Zusammen ist es Freundschaft - Mikael Bergstrand - E-Book

Zusammen ist es Freundschaft E-Book

Mikael Bergstrand

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Beschreibung

Wahre Freundschaft kennt kein Alter und keine Herkunft: Der neue berührende Roman des schwedischen Bestsellerautors Mikael Bergstrand Die  junge Dalia stammt Aleppo und lebt mit ihrer Familie auf dem heruntergekommenen Campingplatz, sie spielt ausgezeichnet Fußball,  und will genauso gut sein wie die Jungs. Seit einem Schicksalsschlag hat Ingemar Modig sich von der Welt verabschiedet, er lebt allein und ist einsam. Mit Dalias Hilfe findet Ingemar ins Leben zurück und Dalia ihren Platz in einem neuen Land. Mit Leichtigkeit und Humor erzählt Mikael Bergstrand in seinem berührenden Roman »Zusammen ist es Freundschaft« über aktuelle Themen wie Zuwanderung, Flucht und Vertreibung,  und dass wahre Freundschaft unser Leben einfach reicher macht.  

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Seitenzahl: 423

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Mikael Bergstrand

Zusammen ist es Freundschaft

Roman

Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs

FISCHER E-Books

Für Mama und Papa

1

Er begriff sofort, dass nichts mehr zu retten war. Das Auto schlingerte außer Kontrolle weiter, egal, wie verzweifelt er das Lenkrad herumriss. Ehe das Unvermeidliche geschah, brannte sich der Gedanke in seinem Herzen ein: hier und jetzt. Und für immer. Dass er sich diesen Fehler selbst zuzuschreiben hatte, sich und keinem anderen.

Stille. Der Geruch der Angst. Der Geschmack von Metall im Mund. Die Angst, bei der sich jeder Muskel in seinem Körper wie zur Gegenwehr anspannte.

Dann kam das Geräusch. Von zerfetztem Autometall, von zersplitterndem Glas. Seine eigene Stimme, die mitten in einem Schrei brach. Das Blut sah er erst später. Als alles vorüber war.

Als die wirkliche Hölle losbrach.

 

Ingemar Modig fuhr mit Schweißperlen auf der Stirn aus dem Schlaf hoch. Es war eine Minute vor acht, Mittwoch, der 21. März. Das Datum spielte für ihn allerdings eigentlich keine Rolle. Es hätte auch Freitag, der 3. August, oder Sonntag, der 18. November, sein können. Ingemar Modig erwachte nämlich immer zu diesem Zeitpunkt, jeden Morgen. Immer um eine Minute vor acht, unmittelbar ehe der weiße Radiowecker aus abgenutztem Kunststoff von 07:59 auf 08:00 umsprang und mit seinem aufdringlichen Geklingel loslegte. Das bedeutete, dass ihm zwischen dreiundvierzig und neunundfünfzig Sekunden blieben, um seine Arme und Beine von der schweißnassen Decke zu befreien, die Nachttischlampe anzuknipsen und auf den richtigen Knopf am Radiowecker zu drücken, den dritten von links. Immer rechtzeitig, bevor die Nachrichten begannen. Bisher war ihm dieses Manöver stets gelungen, seit er sich vor fast acht Jahren diese seltsame Morgenroutine zugelegt hatte, und deshalb mochte der tiefe Seufzer der Erleichterung, den er nun folgen ließ, möglicherweise ein wenig theatralisch wirken.

Aber nichts hätte weniger zutreffen können. Für Ingemar Modig war es blutiger Ernst. Wenn es ihm nicht gelänge, das Wecksignal zu verhindern, würde es nämlich jemand anderes tun.

Und sterben.

Wenn er nur hätte sicher sein können, dass er selbst es war, auf den der Tod mit frisch gewetzter Sense wartete, falls er zu spät aufwachte, hätte er sich damit vermutlich abfinden können. Nicht, dass er lebensmüde gewesen wäre, nein, das nicht. Aber übertrieben verliebt ins Dasein war er auch nicht. Und ein letztes Mal ausschlafen? Es gab ja wohl schlimmere Wege, um diesen jämmerlichen, Erde genannten Planeten zu verlassen? Aber Ingemar Modig konnte eben nicht wissen, ob er selbst sterben würde oder ein Mensch, der auf irgendeine Weise mit ihm verbunden war. Das war der eigentliche Kern des Problems. Denn was, wenn er es wüsste? Das wäre doch viel zu einfach, und dann hätte sein morbides Ritual keinen Sinn mehr. Seine Bußübung.

Warum er nicht einfach darauf verzichtete, den Wecker zu stellen? Weil das gepfuscht wäre. Und mit Pfuschen kam man auf Dauer nicht durch.

In der fünften Klasse hatte Ingemar Modig einmal in einer Geschichtsklausur geschummelt. Er hatte vorher nicht genug gebüffelt, und deshalb hatte er einen Spickzettel mit den Jahreszahlen aller schwedischen Könige seit Gustav Vasa bei sich. Er presste das kleine Papierstück in seiner feuchten Faust zusammen und versuchte auszusehen, als ob er über eine der Fragen nachdächte, als der Lehrer seinen strengen Blick durch das Klassenzimmer schweifen ließ. Als sich Ingemar nach einigen Minuten nervösen Wartens ein Herz fasste und unter der Bank auf seinem Knie die Faust öffnete, musste er feststellen, dass sein Schweiß den Zettel mehr oder weniger aufgelöst hatte. Die sorgfältig notierten Namen und Jahreszahlen waren zu einem verschwommenen Bleistiftfleck zerflossen, und nur Fragmente von Buchstaben und Ziffern waren noch zu erkennen. Er erschrak dermaßen, dass er in Atemnot geriet und schließlich heftig loskeuchte. Der Lehrer kam mit zunächst besorgter Miene angelaufen, durchschaute dann aber den Betrugsversuch. Auf die Demütigung vor der ganzen Klasse folgten ein blauer Brief an die Eltern und am Abend vonseiten des Vaters eine heftige Tracht Prügel mit dem Gürtel. Jeder Schlag brannte wie Essig in einer offenen Wunde, aber das Schlimmste war das Gefühl, sich selbst betrogen zu haben. Durch Lug und Trug die Kontrolle über sein Leben verloren zu haben.

Eine verständliche Erklärung, wieso ein nicht gestellter Wecker Pfuschwerk wäre, ging jedoch über seinen Verstand. Und dabei war Ingemar Modig ja eigentlich ein ungeheuer gescheiter Mensch und gar nicht unbegabt für so logisch ausgeprägte Wissensgebiete wie zum Beispiel Mathematik und deutsche Grammatik.

»Ich bin, du bist, er sie es ist«, murmelte er vor sich hin.

Dann streckte er die Arme aus, versuchte, so gut das ging, seinen krummen Rücken zu strecken, und gähnte kurz. Seine Schlafanzugjacke klebte an seinem Körper wie ein zu enger, nasser Regenmantel, obwohl er nun im Bett saß.

Der Fleck auf dem Laken war nicht so triefnass wie der große Kreis aus heißem Urin, der ihn in seiner Kinderheit geweckt hatte, aber dennoch benutzte er einen Plastiküberzug für die Matratze, obwohl das ja eigentlich kontraproduktiv war, weil es die nächtlichen von Albträumen und Medikamenten hervorgerufenen Schweißausbrüche verstärkte. Alles aus Liebe zur Hygiene. Die Bettwäsche konnte man ja jeden Tag waschen, anders als die Matratze.

Ingemar Modig stand mit zitternden Beinen auf. Er fror jetzt plötzlich. Bibbernd streifte er die Schlafanzugjacke ab, zog den dicken Bademantel aus Frotté fest um seinen Leib zusammen, stieg in die vor dem Bett stehenden Filzpantoffeln und schlurfte ins Badezimmer. Dort war es jetzt fast unerträglich heiß. Der kleine Heizkörper mit der abblätternden Farbe, der neben der Toilette stand, hatte nämlich keine Zwischenstufe. Er heizte gar nicht oder mit voller Kraft. Damit musste Ingemar Modig leben.

Der Spiegel über dem Waschbecken konnte dagegen keine direkten Horrormeldungen vermitteln. Für einen zweiundsechzig Jahre alten einsamen Frührentner mit schweren Zwangsvorstellungen und sozialen Phobien sah Ingemar im Gegenteil geradezu proper und ausgeglichen aus, auf eine fast provozierende Weise, wenn er das selbst so sagen durfte. Er hatte noch immer jede Menge Haare auf dem Kopf, und die grauen Einsprengsel waren leicht zu zählen.

Ingemar Modig feuchtete einen Kamm an und zog ihn nach hinten durch seinen welligen Schopf, so dass die Stirn mit ihren markanten Linien freilag. Ansonsten hatte er kaum Falten, nur einige attraktive Linien, wenn er die Augen zusammenkniff, und ein paar dünne Furchen um den Mund, wie eine Erinnerung an seine Vergangenheit als starker Raucher. Er hatte mit Paffen aufgehört, als er in diese Wohnung gezogen war. Es war unhygienisch und verschmutzte nicht nur die Lunge, sondern machte die Finger so hässlich nikotingelb. Nein, an seinem Äußeren gab es nicht viel auszusetzen. Die Nase war gerade und makellos, und die Wangen waren rosig von der vielen frischen Luft. Wenn rein ästhetisch gesehen überhaupt irgendetwas abwich, dann die Haut am Hals. Die hing unter dem Kinn ein wenig lose, ungefähr wie bei einem jungen, aber bereits schlachtreifen Puter. Dick war er auch nicht, eher neigte er zur Magerkeit, was vom eifrigen Putzen und von den langen Spaziergängen kam, denen er den Großteil seiner wachen Stunden widmete, obwohl er stark hinkte. Es gab sicher hier und da eine Frau, die ihn auf den ersten Blick für einen richtig gutaussehenden Mann halten würde. Mit krummem und schiefem Rücken, aber doch gutaussehend. Auf jeden Fall aus einer gewissen Entfernung und von vorn betrachtet. Wenn er stillstand.

Ingemar Modig zog seine feuchte Schlafanzughose und den Bademantel aus, dann stülpte er sich die Duschhaube mit dem Sonnenmuster über den Kopf und setzte sich in die alte Badewanne mit den langen Roststreifen im Emaille. Er mochte das laufende Wasser nicht direkt in die Haare spritzen lassen. Es wäre, als ob es ihm auch in den Schädel flösse. Als ob sich das Wasser einen Weg durch seine Poren und durch die Haarbälge in die Kopfhaut und dann weiter durch das verschlungene Tunnelsystem des Gehirns bahnte. Wenn man alle Gespenster aus dem Gehirn hätte spülen können, ungefähr wie der Klempner verstopfte Rohre freispülte, wäre das ja eine wunderbare Methode zur schnellen Genesung gewesen. Aber es kam ihm eher vor, als ob sich das Wasser dort drinnen sammeln und alt und faulig werden würde. Die Duschhaube war wirklich ein Segen, trotz des albernen Musters.

Ingemar schrubbte sich am ganzen Leib sorgfältig mit Seife und Badebürste und im Gesicht mit einem Waschlappen, ehe er sich mit der Handbrause abspülte. Diese Prozedur wiederholte er dreimal, danach putzte er sich drei Minuten lang die Zähne und rasierte sich sorgfältig, obwohl sein Bartwuchs so gut wie nicht vorhanden war. Die zu rasierende Fläche teilte er in drei Bereiche: Wangen, Kinn und Hals. Der kleine Schnurrbartfleck auf der Oberlippe wurde in einem miterledigt. Der zählte gewissermaßen nicht. So war es einfach. Und wenn er gezählt hätte, dann wäre diese begrenzte Hautpartie wohl zu den Wangen gerechnet worden, oder genauer gesagt, als eine Verlängerung der Wangen. Und dann waren es ja, im Prinzip jedenfalls, weiterhin drei Bereiche.

Danach trocknete er sich gewissenhaft mit dem großen Badetuch ab, auf das ein Bild eines Hundes gedruckt war, und das er in dem inzwischen stillgelegten Tiergeschäft hier in Borstafors gekauft hatte. Er hatte sich einen Hund zulegen wollen, zur Gesellschaft, aber daraus war nichts geworden. Die Vorstellung von den vielen Hundehaaren, die in Fußbodenritzen stecken und an Möbeln und Kleidungsstücken kleben würden, machte ihm Angst. Und dann war da ja noch die Sache mit den Exkrementen des Hundes, dass er die noch warmen Würstchen aufheben müsste, mit dünnen schwarzen Plastikhandschuhen, bei denen man sich nicht darauf verlassen konnte, dass sie wirklich dicht waren. Ganz zu schweigen davon, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach im Gesicht von einer rauen Zunge beleckt werden würde, die vorher Gott weiß wo gewesen war. Nein, an einen Hund war leider nicht zu denken, egal, wie sehr er diese hingebungsvollen Tiere auch schätzte. Ingemar Modig schüttelte ein wenig wehmütig den Kopf und hängte das feuchte Badetuch auf die Stange oberhalb der Badewanne.

Danach stopfte er die verschwitzte Bettwäsche in die schon bis an den Rand gefüllte Waschmaschine im Badezimmer und schaltete den kurzen Waschgang ein, zog eine Hose mit frischen Bügelfalten und ein Jeanshemd an und ging in die Küche, um sich Frühstück zu machen.

Die Bretter unter dem rissigen Linoleumbelag gaben unter seinem Gewicht nach, und eine fette Schmeißfliege, die von den durch die blankgeputzte Scheibe hereinfallenden Sonnenstrahlen geweckt worden war, warf sich gegen das Fenster. Ingemar Modig setzte die Brille auf, die auf der geblümten Wachstuchdecke auf dem Küchentisch gelegen hatte, und öffnete das Fenster vorsichtig, um das verzweifelte Insekt hinausfliegen zu lassen. Er verfolgte ihren Flug mit einem gewissen Interesse, bis die Fliege hinter dem verschneiten Haufen aus alten Gartenabfällen auf der anderen Seite des Kiesweges nicht mehr zu sehen war. Es war eine trügerische Freiheit, überlegte er. Die Schmeißfliege würde draußen bei diesen Frosttemperaturen nicht lange überleben. Sie hätte wohl größere Chancen gehabt, wenn sie weiterhin gegen die Glasscheibe geflogen wäre. Aber andererseits war ein kurzes kaltes Leben in Freiheit einer langen Quälerei im Warmen vielleicht vorzuziehen. Außerdem befreite dieser Abgang Ingemar Modig von der Notwendigkeit, Fliegendreck von der Scheibe zu putzen.

2

Ingemar aß zum Frühstück immer Haferbrei mit Himbeermarmelade und Milch. Den Haferbrei bereitete er in drei Minuten in der Mikrowelle zu. Einen normalen Herd gab es in der Küche nicht mehr, an dessen Stelle stand nun die Trockentrommel. Den alten Herd, der immer wieder die Sicherungen hatte durchbrennen lassen, hatte er zwei Jahre zuvor ausrangiert, um sich auf seinen Spaziergängen nicht immer besorgt fragen zu müssen, ob er wirklich alle Platten ausgeschaltet hatte. Es war eine richtig gute Lösung.

Diese Angst war mit dem Herd verschwunden, aber der wirkliche Gewinn war, dass keine andere Besorgnis an ihre Stelle getreten war. Oder vielleicht lag es ja einfach an seinem Medizincocktail. Zwei Anafranil retard zu je 75 Milligramm, ein Zoloft zu 50 Milligramm und ein Sobril zu 10 Milligramm. Alle Tabletten waren in den Fächern für jeden Tag im roten Medizinspender ordentlich gesammelt, zusammen mit einer rezeptfreien Kapsel Omega 3. Die Ziffer 3 war der Hauptgrund, warum diese Kapsel dabei sein durfte. Wichtig war zudem, dass Ingemar keinen Fisch aß, und da Fisch Omega 3 enthält, welches das Gehirn nährt, wie es jedenfalls in einer gewissen albernen Werbung behauptet wurde, dachte er, dieser Nahrungszusatz könne jedenfalls nicht schaden. Er schüttelte die Tabletten aus dem Spender und spülte sie mit heißem Instantkaffee hinunter, der in der Speiseröhre brannte. Es war gut, dass es ein bisschen weh tat, es war wie eine schmerzhafte Ablenkung. Damit er nicht an die Katastrophe denken musste, die ihn in das Wrack von Mann verwandelt hatte, das er heute war.

Inzwischen war es eine Minute vor neun. Also höchste Zeit, das Transistorradio auf der Fensterbank in der Küche einzuschalten und zu hören, was die Nachrichten zu vermelden hatten, da er die erste Sendung um acht ja verpasst hatte.

An gewissen Tagen fragte er sich, wer es sein mochte, dem durch sein rechtzeitiges Erwachen ein früher Tod erspart worden war. Er hatte keine große Auswahl, denn sein Bekanntenkreis war äußerst begrenzt. Und er hütete sich sorgsam davor, ihn um neue Namen zu erweitern, falls das nicht unbedingt sein musste. Er konnte ja nicht wissen, wer sterben würde. Das war schließlich der Kern des Problems.

Ingemar nahm einen großen Löffel Brei mit einem Klecks Preiselbeermarmelade und kaute langsam und methodisch, während er den Nachrichten lauschte. Zuerst ging es um einen Politiker, der Steuern hinterzogen hatte, und dann um ein Selbstmordattentat in einer Kirche in Ägypten mit über dreißig Toten und mindestens hundert Verletzten. So etwas war zu hoch für ihn: Dass gläubige Menschen andere gläubige Menschen umbrachten, indem sie sich selbst in die Luft sprengten, nur weil sie an andere Götter glaubten als die anderen gläubigen Menschen. Er wurde ganz wirr im Kopf, wenn er daran dachte. Warum konnten sie die anderen nicht in Ruhe lassen, mit ihren kuriosen Glaubenssätzen und ihren heuchlerischen Heiligtümern? Man brauchte ja wohl nicht in allem einer Meinung zu sein?

Scheiß du auf meins, dann scheiß ich auf deins. Das sollte man als Motto in aller Welt verbreiten, dachte Ingemar Modig.

 

Nach den Nachrichten ließ er im CD-Gerät im Wohnzimmer seine Lieblings-CD von Elvis Presley laufen und machte sich an seine tägliche Hausarbeit. Er arbeitete rasch und sorgfältig. Ingemar nahm die inzwischen fertig gewaschene Bettwäsche aus der Waschmaschine und legte sie in die Trockentrommel in der Küche, spülte den Breiteller, den Löffel und die Kaffeetasse vom Frühstück und bezog das Bett neu und saugte in der ganzen Wohnung Staub und putzte alle Fußböden und wischte das Schlafzimmerfenster – obwohl er es erst am Vortag geputzt hatte – und zog einen Q-Tip durch die Fußbodenritzen in der Diele vor der Wohnungstür, um die Schmutzpartikel zu eliminieren, die er möglicherweise am Vortag mit seinen Stiefeln hereingeschleppt hatte. Am Ende ließ er sich auf das Ledersofa fallen, schnappte nach Luft und stellte sofort fest, dass das Sofa zweifellos eine Runde Lederpolitur brauchte, da seit dem letzten Mal eine ganze Woche vergangen war. Aber da die Elvis-CD zum dritten Mal fast zu Ende war, nur die abschließende und eifrig wiederholte Strophe von »Suspicious Minds« musste noch ausklingen – We’re caught in a trap, I can’t walk out –,fand sich Ingemar Modig widerwillig damit ab, dass die Sofapolitur bis zum nächsten Tag warten müsse. Er hatte noch nie länger geputzt, als die Elvis-CD brauchte, um dreimal durchzulaufen. Und er hatte auch an diesem Tag nicht vor, das zu tun. Wie hätte das denn ausgesehen?

Stattdessen begann er, die Birken an der Rückwand des Wohnzimmers zu zählen. Die Tapete mit den Bäumen war bei seinem Einzug schon vorhanden gewesen, und anfangs hatte Ingemar sie weiß überstreichen wollen, da sie schmutzig und zerkratzt war. Aber dann hatte er die Birken gezählt und festgestellt, dass es dreiunddreißig waren, und da hatte das Wandmotiv natürlich bleiben müssen. Jetzt zählte er wieder und stellte fest, dass es sich immer noch um dreiunddreißig Birken handelte.

Für den Moment durch diese Tatsache beruhigt, erhob er sich vom Sofa, wanderte durch die Wohnung und zog die Stecker von Mikrowelle, Wasserkocher und Trockentrommel heraus. Danach zog er seine dicke braune Stoffjacke, die Armeemütze mit den Ohrenklappen, seine ziemlich ausgelatschten, aber bakterienfreien Winterstiefel und die wattierten Fäustlinge an, ehe er sich einen langen weißen Schal um Hals und Kinn wickelte und am Ende aussah wie ein krummrückiger Bruder des Michelin-Männchens. Energisch packte er dann die Klinke der Wohnungstür, fest entschlossen, die Tür zu öffnen und sich zu seinem täglichen langen Spaziergang hinauszubewegen. Aber dann ließ er die Klinke jählings wieder los, denn er musste in die Wohnung zurückhinken und sich davon überzeugen, dass die Stecker von Mikrowelle, Wasserkocher und Trockentrommel wirklich herausgezogen waren.

Fünf Minuten später stand er vor seinem heruntergekommenen Wohnblock und schaute hoch zu der inzwischen verblassten Sonne. Es war mittlerweile zehn nach eins, und Ingemar Modig war endlich bereit, sich der Welt zu stellen.

 

Das Erste, was ihm begegnete, war das Müllauto, das mit blinkenden Lichtern im Rückwärtsgang in viel zu hohem Tempo auf dem Kiesweg fuhr. Ingemar merkte, wie die Wut in ihm hochkochte. Was, wenn jetzt gerade ein kleines Kind auf dem Kiesweg gespielt hätte? Oder ein Erwachsener, der schwerhörig war und dem Müllauto den Rücken zukehrte? Selbst wenn der Fahrer diese Person im Rückspiegel gesehen hätte, hätte er vielleicht nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Bei den vielen Bäumen, die das Haus umstanden, gab es keine klare Sicht.

Ingemar starrte wütend einen der beiden Müllmänner an, der aus dem Auto sprang und hinten mit einem Druck auf die Schalterleiste auf der einen Seite die große Luke herunterließ. Der Mann fing Ingemars zornigen Blick auf. Das passierte so rasch, dass Ingemar sich nicht mehr rechtzeitig abwenden konnte.

»Was hast du denn für ein Problem, zum Teufel?«, fragte der Müllmann genervt und zog eine große leere Mülltonne die letzten Meter durch den Schneematsch bis zur Tür des Müllschuppens.

»Das war vielleicht ein bisschen schnell«, murmelte Ingemar als Antwort und versuchte, mit einem Lächeln um Entschuldigung zu bitten, ehe er den Blick senkte.

»Kannst du ja wohl drauf scheißen«, sagte der Mann sauer.

Ingemar wäre es schwergefallen, dagegen einen Einwand vorzubringen, denn genau diese Erklärung hatte er selbst ja früher an diesem Tag zum Motto für die ganze Welt erklärt.

Scheißkerl, dachte er und hinkte von dannen.

3

Ludvig Nilsson stand an der Kaffeemaschine an dem ovalen Besprechungs- und Pausentisch und schaute sich in der Redaktion um. Damals, als er als junger Zeilenschinder vor fast vierzig Jahren und siebzig Kilo hier angefangen hatte, hatte er sich sofort in diesen länglichen Raum verliebt, mit seinem Gewimmel aus Reportern und Redakteuren, die in der offenen Bürolandschaft verteilt saßen, ohne diese abschirmenden und schalldämpfenden Zwischenwände, wie sie heute so beliebt waren. Die knatternden Schreibmaschinen und der Geruch von Zigarettenrauch, der sich in leichten Rauchschleiern über den Schreibtischen kräuselte, hatten dem Raum seine wunderbare Atmosphäre gegeben, die Arbeitsplatzfanatiker und Innenarchitekten inzwischen mit vereinten Kräften zerstört hatten. Jetzt starrten alle ihre Computerbildschirme an oder tippten auf ihren Mobiltelefonen herum, wenn sie nicht gerade in der weiß gestrichenen Personalkantine saßen und in ihren öden mitgebrachten Proviantdosen herumstocherten.

Im Außeneinsatz gab es jetzt nicht mehr so viele Journalisten. Einige behaupteten, das liege an der größeren Arbeitsbelastung, aber Ludvig war sicher, dass hier Bequemlichkeit eine Rolle spielte. Er selbst war auch nicht ganz frei davon, das musste er zugeben. Aber in Ludvigs Fall war es eher Kummer als Faulheit. Er hatte keine Angst davor, sich auf der Jagd nach den großen Neuigkeiten die Finger ein bisschen schmutzig zu machen. Das Problem war nur, dass in diesem Kaff Borstafors, in das er seit mehreren Jahren als Lokal- und Familienredakteur strafversetzt war, nie etwas Spannendes passierte. Eine Reportage über Schnapsschmuggel, die auf zweifelhaften Quellen basierte, in Verbindung mit seiner hemmungslosen Sauferei hatte ihm diesen Ortswechsel eingebrockt.

Aber dieser alte Patzer dürfte inzwischen ja wohl in Vergessenheit geraten sein? Alle machen mal einen Fehler, und er hatte verdammt nochmal inzwischen lange genug dafür bezahlt. Er war doch einer der wenigen Reporter der Zeitung, die für den Großen Journalistenpreis nominiert worden waren, weil er Klüngelwirtschaft und Ausnutzung von Schwarzarbeit bei der Leitung der kommunalen Wohnungsgenossenschaft entlarvt hatte. Das war zwar alles schon eine Weile her, aber es war dennoch ein Scoop gewesen, an den sich die Leute noch erinnerten und über den sie manchmal sprachen.

Auch wenn Ludvig die Vorteile der neuen Technologie einsah und selbst zu einem fähigen Internetbenutzer geworden war, sehnte er sich doch zurück in die guten alten Zeiten, wo man sich ins Textarchiv begeben musste, um in braunen Umschlägen voller Zeitungsausschnitte nach Hintergrundinformationen für einen Artikel zu suchen.

Ganz zu schweigen von der wunderschön geräuschvollen Personalkantine im selben Stockwerk, wo es immer mehrere Gerichte mit Hackfleisch, Bratensoße und fetttriefenden Bratkartoffeln gegeben hatte. Richtiges und sättigendes Essen, von dem man sich zudem noch mehr nehmen konnte, wenn der Appetit das verlangte. Ludvig Nilsson lief das Wasser im Munde zusammen, als er an die Mittagspausen von damals dachte. Jetzt war die Personalkantine ins Erdgeschoss in einen sterilen Raum mit minimalistischer Einrichtung und grünen Yuccapalmen verlegt worden, mit unbequemen Designerstühlen und einem Menü, das vergiftet war von Low-Carb-Gerichten, Weightwatchers-Salaten, koreanischer Nudelsuppe und anderem Dreck.

Aber gerade an diesem Tag würden die Redaktionsmitglieder einen richtig saftigen Bissen serviert bekommen. Ludvig öffnete vorsichtig den großen Karton, den er aus Lindholms Konditorei mitgebracht hatte, und entblößte die gewaltige Platte voller Canapés mit ihrem reichen Inhalt an weichem Weißbrot, Mayonnaise, Käse, Eiern, Krabben, Räucherlachs und Thunfischcreme. Eigentlich hatte er auch noch ein wenig Leberpastete haben wollen, aber da hatte ihm der Konditor abgeraten. Es gebe doch so viele Menschen jetzt, in diesen umweltfanatischen Zeiten, die kein Fleisch mehr aßen.

Ludvig deckte den Tisch mit Papptellern, Plastikbechern, Servietten und Plastikbesteck, ehe er einige Flaschen alkoholfreien Cider öffnete, die er ebenfalls mitgebracht hatte. Zufrieden fuhr er mit der rechten Hand über seinen zur Feier des Tages gepflegten Bart, den er mit einem Spritzer maskulin duftenden Rasierwassers parfümiert hatte. Alles, um sich so vorteilhaft zu präsentieren wie überhaupt nur möglich.

Es gab viele neue Gesichter in der Redaktion, aber einige der alten Uhus waren auch noch dabei. Die Verbraucherreporterin Berit Carlsson winkte ihm zu. Sie war wie er fünfundzwanzig Jahre älter geworden seit ihrem kleinen Flirt beim Betriebsfest, aber sie sah noch immer unverschämt gut aus mit ihrer inzwischen silbergrauen Pagenfrisur. Ludvig winkte zurück und zog instinktiv den Bauch ein. Nicht, dass es besonders viel geholfen hätte bei dem Schmerbauch, der wie ein aufgepumpter Airbag unter seinem schwarzen Hemd in Größe 4XL von Nissens Herrenmode hervorragte.

Zwei Stühle links von Berit saß der alte Wichtigtuer Peter Bladh, hob die Nase in die Luft und schrieb vermutlich an einer weiteren seiner viel zu langen und hochgestochenen politischen Analysen. Aber neben ihm sah Ludvig ein weiteres Gesicht, das er nicht nur kannte, sondern auch schätzte. Es gehörte Konrad Andersson, dem Motorredakteur, der wie Ludvig alles von der Pike auf gelernt hatte – anders als der heutige Kader, alle wie in der gleichen Form gegossen, Journalisten, die mehr abstraktes Wissen als praktisch nutzbare Gehirnzellen hatten.

Früher war alles einfach besser, da stimmte Konrad Ludvig zu, der zu ihm an die Kaffeemaschine gekommen war und ihn fröhlich begrüßt hatte.

»Wir haben hier jetzt noch mehr Vollpfosten als bei deinem letzten Besuch«, flüsterte er Ludvig zu und lächelte dabei, während er mit dem Arm einen Bogen über die gesamte Redaktion beschrieb.

Ludvig kicherte zufrieden. Das hier war das feste Gesprächsthema der alten Pressefüchse, wenn sie sich trafen. Die neuen Journalisten waren nicht mehr aus dem richtigen Holz geschnitzt. Sie schrieben wie Roboter und interessierten sich eher für wirklichkeitsfremde ethische Regeln und Excel-Tabellen als für harte und schmutzige Recherche.

»Aber ein hübsches Frauenzimmer kommt ja manchmal dazu. Wie dieser kleine Leckerbissen«, flüsterte Konrad und nickte zu einer jungen Frau hinüber, die mit einer Kaffeetasse in der Hand auf sie zukam. Sie hatte lange braune Haare und ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, das einen hübschen Teil ihres Dekolletés sehen ließ.

Abermals zog Ludvig instinktiv den Bauch ein, oder versuchte das wenigstens. Als die junge Frau die Kaffeemaschine erreicht hatte, lächelte er sie an und streckte ihr die rechte Hand entgegen. Sie musterte die zuerst mit einem gewissen Widerwillen, dann gab sie sein Lächeln auf gekünstelte Weise zurück und erwiderte seinen Gruß mit schlaffem Handschlag.

»Hallo, ich heiße Ludvig und gehöre zur alten Garde hier in der Zeitung. Sitze im Moment draußen in Borstafors, aber komme bald hierher in die Zentralredaktion zurück. Und du bist?«

»Josefin, Reporterin in der Nachrichtenredaktion.«

»Josefin, der Name passt wirklich zu einer, die so fein ist wie du«, sagte Ludvig.

Josefin warf ihm einen kurzen Blick zu, dann stellte sie ihre Tasse unter den Hahn der Kaffeemaschine.

»Josefin, in vollständiger Harmonie mit dem Wort feminin«, fuhr Ludvig fort, und jetzt musterte sie ihn fast schon feindselig.

Aus den Frauen der neuen Zeit wurde er einfach nicht schlau. Sie machten ihn nervös und unsicher. Früher war alles besser gewesen, als so ein Frauenzimmer ein Kompliment mit einem niedlichen und dankbaren Lächeln entgegennehmen konnte.

»Aber vielleicht sollte ich dich Josefinistin nennen, das reimt sich doch auf Feministin«, war sein letzter ebenso verzweifelter wie missglückter Versuch, den kenternden Kahn wieder auf sicheren Kurs zu bringen.

Josefin lächelte spöttisch. Ludvig deutete das als halben Fortschritt, sie hatte ihm immerhin keinen Kaffee ins Gesicht geschüttet.

»Du möchtest vielleicht mal probieren?«, schlug er vor und zeigte auf die Canapés.

Josefin rümpfte instinktiv die Nase.

»Sind die glutenfrei?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Nein, das sind sie nicht«, sagte Josefin energisch, nachdem sie das kalorienhaltige Angebot genauer in Augenschein genommen hatte. »Da ist Weißbrot bei, und das vertrage ich nicht. Ich bin Glutenallergikerin.«

»Dann vielleicht einen Schluck Cider?«

»Ein andermal«, sagte Josefin und hob ihre gefüllte Kaffeetasse, ehe sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte.

»Das ging ja nicht gerade gut«, flüsterte Konrad und lächelte höhnisch. Er kratzte sich zwischen seinen schütteren Haupthaaren und deutete ein Kopfschütteln an. »Heutzutage gibt es so viel MeToo, dass wir alten Gentlemen keine Chance mehr haben. Aber du, was hast du da eben gesagt, du kommst zurück in die Zentralredaktion?«

Ludvig schaute sich um, um sich davon zu überzeugen, dass niemand ihr leises Gespräch belauschen konnte.

»Sieht so aus, ja. Elisabeth Wallén hat mich aufgefordert, mich auf die freie Stelle als Kriminalreporter zu bewerben, jetzt, wo Stefan aufhört.«

»Du meine Güte, da gratulier ich. Die Chefredakteurin ist also endlich zur Vernunft gekommen? Gibst du deshalb diese Schnittchenpracht aus?«

»Ja, ein bisschen auch deshalb. Und weil ich heute Geburtstag habe.«

Konrads Augenbrauen jagten wie zwei gespannte Flitzebögen die Stirn hoch.

»Was du nicht sagst. Da gratuliere ich gleich doppelt. Wird Spaß machen, dich ein bisschen regelmäßiger zu sehen.«

Ludvig Nilsson lächelte seinen alten Kollegen an. Dessen Worte wärmten. Schön, dass es in der Redaktion in Storköping noch immer Journalisten von seinem Kaliber gab. Vom Milieu her wäre es nicht gerade ein Fortschritt hierherzuziehen, aber als Kriminalreporter würde er endlich wieder seinen Instinkt und seinen Ehrgeiz nutzen können.

»Aber behalt das erst mal für dich, bis es offiziell ist. Ich rede nachher mit Wallén über die Bedingungen«, flüsterte Ludvig.

»Okay, aber dein Geburtstag ist ja wohl kein Staatsgeheimnis?«

»Nein, das wirklich nicht«, antwortete Ludvig und schüttelte belustigt den Kopf.

»Na ja«, sagte Konrad Andersson und räusperte sich, ehe er die Stimme hob. »Achtung, Achtung! Hört jetzt alle mal her, ihr Lieben!«

Alle Aktivitäten in der Redaktion wurden eingestellt. Reporter und Redakteure schauten neugierig von ihren Bildschirmen und Telefongesprächen auf.

»Viele von euch kennen Ludvig Nilsson nicht, diesen hochgewachsenen, gutaussehenden Mann, der hier neben mir steht. Derzeit bewacht er Borstafors und ist einer der verdienstvollsten Journalisten dieser Zeitung. Außerdem hat er heute Geburtstag und lädt zu köstlichen, aber leider vom Aussterben bedrohten Leckereien ein, die ihr nicht versäumen dürft. Also ran an den Speck, Leute.«

Ludvig Nilsson errötete leicht verlegen unter seinem Bart, als Konrad das gesagt hatte. Aber als er sah, dass mindestens die halbe Redaktion bereits aufgesprungen war und auf den Tisch zusteuerte, lächelte er strahlend. Gratiskost war noch immer ein unschlagbares Konzept, um Journalisten zu sammeln, registrierte er zufrieden. Jetzt würde er eine Möglichkeit haben, zu »netzwerken«, wie man derzeit Klatsch und Tratsch und üble Nachrede nannte.

Es fing ziemlich gut an, mit einer vorsichtigen Umarmung von Berit, die sich ein Canapé nahm und sich lobend über Geschmack und Konsistenz äußerte. Aber dann, als Ludvig mit dem Tortenheber in der Hand und unter spärlichen und ziemlich lustlosen Glückwünschen den jüngeren Mitgliedern der Redaktion auftat, begannen sich die Probleme zu stapeln wie die Schichten in dem Kunstwerk aus Schnittchen. Drei Vegetarier, zwei Veganerinnen, vier mit angeblicher Laktoseintoleranz, eine, die Diät machte, noch eine Glutenallergikerin und zwei Fischskeptiker später musste sich Borstaforsens Stimme in der Welt eingestehen, dass auch halb so viele Canapés noch viel zu viel gewesen wären. Und dabei hatte er selbst zwei quadratdezimetergroße Stücke verzehrt.

»Was ist heute bloß los mit den Leuten?«, flüsterte er Konrad wütend zu, als die beiden allein am Tisch zurückgeblieben waren.

»Ich hab ja gesagt, dass früher alles besser war«, seufzte Konrad und klopfte seinem alten Kollegen freundschaftlich auf die Schulter, ehe er ihm zuzwinkerte und die Stimme senkte.

»Viel Glück bei der Furie.«

Ludvig Nilsson lächelte angestrengt und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Ja, jetzt ist wohl bald Zeit für unser Gespräch«, sagte er.

»Und das ist also pure Formsache?«

»Unbedingt. Ich betrachte den Job schon als meinen, sie klang total positiv und freundlich, als sie mich aufgefordert hat, mich zu bewerben.«

»Na dann! Wird wirklich cool, dich wieder in der Zentralredaktion zu haben.«

 

Um Punkt halb zwei klopfte Ludvig Nilsson an die bereits angelehnte Tür von Elisabeth Wallén. Die Chefredakteurin blickte von ihrem überaus ordentlichen Schreibtisch auf und bat ihn herein.

»Hallo, schön, dass du kommen konntest. Setz dich, Ludvig. Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

»Nein, danke, ich habe eben schon Kaffee getrunken. Und Schnittchen serviert.«

»Ja, das habe ich gehört. Du musst wirklich entschuldigen, dass ich nicht vorbeischauen konnte. Ich habe gerade so viel zu tun mit dem neuen Design für die Online-Ausgabe, das wir nächste Woche vorstellen werden. Aber ich habe gehört, dass du heute Geburtstag hast. Herzlichen Glückwunsch.«

Elisabeth Wallén hatte eine Art, ihre blonden Haare hinter das eine Ohr zu schieben, die Ludvig auf die Nerven ging. Eigentlich ging ihm fast alles an Wallén auf die Nerven, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um das zu zeigen.

»Vielen Dank«, sagte er. »Es macht Spaß, sich wieder mit der Zentralredaktion hier in der Großstadt vertraut machen zu können. Wirklich Spaß, jetzt, wo ich bald zurückkomme. Ich kann es kaum erwarten.«

»Du denkst an den Posten als Kriminalreporter.« Elisabeth Walléns Lächeln erstarrte ein wenig.

»Genau, du hast ja gesagt, dass ich mich bewerben sollte.«

»Richtig. Du bist ja eine überaus interessante Alternative, bei deiner Erfahrung, aber wir sind mit dem Bewerbungsverfahren noch nicht ganz durch. Es gibt eine weitere sehr qualifizierte Bewerbung, und deshalb brauchen wir etwas länger Zeit, um uns zu entscheiden.«

Jetzt war es Ludvig, der erstarrte.

»Von wem denn?«, fragte er.

»Den Namen kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht nennen, aber diese Person ist wirklich sehr qualifiziert.«

»Diese Person?«

»Ja, diese Person. Zum jetzigen Zeitpunkt darf ich den Namen dieser Person nicht nennen, nicht einmal das Geschlecht. Es ist eine sensible Angelegenheit, weil diese Person bei einem anderen Medienunternehmen arbeitet und den Arbeitgeber noch nicht von der Bewerbung informiert hat.«

Ludvig Nilsson traute seinen Ohren nicht. Der Posten gehörte ihm doch schon! Dieses Gespräch hier sollte schließlich eine reine Formsache sein.

»Ich begreife nicht«, sagte er, »wenn wir an die vielen Sparmaßnahmen denken, wieso die Redaktion eine Person von außen holen kann.«

»Ich möchte betonen, dass noch nichts entschieden ist, du bist weiterhin interessant. Aber es geht um eine mögliche Profilschärfung, und eine solche Möglichkeit müssen wir jedenfalls in Betracht ziehen.«

»Und wann habt ihr vor, euch zu entscheiden?«

»Bald, und ich verspreche dir, du wirst das Ergebnis als Erster erfahren.«

Kleine Schweißperlen traten auf Ludvig Nilssons Stirn.

»Ich dachte, ich hätte den Posten«, sagte er mit unterdrückter Wut in der Stimme.

»So läuft das aber nicht, wenn Posten besetzt werden«, erwiderte Elisabeth Wallén spitz. »Ich hatte gehofft, du würdest diese Mitteilung auf eine etwas konstruktivere Weise aufnehmen.«

»Konstruktiver?«

»Ja, die Sache ist ja noch längst nicht gelaufen. Vielleicht kann das ein Köder sein, damit du dich an der Nachrichtenfront in Borstafors ein bisschen mehr anstrengst. Versteh das jetzt nicht falsch, Ludvig. Ich finde, du leistest phantastisch gute Arbeit auf den Familienseiten und bei der täglichen Lokalberichterstattung. Aber wir hätten gern ein bisschen heißeren Stoff aus Borstafors. Vielleicht kannst du etwas finden, das die Leser stärker anspricht, auch die, die nicht dort wohnen. Betrachte das als Herausforderung, Ludvig. Ich weiß, du kannst das.«

Ludvig Nilsson erstarrte innerlich jedes Mal, wenn die Chefredakteurin ihn mit Vornamen anredete. Er war mit ihr nicht per Ludvig! Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn er mit einer »Person« um den Job konkurrieren müsste, würde er sich jedenfalls nicht kampflos ergeben.

»Dann danke ich für das Gespräch«, sagte er mit angespannten Kiefern und streckte seine Pranke aus.

Die Chefredakteurin schlug ein und lächelte ihr Chefredakteurinnenlächeln. Ludvig hasste ihr gespieltes Mitgefühl und ihr freundliches Getue. Mit hämmerndem Herzen ging er vorbei am Kaffeetisch, wo die restlichen Canapés noch immer in einsamer Majestät prangten, jetzt von einigen erloschenen Gurken- und Zitronenscheiben gekrönt. Konrad Andersson schien dagegen im Raum nicht mehr anwesend zu sein. Auch gut, Ludvig hatte jetzt wirklich keine Lust, mit ihm zu reden. Er legte den Deckel auf den Canapékarton und trug ihn behutsam zum Fahrstuhl und dann durch das Foyer zu seinem Auto, das vor dem großen Redaktionsgebäude auf dem Parkplatz stand.

Ludvig drehte den Zündschlüssel um und musterte den Karton neben sich auf dem Beifahrersitz. Er hatte durchaus nicht vor, die Schnittchen alt und unansehnlich werden zu lassen, vor den Augen von undankbaren Laktoseintoleranten und glutenallergischen Veganen ohne bestimmte Geschlechtszugehörigkeit.

Er hatte vor, sie mit nach Hause zu nehmen, sie zum Abendbrot zu verzehren und über die Worte der Chefredakteurin nachzudenken. Obwohl er Elisabeth Wallén aus tiefstem Herzen hasste, musste er sich doch ihre Ermahnung vor Augen halten, diese Situation als Herausforderung zu betrachten und in Borstafors eine interessante Neuigkeit ausfindig zu machen. Denn bestimmt gab es da draußen irgendwo eine solche. Er hatte nur noch nicht sorgfältig genug danach gesucht.

4

In den sechziger und siebziger Jahren war Borstafors eine wohlhabende Gemeinde im Großraum Storköping gewesen. Wenn man die Dörfer der Umgebung mitzählte, dann konnte der blühende Ort damals mit fast achttausend Einwohnern prunken. Bis in die achtziger Jahre hinein hatte der Zukunftsglaube Borstafors, das an einem wild brausenden Fluss lag, von Nadelwäldern und wogenden Kornfeldern umgeben, in seinem optimistischen Zugriff gehalten.

Das alles lag an der Fabrik. Die Menschen in Borstafors sagten immer einfach »die Fabrik« – gemeint war die ASGO, Anderssons Stiefel und Galoschen AG. Etwa zwei Kilometer stromauf ragte die Fabrik mit ihren hohen Schornsteinen auf wie eine kleine, aber feste Burg der Arbeitsmoral und der Sicherheit. Damals konnte man morgens die Arbeiter mit ihren Proviantdosen gesenkten Kopfes vom anderen Ufer her über die Südbrücke durch den kühlen Wind gehen oder radeln sehen. Sie vermischten sich dann mit den Arbeitern aus den beiden Wohnblocks aus den fünfziger Jahren, die im Volksmund »Plage« und »Gnade« genannt wurden. Plage, weil die Wohnungen in diesem Haus heruntergekommen und allgemein erbärmlich waren. Gnade, weil die Wohnungen dort ein wenig besser waren. Es war also eine Gnade, wenn man aus der Plage hinüberziehen durfte.

In diesen beiden Häusern lebten damals vor allem Gastarbeiter aus Finnland und Jugoslawien sowie der eine oder andere Grieche, Türke und Ungar. Viele hatten ihre Familien mitgebracht, weshalb man mit einer etwas freundlicheren Umschreibung die Gegend auch bisweilen als Kinderburgenland bezeichnete.

Es waren goldene Zeiten. Die Auftragsbücher füllten sich in raschem Tempo, und Arbeitslosigkeit war fast schon ein Fremdwort. Insgesamt beschäftigte die Fabrik über tausend Personen, und dabei waren Zulieferer und Ladenangestellte in dem kleinen Geschäftszentrum noch nicht mitgerechnet. Es gab sogar eine Art Villenviertel, Villastaden genannt. Dort wohnten die besser Betuchten, Chefs und Abteilungsleiter und der eine oder andere Vorarbeiter, mit ihren Familien.

Aber all das war lange vor Ingemar Modigs Zeit in Borstafors. Als er vor acht Jahren hierhergezogen war, war der Ort schon längst ziemlich entvölkert und hatte keinen aktiven Bahnhof und keine Industrie mehr. Die Menschen in Schweden hörten nämlich schon gegen Ende der achtziger Jahre damit auf, Galoschen zu benutzen, und auch wenn die qualitativ hochwertigen Gummistiefel auf dem Binnenmarkt noch eine Weile ihre Beliebtheit behielten, wurden sie dann doch von den billigeren importierten Varianten verdrängt. Das Einzige, was jetzt noch an alte Zeiten erinnerte, war die Plage. Das Haus hatte zwar im Laufe der Jahre die eine oder andere provisorische Renovierung durchgemacht, aber Linoleumböden und Seegrastapeten aus früheren Zeiten waren in etlichen der schäbigen Wohnungen noch immer vorhanden.

Dass Ingemar Modig hier gelandet war, in einer zugigen Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss, hatte vor allem finanzielle Gründe. Seine Frührente erlaubte ihm keinerlei Extravaganzen, und als er beschlossen hatte, Storköping mit seinen quälenden Erinnerungen zu verlassen, hatte er keine große Auswahl an Wohnungen gehabt, die seinem dünnen Geldbeutel und seinem Wunsch nach Einsamkeit entsprachen. In der Plage gab es nur wenige Nachbarn, und der dubiose Vermieter mit dem falschen Lächeln ließ sich nur selten blicken. Kein Hausmeister schnüffelte herum, und niemand störte mit Vorschlägen zur Installation von Breitband und anderem überflüssigen neumodischen Kram. Das alles sorgte dafür, dass die Miete niedrig blieb und dass nur selten neue Mieter dazukamen.

Im vergangenen Jahr hatte Ingemar Modig es allerdings mit der Angst zu tun bekommen, als er erfuhr, dass die Gemeindeverwaltung von Storköping zusammen mit der Einwanderungsbehörde beschlossen hatte, eine ziemlich große Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen und die meisten davon in Borstafors unterzubringen. Nicht, dass Ingemar etwas gegen Menschen aus anderen Ländern gehabt hätte. Sein einziger Nachbar im Erdgeschoss, Laszlo, ein ehemaliger Fabrikarbeiter, kam aus Ungarn und war vorbildlich zurückhaltend und uninteressiert an geselligen Kontakten. Er war vor allem damit beschäftigt, sich mit selbsthergestelltem Wein um den Verstand zu saufen, und das tat er in aller Stille und ohne Ärger zu machen. Im Treppenhaus stank es zwar immer nach Hefe und altem Suff, aber damit konnte Ingemar leben, solange der süßsaure und schale Geruch nicht bis in seine Wohnung vordrang. Er sperrte ihn ganz einfach durch eine dicke Gummileiste aus, die er sich um die Wohnungstür geklebt hatte.

Ingemar hatte vielmehr befürchtet, dass sein zurückgezogenes Dasein in der Plage durch den Einzug von Menschen aus kriegsverwüsteten Ländern ruiniert werden würde. Was würden die für Krach und Chaos verursachen! Eine Menge Gerede auf der Treppe in allerlei Sprachen, posttraumatische Angstschreie aus den Wohnungen und das Hin und Her der vielen Kinder. Die vermehrten sich doch wie die Karnickel, die Menschen aus diesen Ländern.

Aber Ingemars Ängste hatten sich als unnötig erwiesen. Es kamen doch nicht so viele Flüchtlinge, wie anfangs gesagt worden war, und keiner war in der Plage gelandet. Der Vermieter lag nämlich in ökonomischer Fehde mit der von der Gemeinde beauftragten Firma für Gebäudetechnik, weil eine Rechnung für die Erneuerung der Wasserrohre im Haus noch offen war, und außerdem hatte der Witzbold die Miete der freien Wohnungen, die für die Flüchtlinge in Frage gekommen wären, fast verdoppelt, mit der Begründung, dass »die Wohnungen durch die neue Klientel möglicherweise stärker abgenutzt werden könnten«. Ingemar Modig konnte über diese Behauptung nur ironisch lächeln. Wie verdammt nochmal sollte es möglich sein, in der Plage irgendetwas abzunutzen? Es war doch ohnehin schon alles in miserablem Zustand. Dass seine Wohnung überhaupt bewohnbar war, lag nur an ihm selbst. Er hatte sogar auf eigene Kosten in der Küche einen neuen Boiler anbringen lassen, als der alte seinen Geist aufgegeben hatte, und er hatte eigenhändig die undichten Fenster gekittet. Besser so, dann hatte er seine Ruhe.

Einige der frisch eingetroffenen Flüchtlingsfamilien waren in der benachbarten Gnade gelandet, aber Gott sei Dank störten sie nicht weiter, obwohl sie alle Kinder hatten. Nein, in der Gegend war es immer noch verhältnismäßig ruhig. Da war schon mehr los in der Hüttensiedlung zwischen der Gnade und der Fabrik, gleich am Flussufer und in angemessener Entfernung zur Plage. Dort waren die meisten Flüchtlinge in Borstafors untergebracht worden, in den kleinen Hütten, die die Gemeinde nach dem Konkurs der ASGO mit Hilfe der Zuschüsse für dünn besiedelte Gegenden aufgestellt und dann an ein paar arme Teufel verpachtet hatte, die ernsthaft glaubten, mit Angeltourismus ließe sich Geld machen. Man hatte sogar eine kleine Wasserrutsche samt Schwimmbecken und eine Minigolfbahn angelegt, in dem naiven Glauben, dass die Angler dann auch Familie und Kinder mitbringen würden.

Im Fluss herrschte zwar kein Mangel an Lachs und Saibling, aber der Versuch, Touristen in einen alten Industrieort zu locken, wo das Fischgewässer zwischen einer stillgelegten Galoschenfabrik und einer heruntergekommenen Wohnsiedlung lag, konnte ja nicht gutgehen. Die Anzahl der Besucher blieb dann auch selbst während der Sommermonate sehr überschaubar, und die Pächter gaben einander ebenso schnell die Klinke in die Hand, wie in Borstafors Läden und kleine Firmen abgewickelt wurden.

Vor zehn Jahren war die Hüttensiedlung dann stillgelegt worden, aber nun wurden die Hütten hergerichtet, um als vorübergehende Flüchtlingsbehausungen zu dienen. Das würde auch dem Ort helfen, behauptete der sozialdemokratische Gemeinderat, da die Unterkünfte mit staatlichen Mitteln finanziert wurden. Ingemar Modig hatte nie begriffen, wie eine Ausgabe sich plötzlich in einen Gewinn verwandeln konnte, nur weil man Steuergelder von einem Konto auf ein anderes verschob.

 

Ingemar Modig schaute auf seine Armbanduhr, als er auf seiner täglichen Wanderung das Wäldchen erreicht hatte, wo die kleinen frisch gestrichenen roten Holzhütten mit den weißen Kanten lagen. Es war halb zwei – wie immer. Das bedeutete, dass die wenigen Mittagsgäste, die in Clarissas Imbiss, neben der Einfahrt zur Hüttensiedlung, einkehrten, inzwischen schon wieder gegangen waren.

Flüchtlinge waren ihm dort noch nie begegnet. Wahrscheinlich aßen die kein Schweineschnitzel und keine Würstchen mit Kartoffelbrei, nahm Ingemar Modig an. Er sah nur ab und zu einige von weitem durch die Fenster von Clarissas Imbiss, Männer, die fröstelnd in kleinen Gruppen vor den Hütten standen und rauchten, während die Frauen vermutlich im Haus mit der Zubereitung von fremdartigen Reisgerichten beschäftigt waren. Ab und zu begegnete er ihnen auf dem Weg von oder zu der Hüttensiedlung, aber dann vermied er es konsequent, ihnen in die Augen zu schauen.

Ingemar stampfte sich auf dem Gitter vor dem Eingang zum Imbiss dreimal den Schnee von den Stiefeln und hinkte dann ins Innere, wo es nach Frittierfett stank. Es waren keine anderen Gäste da, weder Schweden noch Ausländer. Er seufzte erleichtert und klopfte sich zufrieden dreimal auf den rechten Oberschenkel.

Clarissas Grill lag am Waldrand mit den dicht stehenden Tannen, nicht weit von dem alten Bahndamm. Eigentlich verstieß der Imbiss gegen Ingemars hygienische Ansprüche, aber ab und zu zwingt die Wirklichkeit sogar einen Zwangsneurotiker zu Verhandlungen mit seiner Angst vor Bakterien. Auf Anraten des Psychiaters in Storköping hatte er das Mittagessen in Clarissas Imbiss zum sozialen Training gemacht, nach der kognitiven Verhaltenstherapie, auf die die Gehirnklempner derzeit allesamt so scharf waren. Und obwohl er noch immer Angst verspürte, zeigte die Übung schon eine gewisse Wirkung, wenn er den vertrockneten Senf sah, der auf den Metalltresen aus der großen mit der Öffnung nach unten aufgehängten Tube getropft war, oder wenn ein Teller einen Riss aufwies, in dem Schmutz und Keime sich zweifellos lustig tummelten. Er konnte jetzt mit diesen Ängsten einigermaßen umgehen. Und da das Essen um einiges besser schmeckte als die Mikrowellengerichte, die man im Supermarkt kaufen konnte, oder als die Pizzen in der Pizzeria O Sole Mio, nahm er weiterhin seine Mahlzeiten in Clarissas Imbiss ein. Außerdem war die Besitzerin Clarissa Bengtsson eine überaus verständnisvolle und freundliche Frau, die sein Sprachvermögen nicht gar zu sehr strapazierte. Und sie nahm die Bestellungen am Tisch auf und servierte dort sogar. Obwohl es doch nur ein schlichter Imbiss war. Sicher kamen auch deshalb immer noch Essengäste zu ihr.

»Aber hallo! Was haben wir heute für schönes Wetter«, sagte sie munter und nickte zu Ingemars Stammplatz in der Ecke hinüber, in gesunder Entfernung von dem Spielautomaten neben den Toiletten.

Es lag schon eine alte Nummer der Zeitung Storköpings Allehanda auf dem roten Kunstledersofa, seinem Stammplatz. Ingemar wollte das so, das wusste Clarissa, um zumindest die Illusion einer gewissen Reinlichkeit aufrechtzuerhalten. Man konnte ja nicht wissen, wer vielleicht früher am Tag dort gesessen und am Ende sogar gefurzt hatte. Er zog den Mantel aus und legte ihn ordentlich auf den Teil der ausgebreiteten Zeitung, auf dem er nicht saß. Danach zog er eine Feuchtserviette aus der Brusttasche, wischte sich sorgfältig die Hände ab und platzierte die Ellbogen so auf der Tischplatte, dass seine Hände nicht mit dem Tisch in Kontakt kamen.

Er räusperte sich dreimal lautlos, zählte die Becher im Regalfach über der Kaffeemaschine und kam auf einundzwanzig. Das ließ sich immerhin durch drei teilen. Nach weniger als fünf Minuten brachte Clarissa sein Essen.

»Es gibt heute gebratenen Speck mit gekochten Kartoffeln und Zwiebelsoße«, sagte sie und stellte den Teller vor ihn hin, zusammen mit Besteck, einem Glas Himbeersaft und einem kleinen Stapel Papierservietten, damit er Messer und Gabel ordentlich abwischen könnte, ehe er zu essen begann.

Ingemar nickte und lächelte Clarissa an, die das Lächeln sofort erwiderte. Er mochte sie. Noch dazu war sie eine umwerfende Schönheit, mit ihren blondierten Locken unter der Kellnerinnenmütze, der kurvenreichen Figur mit der üppigen, aber immer noch geschmeidigen Büste und dem hübschen, gut geschminkten Gesicht. Aber unter all dem Make-up konnte Clarissa doch nicht den Anflug von Kummer verbergen, der ab und zu ihre schönen tiefblauen Augen trübte. Sie mochte um die fünfundvierzig sein, und wäre Ingemar auch nur zehn, fünfzehn Jahre jünger und kerngesund im Kopf gewesen, hätten sie vielleicht nach Storköping fahren und ins Kino oder so gehen können. Aber das war leider eine utopische Phantasie, das war ihm nur zu klar. Er war schließlich nicht gesünder als ein Nusskern in einem Küchenmixer.

Aber sie war es jedenfalls wert, dass er morgens rechtzeitig aufwachte. Die Vorstellung, Clarissa könnte sterben, weil er verschlief, erfüllte Ingemar mit gewaltigem Unbehagen.

5

Obwohl sie nicht viele Worte machten, wenn sie miteinander redeten, wusste Ingemar einiges über Clarissas Privatleben und ihre Beziehungen. Ab und zu tauchte ihr arbeitsloser Sohn Ricky mit einigen Freunden auf, um Hamburger zu schnorren. Ricky war zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, und mit seinem geschorenen Schädel, der Lederjacke, den zerfetzten Jeans und spitzen Cowboystiefeln sah er aus wie eine seltsame Mischung aus Rocker und Skinhead. Ingemar hatte beide Subkulturen für ausgestorben gehalten, aber in Borstafors gab es also noch eine kleine Hybridfiliale. Rickys Kumpels, die alle etwas jünger zu sein schienen als er, waren nämlich erstaunlicherweise ebenso gekleidet. Ingemar fand die Aufmachung ja reichlich albern, aber wer war er denn, sich über andere lustig zu machen?

Obwohl sie Ingemar niemals belästigten, war ihre Anwesenheit für ihn eine Belastung, da man deutlich sehen konnte, wie Clarissa mit ihren mütterlichen Gefühlen und ihrer Abneigung gegen das Auftreten ihres Sohnes und seine Gesellschaft zu kämpfen hatte. Ab und zu hatte Ricky trübe Augen, vermutlich durch irgendeine Droge, und dann nuschelte er mit schleppender Stimme etwas über Fernsehserien und Computerspiele, von denen Ingemar keine Ahnung hatte. Wenn er nüchtern war, klang er oft aggressiv und zudringlich, nicht zuletzt, wenn er seinen Gedanken über Einwanderer und Flüchtlinge Luft machte.

Es kam dann durchaus vor, dass Clarissa mal ausrastete, aber meistens versuchte sie, seine Reden zu entschärfen, indem sie Ingemar verlegen anlächelte und die Augen verdrehte, um ihm klarzumachen, dass es sich nur um jugendliche Torheit handelte. Es war irgendwie ein rührender Anblick. Wenn Ingemar im Kopf so gesund gewesen wäre wie ein unversehrter Nusskern, hätte er Ricky vielleicht bisweilen widersprochen, wenn der seine rassistischen Dummheiten von sich gab. Aber so gesund war Ingemar ja nun einmal nicht, und das bedeutete, dass er sich nicht einzumischen und der Gefahr auszusetzen brauchte, bedroht oder sogar niedergeschlagen zu werden.

Clarissa tat ihm noch aus einem anderen Grund leid. Einige Male hatte er sie mit einem Mann telefonieren hören. Diese Gespräche begannen zumeist in freundlichem Tonfall mit Wörtern wie »Liebling« und »mein Herz«, aber nach einer Weile gingen sie dann in nervöses Brummen vonseiten Clarissas über und endeten oft damit, dass ihr Tränen in die Augen traten und sie besorgt die Stirn runzelte. Er hatte gesehen, wie sie sich nach diesen Telefonaten verstohlen mit der Schürze die Tränen abwischte. Das tat ihm weh. Wenn bei ihm alles anders gewesen wäre, hätte er sie gefragt, was das für ein unmöglicher Kerl sei, der sie so traurig machte.

»Hat’s geschmeckt, Ingemar?«, fragte Clarissa, als er bis auf eine halbe Kartoffel die gesamte Portion verzehrt hatte.

»Wunderbar.«

»Das hör ich gern! Dann bringe ich bald den Kaffee und den Schokokuss.«

Ingemar nickte und lächelte. Der Kaffee gehörte zum Tagesgericht, aber der Schokokuss war eine Zugabe nur für ihn, weil er ein so treuer Stammkunde war. Er liebte diese mit Kokosraspeln bestreute Leckerei ganz besonders, weil sie in einer eigenen Plastikhülle serviert wurde.

Für den Moment war Ingemar Modig richtig guter Stimmung. Er würde sich bald wieder hinaus in die Kälte begeben und mit seinem widerborstigen linken Bein loshumpeln. Vorbei an der Fabrik und dem alten Sägewerk und mehrere Kilometer über den Waldweg zum Rastplatz an der Autobahn nach Storköping. Danach wollte er über die Nordbrücke über den Fluss zurück nach Borstafors wandern, zuerst durch den Wald und dann durch das Zentrum auf dem anderen Ufer, wenn es dort menschenleer geworden wäre. Dass er erst im Dunkeln nach Hause kommen würde, störte Ingemar Modig nicht weiter. Er hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit gehabt. Im Gegenteil, im Dunkeln ist man ja nicht zu sehen. Außerdem hatte er immer eine Taschenlampe bei sich, um den Boden im Wald anzuleuchten und nicht über Steine und Wurzeln zu stolpern.

Er wollte nach seinem späten Mittagessen noch viele Stunden unterwegs sein und in Körper und Kopf so angenehm müde werden, dass die Gedanken an das schreckliche Ereignis, das sein Leben verändert hatte, nicht so viel von seiner Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnten.

Eine weiche Welle aus Wärme breitete sich in seiner Brust aus, als Clarissa mit der süßen Krönung des Mittagessens an seinen Tisch trat. Aber dann wurde plötzlich die Eingangstür geöffnet und zwei junge Männer kamen herein. Ingemar zuckte zusammen. Er mochte es nicht, wenn andere Gäste da waren, während er hier zu Mittag aß, und schon gar nicht, wenn er diese Leute noch nie gesehen hatte. Diese beiden sahen ausländisch aus. Dunkle Haut und dunkle Haare. Etwas kürzere Mäntel, als schwedische Jugendliche sie trugen. Viel zu dünn angezogen. Bestimmt Flüchtlinge. Er überlegte, ob er sofort aufstehen und gehen sollte, aber Kaffee und Nachtisch verlockten zum Bleiben. Auch wenn er wegen dieser beiden alles nicht so genießen könnte wie sonst. Sie störten seine genau geplante Routine.

Clarissa sah dagegen zaghaft optimistisch aus. Sie lächelte die Jungen, die sich an einen Tisch setzten, vorsichtig an und stellte ganz schnell den Kaffeebecher und den Teller mit dem Schokokuss vor Ingemar hin, ehe sie zu den beiden ging, um ihre Bestellung aufzunehmen.