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Ueli Gfeller

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Beschreibung

Eine zusammengewürfelte Touristengruppe startet eine gemeinsame Ballonfahrt im Mittelmeerraum. Aufgrund eines Zwischenfalls gerät der Ausflug jedoch rasch ausser Kontrolle. Die abgeschiedene Gegend, in der die Gruppe schliesslich notlandet, entpuppt sich als befremdlicher Ort mit eigenen Gesetzen. Weshalb zeigt der menschliche Körper hier bisweilen ungewohnte Reaktionen? Ist man alleine hier? Und warum ist offenbar keine Rettungsaktion für die Verschollenen im Gange? Mangelnde Einigkeit unter den Beteiligten erschwert das weitere Vorgehen zusätzlich. Doch nachdem die grössten menschlichen Hürden überwunden zu sein scheinen, zeichnet sich eine Rückkehr ab. Die Protagonisten ahnen jedoch nicht, dass die Probleme damit keineswegs behoben sind. Denn erst nachdem sie die wirklichen Rätsel überhaupt erkannt haben, kann an deren Lösung gearbeitet werden …

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Ähnliche


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ROMAN

UELI GFELLER

RIVERFIELD DIGITAL 2023

Inhalt

Wichtiger Hinweis an die Leserschaft

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Teil IV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil V

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Nachwort

Über den Autor

Originalausgabe 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

 

© Riverfield Verlag, Reinach BL (CH)

www.riverfield-verlag.ch

 

Covergestaltung: Ueli Gfeller & Riverfield Verlag unter Nutzung eines Bildes von Elena Schweitzer/adobe.stock.com

 

E-Book Programmierung: Dr. Bernd Floßmann

www.IhrTraumVomBuch.de

ISBN 978-3-907459-05-8 (E-Book)

ISBN 978-3-907459-06-5 (PDF)

Wichtiger Hinweis an die Leserschaft

Die ursprüngliche Fassung des Romans enthielt unterschiedliche Schrifttypen. Bei der eBook-Umsetzung wurde dieses Stilmittel aus Gründen der Vereinfachung aber auf das Nötigste reduziert. Die Ur-Version des Romans ist jedoch ebenfalls (als PDF) erhältlich.

Der Autor bedankt sich für das Verständnis und die Rücksichtnahme, und wünscht viel Vergnügen beim Lesen!

Ueli Gfeller, August 2023

TeilEins

Fernab von dem was ist und war

dem Horizont in blau entgegen

der Wind – gar unberechenbar

ist heute Fluch und morgen Segen

Die Handvoll Seelen treibt dahin

doch ihr Vehikel seltsam träge

ihr Tun scheint nicht geprägt von Sinn

gar unergründlich sind die Wege

Woher? Wohin? Und wann ist bloss

hierbei ein Ende abzusehen?

das Ziel zu fern, die Welt zu gross

der Mensch zu klein, es zu verstehen

1

Georgi Kurtakis galt als Berufsoptimist. Das war er schon immer gewesen, obwohl es in seinem Leben genügend Gründe gegeben hätte, es nicht zu sein. Er hatte recht früh beide Eltern verloren, was ihn zwar geprägt, ihn jedoch nicht hatte resignieren lassen. Stets versuchte er, seiner Situation etwas Positives abzugewinnen und optimistisch nach vorne zu blicken; und meistens gelang ihm dies auch. Trübsal zu blasen, war nicht seine Art.

Natürlich ist diese Lebenseinstellung nicht allen Menschen gegeben. Viele lassen sich von den Auswirkungen negativer Erlebnisse einfach erdrücken und können sich nicht dagegen wehren. Georgi jedoch schon. Er hatte die Gabe, Dinge vergessen zu können, was ihm in schwierigen Situationen schon des Öfteren half, die Last auf seinen Schultern zu ertragen. Oder besser gesagt: Es half ihm, die Dauer der Last zu verkürzen.

Seine ‘Es-wird-schon-gutgehen’-Mentalität leistete ihm stets gute Dienste. Besonders, als er nach dem Tod seiner Eltern bei einer Tante aufwuchs, konnte er davon Gebrauch machen. Sie war ziemlich streng und selten herzlich gewesen. Von der Herzlichkeit kann man sich nichts kaufen, pflegte sie zu sagen. Ja, aber dafür kostet sie auch nichts, war Georgis Antwort im Geiste. Allerdings sprach er sowas nie aus. Er war nicht auf Konfrontationskurs; das entsprach nicht seiner Art. Ausserdem war ihm nur allzu klar gewesen, wo er gelandet wäre, wenn er es mit ihr verscherzt hätte: Im Jugendheim, und dort war das Leben vermutlich noch um einiges härter.

Die eher nüchterne Erziehung führte allerdings auch dazu, dass Georgi sehr früh selbständig wurde. Da er gerne von Menschen umgeben war, und auch gut mit ihnen umgehen konnte, suchte er sich nach der Schule Arbeit im Gastgewerbe. Obwohl es wirtschaftlich in Griechenland oft schwierige Zeiten gegeben hatte (wann war das nicht so gewesen?), war dies eine Branche, die zumindest in und um Athen stets florierte. Dank dem geschichtsträchtigen und kulturellen Background der Stadt fanden schliesslich unentwegt Touristen aus aller Welt hierher.

So schlug sich Georgi viele Jahre als Kellner durch und verdiente auf diese Weise seine Brötchen. Trotz des Stresses und der Hektik gefiel ihm diese Arbeit. Zwar gab es hin und wieder durchaus schwierige Gäste, aber im Grossen und Ganzen waren die Menschen entspannt und locker, schliesslich waren sie hier in Urlaub und hatten Zeit.

Freunde von ihm, welche in Büros oder als Handwerker auf dem Bau arbeiteten, berichteten oft von mühsamen und unumgänglichen Mitmenschen, mit denen sie sich rumschlagen mussten. Georgi beneidete sie deshalb nicht im Geringsten, obwohl einige von ihnen deutlich mehr verdienten als er. Er war zufrieden und hätte nichts an seiner Situation geändert, wenn er nicht dazu gezwungen worden wäre.

Als er auf die Sechzig zuging wurde es zunehmend schwieriger, eine Stelle als Kellner zu finden. Die Betriebe stellten lieber junges dynamisches Personal ein, das erst noch billiger arbeitete. Schliesslich kamen die Touristen nach Athen, um sich die Antiquitäten anzusehen, nicht um von ihnen bedient zu werden. Georgi ärgerte diese Haltung schon ein bisschen, aber er verfiel darob nicht in Selbstmitleid. Es wird schon irgendwie gehen, redete er sich ein.

In eine komplett andere Branche einzusteigen kam jedoch nicht in Frage. Er war ja nun wohl ein bisschen zu alt, um noch ein Medizinstudium anzufangen, und er würde auch nicht den nötigen Enthusiasmus und die Energie für sowas aufbringen. Also änderte er lediglich die Richtung, blieb aber dem Tourismus erhalten. Glücklicherweise hatte er kurz zuvor eine ansehnliche Summe Geld geerbt, welche es ihm nun ermöglichte, sich selbständig zu machen.

Nachdem er die nötigen Aus- und Weiterbildungskurse absolviert und erfolgreich abgeschlossen hatte, wurde aus ihm am Ende eine Art Fremdenführer (‘3D-Reiseleiter’, wie er sich oft scherzhaft bezeichnete). Er hatte eine Nische gefunden, in der es ihm gefiel und die ihm sogar mehr Geld einbrachte als die Schufterei in den Restaurants.

Das war aber nur ein Beispiel für seinen unerschütterlichen Optimismus. Seine positive Lebenseinstellung hatte ihm auch über den Tod seiner ersten Frau Elenie hinweggeholfen. Obwohl sie völlig unerwartet und viel zu früh gestorben war, und Georgi anfangs stark daran zu kauen hatte, liess er sich davon nicht unterkriegen. Bald einmal war er davon überzeugt gewesen, noch einmal Glück in der Liebe zu finden. Und tatsächlich; es verging kein Jahr und er stand erneut vor dem Traualtar. Dank seiner positiven Art und seiner Fähigkeit auf Menschen zuzugehen, war es ihm gelungen, ziemlich rasch neue Kontakte zu knüpfen. Dass jedoch derart schnell etwas Ernsthaftes daraus entstehen würde, hätte selbst Georgi nicht erwartet. Aber wozu warten, wenn einem das Glück lacht, hatte er sich gesagt.

Es wird schon gutgehen.

Nun, das ging es eine Zeit lang auch. Und eigentlich geht es immer noch recht gut, beruhigt er sich jeweils in schwierigen Momenten. Allerdings hatten sie beide relativ schnell gemerkt, dass sie doch nicht besonders gut zueinander passten. Der Entschluss zur Heirat war wohl ein bisschen überstürzt gewesen, denn mittlerweile war ihre Ehe mehr eine Zweckgemeinschaft als ein Liebesbündnis.

Das war sozusagen die Kehrseite der Medaille; als Optimist hatte Georgi eben nicht nur die Fähigkeit, Schicksalsschläge besser zu verkraften, sondern auch eine gewisse Tendenz, Probleme zu verdrängen oder schönzureden. Streitigkeiten ging er wann immer möglich aus dem Weg. Lieber liess er eine andere Meinung unwidersprochen, als dass er um jeden Preis versuchte, sich durchzusetzen. Das ist die Mühe nicht wert, und schadet oft mehr als es nützt, sagt er sich in solchen Situationen meist. Angesichts der unschönen Dinge, die er schon erlebt hatte, wollte er seine Zeit nicht mit Belanglosigkeiten verschwenden.

In der Vergangenheit hatte Georgi jedoch auch hinsichtlich seiner Gesundheit des Öfteren durch Sorglosigkeit brilliert. Besonders die Raucherei hätte ihm eigentlich mehr zu denken geben müssen, als sie es tatsächlich tat. Zwar hatte er diverse Male versucht, damit aufzuhören, war aber stets rückfällig geworden. Der Grund dafür war vermutlich der Tatsache geschuldet, dass er bisher keine wirklich besorgniserregenden Beschwerden verspürt hatte, und der Wunsch aufzuhören bloss allgemeiner Natur war. Hätte er in gesundheitlicher Hinsicht das Messer am Hals gehabt, dann wäre er eher in der Lage gewesen, seine Vorhaben umzusetzen. So aber blieb alles beim Alten.

Auch hielten sich seine sportlichen Aktivitäten in überschaubaren Grenzen. Seine diesbezüglich nennenswerteste Leistung war der tägliche Fussmarsch zum Quartierladen, wo er sich jeweils mit zwei Packungen ‘Marlboro Gold’ versorgte. Er redete sich sogar ein, mit diesem ‘Bewegungsexzess’ etwas für seine Gesundheit zu tun.

Die in letzter Zeit gehäuft auftretenden Symptome wie Atembeschwerden und Herzrasen brachte er nicht etwa mit seinem Lebenswandel in Zusammenhang, sondern mit seinem Alter. Dass andere Menschen mit 64 Jahren noch in der Lage waren, einen Marathon zu laufen, begründete er mit einem lakonischen ‘Glück mit den Genen’. Ausserdem, wenn er einmal siebzig Jahre lang Nikotin konsumiert haben würde, dann wäre er ja schliesslich auch alt geworden.

Immerhin trank er nicht übermässig viel Alkohol, verglichen mit einigen seiner Kollegen. Und er hatte sein Gewicht recht gut im Griff, was in diesem Alter keineswegs eine Selbstverständlichkeit war.

Da also keine unmittelbare Notwendigkeit zum Umdenken bestand, spielte sich das Thema Rauchen nach wie vor in der dramafreien Zone ab. Georgi brauchte sich also vorerst keine Sorgen zu machen; und weshalb sollte sich dies plötzlich grundlos ändern? Es wird schon gutgehen …

2

Die kleine Gruppe Menschen schien wild zusammengewürfelt worden zu sein; sechs Personen unterschiedlichsten Alters und Herkunft. Dass sie sich kaum kannten, spielte keine Rolle. Sie würden lediglich ein paar Stunden zusammen verbringen. Falls sie sich in dieser Zeit jedoch näher kennenlernen wollten, so hatten sie dafür einen gemeinsamen Nenner. Die Tatsache, dass sie alle der englischen Sprache mächtig waren, war schliesslich eines der Kriterien für die Zusammenstellung der Gruppe gewesen. Allerdings war das letztlich nicht allzu wichtig, denn der eigentliche Grund für ihren Trip war in erster Linie visueller Natur, nicht sprachlicher. Die Laute, die den Mündern der jeweiligen Teilnehmer entwichen, bestanden ohnehin mehrheitlich aus langgezogenen Vokalen, welche Staunen und Geniessen zum Ausdruck brachten, und dafür brauchte man im Grunde keine Sprache; solche Laute waren international verständlich.

Die Gruppe versammelte sich ein paar Kilometer ausserhalb Athens. Von dort aus sollte es dann schliesslich losgehen. Falls das Wetter so bleiben würde – und gemäss Wetterbericht würde es das –, dann wäre eine erfolgreiche Durchführung des Events garantiert. Das hiess konkret, dass alle Teilnehmer auf ihre Kosten kommen und am Ende des Tages gesund und munter, und natürlich hoch zufrieden in ihre Hotelzimmer zurückkehren würden.

Man konnte natürlich nie wissen, aber zu gegenteiliger Annahme gab es nicht den geringsten Grund; bisher war es fast immer wie geschmiert gelaufen.

* * *

Melinda Fosbury war neun Jahre alt und freute sich wahnsinnig auf diesen Ausflug. Allein – ohne ihren Grossvater Diego – hätte sie allerdings nicht dabei sein dürfen. Für Kinder war eine erwachsene Begleitperson eine der Teilnahmebedingungen. Da Melindas Eltern für diese Idee nicht zu begeistern gewesen waren, hatte sie ihren Grandpa gebeten mitzukommen. Dieser war zwar zuerst auch nicht besonders davon angetan gewesen, hatte sich aber schliesslich dem Wunsch seiner Enkelin gebeugt, da er ihr kaum jemals etwas abschlagen konnte. Ausserdem hatte er ein gewisses Verständnis dafür, dass Melinda in den Ferien nicht jeden Tag von ihren Eltern Kunst, Kultur und Geschichte verabreicht bekommen wollte. Für eine Neunjährige war das nicht besonders spannend, und zudem ziemlich ermüdend; beinahe wie Schule.

Diego Valdano konnte sich sogar durchaus vorstellen, dass er am Ende genau so viel Freude an dem Ausflug haben würde wie seine Enkelin. So war das häufig bei ihm; er brauchte oft einen kleinen Schubser, um sich für etwas begeistern zu können. Das war schon früher so gewesen. Als seine Tochter ihm damals von diesem Amerikaner erzählt hatte, den sie heiraten würde, war er auch nicht gleich Feuer und Flamme gewesen. Nachdem er aber Richard schliesslich kennengelernt hatte, schien es ihm plötzlich nichts mehr auszumachen, dass dieser sein Schwiegersohn werden würde.

Diego hatte im Vorfeld sogar schon ein kleines Fernrohr für seine Enkelin gekauft, es ihr jedoch noch nicht überreicht. Damit wollte er bis zum Ausflug warten, denn Melinda war auch so schon ungeduldig genug bis es endlich losging.

Je näher nun der Tag X rückte, desto kribbeliger wurde aber auch er. Etwas Derartiges hatte er schliesslich noch nie zuvor unternommen, und so blickte er der Sache freudig entgegen. Es würde bestimmt einzigartig werden.

* * *

Der Australier Bradley Lewis war zum ersten Mal in Athen. Er war ein weitgereister Mann und kannte viele der grossen Städte auf allen Erdteilen. In Sachen Europa herrschte bei ihm jedoch ein gewisser Nachholbedarf. Amerika und besonders Asien waren ihm von früher her bestens vertraut, aber vom ‘alten Kontinent’ kannte er eigentlich nur London, sowie ein paar Flughäfen.

Nun hatte er im Sinn, dies mit einer ausgedehnten Europa-Tour zu ändern. Als geschiedener Mann war er nun wieder frei genug, drei oder vier Monate am Stück Urlaub zu machen und auf Reisen zu gehen. Eine Zeit lang musste er sich – mussten sie sich – diesbezüglich einschränken, da ihre gemeinsame Tochter noch zur Schule ging und dadurch jeweils den terminlichen Rahmen setzte.

Bradley hatte sich bereits seit Jahren vorgenommen, einmal eine etwas längere Reise als die üblichen zwei Wochen zu unternehmen. Eigentlich hatte er im Sinn gehabt, Europa mit seiner Frau zu bereisen, doch da dieses Luder ihn letztes Jahr wegen eines Möchtegern-Künstlers hatte sitzen lassen, tat er es eben alleine. Das war zwar nicht ganz so schön wie zu zweit, aber vielleicht würde ihn ja diese Reise auf andere Gedanken bringen und ihm helfen, gewisse Dinge klarer zu sehen.

Er musste sein Leben neu ordnen, und wenn ein ausgedehnter Europa-Trip ihn dabei unterstützte, so konnte ihm das nur recht sein.

Bradley hatte vor, nebst Athen auch noch Paris, Rom, Wien, Budapest und Prag zu besuchen; die Klassiker eben. Bei Moskau war er sich noch nicht so sicher, schliesslich ging’s in Russland – soweit er informiert war – ein bisschen drunter und drüber. In den grossen Städten, die auf seiner Liste standen, hatte er jeweils ein Hotelzimmer reserviert. Was er dazwischen und danach noch alles unternehmen wollte, würde er spontan entscheiden. Er war offen für Abenteuerliches aller Art, schliesslich reiste er allein und brauchte auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Es konnte losgehen …

* * *

Für Nancy und Dave Jordan war der Urlaub in Athen das Ergebnis einer Wette. Nicht etwa eine, die sie gewonnen oder verloren hatten, sondern eine unter sich selbst. Eigentlich war es mehr eine Abmachung als eine Wette gewesen, die sie dazu gebracht hatte, nach Europa zu fliegen.

Zu Hause waren die beiden als Folk-Duo ‘Nancy and Dave’ auf den Bühnen Amerikas unterwegs und gaben Konzerte. Sie waren zwar keine Vollprofis (noch nicht), aber beide hatten immerhin das Arbeitspensum in ihrem angestammten Beruf reduzieren können, so dass sie auch noch Zeit fanden, ihre Musik aufzunehmen.

Als gegen Ende des letzten Jahres ihr drittes Album auf dem Markt erschien, hatten sie übereingestimmt sich etwas zu gönnen, sollte es von Erfolg gekrönt sein. Wenn sich davon über 50'000 Exemplare verkaufen würden – so fanden sie – dann wäre dies Grund genug, sich mit einer Europareise zu belohnen. Die Verkaufszahlen stiegen rasch an, und im März wurde die angestrebte Marke schliesslich erreicht.

Als es dann darum ging geografisch etwas konkreter zu werden, arbeiteten sie ein raffiniertes aber faires Auswahlprozedere aus, weil sie sich nicht auf Anhieb einigen konnten, wohin sie genau fliegen wollten.

An und für sich war diese Uneinigkeit etwas ungewöhnlich für die beiden, da sie ansonsten ein Herz und eine Seele waren. Die Harmonie, die sie auf der Bühne verkörperten, und in Form von süssem zweistimmigem Gesang auch musikalisch zum Ausdruck brachten, war keineswegs nur ein verkaufsträchtiges Klischee; es stimmte tatsächlich. Im Falle von Nancy und Dave konnte man getrost und zurecht von zwei Menschen reden, die füreinander bestimmt waren, ohne dass es abgedroschen klang oder ironisch gemeint war.

Nachdem also Athen als Reisedestination feststand, kam Nancy zum Schluss, dies sei gewissermassen ideal, denn nun könnten sie auf ihrer Ferienliste die Städte der Welt alphabetisch abarbeiten. Dem hatte Dave zugestimmt, allerdings mit der Bemerkung, dass er keineswegs vorhabe, sich im Alter von siebzig Jahren als Plattenmillionär in Zürich beim Skilaufen die Beine zu brechen.

’Spielverderber!’, hatte sich Nancy gespielt schmollend beklagt, nur um daraufhin in einem trockenen Tonfall ’Na, dann halt eben Zaire’ vorzuschlagen, was Dave mit einem ’Gibt es denn dort überhaupt Schnee, mein Schatz?’ quittierte.

Ähnlich wie auf den Konzert-Tourneen würden solche liebevollen Neckereien die beiden auch in ihren Athen-Ferien begleiten. Einem genüsslichen, erholsamen und vergnüglichen Urlaub stand nichts im Wege.

* * *

Eigentlich war es nicht die Art von Helga Stiansen, sich einer Gruppe anzuschliessen. Sie war viel lieber alleine unterwegs; so konnte sie jeweils spontane Entscheide treffen und musste sich nicht einem vorgegebenen Programm beugen. Reisegruppen, so fand sie, waren doch eher etwas für ältere Leute, und dazu zählte sie sich mit ihren 36 Jahren noch lange nicht.

Für den heutigen Ausflug machte sie jedoch einmal eine Ausnahme. Anders war es nicht möglich, die Erfahrung zu machen, die sie machen wollte; jedenfalls nicht ohne unverhältnismässig viel Geld dafür aufzuwenden. Erst eine Gruppe Gleichgesinnter liess das gewünschte Erlebnis Realität werden. Ausserdem würde es ja nicht für allzu lange sein, nicht einmal für einen vollen Tag. Danach hatte sie wieder freie Hand für ihre Aktivitäten. Obwohl solche Erlebnis-Events durchaus ihren Reiz hatten, bot diese Stadt schliesslich noch viel mehr. Und wenn sie dann auch vom restlichen Athen genug hatte, dann würde sie weiterziehen und die verbleibenden drei Wochen an anderen (interessanten) Orten verbringen. Das mussten nicht unbedingt die grossen bekannten Städte sein. Kleine verschlafene Nester hatten zwar meist nicht das gleiche umfangreiche Unterhaltungs- und Kulturangebot, punkteten dafür aber in Sachen Individualität und Charme.

Hin und wieder genehmigte sich Helga gerne eine Prise Massentourismus, war dann aber jeweils schnell gesättigt und ging wieder zu Unkonventionellerem über. Zuviel Mainstream behagte ihr nicht besonders. Sie war überzeugt, dass sich nur auf diese Weise die wahren Perlen finden liessen. Wenn man sich nur für die klassischen Sehenswürdigkeiten interessierte, dann gab es dafür ausreichend Dokus im Fernsehen oder Internet … oder man konnte sich ganz einfach mit Google-Maps begnügen.

Dies reichte ihr aber nicht, um sie von ihrem doch eher freudlosen Alltag abzulenken. Helga wollte die sehenswerten und spannenden Orte auf dieser Welt auch physisch erleben, nicht nur visuell. Reisen war doch gewissermassen eine Ganzkörpererfahrung; ein Erlebnis für alle fünf Sinne. Ein Bildschirm konnte einem doch nicht die Sonne auf der Haut ersetzen, oder Wind und Regen, oder den Geruch von Meerwasser. Kein noch so guter Gastro-Reisebericht konnte ihrem Gaumen Freude bereiten. Nein, dafür musste man die gewünschten Orte besuchen.

Sie wollte mehr als blosse Daten und Fakten einer Stadt; etwas Substantielleres als das Baujahr und die Höhe eines Stahlgerüstes, welches neben einem Fluss errichtet worden war. Für Helga waren Reiseerlebnisse wie das Blut in den Adern; wie das Benzin, das sie brauchte, um die restliche Zeit des Jahres zu durchzustehen. Sie zehrte von diesen Erlebnissen, also musste sie genügend davon auftanken, damit es für ein ganzes Jahr reichte; solange, bis sie die nächsten Reiseferien in Angriff nehmen konnte.

Sie brauchte etwas Positives in ihrem Leben, das sie am Versauern hinderte, wenn sie am Ende des Sommers jeweils wieder nach Norwegen zurückkehrte. Und dieses ‘Etwas’ sollte dieses Mal einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

3

Statistik kann eine trügerische Sache sein. Es geht darum, welche Aussagen und Erkenntnisse man aus ihr herausliest. Oder herauslesen will. Mit Statistik lässt sich fast alles ‘beweisen’, man braucht sie bloss für den jeweiligen Zweck entsprechend zurechtzubiegen. Entscheidend dabei ist, diejenigen Zahlen und Fakten besonders herauszustreichen, welche die gewünschte Aussage untermauern, und jene wegzulassen, die der angepeilten Schlussfolgerung im Wege stehen.

Sie möchten beweisen, dass Fliegen sicherer ist als Autofahren? Kein Problem, die Statistik ist auf Ihrer Seite! Setzen Sie die jeweils zurückgelegte Distanz in km ins Verhältnis zur Anzahl Unfälle des jeweiligen Transportmittels, und Sie werden erfreut feststellen, dass Ihre entsetzliche Flugangst, die Sie seit Jahren lähmt, im Nullkommanichts wie durch ein Wunder … verflogen ist!

Um die Wirkung dieser verblüffenden Erkenntnis aufrechtzuerhalten müssen Sie dabei aber konsequent ignorieren, dass Autounfälle im Vergleich zu Flugunglücken nicht immer tragisch enden, und es oft nur Blechschaden gibt. Zudem gibt es viel mehr Autos als Flugzeuge, und dies wohlgemerkt auf einer 2D-Fläche anstelle eines 3D-Raums. Wie wäre es nun um die Sicherheit bestellt, wenn die Flugzeugdichte im Luftraum der Fahrzeugdichte auf der Strasse entspräche? Und Bumm, da ist sie schon wieder, Ihre Flugangst! Alles statistisch einwandfrei belegt, nichts erfunden, nichts gelogen.

Ein weiteres Beispiel gefällig? Bitte sehr …

Was tun Sie im Falle eines Schwächeanfalls oder einer Herzattacke? Klar doch, Sie rufen den Notarzt an oder gehen – falls Sie dazu noch in der Lage sind – auf direktem Weg selber ins Spital.

Ja sind Sie denn wahnsinnig?! Tun Sie das nicht! Sie haben ja keine Ahnung von Statistik! Wissen Sie denn nicht, wie viele Menschen weltweit TÄGLICH in Spitälern an den Folgen eines Herzinfarktes sterben?! Meiden Sie von daher Krankenhäuser! Suchen Sie stattdessen lieber einen Kiosk auf … oder einen Kindergarten … oder eine schmucke Teestube … oder einen pittoresken Tabakshop … oder sonst was! Statistisch gesehen sind Sie damit bereits auf dem Wege der Besserung. Geheilt! Dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Gratulation zu dieser mutigen aber weisen Entscheidung!

Sie haben Zweifel? Ach was, völlig unnötig! Oder haben Sie schon einmal von einem Herzinfarkt-Todesfall in einem Kindergarten gehört? Na, sehen Sie …

Nun, zur Ehrenrettung der Spitäler, der Ärzteschaft und des Pflegepersonals muss natürlich auch die Statistik der geretteten und wieder genesenen Opfer von Herzattacken erwähnt werden. Hier liegen die Krankenhäuser ebenfalls in Führung … ganz knapp.

Was lernen wir nun daraus? Genau! Trauen Sie keiner Statistik, benutzen Sie Ihren Verstand!

Vermeiden Sie den Herzinfarkt!

Aber lassen wir diesen sarkastischen Tonfall für einmal beiseite. Ungeachtet aller Statistiken und deren Interpretation darf man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass es günstigere und ungünstigere Orte für das plötzliche Auftreten gesundheitlicher Probleme gibt. Je kürzer dabei der Weg bis zu medizinischer Versorgung ist, desto besser. Einen Schwächeanfall in einer Grossstadt zu erleiden ist also deutlich weniger gefährlich, als in der Wüste. Während einer gutbesuchten Party in Ohnmacht zu fallen empfiehlt sich eher, als dies auf einem einsamen Berggipfel zu tun. Und wenn die Fruchtblase platzt ist es besser (obwohl im ersten Moment nicht weniger unangenehm), wenn es im Central Park geschieht, statt irgendwo im Amazonasgebiet.

Das Problem dabei ist, dass man sich Ort und Zeitpunkt der Unpässlichkeit leider nur selten aussuchen kann.

Obwohl sich gewisse Symptome in kleinem Rahmen bereits seit einiger Zeit bemerkbar gemacht hatten, hatte Georgi Kurtakis nicht damit gerechnet, dass er seinen Herzinfarkt in rund tausend Meter Höhe im Korb seines Ballons erleiden würde. Als Berufsoptimist hatte er eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass dies passieren könnte. Wieso auch? Schliesslich war bisher ja stets alles gut gegangen. Die Höhe hatte ihm bis anhin nichts ausgemacht. Und die paar Zigaretten pro Tag waren ja kaum der Rede wert. Er hatte ja nicht einmal geraucht als es passierte! Während der Ballonfahrt war das Rauchen (wie auch jede andere pyrotechnische Aktivität) sowieso strikte verboten, schliesslich handelte es sich hier um einen Gas-Ballon.

Am Vormittag hatte Georgi während ein paar Minuten so ein komisches flaues Gefühl verspürt, ihm jedoch keine besondere Beachtung geschenkt. Er dachte, er hätte eventuell etwas zum Frühstück gegessen, das ihm nun nicht gut bekommen würde. Natürlich hatte er sich nichts anmerken lassen, oder es zumindest versucht, denn es war nicht in seinem Sinne, die Passagiere zu beunruhigen.

Den obligatorischen Gesundheitscheck für Ballonfahrer, den er Anfang Jahr hatte absolvieren müssen, war einigermassen glatt über die Bühne gegangen. Wegen dem ‘einigermassen’ hatte er ein bisschen nachhelfen müssen. Dies war aber kein Problem gewesen, denn er kannte jemanden, der … naja egal … jedenfalls kriegte er am Ende sein Attest, und wenn er wirklich sterbenskrank gewesen wäre, dann hätten sie ihm doch nie und nimmer seine Lizenz verlängert!

Als der Infarkt nun eintrat und Georgis Pumpe ausser Gefecht setzte, ging alles ziemlich schnell. Zuerst wurde ihm schwindlig, dann schwarz vor Augen und schliesslich verlor er das Bewusstsein. Das Letzte was er wahrnahm, war die Tatsache, dass er die Kontrollinstrumente des Ballons mit ins Verderben riss, als er zu Boden stürzte. Er wollte sich an irgendetwas festhalten, kriegte jedoch nur die an der Korbaussenwand befestigte Steuerungskonsole mit Funk und Höhenmesser zu fassen. Mit einem gut hörbaren dumpfen Schlag, begleitet vom Scheppern der technischen Geräte, fiel Georgi zu Boden und blieb regungslos liegen.

In all den Jahren, in denen er Ballonfahrten anbot, hatte er schon einiges an unerfreulichen Geschichten erlebt. Hin und wieder gab es Streit zwischen den Passagieren oder sonstige kleinere Dramen.

Einmal war eine etwas impulsive Frau drauf und dran gewesen, ihren Ehemann über Bord zu stossen, weil er ihr seinen Feldstecher nicht hatte überlassen wollte. Meistens waren es aber bloss Bagatellen; davonfliegende Taschentücher, Hüte und Schals, die sich selbständig machten, oder in Ausnahmefällen auch mal Schmuck.

Medizinische Notfälle hatte es bisher noch keine gegeben. Das Äusserste war gewesen, dass Georgi einmal eine Ballonfahrt hatte verkürzen müssen, weil einer der Passagiere sein Insulin nicht dabeigehabt hatte. Allerdings wurde es nicht wirklich kritisch; bloss dass die anderen Fahrgäste etwas ungehalten wurden und er ihnen einen Teil der Kosten zurückerstatten musste, um sich nicht noch grösseren Ärger einzuhandeln.

Der Klassiker unter den Problemen war natürlich – Schiff ahoi! –, dass den Leuten übel wurde und sie erbrechen mussten, aber für diesen Fall war er mit einem reichhaltigen Arsenal an Spucktüten ausgestattet.

An zweiter Stelle stand die Sache mit dem Harndrang. Obwohl Georgi bei der Anmeldung allen Fluggästen einschärfte, die Ballonfahrt mit einer leeren Blase anzutreten, befolgten nicht immer alle diesen Rat. Zwar konnte man, wenn es unvermeidlich war, sein Geschäft mit Zuhilfenahme einer Spucktüte oder eines Eimers auch unterwegs verrichten, aber besonders viel Privatsphäre hatte man dabei natürlich nicht.

Dass bei der Premiere eines medizinischen Ernstfalls ausgerechnet Georgi selbst der Hauptakteur sein würde, hätte er sich niemals erträumen lassen. Seine grösste Sorge war stets gewesen, dass im Falle des Falles er die Verantwortung gehabt und sich der Sache hätte annehmen müssen. Die entsprechenden Nothelferkurse hatte er natürlich besucht, aber die Vorstellung einer Herzmassage oder Mund-zu-Mund-Beatmung inmitten eines solchen Stressmoments war ihm stets ein Gräuel gewesen.

Hätte er die jetzige Situation neutral von aussen betrachten können, dann hätte er (als Optimist, der er war) womöglich erfreut festgestellt, dass er von derartigen Pflichten per sofort befreit war. Hektik, Panik und Stress konnte er nun getrost seinen sechs Passagieren überlassen. Da befanden sich doch sicher welche unter ihnen, die einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert hatten; die konnten das bestimmt genauso gut, wenn nicht besser als er. Vielleicht hatte er ja Glück, und es war sogar jemand mit professionellen medizinischen Kenntnissen mit dabei.

Sorgen brauchte er sich vorerst keine zu machen, das übernahmen jetzt andere für ihn. Sollten sie mit ihren Bemühungen erfolgreich sein, das Fluggefährt sicher nach unten bringen und ihn rechtzeitig medizinisch versorgen, dann hätte er bis an sein Lebensende eine Wahnsinnsgeschichte zu erzählen. Falls jedoch heute seine letzte Stunde geschlagen hatte, dann wären ohnehin all seine Probleme Vergangenheit; eine klassische Win-win-Situation. Es würde schon gutgehen …

4

«Mister Kurtakis? Hallo? Alles in Ordnung mit Ihnen?», fragte Nancy Jordan ganz aufgeregt. Sie hatte sich neben den Ballonfahrer hingekniet und hielt seine Hand.

«So sagen Sie doch etwas!» Sie kam sich ziemlich albern vor, als sie sich so reden hörte, aber etwas Besseres fiel ihr in diesem Moment nicht ein. Nancy hatte als Erste bemerkt, dass ihr Reiseleiter nicht bloss gestolpert war, sondern ernsthafte Schwierigkeiten hatte. Sie alle hatten dem Korbinneren den Rücken gekehrt und in alle Himmelsrichtungen geblickt, um die Aussicht zu geniessen. Dann aber waren sie wegen des Lärms auf die Geschehnisse hinter sich aufmerksam geworden.

«Fühl doch mal seinen Puls, Schatz», meinte Dave in einem vorerst noch recht gelassenen Tonfall. Nancy befolgte diesen Rat und drückte drei Finger auf die Innenseite von Georgis Handgelenk. Nachdem sie einige Sekunden so verharrt hatte, riss sie plötzlich die Augen auf und rief entsetzt:

«Mein Gott, der Mann hat einen Herzstillstand!»

Allmählich kippte die Stimmung im Korb und Hektik kam auf. Nancy sah sich hilfesuchend um. Beinahe hätte sie ‘Ist hier irgendwo ein Arzt?!’ geschrien, besann sich aber gerade noch rechtzeitig eines Besseren. Sowas tat man nur inmitten grosser Menschenmengen, weil dort nicht gleich jeder sofort mitbekam, dass eine Notsituation entstanden war. Hier war dies jedoch ziemlich überflüssig. Wäre einer der Passagiere Arzt gewesen, so hätte der oder die Betreffende längst die Initiative ergriffen.

«Atmet er noch?», fragte Diego Valdano, der nun seine Enkelin Melinda an die Hand nahm. Diese blickte mit einer Mischung aus Angst und Neugier abwechselnd zwischen ihrem Grossvater und Mr. Kurtakis hin und her; gespannt, was als Nächstes passieren würde.

«Woher soll ich denn das wissen?!», reagierte Nancy zuerst harsch, fügte dann aber nach kurzem Innehalten hinzu: «Ich glaube nicht, jedenfalls sehe ich keine Bewegung des Brustkorbes. Mist!»

«Dann muss sofort eine Beatmung durchgeführt werden, sonst stirbt der Mann!», erwiderte Diego aufgeregt.

«Vergessen Sie die Beatmung!», wandte Bradley Lewis ein. «Wenn er keinen Puls mehr hat, braucht er eine Herzmassage!»

«Sind Sie sicher?!», fragte Dave skeptisch.

«Ziemlich sicher. Wenn der Kreislauf lahmgelegt ist, dass kriegt das Hirn keinen Sauerstoff mehr; da hilft alles beatmen nichts! Eine Herzmassage ist viel effektiver!»

Damit gab sich Dave zufrieden. Woher sollte er es auch besser wissen? Nancy, die aufmerksam zugehört hatte, liess Georgis Hand los und schickte sich bereits an, dessen Brustkorb rhythmisch zu bearbeiten. Zu ihrem Glück lag der Ballonfahrer bereits auf dem Rücken, so dass sie sich nicht erst die Mühe machen musste, ihn umzudrehen. Bradley sah einen Moment lang zu, schüttelte aber bald darauf den Kopf und gab Anweisungen:

«Aber doch nicht so! Sie müssen viel heftiger drücken, sonst nützt es gar nichts. Und viel schneller! Mindestens hundert Mal in der Minute.»

Nancy erhöhte die Frequenz, liess es aber weiterhin an Intensität mangeln. Das Ganze war gar nicht so einfach.

«Machen Sie mal Platz, ich zeige es Ihnen!», befahl Bradley und schubste Nancy unsanft zur Seite. Dann brachte er seine Hände in Position – beide Handflächen waagerecht übereinander auf den Brustkorb des Patienten gepresst – und legte los. Dabei ging er wesentlich vehementer vor als zuvor Nancy. Georgis Körper wurde regelrecht durchgeschüttelt und sein Kopf schlug einige Male heftig auf den Boden des Ballonkorbes auf, der aus einer Holzplatte bestand. Aus der Distanz betrachtet hätte es eher nach einer Schlägerei als nach einer Erste-Hilfe-Aktion ausgesehen.

Die kleine Melinda gab einen kurzen Laut von sich, der sich wie eine Mischung aus Wimmern und Fiepsen anhörte. Daraufhin drückte sie ihr Grossvater sanft an sich und wandte sich zusammen mit ihr ab, damit sie möglichst wenig von der unschönen Szene zu Gesicht kriegte.

Dave wühlte währenddessen in seinem Rucksack und brachte schliesslich eine Regenjacke hervor, die er Nancy reichte.

«Hier, leg das unter seinen Kopf!»

Nancy nahm die Jacke entgegen und knüllte sie zusammen. Dann hob sie Georgis Kopf an und legte das Bündel darunter. Bradley machte derweil ohne Unterbruch mit der Herzmassage weiter, und obwohl der Körper des Ballonfahrers nach wie vor wie ein Sack Kartoffeln hin und her geworfen wurde, bewirkte die Polsterung dennoch, dass das Ganze nicht mehr so brutal wirkte.

«Sehr gut … danke … », keuchte Bradley ohne aufzublicken. Er fuhr noch einige Sekunden lang fort und hielt dann inne, um Georgis Puls zu fühlen. «Nichts.»

«Soll ich es mal vers … ?», wollte Dave fragen, wurde aber durch die Klatschgeräusche unterbrochen, die entstanden als Bradley Georgi wiederholt ins Gesicht schlug. Paff!

«Wachen Sie auf, Mann!» Paff … Paff! «Kommen Sie zu sich!» Paff! Jetzt sah es auch aus der Nähe wie eine Schlägerei aus, allerdings wie eine ziemlich einseitige.

«Hören Sie doch auf, den Mann zu schlagen!», protestierte Nancy entsetzt. «Das bringt doch nichts! Und ausserdem ist es respektlos.»

«Alles was seinen Kreislauf anregt, könnte etwas bringen», widersprach Bradley. «Aber wenn Sie es besser können … Bitte!» Damit räumte er seinen Platz neben dem immer noch leblos daliegenden Reiseleiter. «Es ist ohnehin an der Zeit, dass mich jemand ablöst. Diese Pumperei ist ganz schön anstrengend … Na los, worauf warten Sie noch?!»

Nancy liess sich nicht zweimal bitten. Falls eine Chance bestand, Mr. Kurtakis zu retten, dann sollten sie jetzt nicht diskutieren und trödeln. Ausserdem war dieser Australier ein Grossmaul; und deshalb wollte sie ihm keinen Grund geben, sie kritisieren zu können. Gut, er hatte die Sache in die Hand genommen, aber er hatte es auf eine arrogante und überhebliche Art getan, die Nancy ganz und gar nicht passte. Nun wollte sie ihm zeigen, dass sie keineswegs bloss die zarte und zerbrechliche Frau war, für die er sie hielt. Angestachelt durch seine unzimperliche Art, legte sie sich mit einer Heftigkeit ins Zeug, als wäre eine Herzmassage eine Olympische Disziplin. Dabei achtete sie peinlichst genau darauf, sowohl den Rhythmus als auch die Intensität hochzuhalten. Das war leichter gesagt als getan, aber was das Timing betraf, so behalf sie sich mit einem Musikertrick. Sie dachte an einen bestimmten Song und übernahm dessen Tempo. Die Disco-Sachen aus den 70er Jahren wiesen häufig um die hundert Schläge pro Minute auf und waren von daher ideal. Vielleicht wäre das ja ganz nach Mr. Kurtakis Geschmack...

Staying alive … staying alive … ha … ha … ha … ha … staying aliiiiiive … sang Nancy in Gedanken und hätte ob der Ironie beinahe schmunzeln müssen. Es war schon verrückt, wie unpassend man als Mensch in gewissen Situation zu reagieren imstande war; als wäre man in der Kirche und versuchte das Lachen zu unterdrücken.

«Gut. Das ist schon viel besser als zuvor», stellte Bradley lobend fest. «Weiter so!»

Wenn du meine Methode wüsstest!, dachte Nancy nur, sagte jedoch nichts. Die Frequenz hatte sie jetzt fest im Griff. Sie musste nur aufpassen, dass sie den Druck beibehielt und nicht nachliess.

«Wenn Sie merken, dass Sie müde werden, dann soll er Sie ablösen.» Damit deutete er auf Dave, obwohl Nancy diese Geste nicht sehen konnte. «Danach sind Sie an der Reihe», sagte er und blickte dabei Helga Stiansen in die Augen, die bisher unbeteiligt dagestanden hatte. «Wir müssen uns ständig abwechseln. Nur kurze Einsätze, ein bis zwei Minuten, nicht länger. Dafür aber volle Pulle!», orderte Bradley an.

«Was ist mit mir? Sollte ich nicht ebenfalls mithelfen?», fragte Diego. Auch er wollte seinen Beitrag leisten.

«Danke alter Mann, aber besser nicht … », entgegnete Bradley in einem Tonfall, den Diego nicht recht einzuordnen vermochte. Hatte er dies jetzt aus Überheblichkeit oder Rücksicht gesagt?

Diego schwieg. Naja, vielleicht hatte der Bursche ja recht, schliesslich war er selbst tatsächlich nicht mehr der Jüngste. Und für Melinda, die weiterhin fest seine Hand umklammerte, war es sicher auch besser, wenn er sich in erster Linie um sie kümmerte.

Die Minuten vergingen, ohne dass Georgi Kurtakis ein Lebenszeichen von sich gab. Der führerlos gewordene Ballon trieb unbeachtet Richtung Südosten, während Nancy, Dave, Helga und Bradley sich regelmässig mit der Herzmassage ablösten. Jeder wusste nun, was er zu tun hatte; gesprochen wurde kaum noch. Hin und wieder liess Bradley ein Schneller! oder Fester! verlauten, blieb aber ansonsten erstaunlich ruhig. Überhaupt schien sich trotz des emsigen Treibens die Hektik wieder etwas gelegt zu haben, je länger die Wiederbelebungsversuche andauerten. Beinahe mechanisch spulten die vier ihr Programm ab. Nancy versuchte es zwischendurch kurz mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung, obwohl sie sich stark überwinden musste und nicht sicher war, ob sie es richtig anstellte. Leider brachte auch diese Bemühung keinen Erfolg.

Mit der Zeit schwanden nicht nur die Kräfte der Helfer, sondern auch die Hoffnung, Georgi doch noch retten zu können. Die vier verloren jegliches Zeitgefühl und vergassen trotz der engen Platzverhältnisse beinahe, wo sie sich eigentlich befanden. Je länger je mehr drängte sich die unvermeidliche Frage auf, deren Antwort – passend zur Situation – sozusagen in der Luft hing. Doch obwohl sie alle ziemlich erschöpft waren, wollte es niemand aussprechen. Keiner wollte der Erste sein und pietätlos erscheinen.

Schliesslich aber versuchte sich Dave zu überwinden und sagte:

«Wann … ähm … » Er wusste nicht recht, wie er es formulieren sollte. «Ich meine … wie lange … » Müssen wir dies hier denn noch machen? wollte er sagen, brachte es jedoch nicht fertig. Zu seiner Erleichterung fiel ihm Helga ins Wort.

«Bis die Ambulanz erscheint», meinte sie trocken.

«Hören Sie auf damit!», schrie ihr Nancy ins Gesicht. «Darüber macht man keine Witze!»

Dies war wie ein Funke ins Pulverfass. Augenblicklich schien die Situation zu eskalieren. Plötzlich redeten alle lautstark durcheinander, keiner hörte jedoch dem anderen zu. Nachdem dies etwa eine Minute lang so weiterging, ohne dass sich jemand um Georgi gekümmert hatte, riss Diego Valdano das Ruder an sich.

«Seid mal still … !», sagte er in ruhigem aber bestimmtem Ton. Dann wartete er einen Moment, bis er die volle Aufmerksamkeit hatte und fuhr dann fort:

«Ich denke wir haben … Ihr habt das Möglichste getan. Aber seht doch selbst, mit welchem Ergebnis. Dass es nicht geklappt hat, ist nicht Eure Schuld. Es ist einfach Pech … Schicksal. Vermutlich hätte auch ein Arzt nichts mehr ausrichten können.»

«Aber vielleicht besteht ja immer noch Hoffnung», wandte Nancy wenig überzeugt ein.

«Vielleicht, vielleicht … ! Wisst Ihr eigentlich, wie lange ihr es versucht habt? Fast eine Stunde lang! Das ist mehr als genug. Ihr könnt doch nicht ewig weitermachen. Wir müssen der traurigen Tatsache ins Auge sehen. Es ist vorbei. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, wir haben jetzt andere Probleme.»

Für Diego war es einfacher, der sinnlos gewordenen Aktion ein Ende zu setzen. Wäre er ein aktiver Helfer gewesen, dann hätte er sich vermutlich schuldig gefühlt, einfach aufzuhören. So aber konnte er die Sache ein wenig distanzierter betrachten und womöglich neutraler beurteilen.

Allmählich schienen sich alle Diegos Meinung anzuschliessen. Als nicht einmal mehr Nancy seinem Bestreben entgegenhielt, gab ihm dies die Gewissheit, im Sinne der Gruppe entschieden zu haben. Auch Bradley, der von allen wohl am meisten Einsatz gezeigt hatte, war Realist genug, Diego nicht zu widersprechen.

«Dann sind wir uns also einig?», fragte Diego und warf einen Blick in die Runde. Alle nickten und Bradley fügte emotionslos an: «Es bleibt uns nichts anderes übrig.»

So kam es also schliesslich, dass an diesem sonnigen Spätnachmittag Georgi Kurtakis für tot erklärt wurde. Nicht offiziell, denn dafür wäre ein Arzt vonnöten gewesen; aber sozusagen per Mehrheitsentscheid, ganz demokratisch.

Georgi Kurtakis hatte seine letzten Stunden damit verbracht, anderen Menschen Freude zu bereiten, und dies war ihm selbst stets die grösste Freude gewesen. Er hatte in seinem Leben vielen Widrigkeiten getrotzt und trotzdem nie den Lebensmut verloren. Aus dem Waisenjungen von einst war erst ein Kellner und schliesslich ein Ballonfahrer geworden; ein stets bescheidener Mensch, einer der im Leben nie hoch hinaus gewollt, dies aber dennoch irgendwie geschafft hatte.

Er starb in einer Höhe von 1'482 Meter über Meer im Korb seines eigenen Gasballons an einem Herzinfarkt. Georgi Kurtakis hatte etwas vollbracht, was statistisch gesehen ein Ding der Unmöglichkeit ist.

5

Als Nancy die Augen des toten Ballonfahrers schloss, brach die kleine Melinda in Tränen aus. Sie hatte noch nie zuvor miterlebt, wie jemand gestorben war. Obwohl sie Mr. Kurtakis kaum gekannt hatte, ging ihr sein Tod unter die Haut. Die engen Platzverhältnisse und die dramatischen Umstände hatten das Ihre dazu beigetragen, dass sie dieses schreckliche Ereignis ein Leben lang nicht mehr vergessen würde. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht im Hemd ihres Grossvaters und umklammerte ihn fest mit beiden Händen. Mit einer tröstenden Geste erwiderte er ihre Umarmung, während er ein letztes Mal auf den verstorbenen Reiseleiter blickte.

Nancy nahm die Regenjacke hervor, die sie unter Mr. Kurtakis’ Kopf geschoben hatte, und breitete sie über dessen Gesicht und Oberkörper aus.

«Will noch irgendjemand etwas sagen?», fragte sie leise. Da sich diesbezüglich niemand anerbot, sprach sie selbst ein paar Worte, denen sie im Anschluss das ‘Vater unser’ folgen liess. Als sie fertig war, verdrückte auch sie ein paar Tränen. Dave nahm sie tröstend in die Arme und flüsterte ihr kaum hörbar zu: «Das hast du gut gemacht, Liebes.»

Die anderen schwiegen vorerst. Helga war etwas irritiert ob Nancys Verhalten. Sie selbst verspürte nicht den leisesten Drang zu weinen. Von daher hatte sie wenig Verständnis für Nancys sensible Reaktion. Wenn Mr. Kurtakis ein Bekannter gewesen wäre, dann hätte sie es noch nachvollziehen können, aber im Grunde war er - bei allem Respekt – ein völlig Fremder. Wenn man in der Zeitung von einem tragischen Todesfall eines Unbekannten las, dann berührte es einen doch auch nicht besonders stark. Woher also diese Gesinnung? Nun ja, die Menschen waren eben nicht alle gleich. Womöglich hatte Nancy bei der Herzmassage physisch mehr an ihre Grenzen gehen müssen als die anderen, und die Erschöpfung hatte zusätzlich dazu beigetragen, die Emotionen an die Oberfläche zu befördern.

Dennoch gab es jetzt andere Prioritäten als irgendwelche improvisierten Abschiedszeremonien. Helga betrachtete Nancys Handeln nicht unbedingt als Schwäche, eher als gefühlsbedingt getrübte Weitsicht. Hatte eigentlich irgendjemand realisiert, welche Schwierigkeiten noch auf sie alle zukommen würden? Der gesundheitlich bedingte Ausfall des Piloten war nur der Auftakt gewesen. Jetzt würde es erst richtig losgehen. Houston, wir haben ein Problem, und zwar kein geringes!

Helga widerstrebte es, die Gruppenführerin zu spielen; diese Rolle war nicht für sie bestimmt. Aber wenn sie feststellen sollte, dass die Entscheidungen und Handlungen des Teams von nun an in die falsche Richtung gingen, dann würde sie einschreiten und Gegensteuer geben. Sie würde es nicht zulassen, dass irgendwer durch eine gutgemeinte Dummheit alle ins Verderben riss.

«Hört mal her!» Wenig überraschend war es Bradley, der die Stille unterbrach. Er stellte sich in eine Ecke des Ballonkorbes und wartete, bis alle sich ihm zuwandten. Dann machte er eine An-die-Arbeit-Geste, indem er seine Handflächen erst zusammenklatschen liess und dann aneinander rieb. Er schien es beinahe zu geniessen. Offenbar war er es gewohnt, vor Publikum aufzutreten.

«Wir ihr seht, haben wir ein Problem», fing er an. «Der Ballonfahrer ist tot. Und was noch schlimmer ist: Die Konsole mit der ganzen Technik ist futsch. Das heisst, wir wissen nicht, wo und in welcher Höhe wir uns befinden. Und wir haben keinen Funk, um uns mit dem Begleitfahrzeug in Verbindung zu setzen. Ich frage hier nur der Form halber: Ist jemand von euch in der Lage, etwas davon zu reparieren?» Er deutete auf die am Boden liegenden Trümmerteile, erntete aber nur ein allgemeines Kopfschütteln. Nickend nahm er dies zur Kenntnis und sprach dann weiter:

«Ich habe vorhin versucht, ob ich mit dem Handy eine Verbindung kriege, jedoch ohne Erfolg. Wie ich gemerkt habe, war ich nicht der Einzige mit dieser Idee. Hat vielleicht sonst jemand Empfang?»

Als Antwort war nur ein Gemurmel aus Verneinungen zu vernehmen.

«Anscheinend sind wir zu hoch», bemerkte Dave.

«Oder zu weit südlich. Viel zu weit», ergänzte Helga besorgt.

«Damit sind wir beim nächsten Punkt», fuhr Bradley fort. «Ihr habt sicher alle bemerkt, dass wir uns mittlerweile über Wasser befinden. Wir sind zwar ins Landesinnere gefahren, um zu starten, aber offenbar hat uns dann der Wind Richtung Süden aufs Meer hinausgetrieben. Das ist natürlich alles andere als ideal.»

«Warum drehen wir dann nicht einfach um?», fragte Melinda; verwundert, dass niemand sonst auf diese einleuchtende Idee kam.

«Weisst du, Kleines … das ist nicht so einfach», meinte Bradley verständnisvoll.

«Wir müssen aber! Ich habe nämlich ein bisschen Angst.»

«Glaube mir, wir würden sofort umdrehen, wenn wir könnten. Aber das geht nicht. Wir können nur rauf oder runter, das ist alles!»

Daraufhin war ansatzweise so etwas wie ein Raunen zu hören. Offensichtlich hatten vor dem Start nicht alle aufmerksam zugehört, als der Ballonfahrer seine Instruktionen und Informationen vorgetragen hatte.

«Und was würde Mr. Kurtakis jetzt tun?», erkundigte sich Diego in der Hoffnung, eine ermutigende Antwort würde Melinda beruhigen … und ihn selber auch.

«Der hätte es hoffentlich gar nicht soweit kommen lassen!», bemerkte Helga trocken.

«Warum nicht? Das hätte ihm doch genauso passieren können!», widersprach Nancy, worauf Bradley wieder das Wort ergriff, um irgendwelchen sinnlosen Spekulationen vorzubeugen.

«Mr. Kurtakis ist mit uns vor dem Start ins Landesinnere gefahren, damit wir uns über Boden befinden und genügend weit von der Küste entfernt sein würden, wenn wir uns in die Höhe begeben. Zum Zeitpunkt seines … » Hier hielt er einen Moment lang inne. Er wollte zuerst ‘Herzinfarkt’ sagen, aber im Grunde wusste er ja gar nicht genau, was eigentlich passiert war. «Zum Zeitpunkt … des Zwischenfalls befanden wir uns jedenfalls noch über Land. Wenn … »

«Das beantwortet die Frage nicht», unterbrach ihn Dave.

«Dann lassen Sie mich bitte ausreden!», sagte Bradley sichtlich genervt. «Wenn wir zu nahe an die Küste geraten wären, dann hätte Mr. Kurtakis mit Hilfe der Instrumente feststellen können, ob wir in einer anderen Höhe eventuell günstigere Windverhältnisse gehabt hätten. Falls ja, dann hätte er den Ballon in diese Position gebracht.»

«Und falls nicht?», wollte Nancy wissen.

«Nun, wenn es kritisch geworden wäre, dann hätte er wohl zur Landung angesetzt … vermute ich zumindest. Alles andere würde wenig Sinn machen. Aufs Meer hinaus zu fliegen scheint mir jedenfalls keine gute Alternative zu sein.»

«Und jetzt können wir wegen der kaputten Instrumente weder vor noch zurück», hielt Nancy resigniert fest. «Wir können nur abwarten und hoffen … und beten.» Letztere Bemerkung enthielt keinerlei ironischen Unterton, sondern war anscheinend vollkommen ernst gemeint, was sofort Helga auf den Plan rief.

«Ein typisch amerikanisches Phänomen», sagte sie verächtlich. «Wenn man nicht mehr weiterweiss, dann wird zuerst einmal gebetet.»

«Halten Sie doch den Mund! Jedenfalls kann es nicht schaden!», rechtfertigte sich Nancy.

«Wir sollten besser unser Hirn benutzen und unsere Situation analysieren, um zu sehen, was wir aktiv tun können.»

«Aber wir können doch gar nichts mehr tun! Bloss abwarten», behielt Nancy das letzte Wort.

«Meine Damen, wir wollen doch jetzt nicht streiten», war Diego um Eintracht bemüht.

«Es ist nicht so, dass wir nichts tun können», fuhr Bradley fort, ohne auf die Zankerei der beiden Frauen einzugehen. «Die Frage ist nur, was wir tun … was wir tun sollen.»

«Umkehren», hielt Melinda an ihrem Wunsch fest, obwohl sie mittlerweile begriffen hatte, dass dies offenbar nicht so leicht zu bewerkstelligen war.

Wäre diese Antwort aus Nancys Munde gekommen, dann hätte Bradley die Augen verdreht, aber dem kleinen Mädchen gegenüber war er etwas nachsichtiger. Von ihr erwartete er nicht, dass sie Mr. Kurtakis vor dem Start aufmerksam zugehört hatte. Er hoffte aber inständig, dass sie im Verlauf der nächsten Stunden seine Nerven nicht allzu sehr strapazieren und keine Schwierigkeiten machen würde. Bei Kindern konnte man nie wissen, wie sie mit einer solchen Situation klarkamen. Bei Erwachsenen allerdings auch nicht.

«Ich sagte bereits, dass wir unsere Höhe variieren können», richtete er seine Worte an alle. «Dafür muss man kein Profi sein. Wenn wir runter wollen, dann ziehen wir an dieser Leine hier. Dann geht zuoberst ein Ventil auf … oder so ähnlich … und wir verlieren Gas. Jedenfalls hat das Mr. Kurtakis ein paar Mal so gemacht. Um höher zu steigen werfen wir einfach Ballast ab. Dafür sind die Behälter mit Sand und mit Wasser da.»

«Ich möchte aber jetzt lieber wieder runter», schmollte Melinda.

«Weisst du Mel, wenn wir jetzt runter gehen, dann landen wir im Meer», versuchte Diego ihr die Situation klar zu machen.

«Na und? Dann schwimmen wir eben an Land», sagte sie unbeeindruckt und fügte stolz an: «Ich bin eine gute Schwimmerin!»

«Jetzt mal ernsthaft: Wäre dies denn keine Option?», hakte Dave nach.

«Na, dann können Sie schon mal Ihr Testament schreiben», sagte Helga kopfschüttelnd.

«Also bitte, bleiben Sie doch sachlich! Alle beide! Wir sollten … »

«Alle beide? Hey Mann, ich habe eine ernsthafte Frage gestellt!», fiel Dave Bradley empört ins Wort.

«Dann will ich Ihnen eine ernsthafte Ant … »

«Erlauben Sie, dass ich es ihm erkläre?», unterbrach ihn Helga.

Bradley mochte es gar nicht, auf diese Weise ausgebremst zu werden. Dadurch fühlte er sich irgendwie degradiert. Er hatte nichts gegen Unterstützung, nur hätte er sie lieber auf seine Anweisung hin erhalten, statt sie ungefragt serviert zu bekommen. Aber wenn diese etwas burschikose Norwegerin sich unbedingt in Szene setzen wollte, würde er sie nicht daran hindern. Vielleicht lernte er dadurch sogar, sie besser einzuschätzen, was womöglich noch nützlich werden konnte. Also machte er gute Miene zum bösen Spiel und forderte Helga mit einer Geste auf, ihre Erklärung abzugeben.

«Danke sehr», sagte sie mit einem aufgesetzten Grinsen. «Nun denn … wenn wir runterschauen, haben wir das Gefühl, die Küste sei gar nicht so weit weg, beinahe greifbar. Man meint, man könne sie mit ein bisschen Einsatz und Kampfgeist schwimmend erreichen, nicht wahr? Das müsste doch machbar sein, oder? Nun ähm … NEIN! Vergessen Sie das! Das ist unmöglich für uns! Ich möchte Folgendes festhalten … »

Hier hielt Helga ihre Hand auf und fing an, die ihr wichtig scheinenden Punkte an ihren Fingern abzuzählen. «Erstens: Selbst wenn es nur zehn Kilometer weit bis zur Küste sind, ist das eine MÖRDERISCHE Distanz. Es sind aber mit Sicherheit deutlich mehr; zwanzig bis dreissig würde ich schätzen. Und bis wir endlich unten wären, sind es nochmals ein paar mehr. Zudem ist das hier kein Hallenbad, wo wir einfach seelenruhig im gewünschten Rhythmus unsere Kilometer abspulen können. Dies hier ist ein offenes Gewässer! Je nach Strömung und Wellengang würden wir uns sogar immer weiter von der Küste entfernen, anstatt uns ihr zu nähern.

Ich weiss nicht, wie fit Ihr alle seid. Ich selbst bin recht gut in Form, vermutlich besser als irgendwer sonst hier, aber ich würde mir nie zutrauen, diese Distanz zu schaffen … NIE! Selbst ein Schwimmprofi könnte sich da nicht sicher sein. Zudem sind wir alle müde von der Herzmassage. Wir haben schon viel zu viel Kraft verbraucht, um auch nur die geringste Chance zu haben! Schwimmen ist KEINE Option!»

«Und weiter?», wollte Dave wissen. «Mir schien vorhin, als wollten Sie mehrere Argumente vorbringen.»

«Das wollte ich», bestätigte Helga. «Erstens also: Die Distanz ist zu gross. Zweitens: Die Dunkelheit naht. Wir bräuchten mehrere Stunden, um an Land zu schwimmen. Selbst wenn wir uns stetig der Küste nähern sollten … sobald es dunkel wird, verlieren wir die Orientierung und schwimmen in die falsche Richtung, nämlich in diejenige mit dem geringsten Widerstand; und das ist womöglich jene aufs offene Meer hinaus. Ausserdem könnte uns ein Schiff überfahren, weil es uns nicht sieht.»

«Aber sind nicht gerade die Schiffe überhaupt unsere Hoffnung?! Ein Schiff könnte uns doch bergen!», liess Dave nicht locker.

«Könnte … Pah, viel zu ungewiss! Ich habe keine Ahnung, welche Schiffe hier zu welcher Zeit welche Route befahren. Sie etwa? Zudem wissen wir nicht einmal, wo genau wir uns befinden. Einfach mal ins Wasser zu gehen und auf ‘Schiffsglück’ zu hoffen, ist in etwa so sinnvoll, wie mit Beten anzufangen; nur viel gefährlicher!»

Bei diesem kleinen Seitenhieb blickte sie ganz bewusst in Richtung Nancy. Diese erwiderte zwar den Blick, sagte jedoch nichts. Stattdessen meldete sich Dave wieder zu Wort.

«Und drittens?», fragte er herausfordernd und scheinbar unbeeindruckt.

An dieser Stelle konnte Helga ob dem unerschütterlichen amerikanischen Kampfgeist nur noch den Kopf schütteln. ‘Yes we can’ war zwar im Grunde eine begrüssenswerte Einstellung, aber manchmal war das Bestreben der Amerikaner, sich selbst ‘great again’ zu machen, doch ziemlich eng an Grössenwahn gekoppelt.

«Also, Dave … », sagte sie herablassend sanft, «Falls Ihnen das alles nicht reicht, um Ihre Chancen realistisch einschätzen zu können, dann möchte ich hier noch die hungrigen Tierchen erwähnen, die uns unten freudig erwarten würden.»

«Sie meinen … ach kommen Sie! Jetzt melodramatisieren Sie aber! Gibt es denn hier überhaupt Haie?!»

«Keine Ahnung … könnte schon sein», antwortete Helga wahrheitsgemäss.

«Sie wissen es nicht! Na, sehen Sie! Was spricht also dag … ?»

«Halten Sie die Klappe, Sie Idiot! Wollen Sie uns denn alle umbringen?! Nur weil Sie die Gefahren nicht sehen, sollen wir sie ignorieren?! Ich sage es nochmals für alle Anwesenden: Jetzt runterzugehen ist Selbstmord!»

Bradley hatte vorerst genug gehört und ergriff wieder das Wort.

«Besten Dank für Ihre ausführliche und überzeugende Argumentation», sagte er schnell, bevor Dave erneut nachhaken konnte. «Im Grossen und Ganzen gehe ich damit einig. Das Hai-Problem könnte man jedoch vernachlässigen, denke ich. Dennoch halte ich es für falsch, jetzt runterzugehen; die Risiken sind einfach zu hoch. Bedenken Sie: Runter können wir jederzeit, rauf jedoch nicht. Wir können nur solange steigen, wie wir Ballast abwerfen können. Es ist noch etwas Sand in den Behältern da, und auch noch Wasser … »

«Das Wasser wird nicht angerührt!», stellte Helga in einem Tonfall klar, der keinen Widerspruch duldete. «Dieses Wasser könnte unser Leben retten. Wer weiss, wie lange wir noch in diesem Ding hier bleiben müssen. Wenn wir gezwungen sind Ballast abzuwerfen, dann steht das Wasser zuunterst auf der Liste.» Helgas Blick wanderte langsam nach unten, Richtung Boden des Ballonkorbes. «Vorher haben wir noch … »

«Denken Sie nicht einmal daran, Sie Unmensch!», schrie Nancy, die Helgas Absicht sofort erkannt hatte. «Ich kann nicht glauben, was ich da höre! Ist das wirklich Ihr Ernst?! Grosser Gott, was sind Sie für ein menschenverachtendes Scheusal!» Ein Seemannsbegräbnis?!Der Mann war Pilot, nicht Kapitän!, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie konnte sich grade noch beherrschen, dies auszusprechen. Eine solche - beinahe komische - Bemerkung hätte die Ernsthaftigkeit ihrer Reaktion gleich wieder zunichte gemacht.

«Seien Sie nicht so überheblich!», konterte Helga. «Was glauben Sie denn, was Ihr werter Gatte mit der Leiche machen würde, wenn wir im Meer landen; sie ins Schlepptau nehmen?! Halleluja, welch selbstloser Märtyrer! Und Sie? Hätten Sie ihm dabei etwa geholfen?!»

Nancy verstummte. Irgendwie fühlte sie sich ertappt. Vorsichtig blickte sie Dave an und merkte an seinem Gesichtsausdruck, dass auch er sich dieses Problems gar nicht bewusst gewesen war. Helga nutzte die Pause und ergänzte:

«Wie ich sehe, müssen sich hier einige Leute von ihren Illusionen verabschieden und anfangen, die Prioritäten richtig zu setzen. Wir haben ein nicht zu unterschätzendes Problem. Es sind konstruktive Lösungen gefragt.»

«Okay … », war Dave um Sachlichkeit bemüht. «Wenn wir nicht runtergehen … bedeutet das jetzt, dass wir die Höhe bloss halten, oder dass wir zulegen sollen? Anders gefragt: Was geschieht mit uns, wenn wir steigen? Könnte dies etwas bringen?»

Bevor Bradley sich dazu äussern konnte, meldete sich Diego zu Wort. Während er die nach wie vor weinende Melinda an sich drückte, war er aufmerksam der Diskussion gefolgt und hatte sich selbst einige Gedanken dazu gemacht.

«Ein wichtiger Aspekt wurde bisher noch gar nicht zur Sprache gebracht. Wir sind nicht die Einzigen, die etwas tun können. Was ist mit unserem Begleitfahrzeug? Die müssen doch wissen, wo wir sind; oder zumindest, dass etwas nicht stimmt. Eigentlich hätten die doch längst Alarm schlagen müssen als der Funkkontakt abbrach, stimmt’s?»

«Ja, genau! Und was tut die Luftüberwachung? Und die Küstenwache?», ergänzte Nancy das Thema, als hätte sie sich dies die ganze Zeit schon gefragt.

Alle sahen Bradley an. Offenbar traute man ihm am ehesten eine plausible Erklärung zu. Helga war zwar auch überzeugend (und vor allem resolut), hatte aber bisher eher mit Warnungen und Angstmacherei geglänzt. Bradley gefiel diese allgemeine Haltung. Er mochte es, gebraucht zu werden. Da er allerdings auf letztere Fragen keine sofortigen Antworten parat hatte, die einleuchtend klangen, holte er ein bisschen aus, um Zeit zu gewinnen.

«Ihr habt natürlich recht, eigentlich müsste irgendeinmal Hilfe von aussen kommen. Spielen wir den möglichen Ablauf also einmal durch. Was geschieht in einem Fall wie dem unseren? Hm … zunächst einmal gar nichts, nehme ich an. Das Begleitfahrzeug hat ja keine Ahnung, dass nebst dem Funk auch noch der Ballonfahrer ausser Gefecht gesetzt wurde. Die gehen davon aus, dass Mr. Kurtakis alles mehr oder weniger im Griff hat, auch ohne Funkkontakt.»

«Aber hatte er nicht auch Kontakt mit der Flugüberwachung?», fragte Diego nach.

«Kann sein … aber ich verstehe kein Wort Griechisch. Ob er bloss mit dem Begleitfahrzeug oder noch mit jemand anderem gefunkt hat, kann ich nicht sagen. Kann einer von Euch Griechisch?» Bradley blickte in die Runde.

«Nur Hallo und Guten Tag», sagte Helga.

«Ich auch, mehr oder weniger», schloss sich Nancy an. Für einmal waren sich die beiden einig.

«Schade … aber wie dem auch sei, im Grunde ist es gar nicht so wichtig, ob die Flugüberwachung durch das Begleitfahrzeug informiert wird. Sie haben uns ohnehin auf dem Radarschirm. Die Frage ist doch: Was tun sie, sobald sie merken, dass etwas nicht stimmt? Was können sie überhaupt tun?»

«Eine Bergungsaktion starten … nur wie?», brachte Dave Hoffnung und Skepsis gleichzeitig zum Ausdruck.

«Ich glaube, zuerst müssen sie mit uns in Kontakt treten», korrigierte ihn Diego, worauf Bradley ihm anerkennend zunickte.

«Genau. Aber vergessen wir nicht, dass sie immer noch nichts von unserem Pilotenproblem wissen. Sie wissen nur, dass unser Funk defekt ist und wir aufs Meer hinausgetrieben werden.»

«Es ist keineswegs sicher, ob sie nicht doch mehr wissen», widersprach Helga. «Sie könnten uns per Satellit beobachten. Die heutigen Satellitenkameras haben eine derart hohe Auflösung, dass man damit in jedes Wohnzimmer blicken kann», war sie überzeugt.

«Hm … naja … vielleicht», zeigte sich Bradley skeptisch. «Vorausgesetzt, dass sie uns im richtigen Winkel vor der Linse haben. Ansonsten sehen sie nämlich nur die Ballonhülle, und nicht, was sich im Korb abspielt. Ich bezweifle jedoch ohnehin, dass sie wegen einem läppischen Gasballon gleich einen Aufstand machen und Satelliten einsetzen … noch nicht jedenfalls. Aber ungeachtet dessen, wieviel sie wissen, werden sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen.»

«Und wie soll das gehen?», erkundigte sich Nancy.

Bradley zog diesbezüglich zwei oder drei halbwegs realistische Szenarien in Betracht. Während er sich seine Antwort zurechtlegte, bemerkte er, wie Melinda auf Zehenspitzen ihrem Grossvater etwas ins Ohr flüsterte, worauf beide in Richtung Küste blickten. Bradley tat es ihnen gleich und bald darauf folgten auch alle anderen diesem Beispiel.

* * *

Was sie zu sehen kriegten, gefiel ihnen ausserordentlich gut. Zu Beginn war nur eine undeutliche Silhouette am Himmel zu erkennen, doch dies reichte aus, um ihnen einige Seufzer der Erleichterung und sogar verhaltene Jubelschreie zu entlocken. Es schien nun also doch, dass endlich Rettung nahte. Offenbar hatte man sie nicht vergessen und reagierte auf ihre ungewollte Flugroute.

Dann sah man es allmählich immer deutlicher und schliesslich war es auch zu hören; ein kleines einmotoriges Flugzeug kam direkt auf sie zugeflogen.

«Wie die Kontaktaufnahme gehen soll?», wiederholte Bradley Nancys Frage. «Ich schätze, wir werden demnächst erfahren, was sie mit uns vorhaben.»

«Ja, was wohl?!», frohlockte Nancy. «Sie holen uns hier raus! Was denn sonst?!» Obwohl er ihr immer noch unsympathisch war, hätte sie ihm vor Freude beinahe in beide Wangen gekniffen.

«Die holen uns hier nicht raus», widersprach Helga nüchtern.

«Klar doch, natürlich tun sie das! … Oder?» Nancy sah Helga unsicher an. «Weshalb sollten sie sonst … ?» Danach wanderte ihr Blick wieder zu Bradley. Tja, sie hat recht, schien sein Gesichtsausdruck zu sagen.

Das kleine Flugzeug änderte nun leicht seine Richtung. Wenn es den neuen Kurs beibehielt, dann würde es links an ihnen vorbeifliegen.

«Hey, was tun die da?!», empörte sich Nancy. «Und warum schicken sie eigentlich keinen Hubschrauber? Damit ginge es doch leichter, oder?»

«Was ginge damit leichter?», fragte Helga ernsthaft interessiert. Aus dieser amerikanischen Tussi wurde sie einfach nicht schlau. Was zum Geier glaubte sie denn, was ein Hubschrauber ihrer Meinung nach tun sollte?

«Der Hubschrauber könnte doch ein Seil runterlassen … oder eine Strickleiter?!»

« … Oder eine goldene Schaukel für Eure Hoheit!», ergänzte Helga spöttisch. «Also wirklich, wie blöd muss man denn sein … ?»

«Die bergen uns bestimmt nicht in der Luft», wandte sich Bradley erklärend an Nancy. Auch er nervte sich ein wenig ob den komischen Vorstellungen, die sie hatte, wollte aber nicht noch zusätzlich Öl ins Feuer giessen. Ausserdem gefiel es ihm, wenn er mit seinem Wissen brillieren konnte; oder mit dem, was er dafür hielt.

«Achten Sie einmal auf den Ballon-Durchmesser. Der beträgt ungefähr fünfzehn Meter, schätze ich. Wenn die nun einen Retter an einer Seilwinde runterlassen würden, vorbei an der Ballonhülle, dann wäre er für uns im Korb ausser Reichweite. Ausserdem glaube ich, dass eine Annäherung zweier so unterschiedlicher Flugobjekte keine so gute Idee ist.»

«Wie meinen Sie das?»

«Nun, das eine ist eine wind-instabile, leicht verletzliche Hülle mit hochexplosivem Inhalt; das andere ein überdimensionaler Ventilator … ein rotierendes Messer sozusagen. Und jetzt zählen Sie zwei und zwei zusammen.»

Nancy guckte etwas verschämt aus der Wäsche. «Naja, eigentlich logisch … », sagte sie kleinlaut und zuckte dabei verlegen mit den Schultern.

Das Flugzeug näherte sich dem Ballon bis ungefähr dreihundert Meter und setzte dann zu dessen Umkreisung an. Jetzt sah man es auch erstmal von der Seite. Melinda, Helga und Dave hatten ihre Fernrohre und Feldstecher wieder ausgepackt und nahmen die Maschine ins Visier.