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Beschreibung

Das technische und wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Umfeld ändert sich rasant, in jüngster Zeit geradezu dramatisch. In der Folge steht auch das Business Coaching vor disruptiven Veränderungen. Der vorliegende Band versammelt die Einschätzungen und unterschiedlichen Perspektiven ausgewiesener Fachleute zur zukünftigen Entwicklung des Business Coachings: Stimmen aus Unternehmen, Verbänden, Wissenschaft und Ausbildung sowie von digitalen Coaching-Providern kommen zu Wort. Die Fortschreibung bewährter analoger Ansätze bis hin zu virtuellen wie auch den neuen digitalen Formaten wird von erfahrenen Praktiker:innen, renommierten Wissenschaftler:innen, Einkäufer:innen und »Jungen Wilden« mit innovativen Ansätzen intensiv diskutiert. Es geht um einen Beruf, von dem in der Wirtschaftswoche vor Jahren zu lesen war, dass er zu den wichtigsten der Zukunft zählen werde. Das Buch ist ein Spiegelbild der Szene. Ein Must-have für alle, die sich mit Coaching beschäftigen oder sich dafür interessieren!

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Seitenzahl: 449

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Vorwort

Kapitel 1 Eine kurze Geschichte des Coachings in der Moderne

Coaching als ikonografische Figur der Werte-Entwicklung im Westen

Kapitel 2 Perspektive: Unternehmen und Organisationen

Digital Coaching Provider (DCP) als Bezugsquelle von Coaches für Einzel- und Großkunden.

Coaching nicht nur für die Person, sondern auch für das Unternehmen

Eine Stimme aus Sicht der Mitbestimmung

Coaching als Booster für C-Level Hochleistungsteams

Der unbekannte Erfolg des Coachings – eine Stimme zur Zukunft des Coachings aus der Perspektive der Arbeitsmarktpolitik

Zur Zukunft des Coachings in deutschen Forschungszentren – ein Standpunkt

In Zukunft politischer: Leitungscoaching in Wissenschaft, Politik und Verwaltung

Kapitel 3 Perspektive: Verbände

Systemisches Coaching als Freiraum für Entwicklung und Kreativität

Business Coaching in einem digitalisierten Deutschland

Anregungen zur zukünftigen Entwicklung des Coaching-Marktes

EMCC zur Zukunft des Business-Coachings

2040 – Ein Blick in die Zukunft des (Business-)Coachings – Von utopischen Sehnsüchten und konkreten Bodenankern

Die Zukunft des Coachings: gestalten, oder bewältigen?

Kapitel 4 Perspektive: Wissenschaft, Hochschule und Ausbildung

Die digitalen Zukünfte des Coaching

Die Zukunft des Coachings

Coaching als Kompetenz der Zukunft

Transformationscoaching mittels Transflexing

Den schlafenden Riesen wecken – Zur Didaktik bei Coaching-Ausbildungen

Die Sicht eines Ökonomen auf das Coaching und seine Zukunft

Kapitel 5 Perspektive: Digitale Coaching Plattformen

Von der Digitalisierung, Künstlichen Intelligenz und Unverfügbarkeit

Den Herausforderungen der VUCA-Welt mit einer (digitalen) Coaching-Kultur erfolgreich begegnen

Die Zukunft des Coachings? Sehr wahrscheinlich wird sie blende(n)d!

Wenn nichts mehr einen Sinn ergibt: Coaching als Vehikel in der VUCA-Welt – eine Erkundung

Kapitel 6 Innovationen: Eine schöne neue Coaching-Welt?

Digitales Coaching stärken. Coaching bei einer Modern Work Tour

Coaching Hype – Fluch und Segen im agilen Kontext

Übergang vom f-2-f Coaching zum Digitalen Coach mit Avataren und Bots

Business Coaching mit Virtual und Mixed Reality. Ein Ausblick über den Lerntransfer von Morgen

Kapitel 7 Denken in Szenarien: Perspektiven einer neuen Coaching-Welt

Zukunft des Coachings: Glaskugel, Spekulation oder realistische Szenarien?

Schlusswort: Aufforderung zur Diskussion

Autorinnen- und Autorenliste

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Uwe Böning & Frank Strikker

Vorwort

Der Zusammenhang, die wechselseitigen Beziehungen und Beeinflussungen zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Coaching beschäftigen und faszinieren uns schon seit geraumer Zeit (Böning & Strikker 2014). Im November 2020 veröffentlichten wir schließlich in der Reihe „essentials“ bei Springer den schmalen Band mit dem Titel „Coaching in der zweiten Romantik: Abstieg oder Aufstieg?“.

Dort sprachen wir nicht über die neuesten Methoden oder die Wirkungsgrade von Coaching, speziell Business Coaching. Auch nicht über den aktuellen Forschungsstand zu Coaching.

Vielmehr sprachen wir über Fragen der Zukunftsentwicklung von Coaching und lenkten unseren Blick auf die das Coaching mitbestimmenden externen Rahmenbedingungen.

Wir schrieben über die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie über die Klima- und Umweltbelastungen – und nicht zuletzt über die fundamentale Digitalisierung, die neben allen Vorzügen, z.B. den medizinischen, auch zu gravierenden Gefährdungen unserer Lebens- und unserer Arbeitsverhältnisse würde führen können.

Wir stellten eine „steile“ Hypothese auf: Coaching sei eine ikonografische Kulturfigur unserer westlichen Selbstverwirklichungsgesellschaft. D.h., sie sei ein Produkt unserer politisch-gesellschaftlichen Werteentwicklung der letzten 40-50 Jahre und spiegele unser Welt-Erleben in der Postmoderne wider:

Erstens das Selbstverständnis der heute im Westen lebenden Individuen.

Zweitens ihre Orientierungsschwierigkeiten wie ihre Unterstützungsbedürfnisse in einer überkomplexen wie hochvolatilen Welt.

Und drittens ihre persönlichkeitsbezogenen Selbstverwirklichungsideale wie auch ihre Entwicklungshoffnungen als Menschen.

Für diese Einschätzung sprechen verschiedene Rahmenbedingungen: Der wirtschaftliche Lebensstandard und Wohlstand im Westen sind (noch?) historisch hoch. Den Menschen geht es in vielerlei Hinsicht außerordentlich gut: Die Freiheitsrechte und (Mit-) Gestaltungsmöglichkeiten sind groß, was auch den amerikanischen Starpsychologen Steven Pinker (2018: Aufklärung jetzt) dazu veranlasste, anhand von vielen Statistiken in seinem Buch beweisen zu wollen, dass eine aufkommende Skepsis und eine sich ausbreitende negative Stimmung in vielen Ländern des Westens unbegründet und überflüssig seien.

Die Menschen dürstet es gegenwärtig fast unstillbar nach Freiheit und individueller Entfaltung der eigenen Potentiale, die nur durch die langsam vorübergehende Corona-Pandemie der Jahre 2020/2022 inakzeptabel eingeschränkt gewesen zu sein schien.

Zwar waren wir als Autoren weder enttäuscht noch depressiv, als wir die „essentials“ schrieben. Auch wollten wir keinesfalls die von uns gesehenen Probleme als unlösbar und das Leben verdüsternd beschreiben, als wir über eine der von uns genannten Rahmenbedingung sprachen, nämlich die Zunahme der autokratischen Entwicklungen in verschiedenen Ländern in den letzten Jahren. Heute könnten wir aufführen: Iran, Türkei, Polen, Ungarn, USA (zumindest bis zur Wahl von Präsident Biden) sowie einige Länder in Südamerika, dem Nahen Osten und in Asien.

Und selbstverständlich sehen wir im Coaching immer noch eine vielversprechende positive Unterstützung der Menschen, die sich als Individuen weiterentwickeln und ihre beruflichen, wie persönlichen Potentiale entfalten wollen und sollen.

Aber die Lage hat sich seit dem 24. Februar des Jahres 2022, also wenige Wochen vor Fertigstellung des Manuskripts des nun vorliegenden Buches radikal verändert: durch den Angriff Russlands auf die Ukraine.

Sprachen wir in den „essentials“ noch von „kritischen Entwicklungen“ der Rahmenbedingungen, die unsere politische Ordnung der Welt und unsere Lebensweise der vergangenen 75 Jahre bedrohen könnten, so müssen wir heute feststellen, dass sich die Lage schon wieder radikal verändert hat:

Nein, wir meinen jetzt nicht die Digitalisierung als 4. Technologische Revolution, die unsere Arbeits- und Lebensverhältnisse disruptiv verändert. Wir zielen auch nicht auf die aktuell noch anhaltenden Corona-Pandemie, die weltweit zu massiven Eingriffen in das Arbeits- und Sozialleben geführt hatte.

Wir wollen auf die Zerreißproben und Erschütterungen der internationalen Ordnung und Beziehungen zwischen den Ländern zurückkommen, die die acht Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg in der westlichen Hemisphäre geprägt hatten. Und auf die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, die nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland ihre gesellschaftlichen Belastungen hinterlassen hat.

Auch die Corona-Pandemie hat ihre erheblichen Changes in den Jahren 2020-2022 in den Jahresergebnissen, in der Zusammenarbeit wie im Führungsverhalten nach sich gezogen.

Um es kurz zusammenzufassen: New Work heißt eines der neuen Stichworte, das in der Zwischenzeit die Arbeitswelt eroberte und mit Home-Office und anderen Entwicklungen wie z.B. New Leadership die Arbeitswelt verändert. Die VUCA-Welt wurde zum Boden für eine Vielzahl von nicht in dieser Massivität und Konsequenz erwarteten Veränderungen der Arbeits- und der sozialen Verhältnisse.

Auch über die Arbeitswelt hinaus veränderte sich die soziale Wirklichkeit im Ganzen: „Social Distancing“ war nicht nur eine Maßnahme zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, sondern bekam eine viel weitere Bedeutung: Für „die Alten“, denen in der Einsamkeit vieler Pflegeheime das Ableben nur in würdeloser Einsamkeit übrig blieb.

Für die „jungen und mittelalten Erwachsenen“ schuf das Social Distancing eine neue Realität, weil Sie ihre Partner:innen nun in der digitalen Welt suchen und finden mussten. Und für „die Kinder“, die in ihrer Welt des Spielens und Ausprobierens von neuen Rollenerfahrungen nun auf Filme und das Handy angewiesen waren, weil sie ihre prägenden Kinder- und Jugendjahre im Home-Office in quälender Abstinenz von Gleichaltrigen verbringen mussten. Die Welt schien aus den Fugen geraten und war am Ende für viele nur noch schwer zu ertragen.

Alle diese Entwicklungen und Herausforderungen bewegten die Menschen heftig. Es gab darüber Proteste, Demonstrationen, Artikel, Podcasts, TV-Auseinandersetzungen, Bücher und heftige Diskussionen. Auch umkämpfte Positionen.

Aber wir ahnten nicht, wie schnell, dramatisch und unmittelbar sich die Bedeutung der Worte „umkämpfte Positionen“ fundamental änderte – und die Lage in der realen Welt sich tatsächlich zuspitzen würde – geradezu surreal:

Die Flutkatastrophe des Jahres 2021 mit ihren politischen Folgewirkungen in Deutschland sahen wir natürlich nicht voraus. Und vor allem sahen wir nicht den Ukraine-Krieg des Jahres 2022 voraus, der viele Opfer und große Verluste erzeugt – und eine geradezu umstürzende Wirkung der internationalen politischen Ordnung und der wirtschaftlichen Folgen mit sich bringt. In einer Massivität, die wir nicht ahnten: Die Vielzahl der Toten. Die riesigen Flüchtlingsströme aus der Ukraine. Die bedrohliche Lage der Wirtschaft und auch des gesellschaftlichen wie politischen Lebens nicht nur in Deutschland: Eine „Zeitenwende“ wie Bundeskanzler Scholz bilanzierte. Ein „Epochenbruch“ wie der „SPIEGEL“ schrieb, nicht an die maßvolle Sprache der Diplomatie gebunden.

Der Konflikt hat weltweite Auswirkungen, die die Wirtschaft und die Gesellschaft vieler Länder genauso betreffen wie die internationalen Beziehungen. Aber die Beteiligten in den internationalen Beziehungen haben ihren Job gemacht – und dieses Zeichen des Lebens sollten wir gerade angesichts dieses menschengemachten Unglücks auf keinen Fall vernachlässigen, auch wenn viele andere Dinge dadurch anders werden.

Auf unser Buchprojekt hat dieser Krieg nur eine Auswirkung. Wir als Herausgeber konnten die Entstehung des Krieges noch in unseren Beiträgen einarbeiten. Wir bitten Sie als Leserinnen und Leser zu berücksichtigen, dass alle anderen Beiträge bereits vor dem Angriff auf die Ukraine entstanden sind und wir nicht beurteilen können, in wie weit der Krieg die Stellungnahmen der Autor:innen verändern würde.

Aber so sehr diese militärische, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität die Rahmenbedingen unseres Lebens beeinflusst und wir dabei sind, diese zu begreifen, wollen wir uns auf unsere Reichweite konzentrieren, die wir haben und die wir auch gestalten können wie wollen: Es geht uns um die Zukunft des Coachings. Das ist das Thema des vorliegenden Buches.

Das moderne Coaching ist in den vergangenen 40 – 50 Jahren im Westen entstanden. Deshalb beginnen wir auch mit dieser Zeit am Anfang des inhaltlichen Teils des Buches und schließen mit einer zentralen These unserer Position an: dass nämlich Coaching eine ikonografische Kulturfigur unserer uns bisher prägenden Wertewelt der späten Moderne darstellt, die oft Postmoderne genannt wird, wie Böning in einem Artikel in der Zeitschrift OSC (4/2021) ausführlich dargelegt hat. Bezugnehmend auf die Ausführungen und Gedankengänge des Soziologen Andreas Reckwitz (Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017; Das Ende der Illusionen, 2019) und des Historikers Philipp Sarasin (1977, 2021) wird ausgeführt, wie der durch die äußeren Rahmenbedingungen gebildete Werte-Horizont die Weltwahrnehmung und die Handlungsmaximen des westlichen Coachings seine Axiome, seine Konzeptvorstellungen, seine Handlungsregeln und seine Ziele wiederspiegelt.

So erklärt sich auch der rasante Siegeszug des Begriffs, der aus einem Methodenmix für eine bis in die 80-er Jahre hinein unbekannte Beratungsform in der Zwischenzeit zu einem Container-Begriff für ein aktives Allerlei für alles Mögliche geworden ist, was sich um das sich selbst optimierende, das lernende, vielleicht sich sogar vervollkommnende Individuum dreht. Die weltweite Verwendung des Begriffs zeigt, dass er nicht mehr einzufangen bzw. auf eine einzige Bedeutung, Leistung, Beratungsform oder Qualifikation einzugrenzen ist. So nennt z.B. der SPIEGEL-Verlag eine seiner spezifischen Zeitschriften einfach „Coaching“ und kümmert sich rührend um sechs Themen, die er nach Kochbuchmanier seinen Leser:innen empfiehlt: Es geht um „Jung bleiben, Richtig essen, Souverän sein, Mehr Bewegen, Fair streiten und Erfolgreich Fasten“. Das Deckblatt beschreibt die dargebotene Leistung wie folgt: „Sechs Trainingsprogramme, mit denen Sie ihr Leben managen können“. Na also: So einfach ist das!

Der Begriff „Coach“ gilt heute z.B. nicht nur für Sporttrainer, sondern ist auch der Name einer gehobenen Modemarke für Kleidung, Taschen und andere Accessoires. Und fast überall scheint man dem Wort „Coaching“ oder wenigstens „Coach“ begegnen zu können: In England und den USA heißen so schon seit langem die Busse – und erinnern den Kundigen an die Herkunft des Begriffs, nämlich seinen Ursprung in dem ungarischen Dorf Kocza, der dort im 19. Jahrhundert eine Kutsche bezeichnete. Auf Umwegen in die USA gelangt, wurde daraus die amerikanisierte Bezeichnung zuerst für die Kutsche und später für den Kutscher.

Kommen wir zum Kern unserer Überlegungen zurück. Wir sagten schon: Wir erleben heute einen Epochenbruch, eine Zeitenwende durch den Krieg, der die angesprochene Entwicklung der Rahmenbedingung des schleichenden Aufkommens autoritärer Regierungen weltweit jetzt ins Radikale und physisch Bedrohliche steigert. Und wir erleben eine vierte technologische – oder industrielle – Revolution, die in Verbindung mit der hoffentlich vorübergehenden Corona-Pandemie zuweitreichenden Veränderungen der Wirtschaft und des Soziallebens zwingt. Wir vermuten, dass sie nicht ohne Auswirkungen auch auf „Coaching“ bleiben werden. Die Einwirkungen mögen direkt oder indirekt, offensichtlich oder subtil, sanft oder heftig ausfallen: In jedem Fall wird „das Coaching“ nach unserer Meinung ein anderes werden, als wir es bisher kannten! Und die Frage ist: Wie wird es in Zukunft möglicherweise aussehen?

Nachdem wir uns schon vor einiger Zeit mit dieser Thematik befasst hatten (Böning & Strikker 2014 und 2020), wollen wir in diesem Band vor allem Andere zu Wort kommen lassen. Wir möchte mit ihnen den Blick in die Zukunft werfen, um aus unterschiedlichen Perspektiven erfahren zu können, was denken, schreiben, überlegen und sagen Expert:innen zur Zukunft unserer Branche.

Im Anschluss an eine kurze Geschichte des Coachings (Kapitel 1) möchten wir sechs große Perspektiven präsentieren: die

Kunden-Perspektive, d.h. verschiedene Unternehmen und Organisationen (Kapitel 2)

Verbands-Perspektive, d.h. Coachingverbände aus dem deutschsprachigen Raum (Kapitel 3)

Wissenschafts-Perspektive, d.h. Aussagen aus Wissenschaft, Hochschulen und Ausbildung (Kapitel 4)

Digitale Perspektive, d.h. Digitale Coaching Plattformen/Provider (Kapitel 5)

Innovations-Perspektive, d.h. wo kündigt sich ein innovatives Verständnis von Coaching ganz praktisch an? (Kapitel 6)

Den Abschluss bildet ein Denken in Szenarien über mögliche neue Coaching-Welten (Kapitel 7)

Zwei Hinweise sind uns wichtig: Zum einen kann zurecht gefragt werden, warum wir keine internationale Perspektive aufgreifen, zumal sich Coaching auch international etabliert hat? Wir haben uns aus zwei Gründen dafür entschieden, den Fokus derzeit auf den deutschsprachigen Raum zu konzentrieren, um die Diskussionen und Beiträge überschaubar zu halten, zumal Coaching im internationalen Raum ganz verschiedene Gesichter hat, was folglich besser in einem eigenständigen Band zu behandeln wäre. Zum anderen werden aufmerksame Leserinnen und Leser bekannte Coachingverbände aus dem deutschsprachigen Raum vermissen. Auch wir finden die Tatsache bedauerlich, dass einige Coachingverbände (wir hatten 15 Verbände in und außerhalb des Roundtable Coaching in der DACH Region angefragt) aus unterschiedlichen Gründen keinen Beitrag verfasst haben, klarer gesagt: keinen leisten wollten. Das mag verschiedene Gründe gehabt haben, über die man natürlich nachdenken und spekulieren kann – was wir aber an dieser Stelle nicht tun wollen.

Bei Start des Projektes haben wir allen Autorinnen und Autoren einen Fragebogen geschickt, den sie als eine Orientierung für den eigenen Beitrag nutzen konnten. Wir haben mit Absicht allen Beteiligten die Freiheit gelassen, ob sie sich auf unsere ausgesprochenen Fragen beziehen wollten oder nicht. Bekanntlich kann man über Zukunft sehr unterschiedlich ‚nach‘-oder „voraus“-denken.

Ob wir mit den geäußerten Meinungen und Positionen übereinstimmen oder nicht: Wir bedanken uns bei allen Autor:innen für ihre Bereitschaft, ihre aufgewendete Zeit und ihren Mut, sich mit bestreitbaren Positionen einer Debatte zu stellen, die bisher zu wenig in der Coaching-Szene geführt wird. Es geht uns um den anregenden, kreativen Gedankenaustausch, um unsere Profession weiterzuentwickeln und bewusst auf die Zukunft vorzubereiten. Coaches, männliche wie weibliche, sollen davon einen Nutzen haben. Genauso wie Ihre Kund:innen – und damit die Menschen in unserer Gesellschaft.

Wir werden die Menschen nicht mit glückseligen Versprechungen ins Paradies führen können. Und nicht alles, was wir als Herausgeber sagen oder nicht sagen, wird Zustimmung finden. Genauso wenig wie dasjenige, was die Autor:innen schreiben und behaupten. Doch über Zustimmung oder Widerspruch hinaus wollen wir die kooperative Auseinandersetzung so anregen, dass wir Coaches und dem Coaching Impulse für eine positive Gestaltung der Zukunft liefern.

Dann hätte sich der Beitrag von allen gelohnt.

Literatur:

Böning, U. (2021): Ist Coaching eine ikonografische Figur der gegenwärtigen Werteausrichtung unserer Gesellschaft? In: Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Nr. 4/2021, Wiesbaden, S. 581-590

Böning. U. & Strikker, F. (2014): Ist Coaching nur Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen oder auch Impulsgeber? In: Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Nr.3/2014, Wiesbaden, S. 483-496

Böning. U. & Strikker, F. (2020): Coaching in der zweiten Romantik: Abstieg oder Aufstieg? Zwischen individuellem Glücksversprechen und gesellschaftlicher Verantwortung, Springer essentials Fachmedien, Wiesbaden

Pinker, S. (2018): Aufklärung jetzt. Frankfurt a. M. S. Fischer

Reckwitz, A. (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin. Suhrkamp

Reckwitz, A. (2019): Das Ende der Illusionen. Berlin. Suhrkamp

Sarasin, PH. (2021): 1977. Berlin. Suhrkamp

Hinweise: In diesem Band verzichten wir als Herausgeber auf eine einheitliche gendergerechte Schreibweise, um den Autorinnen und Autoren ihren persönlichen Schreibstil überlassen zu können. Wir selbst sprechen beispielsweise verschiedentlich von Leserinnen und Lesern, Autorinnen und Autoren oder Autor:innen und wollen damit alle Geschlechter angesprochen wissen.

Mit DCP meinen wir Digitale Coaching Plattformen bzw. Provider.

 

Kapitel 1 Eine kurze Geschichte des Coachings in der Moderne

 

Uwe Böning & Frank Strikker

Coaching als ikonografische Figur der Werte-Entwicklung im Westen

1. Die Anfangszeit des modernen Coachings

Mit Coaching, speziell dem Business Coaching haben wir uns schon lange beschäftigt und auch darüber publiziert: Über seine Inhalte, Methoden, seiner Wirksamkeit, seinen Zielgruppen – und natürlich mit seiner Entwicklung als Profession. Die letzten 2-3 Jahre hatten immer wieder einen besonderen Schwerpunkt, über den wir mit vielen Kolleg:innen aus der Branche diskutiert haben. Die Frage lautete oft ganz einfach:

Ist Coaching am Ende oder am Beginn einer glänzenden Zukunft?

Das war der Ausgangspunkt für das vorliegende Buch.

Über die Zukunft zu sprechen, ohne die Vergangenheit im Blick zu haben, wäre ein wagemutiges Unterfangen. Denn wie soll man über die Zukunft von Coaching denken, wenn man seine Vergangenheit, seine Wurzeln und vor allem seine Rahmenbedingungen nicht im Blick hat, die seine zukünftige Entwicklung bisher bedingt haben und auch künftig prägen können?

Deshalb ein schneller, wenn auch verkürzender Bick zurück, der eine der folgenden Hauptaussagen vorbereiten und nachvollziehbar machen soll:

Coaching ist nach unserer Auffassung eine ikonografische Figur der Werte-Entwicklung der vergangenen 40 – 50 Jahre der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und auch politischen Rahmenbedingungen im Westen (Böning & Strikker 2014 und 2020).

Warum das Wort „ikonografisch“, wenn man bisher nur das Wort „ikonisch“ im Lexikon findet? Es steht für die Tatsache, dass Coaching nicht einfach für eine Entsprechung, Ähnlichkeit und wesensmäßige Abbildung der zugrunde liegenden Wertestruktur der Entwicklung der genannten Rahmenbedingungen steht, sondern vielmehr für die Tatsache, dass Coaching eine der typischsten, wenn auch unterschätzten, Kernaspekte unserer entwickelten Moderne, Spätmoderne – oder wie manch andere Forscher und Soziologen sagen: Postmoderne darstellt (siehe z.B. Reckwitz 2019): Im Coaching bilden sich wesentliche Grundbedingungen unserer Gegenwart als Voraussetzungen ab: Wohlstand, Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Selbstbestimmung. Im Begriff des Coachings verdichten sich auch zwei zentrale Ziele und Werte der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung: Fortschritt und Wachstum. Und es steht dabei weiterhin der als zentral gedachte Ausgangspunkt aller im Westen beobachtbaren Entwicklung im Vordergrund: Das Individuum und seine persönliche Entwicklung! Was will man mehr in einer säkularisierten Gesellschaft des Westens als das? Diese genau das Besondere und Einmalige verehrende Wohlstandsgesellschaft bezeichnet Reckwitz kurzerhand als „Gesellschaft der Singularitäten“ (2017).

Betrachten wir den Zeitpunkt des ersten Auftretens von Coaching im modernen Verständnis, so lässt sich als Zeitpunkt das Ende der 70-er Jahre in den USA und etwa die Mitte der 80-er Jahre in Deutschland festhalten (siehe Abb.1):

Abb. 1: Auftauchen des modernen Coachings

Es wird deutlich, dass es sich hier um eine historisch einmalige Wirtschafts- und Wohlstands-Situation handelt, die mit ausgeprägten emotionalen Wachstums- und Selbstentfaltungs-Werten der Individuen im Westen einherging.

Coaching entstand, so könnte man vereinfacht sagen, als Ausdruck eines Qualifizierungszieles von Arbeiter:innen bzw. Führungskräften in den USA im High-Tech-Bereich, die von ihren Vorgesetzten weiterentwickelt werden sollten (Böning & Fritschle 2005). Beim Sprung über den großen Teich nach Europa, speziell nach Deutschland, mutierte das Konzept sozusagen in einen völlig anderen Ansatz, nämlich in das Beraten von Top-Managern durch externe Berater:innen. Populär auffällig wurde das an einigen Stellen in Deutschland nahezu gleichzeitig und unabhängig voneinander entstandene neue Verständnis der Beratung von Führungskräften durch einen Artikel im Manager Magazin mit dem Titel „Ein Ohr für alle Fälle“, in dem über den Kollegen Wolfgang Loos und seine diesbezügliche Arbeit berichtet wurde.Einige Zeit später traf sich eine kleine Gruppe von Berater:innen in Frankfurt zu einem ersten Austausch dieser neuen Bewegung, zu dem neben Wolfgang Loos auch Uwe Böning und einige andere in diesem Feld tätige Berater:innen gehörten.

Festhalten kann man aus diesem Anfang, dass die Gruppe sich aus Berater:innen verschiedener Herkunft und mit unterschiedlichen Schwerpunkten zusammensetzte: Psychologie, Betriebswirtschaft, Weiterbildung und Gruppendynamik.

Wie ersichtlich stand bei diesem Anfang nicht eine bestimmte theoretische Konzeption allein Pate für den neuen Ansatz, sondern es handelte sich um eine kreative Mischung und Neukombination von verschiedenen Ansätzen, Tätigkeiten und Erfahrungen, die als Gemeinsamkeit die Führungskräfte aus dem Wirtschaftsbereich als zentrale Zielgruppe im Fokus hatten. Diese Zielgruppe, die lange Zeit „Führungs-Weiterbildung“ im Wesentlichen fast nur durch stark kognitiv ausgerichtete Seminare erfahren hatte, wurde nun zeitgeistgeprägt stärker mit den aus dem Amerikanischen stammenden Selbsterfahrungsgruppen sowie dortigen wie hiesigen Therapie-Ansätzen konfrontiert.

Die sich anschließende inhaltliche Entwicklung wurde von Böning und Fritschle (2005) als eine Abfolge von 7 Phasen charakterisiert, die die Vielgestaltigkeit des neuen Phänomens „Coaching“ in der nachfolgenden Abbildung einzufangen versuchte.

Abb. 2: Beginn des Coachings: Die ersten 7 Phasen

Abb. 3: 8. Phase: Zunahme der Forschung ab 2004 nach A. Grant

Wie die Abb. 4 zeigt, wurde dieser aus der Praxis herkommende neue und noch nicht konsolidierte Ansatz erst zeitversetzt von der psychologischen Forschung aufgenommen.

Insgesamt nahm die Anzahl der international registrierten (überwiegend englischsprachigen) Publikationen, die sich mit Coaching überhaupt beschäftigten erst am Beginn der 2000-er Jahre zu – wie das nachfolgende Schaubild zeigt:

Abb. 4: Publikationen insgesamt zu „Coaching“ zw. 1980 – 2013 (eigenen Recherche)

Mit diesen Darstellungen und den damit angesprochenen Zeiträumen wird eine „Kernzeit“ der Werteausprägungen des neuen Konzeptes verstehbar, die man – zumindest im deutschsprachigen Raum – als die Geburtszeit des modernen Coachings bezeichnen kann.

(Ein Hinweis für Interessierte: Eine sehr umfangreiche Studie zur Entwicklung von Coaching insbesondere im angelsächsischen Bereich ab 1911 ist zu finden bei Steinke und Steinke 2019.)

Zentrale Inhalte des sich rasend schnell ausbreitenden Ansatzes sind aus der nachfolgenden Abbildung ersichtlich.

Abb. 5: Inhaltliche Differenzierung der Coaching-Arbeitsfelder

 

2. Schwerpunkte der Werte-Entwicklung im Westen nach dem Ende des II. Weltkrieges

Betrachtet man die politisch-gesellschaftliche Entwicklung des Westens – und gerade die in Deutschland – in den vergangenen 60-70 Jahren sowie die des Coachings in den letzten 40-50 Jahren, dann fallen eine Reihe von Parallelen und Zusammenhängen auf.

Im Folgenden werden deshalb schwerpunktmäßig einige der zentralen und für Coaching relevanten Aspekte und Werte der politisch -gesellschaftlichen Entwicklung der vergangenen 70 Jahre im Westen bzw. gerade in Deutschland dargestellt.

Diese Überlegungen führen schließlich zur Aufstellung einer unserer zentralen Thesen: Coaching gilt als eine ikonografische Figur der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung der letzten 40-50 Jahre. Das bedeutet, dass Coaching in besonders klarer und verdichteter Weise zentrale Werte, das fundamentale Lebensgefühl der hier lebenden Menschen und ihrer gewachsenen Bedürfnisse zur Bewältigung einer historisch spezifischen Arbeits- und Lebenssituation widerspiegelt – und ein Setting zur besseren Bewältigung der aktuellen Herausforderungen bereitstellt.

Dabei wird auch deutlich, dass einige mit Coaching verbundene oder zumindest in Verbindung gebrachte frühere Rollen wie die des Erziehers, des Priesters und Beichtvaters oder sogar des Hofnarren bei allen Ähnlichkeiten deutliche inhaltliche wie methodische Unterschiede aufweisen, die mit den anderen Aufgaben und gesellschaftlichen Lebensbedingungen früherer Zeiten zusammenhängen. (Zur Aufstellung siehe Böning & Strikker 2020 und Böning 2021a)

Ende WW 2 und Nachkriegszeit >>> Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum

Die

40er

> Wiederaufbau, Wirtschaftliches Leben + Wachstumin vielen Ländern

50er

Jahre

> Begrenzte SouveränitätDeutschlands

> Neue demokratische Strukturen

> Neue gesellschaftliche + politische Spielregeln in Deutschland

> Stumme Verarbeitung der Kriegskatastrophe

Umbruchzeit

Die

60er

Jahre

> Bürgerrechtsbewegung in USA

> Studenten-Unruhen im Westen: USA, Europa, Deutschland

> Politischer Aufruhr + Widerstand

> Politische Auseinandersetzungen: Aufbruch + politische Utopien,

> Musik als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls: Beatles + Rolling Stones…

> Humanistische Psychologie, Selbsterfahrungsgruppen

> „Skeptische Generation“ (Schelsky)

 

Politisch-gesellschaftliche Einflüsse der USA

Die

60er

>Infragestellungen von Autoritäten + Institutionen

70er

Jahre

> Counter culture

> Sexuelle Revolution

> Emanzipation + Feminismus

> Veränderung der Geschlechterrollen

> Neue Lebensstile und Lebensziele, New Age

> Beginn des Informationszeitalters

> Neues Tanzen: Alleine!

Konsumentfaltung, Freiheit, Selbstverwirklichung + massiver Wertewandel

Ende der

70er /

Anfang der 80er Jahre

> Entfaltung der Moderne

> Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung

> Esoterik + Spiritualität, Psychoboom

> Jimmy Carter + die Menschenrechte

> Neue Führungskonzepte: z.B. situatives Führen nach Hersey/Blanchard

> „Coaching“ als neue Vorgesetzen-Rolle: Entwicklung von Mitarbeitern (USA)

> „Coaching“ als Topmanager-Beratung von externen Experten (D)

> Massiver Wertewandel: Traditionelle Disziplin-, Pflicht-Akzeptanzwerte verlieren an Wert

> Club of Rome: „Grenzen des Wachstums“

Sieg der westlichen Werte

Ende der

80er

> Mitte der 80er: COACHING in Deutschland

> Zusammenbruch der DDR und Wiedervereinigung Deutschlands

2000er

Jahre

> Zusammenbruch des Ostblocks

> Sieg des demokratischen Systems + „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1992)

> New Economy, Merger & Aquisition-Hype + ihre Blasen

> Weltweite Finanzkrise 2008/09

> Klimawandel und der neue Blick auf die natürliche Umwelt

> „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz, 2017)

 

Das zweite Jahrzehnt der 2000er Jahre in Deutschland war dabei, zu den „neuen goldenen Zwanzigern“ des jetzigen Jahrhunderts zu werden, weil der allgemeine Wohlstand historische Ausmaße angenommen hatte und auch viele andere Lebensaspekte die gewonnene Freiheit fast grenzenlos erscheinen ließen. Hervorheben lassen sich die folgenden Ereignisse und Entwicklungen:

Die Weltwirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 schienen die betroffenen Staaten im Westen und gerade in Deutschland erstaunlich gut wegzustecken, auch wenn hinter den Kulissen mehr Schwierigkeiten zu bewältigen waren als der Öffentlichkeit bekannt wurde. Die Problemlösefähigkeit des Wirtschaftssystems vermittelte den überbleibenden Eindruck: Unser System hat Vollkasko-Charakter!

Die Freiheit der sexuellen Orientierung war so groß wie noch nie: Schwule, Lesben, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Persönlichkeiten konnten sich frei wie nie bewegen und um ihre gesellschaftliche Anerkennung kämpfen. Die nur zweigeschlechtliche Identität der Menschen wurde erweitert und „Divers“ kam selbst auf offiziellen Verwaltungspapieren vor, auch wenn die Vertreter:innen dieser Gruppen noch keine volle Gleichberechtigung erhielten. Regenbogen- und Mehreltern-Familien wurden zunehmend wahrnehmbar als gesellschaftliche Realität, die bedeutende strukturelle Veränderungen der lange als Keimzelle der Gesellschaft gedachten „Familie“ darstellen.

Die Inklusion im Berufs- und allgemeinen Gesellschaftsleben wurde immer sichtbarer und konsequent umgesetzt.

Die „Fridays for Future“-Bewegung legte den Finger in die Wunde und zeigte medienwirksam auf, dass das kapitalistische Wirtschaften, der ungehemmte Konsum der Wohlstandgesellschaft vor allem in den westlichen Ländern, unser Freizeitverhalten und die wirtschaftliche Prosperität in China, Brasilien und einigen anderen Ländern die Hauptursachen für die drohende Klimakatastrophe sind.

Das bedingungslose Grundeinkommen rückte immer stärker in den politischen Vordergrund der Gesetzgebungsüberlegungen und mündete Ende 2022 in das Bürgergeld.

Die Frauenquote wurde in den Führungsetagen von Unternehmen und anderen Organisationen eingeführt.

Das gesellschaftliche Leben hatte nicht nur einen soliden wirtschaftlichen und liberalen Hintergrund, sondern erlaubte eine unerhörte Freiheit, sich der individuellen Entwicklung und seiner körperlichen wie seelischen Gesundheit zu widmen. Balance, Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung, Authentizität, Individualität wurden zu kaum hinterfragten Schlüssel-Zielen des gesellschaftlichen Lebens und Strebens (Röcke 2021).

Nur die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 ff. und die auffallenden egomanischen Entwicklungen in einigen immer autoritärer werdenden Staaten warfen zunehmende Schatten auf die internationale Ordnung. Und auch die politische Konkurrenz zwischen den demokratischen Staaten einerseits und autoritären Systemen verschiedener Herkunft warf erste Schatten auf diese Entwicklung – Veränderungen im östlichen Bereich um China und Russland herum ließen einige Sorgen um die Zukunft entstehen.

3. Zentrale Werte der westlichen Wohlstandsgesellschaft und COACHING

Uwe Böning befragte in einer zufälligen Interview-Reihe von 10 Personen aus dem beruflichen und privaten Umfeld, die im psychologischen, sozialen, wirtschaftlichen und beruflichen Umfeld aktiv tätig waren und als inhaltlich aussagefähig eingeschätzt worden waren. Daraus stellte er eine Liste von 44 Begriffen zusammen, die die charakteristischen Wertvorstellungen, Spielregeln und wichtige Handlungskonzepte unserer Lebens- und Werte-Ordnung widerspiegeln sollten. Aus dieser Liste wurden in einer wieder zufälligen Auswahl 16 Werte, Themen, Spielregeln und Handlungskonzepte bzw. Grundvorstellungen herausgezogen (siehe linke Spalte in der folgenden Tabelle), die von Böning nach charakteristischen Entsprechungen im Coaching überprüft wurden (Böning 2021b).

Diese Analyse ist selbstverständlich nach wissenschaftlichen Kriterien weder vollständig noch 100%ig repräsentativ. Sie hat nach unserem Verständnis aber einen heuristischen Wert und kann prinzipiell empirisch überprüft werden.

Abb. 6: Zentrale Werte im Westen und ihre Entsprechung im Coaching

 

4. 8. Phase der Coaching-Entwicklung. Das zweite Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts: Das leise Aufkommen des Digitalen Coachings

Etwa seit Beginn bzw. der Mitte des vergangenen Jahrzehnts ist ein leises und langsames Aufkommen von digitalen Möglichkeiten zu beobachten, das unter echten Nerds schon Aufmerksamkeit fand, aber im allgemeinen Coaching-Markt keinen bahnbrechenden Widerhall auslöste. Eine weitreichende Akzeptanz unter Coaches oder unter den Coaching-Suchenden konnte kaum registriert werden. Vielmehr wurde das neue Phänomen in den vergangenen 5-7 Jahre von vielen Praktiker:innen als eine randständige Erscheinung betrachtet, deren Zukunfts-Wert noch klar umstritten war.

Erst in den letzten 2-3 Jahren haben die Corona-Krise und die mit den Lockdowns weltweit verbundenen „Notlösungen“ im sozialen wie beruflichen Kontakt zu einer fundamental anderen Situation geführt – weswegen diese Zeit mit völlig veränderten Verhältnissen von uns als eigenständige Phase behandelt wird:

Eben als 8. Phase der Coaching-Entwicklung.

Die am Beginn der achte Phase festzuhaltenden Charakteristika lassen sich mit den folgenden Stichworten prägnant skizzieren.

Wichtige interne Coaching-Entwicklungen:

Etwa 20 - 24 Coaching-Verbände im deutschsprachigen Raum

2018/19: Auseinanderbrechen des lange Zeit bemühten RTC (Round Table Coaching), dem aber keine hinreichende Gemeinsamkeit der Zielsetzungen und des Vorgehens gelang. Ausscheiden des DBVC (Deutscher Bundesverband Coaching, gegr. 2004) und des ICF (International Coaching Federation, gegr. 1995 in den USA) aus dem RTC

Keine Verständigung über einen Titelschutz und die Voraussetzungen zur allgemein anerkannten Ausübung von Coaching

Allmähliches Entwickeln digitaler Varianten des Coachings und Auftauchen einzelner Coaching-Plattformen mit begrenztem Bekanntheitsgrad:

Geißler & Metz (2012) und Berninger-Schäfer (2018) entwickelten je eigene Ansätze des „virtuell“ oder „digital“ oder „online“ genannten Coachings, das im Wesentlichen ein ins Digitale bzw. Virtuelle verlagertes Coaching darstellte

Änderung der Rahmenfaktoren:

Corona-Pandemie mit Beginn des Jahres 2020 mit schwerwiegendsten Folgen:

Dramatische Lockdowns während der fast zweijährigen Pandemie und ein sprunghaftes Auftauchen sowie ein plötzlicher Einsatz von Home-Office sowie Home-Schooling, der zum massiven Auftauchen besonders amerikanischer Plattformen (Zoom, Teams etc.) führte, ohne die das Aufrechterhalten der Wirtschaft und der staatlichen Organisation kaum möglich gewesen wäre

New Work als verheißungsvolle Neuorganisation vieler Arbeitsabläufe bzw. einer völligen Neuausrichtung der Wirtschaft

Deutlicher Rückgang der Durchführungen des F2F (Face to Face)-Coachings

Disruptiver Einsatz von digitalen Durchführungen des Coachings („Alternativlos!“)

Massives Auftauchen und Wachstum neuer Coaching-Plattformen

5. Dieaktuelle VUCA-Welt und ihre Folgen für das Coaching

VUCA: Was lange Zeit zu den Buzz-Words von Berater:innen gehörte, drang spätestens seit Corona und der Digitalisierung in das Bewusstsein vieler, wenn nicht aller Menschen:

Wer hätte bis zum Februar 2020 gedacht, dass die Corona-Pandemie weit über 2 Millionen Menschenleben kosten, die Welt so total verändern würde und dass Lockdowns in Millionenstädten umsetzbar sind? Wer hat vorausgesehen, dass die Digitalisierung eine solche Bedeutung bekommen würde in den Lockdowns fast aller industrialisierten Ländern, um die Wirtschaft und die sozialen Kontakte in dieser Zeit überhaupt aufrecht zu erhalten?

Aktuelle Rahmenbedingungen:

Krieg von Russland gegen die Ukraine! Echter Krieg in Europa seit dem 24.2.2022!

Der Krieg wird von Bundeskanzler Scholz fast dezent als „Zeitenwende“ benannt! Vom SPIEGEL wird der Krieg in Europa drastisch als „Epochenbruch“ bezeichnet (SPIEGEL, Nr.9, 26.2.22, S.4).

Die Bundeswehr erhält innerhalb von 3 Tagen eine Zusage über 100 Milliarden € zur Erneuerung und zum Materialaufbau – was jahrzehntelang nicht möglich war!

Die NATO und die EU bringen innerhalb weniger Tage und Wochen eine neue Kooperation und Abstimmung des politisch-wirtschaftlichen Vorgehens gegen den Aggressor Russland zuwege, die bis vor kurzem für völlig unmöglich gehalten worden waren.

Jeden Tag die Berichte im TV. Mehrmals am Tag. In allen Tageszeitungen. In allen Wochenzeitschriften. Überall kam der Krieg ins Bewusstsein…

Energiesicherheit wird als ein außenpolitisch zentrales Thema fixiert, da die Wirtschaft und das organisierte wie gesellschaftliche Leben ohne Gas, Öl und Kohle aus Russland völlig zu erliegen droht! Was den Zwang auslöst, schnellstmöglich Beschaffungsalternativen zu finden. Schwere Einbußen sind in vielerlei Hinsichten, nicht nur den wirtschaftlichen, in ganz Europa zu befürchten.

Im schlimmsten Fall könnte ein 3.Weltkrieg entstehen – den niemand will und der sich doch fast automatisch entwickeln könnte.

Der Klimawandel rückt durch die anhaltenden Veränderungen immer stärker in das Bewusstsein der Bevölkerung und wird zunehmend als bedrohliche Klimakrise wahrgenommen.

Engpässe bei Lieferketten und bei der Energiezufuhr zeigen auf, wie anfällig die globale Vernetzung ist und welche dramatischen Auswirkungen in nächster Zeit bei der Sicherung des Lebensunterhalts und des sozialen Friedens zu befürchten sind.

Abb. 7: Bedeutung VUCA im Kern

6. Die 9. Phase von Coaching als disruptive Veränderung

Die 9. Phase von Coaching ist wieder eine radikal disruptive Phase voller gewaltiger und schneller – und auch so nicht vorhergesehener – Veränderungen, die nochmals die Bedeutung jener Einflussgrößen auf das Coaching offenbart:

Die Corona-Pandemie der Jahre 2020/2021 hatte wegen ihrer Ansteckungsgefahren dramatische Veränderungen im Sozialleben der Menschen zur Folge: Distanz war angesagt – im öffentlichen, im beruflichen und privaten Raum: Umarmungen wurden problematisch oder gingen nicht mehr. Distanz wurde verordnet, anfangs nur schwer ertragen, dann widerwillig zunehmend praktiziert und schließlich von der Mehrheit schulterzuckend hingenommen – bis schließlich die Proteste im Jahr 2021 in den Städten allmählich immer stärker wurden. „Masken-Tragen“ und „Social Distancing“ wurden zu Synonymen nicht nur des äußerlich sichtbaren Sozialverhaltens, sondern vermutlich auch – wie zu befürchten ist – der mentalen und emotionalen Veränderungen des Innenlebens vieler Menschen: Distanz ist zur unfreiwilligen Ankündigung des neuen inneren Verhältnisses vieler Menschen untereinander geworden, was nicht ohne Folgenfür das „Neue Coaching“ bleiben dürfte.

Die bereitstehende, aber in Deutschland nur begrenzt verbreitete Digitalisierung, die Deutschland eine schlechte Platzierung im internationalen Ranking eingebracht hatte, wurde fast über Nacht zur rettenden Formel, um Arbeitsbezüge und persönliche Beziehungen in Zeiten der Pandemie konstruktiv zu überbrücken oder gar neu zu ordnen. Der Rückstand der Digitalisierung selbst sowie ihre gesellschaftliche Akzeptanz wurde in der Not der Umstände zu einem die positive Veränderung erzwingenden Faktor. Die Pandemie erforderte beim Coaching radikale Umstellungen, die bei vielen Coaches zu unterschiedlichen Anpassungseffekten, d.h. zur Übernahme von digitalen Techniken und Tools führte. Selbst jene Coaches, die lieber bei der F2F-Variante des Coachings geblieben wären, konnten sich den neuen Anforderungen nicht entziehen.

Home-Office heißt die neue Formel der Arbeitsverhältnisse. Was im Lockdown anfangs nur ein Notbehelf war, wurde in kürzester Zeit zum „New Normal“, dessen zukünftiger Verlauf nur schwer abzuschätzen ist. Aber viele Coaches scheinen sich nach großen Bedenken in der Zwischenzeit schon auf die künftige Dominanz der digitalen Coaching-Variante eingestellt zu haben, was nicht nur an dem zunehmend freizeitorientierten Outfit vieler Berater:innen abzulesen ist – zumindest im Video-Call.

Was vor wenigen Jahren wie auf leisen Sohlen daherkam und dennoch zu starken Abwehrdiskussionen unter Coaches geführt hatte, ist in der Zwischenzeit offenbar schon in eine leise Revolution des Coachings übergegangen: Digitale Coaching Plattformen expandieren erheblich seit der Corona-Pandemie und verzeichnen sowohl auf der Kunden- wie auf der Coaches-Seite erhebliche Zuwächse.

Der vehemente Aufstieg der Coaching-Plattformen zeigt glasklar ihre strategische Vorgehensweise und kommende Bedeutung: Sie sind die vorauszusehenden Game Changer, die die bisherige Coaching-Szene in kurzer Zeit völlig verändern werden. Es bleibt nur offen, was mit „Kurze Zeit“ genau gemeint sein wird: in zwei, fünf oder in zehn Jahren…?

Immerhin ist schon aufregend, wie die Zahl der Digitalen Coaching Plattformen massiv gewachsen ist und welche Wirtschaftskraft hinter einigen der Big Player in diesem Bereich schon heute steckt, wie die Nachricht in der folgenden Abbildung erahnen lässt:

Abb. 8: Milliarden-Wert der DCP BetterUp

Angesichts der dramatischen Veränderungen in Technik, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Ökologie, Medizin und Kultur stellt sich die einfache Frage, die nur schwer und leicht zugleich – also paradox – beantwortbar zu sein scheint:

Kann Coaching von diesen Entwicklungen der Rahmenbedingungen unbeeinträchtigt bleiben, von denen wir zudem noch nicht wissen, wie es damit aktuell und künftig weitergehen wird?

Dieser Frage haben sich auch unsere Kollegen:innen und Mitstreiter:innen im vorliegenden Buch gestellt. Dafür danken wir ihnen allen. Sie sind das Risiko eingegangen, dass jede Antwort bezweifelt, bestritten oder auch widerlegt werden könnte. Aber Sie haben sich in einen Dialog begeben, der ja auch anregend und aufmerksam machen kann. In jedem Fall kann er Anstöße geben und ein gemeinsames Lernen ermöglichen – wie immer man auch zu den einzelnen Antworten stehen mag. Widersprüche und Widerlegungen können nützlich sein ebensoLeerstellen, die als Impulse gelten können, zu weiteren Antworten zu finden.

In jedem Fall sind es Beiträge in dem Versuch, die Zukunft des Coachings fassbarer zu machen und damit einen Beitrag zur Professionalisierung des Coachings zu leisten. Uns als Herausgeber jedenfalls hat die Bereitschaft der Autor:innen Mut gemacht, den Dialog über die Zukunft des Coachings fortzusetzen und uns in der Hoffnung bestärkt, dass Coaching eine Zukunft hat. Nicht in den fertigen Antworten dürfte die Zukunft liegen, sondern in der Bereitschaft, immer noch bessere Antworten auf neue Fragen zu finden, die wir uns heute noch nicht stellen.

Literatur:

Berninger-Schäfer, E. (2018): Online-Coaching. Heidelberg: Springer.

Böning, U. (2021a): COACHING-RELOADED: Coaching am Ende oder am Beginn einer glänzenden Zukunft? In: Fachhochschule Nordwestschweiz-Olten 18.11.2021, 6. Int. Coachingkongress ‘Coaching meets Research’ Coaching Essentials 1980 – 2050.

Böning, U. (2021b): Ist Coaching eine ikonografische Figur der gegenwärtigen Werteausrichtung unserer Gesellschaft? In: Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Nr. 4/2021, Wiesbaden, S. 581-590.

Böning, U. & Fritschle, B. (2005 und 2008): Coaching fürs Business. Bonn: managerSeminare Verlag.

Böning, U. & Strikker, F. (2014): Ist Coaching nur Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen oder auch Impulsgeber? In: Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Nr.3/2014, Wiesbaden, S. 483-496.

Böning, U. & Strikker, F. (2020): Coaching in der zweiten Romantik: Abstieg oder Aufstieg? Zwischen individuellem Glücksversprechen und gesellschaftlicher Verantwortung. Wiesbaden: Springer.

Fukuyama, F. (1992): Das Ende der Geschichte. München: Kindler.

Geißler, H. & Metz, M. (Hrsg.) (2012). E-Coaching und Online-Beratung. Wiesbaden: Springer.

Reckwitz, A. (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp

Reckwitz, A. (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp

Röcke, A. (2021): Soziologie der Selbstoptimierung. Berlin: Suhrkamp

SPIEGEL (2022): Nr.9, 26.2.2022

Steinke, J.M. & Steinke, I. (2019): Was ist Coaching? Die Ursprünge von Coaching als Methode. Hamburg: COATRAIN

 

 

Kapitel 2Perspektive: Unternehmen und Organisationen

Uwe Böning & Frank Strikker

Einführung

Unternehmen und andere Organisationen gehören voraussichtlich zu den großen Kunden für Coaching, zumindest Business Coaching. Folglich sind Ihre Perspektiven und Bedarfe mit maßgebend für die Coaching-Praxis der Zukunft. Die alte Leitbranche „Automotive“ gehört genauso dazu wie die neue Leitbranche „IT“ und die zentrale Branche für die meisten Industriezweige, nämlich „Energie“. Weitere Vertreter anderer Organisationen – auch aus dem Mittelstand – runden mit ihren Beiträgen diese Marktperspektive ab. Dabei gibt es Interessantes zu den Bedarfen des Topmanagements wie des Mittelmanagement zu lesen.

Hier geht es nicht nur um die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit, sondern auch um die eigene Rollenwahrnehmung in der Organisation.

 

 

Stefan Stenzel

Digital Coaching Provider (DCP) als Bezugsquelle von Coaches für Einzel- und Großkunden.

Der Plattformkauf: seine echten und vermeintlichen Vorteile, seine kognitiven Dissonanzen und Transformation durch mehr „Purpose“.

Wir fahren nur noch zu besonderen Anlässen mit der Kutsche, telefonieren nur noch selten von unserem Festnetztelefon in der Diele, trinken heute unseren Kaffee auch im Gehen auf der Straße, bestellen ein komplettes Menü über einen Lieferservice verzehrfertig nach Hause oder lassen uns die Ingredienzien als Naturalien in einem Paket samt Rezept schicken oder, oder, oder. Und ja, das hätte es vor 10, 20, 30, 150 Jahren nicht gegeben! Die Zeiten haben sich durch technische Neuentwicklungen, neue Lebens- und Arbeitsumstände etc. geändert und werden es auch weiterhin tun. Denn wie erkannte schon der Vorsokratiker Heraklit (um 520 v. Chr. bis ca. 460 v. Chr.): „Nichts ist so verlässlich wie der Wandel“. Und auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen, trifft dies nun auch auf den seit langem (sehr) beständigen Bereich des Coachings zu. So scheint es jedoch auch in diesem Geschäftsfeld ähnlich wie einst bei Henry Ford zu sein, als er seine Kunden fragte, was ihnen zu einer verbesserten Mobilität einfallen würde und ihre Antwort in „schnellere Pferde!“ bestand.

Die bislang bevorzugten „Zugpferde“ zur Distribution bzw. Promotion von Coaching-Services waren und sind (bis dato noch) die individuellen Homepages der oft soloselbständigen Coaches. Meist sehr aufwändig und liebevoll gestaltet. Oft auch mit viel Text. Leider wurde bei diesen Selbstdarstellungen bzw. aller Begeisterung über die vielen erworbenen Qualifikationen oder Fachbegriffe (insbesondere bei Neueinsteigern) oft vergessen, dass – sofern die Interessent:in keine HR- oder PR-Fachfrau ist – der „naive Kunde“ meist wohl nicht wirklich versteht, was dies alles bedeutet und wie die Qualifikationen zu bewerten sind. Von einem „objektiven“ bzw. direkten, parallelen Vergleich verschiedener Homepages einmal ganz abgesehen. Obwohl die Kund:innen im Idealfall zumindest eine vage Vorstellung davon hatten, wen und wonach sie suchen und was eigentlich das Thema oder Anliegen ist, war es wahrscheinlich nicht selten der Fall, dass diese nach der berühmten „Nadel im Heuhaufen“ Ausschau hielten – letzten Endes jedoch den „Wald vor lauter Bäumen“ nicht sahen. Den passenden Coach für das eigene Anliegen zu finden, stellte daher für viele Kund:innen eine nicht zu unterschätzende Einstiegsbarriere dar. So landeten vermutlich nicht wenige letzten Endes bei dem Coach, der auf dem Bild am sympathischsten erschien, besonders viele (für Laien unverständliche) Qualifikationen auflistete, oder im Werdegang oder in der Selbstbeschreibung Ähnlichkeiten zur eigenen Person aufwies. Dass sich Kund:innen (zusätzlich) auf „Mund-zu-Mund-Propaganda“ von Kolleg:innen verließen, war eher kennzeichnend für die „inner Circles“ von Managern oder sonstigen Personenkreisen, für welche diese Art der Eigenqualifikation (z.B. aus dem Unternehmenskontext) nicht fremd war. Natürlich sagt einem der gesunde Menschenverstand, dass persönliche Empfehlungen immer stark von subjektiven Wertemaßstäben geprägt sind. Dennoch vertrauen auch in diesem Fall viele der Personenähnlichkeit der Gesprächspartnerin, die sie auf dieses sehr spezielle Thema „Coaching“ gebracht hat. Hunderttausende, in den Augen der Coachees erfolgreich durchgeführten Coachings sprechen überdies auch dafür, dass offensichtlich viele „Töpfchen die passenden Deckelchen“ gefunden haben. Doch was ist dann die (vordergründige?) Fragestellung des dahinterstehenden Handels bzw. Geschäftes?

Ein Aspekt des Problems ist die Auswahl eines unbekannten Produktes oder einer Dienstleistung (den besten, passendsten Coach) aus einem Überangebot mit uneinheitlichen und/oder weichen Unterscheidungskriterien. Ein weiterer Aspekt ist der damit für den Konsumenten verbundene, zeitliche und/oder physischen Suchaufwand. Obwohl von unterschiedlicher Tragweite, handelt es sich dabei um eine ähnliche Herausforderung, wie „die beste, passendste Frau/ den besten, passendsten Mann fürs Leben“ zu finden. Womöglich inspiriert vom Amazon-Begründer, Jeff Bezos, sahen daher einige findige Unternehmer im Geschäftsmodell der Plattformen die Lösung für derartige Probleme bzw. eine Möglichkeit ihr Geld ohne tiefere Kenntnisse der vertriebenen Services bzw. Ware zu verdienen. So entstammte Jeff Bezos keiner Buchhändler-, Verlags- oder Kaufhausdynastie, sondern war Analyst in der Wall-Street. Also ließ ihn wahrscheinlich nicht die große Liebe oder Leidenschaft fürs Produkt, sondern eher Erfolgs- und Gewinnstreben 1994 das Unternehmen „Amazon“ gründen. Ob Ähnliches im übertragenen Sinne für die Begründer der deutschen Coaching-Plattformen gilt, ist nicht bekannt. Der Zukauf von „großen Namen“ (z.B. John Passmore) in der Branche könnte jedoch auch als Indikator gesehen werden, das Manko an „Stallgeruch“, an Glaub- und Vertrauenswürdigkeit sowie eigener Expertise auszugleichen. Generell sind wahrscheinlich die sich beim Autor damit verbindenden, idealistischen bzw. romantisch-verklärten Vorstellungen hinsichtlich eines beruflichen Werdegangs oder Entwicklung eines Business heute nicht mehr zeitgemäß. So ist das anfangs angesprochene Problem wohl eher in dem Geschäftsmodell und dessen Eigenschaften selbst – vor allem aber in dessen spezieller Nutzung zu suchen. Was hat es also damit auf sich?

Einfach gesagt, schiebt sich bei dem Geschäftsmodell „Plattform“ immer ein (oft auch branchenfremdes) Unternehmen zwischen Kund:in und Erzeuger:in und will an dem Handel auf dem „Marktplatz“ über „Standgebühren“ bzw. den Verkauf realer Güter oder Dienstleistungen mitverdienen. Die 2014 nobelpreisgekrönte Theorie des Wirtschaftsprofessors der Universität Toulouse, Jean Tirole, beschreibt die dahinterstehenden Wechsel von der sogenannten Pipeline-Strategie bzw. One-Side-Market zu den sogenannten „Two-Sided-Markets“ (Rochet & Tirole, 2014). Besteht der erstere in der direkten Austauschbeziehung zwischen Unternehmen (Business: B) und Endkunden (Customer: C) i.S. von B-2-C, wird diese über die Plattform als „Zwischenhändler“ um ein B-2-B (Plattform-Unternehmen und Coach als Unternehmer:in) erweitert. Dabei kann das Plattform-Unternehmen potenziell dreifach verdienen. Zum einen direkt über die Vermittlungs- und /oder „Standgebühr“, zum anderen indirekt durch eine Art Erfolgsbeteiligung bei stark frequentierten „Ständen“ und drittens durch die bei diesen umfangreichen Transaktionsprozessen anfallenden Daten, die entweder selbst zur Prozessoptimierung oder Produktinnovation genutzt oder aber (hoffentlich unter Beachtung der GDPR bzw. mit Wissen und Zustimmung der „Datenlieferanten“!) verkauft werden können.

Doch was sind eigentlich die Merkmale des Geschäftsmodells „Plattform“? Zunächst ist da die Zurverfügungstellung (1) eines Online-Marktplatzes, der auf einer IT-Plattform betrieben wird und einen (2) wertschöpfenden (Waren- oder) Dienstleistungsaustausch zwischen mehreren Anbieter:innen (Coaches) und mehreren Kunden:innen (private Coaching-Interessierte, Einkäufer von Coaching-Services in Unternehmen) ermöglicht. Der Wert der Plattformen besteht jedoch nicht in der dahinterstehenden Software(-entwicklung), sondern in den ermöglichten Interaktionen. Das Plattformbusiness sollte daher nicht mit dem Softwareentwicklungsbusiness verwechselt werden. Die Möglichkeit beider Parteien im sogenannten (3) „Matching“ zusammen kommen zu lassen, ist daher der eigentliche Mehrwert dieses Modells. Wie bei der klassischen Definition von Dienstleistungen entsteht das „Produkt“ erst in der Interaktion von Kund:in und Anbieter:in. Je marktbeherrschender die Plattformen (i.S. von Monopolisten) werden, desto mehr können sie auch die Regeln für das Produkt oder die Dienstleistung, den Preis sowie den Zugang als (4) Gatekeeper und auch die Spielregeln des Handels i.S. einer (5) „Governance“ bestimmen. Kern ihres potenziell großen Erfolges ist jedoch der (6) Skalen- oderNetzwerkeffekt. D.h. je mehr Kunden die Plattform nutzen, desto attraktiver wird es auch für Coaches für eine Plattform zu arbeiten. Und je mehr Dienstleistende/Coaches daraufhin ihren Service auf der Plattform anbieten, desto stärker wächst wiederum die Attraktivität für die Kund:innen. Die Kunst für die Plattformbetreiber dabei ist es daher, bis zu diesem sich selbst verstärkenden „Engelskreis“ finanziell durchzuhalten. Amazon in den USA und Zalando in Deutschland sind dabei gute Beispiele. Amazon wurde 1994 gegründet und machte erste Gewinne 2001. Das Gründungsjahr von Zalando war 2008, erste Gewinne stellten sich jedoch erst 2014 ein. Ohne von außen kommendes Venture Capital renditehungriger Investoren (wie z.B. Holtzbrinck Ventures und drei weitere Investoren im Jahr 2019 im Falle von) in den Anfangsjahren, ist dies für Unternehmen wie CoachHub (CoachHub, 2019) oder bei dem Coaching-Start-Up „Greator Coach“ in 2020 mit einem Betrag im mittleren siebenstelligen Euro-Bereich, wie es heißt (Greator, 2020), zumeist nur schwer möglich. Denn die unternehmerische Behauptung in den „Red Oceans“ (Kim & Mauborgne, 2005) der jeweiligen Branchen ist meist infolge der notwendigen Investitionen insbesondere ins Marketing und den Aufbau der IT-Infrastruktur zunächst sehr kräfte- bzw. kapitalzehrend.

Doch haben sie diesen Rubikon erst einmal überschritten, können die Plattformen durch die sehr hohe Produktivität einer meist verhältnismäßig kleinen, fest angestellten Belegschaft (und damit verhältnismäßigen geringen Personalkosten) im besten Fall zu einer „Gelddruckmaschine“ (für die Investoren) mutieren. Und diese Aussicht ist wohl der Grund für die aktuell weite Verbreitung dieses Geschäftsmodells. Um letzteres mit (leider etwas veralteten, aber das Erfolgsprinzip dahinter verdeutlichenden) Zahlen zu belegen, sei eine Aufstellung von Statista (Statista, 2018) herangezogen, die zeigt, dass z.B. bei Google im Jahr 2017 jeder der damals 80.000 Mitarbeiter €140.000.-, bei Daimler jeder der 289.000 Unternehmensangehörigen jedoch nur €36.000.- Gewinn erbrachte. Bei dem US Tech-Giganten Facebook erwirtschaftete jeder der nur 25.000 Mitarbeiter über eine halbe Million, nämlich €562.000.-!

Doch kommen wir zur Kundenseite. Obwohl diese Zahlenrelationen etwas Befremdliches an sich haben, stellt sich dennoch die Frage, welchen Mehrwert „die Kaufhäuser von heute“ – die Plattformen – wirklich bieten? Ihr Siegeszug in vielen Lebens- und Konsumbereichen kommt natürlich nicht von ungefähr! Wie schon der Marktplatz vor einigen Jahrtausenden und die Kaufhäuser vor einigen Jahrhunderten, punkteten diese gegenüber dem Einzelhandel mit relativ hoher Sortimentsbreite und -tiefe an einem Platz. In späteren Jahren gesellte sich das vermeintlich alle Sinne berauschende „Kauferlebnis“ (an Weihnachten!) hinzu. Was am Anfang des Jahrhunderts überall auf der Welt die traditionsreichen Kaufhäuser (wie z.B. Karstadt, Hertie, Woolworth, Macys, Sears, Galerie Lafayette, Harrods etc.) der „One-Stop-Shop“ waren, sind heute die Plattformen. War dies das Erfolgsmodell der Kaufhäuser für über 100 Jahre, wurden diese Vorteile durch die Digitalisierung und die damit einhergehenden Änderungen des (Kauf-)Verhaltens spätestens ab 2015 zusehends untergraben. Denn sie boten (nicht nur den jungen) Käufern viele neue Vorteile, d.h. Mehrwert: (1.) SofortigeBedürfnisbefriedigung, d.h. jederzeit und überall, (2) maximale Bequemlichkeit und/oder minimaler Zeitaufwand als „Couch Shopper“ durch keinerlei Wegezeiten, die ansonsten infolge von verschiedenen und/oder langen Wegen zu verschiedenen Einzelhändlern entstanden wären, sowie (3.) eine maximale Vereinfachung des Bestell- und Bezahlprozesses. Zudem sind oft (4) die subjektivenBewertungen der Produkte durch zahlreiche andere Käufer vor oder parallel zum Kaufprozess einsehbar. Dass diese Bewertungen auch bereits bei speziellen Agenturen als 100 oder 1000-Pack gekauft werden können, schmälert deren Wert jedoch drastisch. Weiterhin ist (5) ein faktenbasierter, parallelerVergleich von möglichst vielen Eigenschaften vieler Varianten eines physischen (!) Produktes oder einer Dienstleistung verschiedener Anbieter möglich.

Sind die oben genannten Vorteile 1-4 – je nach Wertemaßstab – Vorteile, signalisiert das Ausrufezeichen hinter den physischen Eigenschaften von Produkten oder einer Dienstleistung (5), wo ein Trugschluss bestehen könnte. Unbestritten ist der tabellarische Vergleich ingenieurwissenschaftlich messbarer Produktmerkmale oder -eigenschaften von physischen Produkten ein echter Vorteil. Im Rahmen der um Objektivität bemühten Bewertungen von z.B. der Stiftung Warentest, erhalten die Verbraucher:innen letztlich eine solide Orientierung für die Kaufentscheidung.

Schwieriger wird es jedoch schon bei so populären Dienstleistungen wie z.B. Urlaubsreisen. Ebenfalls um Objektivität bemüht, können hier die objektiv feststellbaren, baulichen (Baujahr, Zimmeranzahl, Poolanzahl etc.) und örtlichen Hotelmerkmale (z.B. Strand- oder Straßennähe, innerhalb oder außerhalb des Touristenzentrums etc.) verglichen werden. Bei sehr subjektiv geprägten Merkmalen wie Service- oder Essensqualität, Erholungswert oder gar baulicher Ästhetik scheiden sich jedoch – je nach Wertmaßstab – die Geister. Ist der Beruf des Kellners (als Teil des Servicepersonals im Hotel) zumindest in Deutschland noch ein offiziell anerkannter Ausbildungsberuf, wird es in dieser Hinsicht bei der Dienstleistung „Coaching“ bereits sehr vage. Denn die Qualitätskriterien des Coachingprozesses und der Coachingergebnisse entstehen in der situativen Interaktion, im Prozess des Coachings.Sie sind weder prognostizier- noch replizierbar und daher „weich“. Will heißen: Sie weisen Schwächen hinsichtlich der folgenden drei zentralen psychologischen (Mess-)Gütekriterien auf: Reliabilität (= Verlässlichkeit des Messergebnisses), Validität (= inhaltliche Stimmigkeit des Messergebnisses) und Objektivität (= Wiederholbarkeit). Gleiches gilt auch für die Ausbildung bzw. Qualifikation zum Coach. Unzählige Schulen und Methoden nehmen für sich in Anspruch, den „Stein der Weisen“ zu besitzen und wissenschaftlich oder zumindest empirisch fundiert zu sein und dem Coach deshalb die wirksamsten psychischen (und/ oder physischen) Ansatzpunkte und Tools für das Coachen zur Verfügung zu stellen. Außer z.B. für die Verhaltenstherapie trifft dies jedoch auf fast keine der existierenden Theoriegebäude bzw. die sich darauf stützenden Interventionsmaßnahmen zu. Womit wir bei des berühmten „Pudels Kern“ des damit verbundenen Problems sind: der Beruf „Coach“ ist keine rechtlich [nach § 132a StGB; Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen (Wikipedia, 2021)], geschützte Berufsbezeichnung – er hat keinen Titelschutz. Im Gegensatz zum Dipl.-Psychologen kann sich jede(r) „Coach“ (oder eben auch Dozent, Journalist, Designer, Pilot etc.) nennen. Gleich, ob es sich dabei um einen IT-, Tanz-, Erweckungs- oder Pferde-Coach etc. handelt. So hat es keiner der zahlreichen Berufsverbände für Coaches bis dato geschafft oder genügend Energie investiert, dies politisch durchzusetzen. Warum dies auch nach nahezu 20 Jahren so ist, darüber kann nur spekuliert werden. Die Gründe dafür sind sicher vielfältig. Und da die Distribution des Service „Coaching“ über eine Plattform an diesem Kernproblem logischerweise nichts ändert, bieten diese dem „naiven“ Coaching-Interessenten in diesen Zusammenhang keinen neuen, objektiven Zusatznutzen. Subjektiv könnten sie jedoch dem von der Vielzahl der (individuellen) Angeboten verwirrten Endkunden durch ihre strukturierte und integrierte Darbietung bzw. die positiven Assoziationen bei den sonstigen Online-Einkäufen physischer Waren im Internet dies aber vorgaukeln. Man könnte von einem „Halo-Effekt des Plattformeinkaufs“ sprechen. Dabei überstrahlt das bisherige, Transparenz und Kontrolle vermittelnde Kauferlebnis von Realgütern im Internet das tiefergehende Problem des Kaufs einer (Coaching-) Dienstleistung. Diesbezüglich ist der Vorteil von Plattformen als Distributionskanal bzw. Bezugsquelle eigentlich nur ein Vermeintlicher.

Aber auch diese nur vermeintlichen Vorteile der Coaching-Plattformen sind psychologisch höchst relevant. Denn zum einen finden Kund:innen viele Coaches an einem Platz, in einer Darstellung, der einen direkten Vergleich ermöglicht. Zum anderen vermittelt sie in einem sehr intransparenten Markt eine vermeintliche Sicherheit durch angeblich rigide Auswahlverfahren oder aber den Beginn sogar inhäusiger (!) Zertifizierungen. Ferner, dass es bei auftretenden Fragen eine unverbindliche Kontaktadresse für E-Mails, Chat oder sogar ein Telefonat gibt. Dass diese oft noch geheimnisvoll anmutende Dienstleistung daher ggf. spontan und ohne hohe Eintrittsschwelle (i.S. „to-go“) eingekauft werden kann, kommt dem sich spätestens seit der Generationen Y und Z gewandelten, bereits oben beschriebenen Kaufverhalten sehr entgegen. Und diese Vorteile wirken umso stärker, desto besser die Reputation, der Brand bzw. die Marktmacht des Anbieters ist. Beides wird dabei u.a. auch maßgeblich von der Höhe des Marketingbudgets bestimmt. Eine ausführliche und kontroverse Darstellung der Vor- und Nachteile für Coachees findet sich in der Darstellung der Zukunft des Coaching-Business von Stenzel (Stenzel, 2022). So ist auch zu vermuten, dass die von den DCPs zuweilen proklamierte „Demokratisierung“ des Coachings wahrschlich nicht selbstlos oder idealistisch motiviert ist, sondern der Massenmarkt angestrebt wird. Ganz wie im Einzelhandel werden Einzelanbieter oder kleinere Konsortien hier über kurz oder lang nur in sehr speziellen bzw. exklusiven Nischen (z.B. bzgl. Zielgruppen, Thema oder Qualität der Kundeninteraktion) überleben können.

Vorteile bieten DCPs auch für Einkäufer von Coaching-Dienstleistungen in Unternehmen, z.B. einenthemenverantwortlichen Personalentwickler in der HR-Abteilung. So sind die zentralen Argumente für den Bezug über DCPs zum einen die sich durch die komplette IT-Basierung „automatisch“ ergebenden Daten über den Prozess- und das Ergebnis des Coachings. Getreu dem Motto „what you can‘t measure, you can‘t manage“, können diese dann potenziell für Kosten-Nutzenüberlegungen oder als Ansatzpunkte für die Verbesserung des Service herangezogen werden. Zum anderen vereinfachen sie den (administrativen) Einkaufsprozess für den internen Kunden des Themenverantwortlichen innerhalb des Unternehmens drastisch bzw. knüpfen an den heutigen Konsumgewohnheiten des schnellen und unkomplizierten Online-Shoppings nicht nur der jungen Generation an. Der zuweilen sehr große (und ggf. sogar globale) Pool der Endkund:innen zur Auswahl stehenden Coaches, ist ein weiterer Vorteil; insbesondere für die persönliche Passung, die ja ein entscheidendes Kriterium für den Erfolg des Coachings ist. Die oft sehr großen Pools mit verschiedensten Coache-Profilen ermöglichen den Personalentwicklern zudem eine flexiblere Reaktion auf (unvorhergesehene,) größere Bedarfe im Unternehmen, wie z.B. im Falle eines Entwicklungsprogrammes oder einer Reorganisation.

Alles bestens – sollte man meinen – zumindest oberflächlich betrachtet! Wären da nicht zwei gravierende Nachteile, die sich indirekt aus den oben bereits angeführten Merkmalen des Geschäftsmodells ({MISSING SYMBOL Wide-headed rightwards arrow} Gatekeeper- und Governancefunktion, Skalen- oder Netzwerkeffekt) mittel- bis langfristig für den Kunden ergeben könnten. Erste Nachkauf-Dissonanzen dieses Bezugsweges ergeben sich potenziell durch die sukzessive Reduzierung der Vielfalt bei der Auswahl bzw. dem Erstarken potenziell monopolistischer Strukturen (z.B. Preisdiktat, Produktdefinition, Standardisierung etc.) mit jedem Kauf. Ein weiterer, bitterer Nachgeschmack für die Einkäufer unter den Personalentwickler:innen könnte sich einstellen, wenn man sich bewusst macht, dass bei vollständiger Digitalisierung des Kaufprozesses – d.h. vom Suchprozess des Endkunden nach einem passenden Coach bis hin zur Abrechnung des Service –die Rolle eines Themenverantwortlichen für Coaching-Services im Unternehmen überflüssig wird, sie oder er sich durch die DCPs weitgehend selbst wegrationalisiert. Denn außer für die initiale Auswahl bzw. die Implementierung des DCPs und womöglich für hoffentlich eher seltene Beschwerdefälle von Seite der Kund:innen, bedarf es keines menschlichen Zutuns mehr, dass z.B. die Führungskraft einen Coach findet.

Dissonanzen könnten sich auch im Hinblick auf die Datensicherheitund -transparenz