heimen. Den Gestressten, die sich eine »Auszeit« gönnen, zwei, drei Nächte lang im neuen Strandresort.

Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut.

Hanne Sanders Badegäste kamen und sie gingen wieder. Im Sommer teilte man den Strand, die Seeluft und den Wind mit ihnen, und im September klopfte man die Fremden ab wie Sand von einem Kleid – auch das war ein Gesetz auf dieser Insel, so verlässlich wie der Zug der Vögel.

Es gilt nicht mehr, die Leute bleiben jetzt. Sie werfen sich in Winterstürme wie in Achterbahnen, feiern die brutale See für ihre Wildheit, sie möchten Sturmfluten erleben und zahlen ein Vermögen für ein Haus mit Delfter Fliesen und den Initialen eines Grönlandfahrers in der Giebelmauer.

Hanne Sander schließt am Abend ihre Stubentür, wenn sie die Flüche und Verwünschungen von oben hört, das Poltern eines Menschen, der den Poller treffen muss. Sie ist gefasst auf alles, wartet aber nicht. Sie macht es wie die See, die immer da ist.

2

Federlos

Man muss, wenn man auf einer Insel leben will, die Tagesränder suchen. Die Dämmerzeiten zwischen Tag und Nacht, die frühen Nebelmorgen und die späten Regennachmittage. Man muss am Strand, beim Bäcker und im Supermarkt gewesen sein, bevor die erste Fähre mit den Bustouristen und den Fahrradfahrern kommt. Und man muss warten, bis die Abendfähre weg ist, wenn man allein auf einem Inselfriedhof stehen will.

Nach zwanzig Jahren Dienst in einer Seemannskirche fällt ihm kaum noch auf, dass seine Tage nach dem Schiffsfahrplan getaktet sind. Die Pendelfähre ist das Metronom, nicht nur für ihn, für alle Inselleute. Er hat das Leben an den Rändern hier gelernt.

Erst wenn der letzte Tagesgast sich sein Memento mori bei den alten Seemannsgräbern abgeholt und vor den Kreuzen der Ertrunkenen und Namenlosen kurz geseufzt hat, erst wenn die schwere Friedhofspforte krachend hinter ihm ins Schloss gefallen ist, beginnt die Tageszeit der Hiesigen. Die Zeit der Harkenden und Gießenden, der Trauernden und nicht mehr Trauernden, der Orgelschüler, die noch eine Stunde üben müssen. Die Tageszeit der Schwalben, die endlich freie Schwünge zwischen Kirchendach und Friedhofshecke fliegen können, ihr Gezwitscher unbekümmert wie das Lästern seiner Konfirmanden, wenn sie nach dem Unterricht vergessen, dass er sie noch hören kann.

Die Zeit des Inselpastors, der nach dem Abendsegen und dem letzten Händeschütteln noch ein paar Minuten an der Feldsteinmauer lehnen will, die Augen zu, ein abgeschminkter Komödiant nach seinem letzten Vorhang.

Im Sommer strömen die Besucher schon um zehn Uhr morgens Richtung Inselkirche, um den Taufstein aus dem vierzehnten Jahrhundert zu besichtigen, das Votivschiff und die alte Kanzel – und ganz sicher wollen sie dann keinen Pastor sehen, der in verschwitzten Laufklamotten um die Kirche rennt. Der Privatmensch muss verschwunden sein, bevor die Fremden kommen.

Weg mit den Joggingschuhen, weg mit dem Ehemann, dem Vater und dem Sohn Matthias Lehmann, weg mit dem leisen, seltsamen Geräusch in seinem Kopf. Er hört es jetzt auch schon beim Laufen, weg damit. Her mit dem Gottesmann.

Von Juni bis August ist Hauptsaison, auch für den Pastor, denn die See, der Wind, die freie Zeit, sie werfen Fragen auf. Reizklima bringt die Menschen aus der Ruhe.

An vielen Sommertagen steht er zweimal in der Kirche, eine Kurzandacht zur Mittagszeit, ein kleiner Abendsegen mit Musik. Seit seine »Seelensnacks im Inselkirchlein« auf der Website des Verkehrsvereins als Ausflugstipp gelistet werden, hat er im Juli oft noch mehr Besucher als im Weihnachtsgottesdienst.

Vorausgesetzt, das Wetter ist nicht allzu schön, sonst beten seine Urlaubsfrommen nur die Sonne an und feiern ihren Untergang am Abend Weißwein trinkend an den Stränden.

Auch allzu schlechtes Wetter ist ein Hindernis, denn wenn es regnet, sind Touristen für die Frohe Botschaft nicht empfänglich. Sie wollen dann nur, dass der Himmel aufreißt. Manche raffen sich vielleicht noch ins Museum auf, um sich die Trachten und Harpunen anzusehen, oder schleppen sich zum Kursaal, wo sie vor dem Sturmflutfilm ein bisschen dösen können. Die meisten aber schmollen wie Betrogene in ihren Unterkünften, bis der Regen endlich aufhört.

Die kühlen, leicht bewölkten Sommertage sind die besten. Seelenhungertage.

Er weiß, dass sie auch seinetwegen in die Kirche strömen, dass manche ihn den »schönen Pastor« nennen oder den »Impresario des Herrn«, wie eine Zeitung einmal schrieb. Und warum nicht? Er hat die Gabe, Menschen zu begeistern, aufzuschließen, sie zum Glauben zu verführen, und er nutzt sie. Immerhin ist er noch nicht so selbstbesoffen, dass er denkt, es läge nur an seinem Charisma und seinen schönen Augen.

Es ist auch dieser Ort, der etwas mit den Leuten macht.

Kein Mensch kann ungerührt in einer Inselkirche sitzen, die siebenhundert Jahre lang den Stürmen standgehalten hat, den schwersten Fluten. Und alle atmen tiefer, wenn sie bei den Kreuzen für die Angespülten, Heimatlosen stehen, die Nordsee vor sich und die Friedhofsschwalben über sich. Dann braucht es gar nicht mehr die Axt für das gefrorene Meer in ihnen, dann reicht dem Inselpastor schon die Feile.

Beim ersten Ton der alten Orgel hat er sie. Geh aus, mein Herz.

Er feiert diese Viertelstunden, strahlt in ihre Sonnenbrandgesichter, streicht ein wenig Öl auf ihre aufgerauten Urlaubsseelen, spielt mit Worten und mit Bildern, die er morgens an der See gesammelt hat. In jeder Muschel, jedem Sandkorn, jeder Möwenfeder findet er die Handschrift seines Schöpfers und die große Kraft, von der er sich getragen fühlt, auch durch die langen Sommertage, wenn er am Abend heiser ist und leer und nur noch stumm an seiner Kirche lehnen will.

Er hat das so gewollt, er will es immer noch: sich jeden Tag verschwenden. Funken schlagen, leuchten! Diese Insel ist sein Kraftwerk, und er dankt dem göttlichen Betreiber jeden Tag dafür, dass er hier leben darf, mit einer Energie gesegnet, die er nicht allein verbrauchen kann. Er muss und will sie teilen, und in den Sommerwochen gibt er alles. Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang.

Lange vor der ersten Fähre steht er auf und macht sich auf den Weg zum Strand, egal, wie schlecht das Wetter ist.

Die Inselleute haben sich an ihren joggenden Pastor gewöhnt. Nur selten macht noch ein Gemeindeglied den alten Scherz und fragt, wovor er wegläuft, ob er etwa auf der Flucht sei. Er gibt dann jedes Mal dieselbe alte Antwort, die sich auch wie ein Scherz anhört, obwohl sie ernst gemeint ist: »Ich bring mich nur vor euch in Sicherheit!«

Ein Pastor kommt nicht weit, wenn er spazieren geht, vor allem nicht auf einer Insel. Ein schlendernder Pastor ist leichte Beute für all die Einsamen und Angeknickten, chronisch Kranken, frisch Verwitweten, Verlassenen und Lebensmüden, die ihm unterwegs begegnen. Ganz zu schweigen von den Herrschaften und Damen aus dem Orgelbauverein, dem Kirchenchor oder dem Bibelkreis, die ihrem Pastor jederzeit sehr viel zu sagen haben. Egal, wo sie ihn treffen oder wann, sie ziehen ihn in ihre langen, weit verzweigten Monologe, und er muss sehen, wie er wieder rauskommt. Nach all den Jahren weiß er immer noch nicht, wie man schnell und elegant aus einer ungewollten Unterhaltung aussteigt. Ein Sprung von einem Karussell in voller Fahrt – so enden die Gespräche oft bei ihm.

Klarheit. Fokus. Grenzen setzen. Katrin hat versucht, ihm ein paar Stoppsignale beizubringen, die bei den Elternabenden und in den Konferenzen ihrer Schule immer sehr gut funktionieren. Sie findet, dass er die Gemeinde schlecht erzogen hat. Du lässt den Leuten zu viel durchgehen, Matthias. Aber er kann doch eine Witwe, deren Mann er gerade erst beerdigt hat, nicht bitten, mal zum Punkt zu kommen. Und einem Menschen, der vor Einsamkeit schon krank ist, nicht noch Grenzen setzen. Er ist nicht Trainer einer Hundeschule, er ist Pastor. Zur Seelsorge berufen, auch wenn Katrin bei dem Wort »Berufung« das Gesicht verzieht wie bei den Ausdrucksfehlern ihrer Schüler.

Die Trennung zwischen dienstlich und privat gehört nicht unbedingt zu seinen Stärken, damit hat sie recht.

Also läuft er, bringt sich in Sicherheit vor seinen Ungetrösteten und Unerhörten, winkt ihnen aus der Ferne zu und rennt vorbei, er muss ja weiter. Erst wenn er sieht, dass er am Strand alleine ist, kein Mensch zu sehen weit und breit, der mit Gesprächsabsichten kommt, hört er mit dem Gerenne auf, lässt sich in den Spaziergang fallen. Schlendert, bis ihm kalt wird in den Sportklamotten. Dann trabt er wieder an.

Es wird allmählich ruhiger auf der Insel. In den Zweigen seiner Apfelbäume sind die Spinnennetze schwer vom Tau, wenn er am frühen Morgen durch den Garten geht, und in der Rosenhecke halten sich die Blüten und die Hagebutten jetzt die Waage. Der August ist schon vorbei, und er ist froh darüber.

Die Pforte quietscht, wenn er sie öffnet, jeden Tag ein bisschen mehr. Sie prangert an, dass sie auch diesen Sommer nicht gerichtet und gestrichen worden ist. Er schließt sie hinter sich und lässt die Hand kurz auf dem ausgelaugten Holz, streicht mit dem Daumen über ihre Maserung, bis ihm bewusst wird, was er da gerade tut. Er tröstet eine Gartenpforte. OMG, wie seine Konfirmanden sagen würden.

Katrin wird es auf die Liste der Pastorenmacken setzen, wenn er ihr davon erzählt. Déformation professionnelle! Sie liebt solche Berufskrankheiten, sammelt sie wie andere Leute Schmetterlinge – und weiß, dass dieses Listenführen ihre Macke ist, die Deformierung eines Lehrerinnenlebens. Katrin kann noch lachen über sich, das können im Kollegium nicht viele. Sie konnten immer lachen miteinander, dreißig Jahre lang. Jetzt will sie weg von ihm.

Der erste Kilometer ist der schlimmste. Jeden Morgen ackert er mit schweren Beinen durch den Kirchenweg und dann die Dorfstraße entlang, bis er die Bäckerei erreicht, ein erster kleiner Sieg nach fünf Minuten. Sie hat noch nicht geöffnet, nur die Backstube ist hell erleuchtet. Ihre Fenster sind beschlagen, und die Tür steht einen Spaltbreit offen. Er bleibt für ein paar Atemzüge stehen und lässt sich trösten von dem Duft nach warmem Brot. Ab hier läuft es sich leichter.

Die meisten Häuser sind noch dunkel, keine Schritte auf der Straße außer seinen eigenen, das Dorf wird Jahr für Jahr ein bisschen stiller. Es leben nicht mehr viele Frühaufsteher hier, keine Fischer, Kapitäne, Steuermänner, die jetzt schon zum Hafen müssten. Keine Bäuerinnen, die man bei Tagesanbruch treffen könnte, auf dem Weg zu ihren Ställen oder Feldern.

Er läuft vorbei an ihren alten Häusern, die hinter Rosenhecken dämmern, in der Obhut von Alarmanlagen. Manche sehen noch so aus wie auf den Ölgemälden einer Künstlerkolonie, die hier vor über hundert Jahren lebte. Immer noch dieselben Häuser und dieselbe Kopfsteinpflasterstraße, auch die Nordsee und der Himmel noch wie damals schon gemalt, nur die Menschen auf den Bildern sind verschwunden: Inselfrauen, die in Trachten in den Stuben sitzen, Kinder kämmen, Wolle spinnen, wartend aus den Fenstern blicken. Seemänner mit Bärten, die Harpunen halten, in die Brandung rudern, Pfeifen rauchen. Alle längst begraben auf dem Inselfriedhof oder aufgelöst am Meeresgrund.

Nicht vom Denkmalschutz bewahrt wie ihre Häuser, die mit den reetgedeckten Dächern, den sanierten Giebeln und den frisch gestrichenen Fenstern wieder fast wie neu aussehen, zu schön, um wahr zu sein. Vor zweieinhalb Jahrhunderten von Männern mit Erfrierungen gebaut und jetzt verkauft an Fremde, die vom Inselleben träumen wie die Maler damals.

Die neuen Hausbesitzer reisen mit den Freitagsfähren an, die Autos vollgepackt mit Weinkartons und Feuerholz und Reisetaschen. Sie machen Licht und zünden Öfen an und stoßen sich ein paarmal ihre Köpfe an den Deckenbalken oder schrammen sich die Beine auf an ihren engen Küchenbänken. Bringen Wellenbretter mit und Wetterjacken, Drachen, große Wollpullover, regenfeste Schuhe. Dicke Bücher, die sie abends an den Kachelöfen lesen wollen. Kaufen Fisch am Hafen, laden Freunde ein zu langen Nordseewochenenden. Finden Muscheln, die sie auf die Fensterbänke legen, feiern Sonnenuntergänge, lassen Sand durch ihre Finger rieseln, können ihren Blick nicht lassen von der See.

Ein Jahr, zwei Jahre geht es so, dann kommen sie ein bisschen seltener, nur jedes zweite Wochenende oder jedes dritte, jedes vierte, und dann schlafen sie nachts hinter ihren Giebelfenstern, das Gesicht zur See, und träumen Dinge, die sie nicht erklären können. Atmen alte Träume weiter, liegen wach und fragen sich, warum die Wände knacken. Fürchten sich vor Mäusen, die sie über ihren Köpfen rascheln hören. Stehen auf und suchen warme Decken, machen Wasser heiß für Tee und Kirschkernkissen für die kalten Füße. Sie können ja nicht frieren, nie gelernt.