Der Apfelblüten-Guru - Mikael Bergstrand - E-Book
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Der Apfelblüten-Guru E-Book

Mikael Bergstrand

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Beschreibung

Göran Borg, mittlerweile nicht mehr ganz fünfzigjähriger Fünfzigjähriger, hat's nicht leicht: Er vermisst Indien und versinkt zu Hause in Schweden in Schwermut. Da steht - gerade rechtzeitig - eines Tages Yogi vor seiner Tür. Der liebenswerte Inder mischt Malmö (und Göran) ganz schön auf, und als das Angebot kommt, den Sommer im größten Apfelanbaugebiet Schwedens zu verbringen, schleppt er Göran in die Provinz. Dort macht Yogi schnell von sich reden, bald berichtet sogar eine Lokalzeitung über den beliebten "Guru". Doch manch engstirnigem Provinzler ist die subkontinentale Lebensfreude ein Dorn im Auge. Und zu Hause in Delhi braut sich ein Gewitter am Horizont zusammen, denn Yogis frischgebackene Ehefrau kommt sich zunehmend mit ihrer resoluten Schwiegermutter in die Quere ...

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Zum Buch

Göran Borg, mittlerweile nicht mehr ganz fünfzigjähriger Fünfzigjähriger, hat’s nicht leicht: Er vermisst Indien und versinkt zu Hause in Schweden in Schwermut. Da steht – gerade rechtzeitig – eines Tages Yogi vor seiner Tür. Der liebenswerte Inder mischt Malmö (und Göran) ganz schön auf, und als das Angebot kommt, den Sommer im größten Apfelanbaugebiet Schwedens zu verbringen, schleppt er Göran in die Provinz. Dort macht Yogi schnell von sich reden, bald berichtet sogar eine Lokalzeitung über den beliebten »Guru«. Doch manch engstirnigem Provinzler ist die subkontinentale Lebensfreude ein Dorn im Auge. Und zu Hause in Delhi braut sich ein Gewitter am Horizont zusammen, denn Yogis frischgebackene Ehefrau kommt sich zunehmend mit ihrer resoluten Schwiegermutter in die Quere …

Zum Autor

Mikael Bergstrand arbeitete als Journalist in Malmö, bevor es ihn 2007 nach Indien verschlug. Vier Jahre lang lebte er mit seiner Familie in Neu-Delhi, wo er als Korrespondent und Autor arbeitete. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er den ersten Roman über den liebenswürdigen, phlegmatischen Mittfünfziger Göran Borg. Das Buch wurde in Schweden zu einem großen Erfolg, stand lange auf Platz 1 der Bestsellerliste und wurde in zehn Sprachen übersetzt.

Mikael Bergstrand

Roman

Aus dem Schwedischen von Julia Gschwilm

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Gurun i Pomonadalen« bei Norstedts, Stockholm.
Die Übersetzung wurde von The Swedish Arts Council gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.
Copyright © Mikael Bergstrand 2015 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: © Shutterstock/Neirfy; Orla; GraphiTect; mexrix Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen AH · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-18452-0V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Für Suss

KAPITEL 1

Look sir! He is coming now! High up on white horse! Very much north Indian! Very unusual here in south!«

Diesen exaltierten Worten folgte ein nach oben gerichteter spitzer Ellenbogen, der zwischen meinen Rippen landete. Wäre die großzügige Schicht Unterhautfett nicht gewesen, hätte es richtig wehgetan. So fühlte es sich eher an wie Seitenstechen bei einer zu schnellen Joggingrunde. Mit gequältem Gesichtsausdruck blickte ich zu dem schmächtigen kleinen Burschen hinunter, der sich früher am Abend als Keeran, Cousin der Braut, vorgestellt hatte und der aufgrund seiner Fertigkeiten im Englischen aus freien Stücken die Rolle meines Fremdenführers übernommen hatte. Damit war er auch zu einer der zentralen Figuren der Hochzeit geworden, da mein winterlich blasses Gesicht unangenehmerweise enorme Aufmerksamkeit erregte. Der angeheuerte Fotograf hatte sicher schon eine halbe Stunde mit mir verschwendet.

Keerans weiße Zähne funkelten gegen seine dunkle Haut, als er vor unserer Traube von Zuschauern in ein breites Lächeln ausbrach und noch einen weiteren spitzen Ellenbogen ablieferte.

»Hören Sie, Sir! Indische Musik mit viel Klang! Aus Norden und Süden! Gemischt, genau wie das Brautpaar!«

Endlich verschob sich der Fokus. Jetzt brüllte Keeran, um die dröhnenden Trommeln, schrillenden Zimbeln und schräg klingenden Trompeten zu übertönen, die von einer nahenden Brassband stammten, angestrahlt von zwei großen Lampen, die von barfüßigen Jungen in Lungis und verblichenen roten Hemden mühsam geschleppt wurden. Die bunt uniformierten Orchestermitglieder waren geschmückt wie Weihnachtsbäume, sie trugen Medaillen, Schulterklappen mit Quasten und Militärmützen mit goldenen Schirmen. Ein blumengeschmückter Wagen mit einer Statue des Elefantengottes Ganesha, umringt von qualmenden Räucherstäbchen, erfüllte die Luft mit einem schweren, süßlichen Duft, und dort, hinter den parfümierten Nebelschwaden, hoch oben auf einem weißen Ross, konnte ich ihn erkennen.

Yogi, meinen besten Freund.

Ich schielte zu der provisorischen, beleuchteten kleinen Tribüne hinauf, von der aus seine Mutter, Mrs Thakur, die Ankunft ihres Sohnes verfolgen konnte, ohne sich mit allen anderen vor dem Eingang des Festplatzes drängen zu müssen. Es war das erste Mal, dass ich die gebrechliche und ständig frierende Alte in etwas anderem als ihrem zerschlissenen Salwar Kameez und ihrer fusseligen Strickjacke sah, die sie immer anhatte, wenn sie in ihrem Haus in Sundar Nagar in dem knarzenden Fernsehsessel saß und ihre Anweisungen an die Bediensteten ausstieß. Jetzt sah sie richtig stilvoll aus, in einem goldbestickten blauen Sari, das ansonsten immer offene graue Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden. Sie lächelte sogar milde. Man hätte beinahe meinen können, sie wäre pünktlich zur Hochzeit zu einer sanften, rücksichtsvollen alten Dame geworden, wäre die Lupe nicht gewesen, die sie in regelmäßigen Abständen vor eines ihrer stargeplagten Augen hielt und die ihr ihren charakteristischen Furcht einflößenden Zyklopenblick verlieh, der so gut mit dem wirklichen Wesen der Dame harmonierte.

Mrs Thakur senkte die Lupe und wandte sich mit stolzer Miene dem Brautvater Mr Krishnamurti zu, der neben ihr saß, und rief ihm etwas zu, die Hand wie einen Trichter um den Mund gelegt. Der ältere, etwas faltige Mann hatte an einem Ohr ein großes altmodisches Hörgerät befestigt, das nach Mrs Thakurs wiederholtem Rufen zu urteilen nicht optimal funktionierte. Aber er nickte höflich und zwirbelte mit ernster Miene seinen grau-weißen Schnurrbart, wie es sich für einen indischen Vater gehört, der im Begriff ist, seine Tochter zu verheiraten und zuzusehen, wie sie das Haus für immer verlässt. Vielleicht war die sorgenvolle Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet hatte, auch der Tatsache zu verdanken, dass Lakshmi ausgerechnet bei Mrs Thakur einziehen sollte, wenn sie ihrem Mann nach Delhi folgte.

Yogis weißer Sherwani, der mit Halbedelsteinen bestickt war, saß wie eine Wursthaut über seinem rundlichen Bauch. Von seinem roten Turban hing ein kleiner Vorhang aus Blumen herab, der sein Gesicht teilweise verbarg. Ich fühlte ein Ziehen der Rührung, das mir trotz der warmen Abendbrise eine Gänsehaut an den Unterarmen bereitete. Die vorbereitende Hochzeitszeremonie hatte sich drei Tage lang hingezogen, doch jetzt war es endlich Zeit für das große Fest, von dem er so lange gesprochen hatte. Ich konnte kaum fassen, dass ich hier war, allen Erwartungen zum Trotz.

»Jetzt gibt es großen Krach! Sehr großen Krach!«, schrie Keeran und zeigte auf eine Gruppe Männer, die dabei waren, eine ganze Batterie von Feuerwerkskörpern zu zünden.

Heftige Knalle sandten Schockwellen durch meinen Körper. Ich rang nach Atem und spürte den stechenden Geruch von Schwefel und Pulver, als lange Reihen von Krachern auf der Straße genau neben dem weißen Pferd anhaltend knatterten. Sausende Raketen fuhren wie brennende Spieße in den schwarzen Nachthimmel auf und explodierten mit weiterem Dröhnen in einer Orgie von Farben und Lichtern, während die Brassband weiterhin ihre Instrumente misshandelte. Ein kräftiger Herr im tamilischen Sarong Veshti mit nacktem Oberkörper und einer dicken Blumengirlande um den Hals ging herum und warf den Musikanten mit derselben Willkür Zehn-Rupien-Scheine zu, wie ein älterer Rentner mit Sehschwäche im Park Enten füttert. Das Resultat war ein lebhaftes Gerangel um die Almosen, was stark dazu beitrug, die ohnehin schon chaotische Brassband noch unkonzentrierter zu machen.

Junge Männer tanzten in einem immer enger werdenden Ring um den Bräutigam und sein Pferd herum, bis ihnen der Schweiß herunterlief, während junge Frauen ein ziemliches Stück entfernt standen und versuchten, im Takt der arhythmischen Musik zu klatschen. Gerade als ich dachte, wie unglaublich fantastisch es war, dass das arme Pferdchen sich in all dem Lärm und Getobe so ruhig halten konnte, wieherte es erschrocken und stieg auf die Hinterbeine.

Yogis Turban fiel herunter, und sein lockerer Griff um die Zügel löste sich. Er tastete verzweifelt nach etwas, woran er sich festklammern konnte, und schaffte es, einen Teil der Mähne zu fassen, was ihn weiterhin im Sattel hielt, bis das Pferd mit gewaltiger Kraft die Vorderhufe wieder auf den Boden schlug. Ich konnte gerade noch den Schreck in Yogis Augen sehen, bevor die Katapultkraft ihn im hohen Bogen über den Kopf des Pferdes schleuderte. Nach einer Luftfahrt von drei, vier Metern landete er in der dicht gedrängten Menschenmenge, die sich wie Treibsand um ihn schloss. Ich hörte Mrs Thakurs durchdringende Stimme Yogis Namen schreien und kämpfte mich in seine Richtung durch, voller Angst, dass mein Freund in dem entstandenen Tumult zertrampelt würde. Das Orchester hörte auf zu spielen und eine einsame kleine Rakete heulte unheilvoll am Himmel. Das Schreien und Rufen ging in unruhiges Gemurmel über, und als ich es mit Keerans Hilfe geschafft hatte, mich halbwegs zu der Einschlagstelle durchzuboxen, pochte mein Herz zu gleichen Teilen vor Anstrengung und Angst.

Doch da tauchte plötzlich Yogis runder Kopf wie eine etwas mitgenommene Blütenknospe aus der Menschenmenge auf. Ein dünnes Rinnsal Blut lief ihm von einer kleineren Wunde an der Stirn ins Gesicht, und das eine Auge war deutlich gerötet. Eine resolute ältere Frau sprang mit einer Wasserflasche und einem Leinenstreifen nach vorn, um ihn zu säubern, bevor ein Wald von Armen Yogi auf die Schultern zweier junger Männer hob, sodass alle sehen konnten, dass er so heil geblieben war, wie man es nach einem halsbrecherischen Sturz vom Pferd eben erwarten kann. Ein kollektives erleichtertes Aufatmen durchströmte die Versammlung. Die Brassband fing wieder an zu spielen, der Tanz ging weiter und die pyrotechnischen Übungen wurden wieder aufgenommen, als wäre nichts passiert.

Als ich endlich ganz zu Yogi durchgekommen war und es geschafft hatte, mit seinem einzigen richtig intakten Auge in Blickkontakt zu kommen, war es, als würde der Schock des Unfalls zerschmelzen. Das Erstarrte und Angstvolle in seinem Gesichtsausdruck wurde weich und verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln, das eine Zahnlücke entblößte.

»Mr Gora, bist du es wirklich?! Herzlich willkommen!«

KAPITEL 2

Nach dem chaotischen Beginn der Hochzeit sank das Tempo beträchtlich. In dem großen beleuchteten Garten, der für diesen Zweck gemietet worden war und der an das einzige Hotel des Ortes angeschlossen war, das diesen Namen verdiente, herrschte eine deutlich ruhigere Stimmung als draußen auf der Straße. Während Yogi drinnen im Hotelfoyer weiter verarztet wurde, um für das Zusammentreffen mit seiner Frau in einem einigermaßen präsentablen Zustand zu sein, ließen die Leute sich all das Essen schmecken, das serviert wurde.

Gut dreißig Köche und doppelt so viele Küchenhilfen waren vollauf damit beschäftigt, die Gäste an den verschiedenen Ständen zu verpflegen. Außerdem gingen uniformierte Kellner herum und boten indisches Fingerfood und Mocktails an, zu den Klängen einer tamilischen Band, die uns mit etwas unterhielt, das wie eine Mischung aus Bollywoodpop und Balkanmusik klang.

Eine andere Form der allgemeinen Unterhaltung schien zu sein, mich eingehender zu betrachten. Keeran und sein Anhang folgten jedem Schritt, den ich machte, und als ich in ein knuspriges Medu Vada mit Kokoschutney biss, hielt mir der Fotograf seine Kamera so in die Visage, dass alle Gäste auf einer Großbildleinwand, die in einer Ecke des Gartens aufgestellt worden war, im Detail meine Zähne beim Zermalmen des Essens betrachten konnten.

Keeran erklärte mir, dass dies eine sehr spezielle und ungewöhnliche Hochzeit für Südindien war, wo Trauungen meist am Morgen abgehalten wurden. Eine Abendhochzeit wie diese hatte er noch nie erlebt. Auch keine Hochzeit, bei der der Bräutigam auf einem weißen Pferd eingeritten kam, und erst recht keine, bei der er von demselben abgeworfen wurde.

»Aber sehr großer Krach ist auch hier normal«, versicherte er und stellte für den späteren Abend noch mehr Feuerwerk in Aussicht.

Als ich mich endlich von der intensiven Aufwartung befreien konnte, ließ ich den Blick über den Garten schweifen und blieb bei Mrs Thakurs gebeugter Gestalt hängen, die auf einen Stock gestützt an der Seite einer jüngeren Frau stand. Ich ging zu ihnen und grüßte höflich. Die jüngere Frau stellte sich als Yogis Schwester Neepa vor. Äußerlich war sie das genaue Gegenteil ihres Bruders, groß und kühl und mit einem distanzierten Lächeln. Mrs Thakur sah von dem spektakulären Sturz ihres Sohnes immer noch mitgenommen aus, und deshalb dauerte es eine Weile, bis sie mich erkannte.

»Mr Goran Borg? Aus Schweden?«

»Ja, ich bin doch gekommen.«

»Yogendra sagte, Sie seien wegen eines wichtigen Arbeitsmeetings verhindert.«

»Man kann sagen, ich habe mich disponibel gemacht, Madame. Man muss Prioritäten setzen, und ich habe eingesehen, dass ich es den Rest meines Lebens bereuen würde, Yogis Hochzeit zu verpassen.«

Die Alte lächelte freundlich, bevor sie besorgt den Kopf schüttelte.

»Yogendra, ja, dieser Tollpatsch. Haben Sie gesehen, was passiert ist, als er auf dem Pferd eingeritten kam?«

»Ja, das hätte richtig übel ausgehen können.«

Mrs Thakur zischte irritiert durch den Mundwinkel.

»Dass es für diese Südinder immer so schwer sein muss, eine ganz normale Bestellung ordentlich auszuführen. Ich hatte um ein leicht zu reitendes weißes Pferd gebeten, und sie haben eine Bestie geliefert, diese Stümper! Man könnte beinahe meinen, dass sie im Geheimen meinen einzigen Sohn umbringen wollen, jetzt, wo er endlich heiraten wird.«

Sie zog ihre Lupe heraus und betrachtete mich von Kopf bis Fuß. Als sie sah, dass ich lange Hosen trug, lächelte sie billigend.

»Mr Borg, wirklich schön, dass Sie hier sind. Und es freut mich, dass Sie den guten Geschmack haben, sich wie ein richtiger Mann zu kleiden«, sagte sie und senkte die Stimme. »Ich verstehe mich absolut nicht auf diese tamilische Männermode. Alle laufen sie in Stoffstücke gewickelt herum wie Frauen oder Tagelöhner. Sogar der Vater der Braut hat einen Rock an.«

»Ich habe es so verstanden, dass Lungi und Veshti in Tamil Nadu sowohl im Alltag als auch bei festlichen Anlässen getragen werden«, antwortete ich diplomatisch.

»Na ja, man muss ihre merkwürdigen Eigenheiten wohl im Austausch gegen das erträgliche Wetter hinnehmen. Schön, der beißenden Kälte zu Hause zu entkommen. In Delhi sind es nur gut zwanzig Grad, und es ist schon Anfang März.«

Mrs Thakur winkte genervt einen Kellner weg, der mit einem Tablett auftauchte, bevor sie fortfuhr.

»Aber manchmal frage ich mich, ob man sich wirklich auf die Tamilen verlassen kann.«

»Mama, das kannst du wohl doch nicht sagen? Deine zukünftige Schwiegertochter ist doch Tamilin!«, protestierte Neepa. »Und du verlässt dich ja wohl auf Lavanya und Shanker?«

»Natürlich. Aber das liegt daran, dass ich meine Bediensteten von Grund auf selbst angelernt habe«, sagte Mrs Thakur und schenkte ihrer Tochter ein mildes Lächeln. »Sieh mal, mein Mädchen, du möchtest dir doch bestimmt etwas zu essen holen? Und dann den Rest der Familie sammeln, damit wir fertig sind, wenn es Yogendra beliebt, sich wieder zu zeigen.«

Neepa ließ sich nicht lange bitten und machte sich schnell aus dem Staub, sodass ich mit der Alten allein gelassen wurde. Ich erinnerte mich mit Schrecken an meinen ersten Besuch in Indien, als die Tante Flüche über mich hatte regnen lassen, weil ich mit Yogi zechen gewesen war. Aber nach meinem letzten Aufenthalt, während dessen ich ihrem gleichzeitig geliebten und schikanierten Sohn geholfen hatte, nach einem sowohl finanziellen als auch emotionalen Zusammenbruch wieder auf die Beine zu kommen, stand ich bei Mrs Thakur in verhältnismäßig hohem Kurs. Es war deutlich, dass sie Neepa weggeschickt hatte, um ein vertrauliches Plauderstündchen mit mir zu haben.

»Setzen Sie sich, Mr Borg«, sagte sie und benutzte ihren Stock, um zwei junge Männer zu vertreiben, die die Stühle besetzten, die sie für uns vorgesehen hatte.

Ich half ihr beim Hinsetzen und nahm ihr gegenüber mit dem unangenehmen Gefühl Platz, in einem mentalen Schraubstock gelandet zu sein. Mrs Thakur war berüchtigt für ihre List und ihre verbale Bissigkeit. Wenn man bei ihr nicht in Ungnade fallen wollte, musste man seine Zunge hüten. Ich versuchte, mich mit Yogis Worten zu beruhigen, dass sie eigentlich »ein Herz aus dem goldschimmerndsten Gold hatte, das jemals jemand besaß, der Mutter Indiens Boden betreten hat«.

»Mr Borg, wo Sie doch nicht nur mit Yogendra, sondern auch mit Lakshmi dort oben in den Bergen so viel Zeit verbracht haben, wie würden Sie das Mädchen beschreiben?«

»Ich habe nur Gutes über sie zu sagen«, begann ich defensiv.

»Das freut mich. Und was, würden Sie sagen, sind ihre herausragendsten Eigenschaften?«

»Dass sie … zuverlässig ist«, sagte ich zögerlich und spürte bereits, wie der Boden unter meinen Füßen zu wanken begann.

»Zuverlässig, das ist etwas vage ausgedrückt, Mr Borg. Ich dachte eher an ihre Art. Ihr Temperament und ihre Fertigkeiten, haben Sie darüber nichts zu sagen?«

»Sie ist auch sehr … freundlich.«

Mrs Thakur rümpfte die Nase, als würde sie meine Unsicherheit riechen, bevor sie in rasendem Tempo eine neue Frage hinausschleuderte.

»Und ich habe gehört, dass Lakshmi sehr energisch und aktiv war, als ihr diese Teeplantage in Darjeeling in Ordnung gebracht habt, die die havarierte Finanzlage der Familie Krishnamurti gerettet hat.«

»Ähh … ja.«

»Das klingt, als sei sie eine Frau mit Initiative.«

»Ja, absolut.«

»Frauen, die die Fähigkeit haben, zu schalten und zu walten, sind doch beneidenswert. Oder nicht?«

»Doch.«

»Sie meinen also, dass Lakshmi schaltet und waltet?«

Jetzt hatte sie mich. Ich kramte in meinem Hirn verzweifelt nach einer geeigneten Antwort. Genauso sehr wie das Schweigen mich plagte, schien es die Alte zu triggern.

»Sie finden also, Mr Borg, dass Lakshmi schaltet und waltet?«, wiederholte sie.

»Ähh … so würde ich es vielleicht nicht ausdrücken, eher, dass sie auf eine sympathische Art bestimmt ist.«

»Wie denn?«

»Na ja … ein bisschen so wie Sie, Mrs Thakur.«

Die Tante warf mir durch das Vergrößerungsglas einen mörderischen Zyklopenblick zu.

»Das dürfen Sie jetzt gern weiter ausführen, Mr Borg.«

»Sie weiß auf eine sympathische Art, was sie will«, versuchte ich es.

Mrs Thakur lehnte sich im Stuhl zurück, was mich ein wenig aufatmen ließ.

»Weiß sie auch, wann es am besten ist, zufrieden zu sein?«

»O ja!«, rief ich aus.

Dieses Mal kam die Antwort wiederum ein bisschen zu schnell und zu resolut, um richtig glaubwürdig zu klingen. Mrs Thakur lächelte, sah aber immer noch skeptisch aus.

»Sie meinen also, dass diese Ehe sich auf eine harmonische Art entwickeln wird?«, fragte sie, bevor sie sich wieder nach vorn lehnte und mit einer Schärfe in der Stimme, die mir kalte Schauer über den Rücken jagte, hinzufügte: »Für alle Beteiligten?«

Yogi hatte mir viele Male gepredigt, dass eine Ehe in Indien nicht nur eine Allianz zwischen Mann und Frau war, sondern in noch höherem Maße eine Union zwischen den beiden Familien, und daher auch ein sehr enges Verhältnis zwischen der Mutter des Bräutigams und der in die Familie einziehenden Braut voraussetzte. Ich schluckte für Lakshmi einen Kloß im Hals hinunter und sah die Alte mit dem standhaftesten Blick an, der mir möglich war.

»Sie ist genau die richtige Frau für Yogi und außerdem die perfekteste Schwiegertochter, die man im Haus haben kann.«

»Sie kann sich also fügen, wenn es nötig ist?«

»Absolut, Mrs Thakur.«

»Und wie steht es mit ihrem Temperament? Ich habe den Eindruck, dass es Lakshmi manchmal etwas schwerfällt, ihre Laune im Griff zu haben.«

»Absolut nicht. Lakshmi ist die Ruhe selbst.«

Hier hätte meine zittrige Konversation mit Yogis leicht erregbarer Mutter ihren glücklichen Schluss finden können, wäre das lebendige Palaver nicht gewesen, das in einem anderen Teil des Gartens ausbrach und das trotz der Geräuschkulisse der tamilischen Band von Mrs Thakurs empfindlichen Ohren wahrgenommen wurde.

»Was geht da drüben vor?«, fragte die Alte, stand neugierig auf und begann mit kleinen wankenden, aber doch sehr zielbewussten Schritten in Richtung des Aufruhrs zu gehen.

Ich folgte ihr und reichte ihr meinen Arm zur Stütze. Als wir bei der großen Gruppe Menschen anlangten, die sich um das Epizentrum des Streits geschart hatten, kam Mrs Thakurs Stock wieder zum Einsatz, diesmal, um eine Öffnung in dem Ring aus Menschen zu schaffen, der sich gebildet hatte. Beim Anblick der resoluten alten Dame zogen sich die Männer und Frauen zurück wie das Wasser im Roten Meer sich vor Moses’ Stab geteilt hatte, sodass die Szene für uns genau zu dem Zeitpunkt sichtbar wurde, als Lakshmis hennaverzierte Handfläche mit einem lauten Klatschen an der Wange eines jüngeren Mannes landete. Mit ihrer aufrechten Haltung und den tränennassen Augen, die trotzdem vor Zorn glühten, machte die Braut einen sowohl stolzen als auch hochgewachsenen Eindruck. Und das, obwohl sie ohne Schuhe nicht mehr als einen Meter fünfzig maß.

Mrs Thakurs Lupe saß wie festgeschweißt in ihrer linken Hand, als sie sich, ohne den Blick von ihrer zukünftigen Schwiegertochter zu lassen, räusperte und mit dem Stock leicht gegen mein Schienbein schlug.

»Was sagten Sie noch, Mr Borg? Dass Lakshmi die Ruhe selbst ist?«

KAPITEL 3

Als Lakshmi Krishnamurti ihre zukünftige Schwiegermutter bemerkte, senkte sie den Blick und hielt sich einen Zipfel ihres dünnen Schals vor den Mund. Die vielen Armbänder um ihre Handgelenke klirrten. Auch wenn die Schminke an den Augen etwas verlaufen war, war sie in ihrem limettengrünen Sari und einem ausgefuchsten Arrangement von weißen Blüten und Perlen in ihrem dichten schwarzen Haar betörend schön. Ein Goldring zierte den einen Nasenflügel, und auf der Stirn zwischen den markanten Augenbrauen saß ein rotes Bindi, eingefasst mit kleinen glitzernden Halbedelsteinen. Sie zog so fest an einem ihrer schweren Ohrringe, dass ich einen Moment lang befürchtete, das Ohrläppchen würde sich spalten. Der Brustkorb hob und senkte sich im Takt der angestrengten Atemzüge.

Keeran hatte sich der wachsenden Schar von Menschen angeschlossen, die sich um das hitzige Schauspiel gesammelt hatten, und nahm schnell die Rolle des Dolmetschers zwischen Mrs Thakur und dem geohrfeigten jungen Mann ein, der offenbar nur Tamilisch sprach.

Die Alte hatte nach einem langen, forschenden Blick auf Lakshmi ihre Lupe auf Keeran gerichtet und schleuderte Fragen auf Englisch und Hindi heraus, die er zuerst ins Tamilische übersetzte, worauf er mit derselben Geschwindigkeit und sprachlichen Mixtur, die Mrs Thakur verwendete, die Antwort zurückwarf.

Im Laufe der für meine Ohren schwer verständlichen Kommunikation wurde die Stimme des jungen Mannes immer kleinlauter, bis er zum Schluss stumm vor der alten Dame stand, den Kopf untertänig gebeugt, und nervös mit den Füßen trampelte. Mrs Thakur hob ihren Stock und stieß ihn gegen seine Brust, bevor sie den Kopf in einer auffordernden Geste Richtung Ausgang zurückwarf, was der junge Mann ohne Probleme verstand und befolgte. Er lief davon und verschwand wie ein begossener Pudel rasch vom Festplatz.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Mrs Thakur ihr Publikum so mächtig beeindruckt, dass es andächtig still war und mit Spannung die nächste Standpauke erwartete. Alle glaubten, der Gegenstand ihres Zorns würde Lakshmi sein, kassierten aber stattdessen selbst Schelte. Warum standen sie hier in einem Pulk herum und glotzten, wunderte sie sich, anstatt umherzugehen, wie es die Gäste einer indischen Hochzeit normalerweise taten – zumindest in den zivilisierten Teilen des Landes.

Das reichte, um die Menschenansammlung zu zerstreuen, und als alle außer mir, Keeran und seinem engsten Gefolge verschwunden waren, wandte sich Mrs Thakur mit einem neutralen Gesichtsausdruck erneut an Lakshmi.

»Bist du bereit?«, fragte sie.

»Sofort, Amma. Ich muss nur noch mein Make-up auffrischen und meine Frisur richten.«

»Ja, das würde wahrhaftig nicht schaden.«

Lakshmi ging zusammen mit ihrer großen Schwester, die die ganze Zeit wie eine stille moralische Stütze neben ihr gestanden hatte, in ein kleines Haus neben der beleuchteten Bühne. Mrs Thakur wurde ihrerseits von Neepa abgeholt, um sich mit den übrigen Verwandten aus Delhi zu treffen, was mir die Chance verschaffte, Keeran um eine genauere Erklärung zu bitten, was der Ursprung der aufreibenden Szene gewesen war. Wie er erklärte, war der junge Mann einer der Dorfbewohner gewesen, die Lakshmi und ihren Vater am emsigsten verleumdet hatten, als die Hochzeit vor gut einem Jahr aufgrund der finanziellen Krise der Familie eingestellt worden war. Der Mann hatte außerdem die Frechheit besessen, ihr gegenüber an diesem heiligen Tag die böswillige Bemerkung zu machen, dass sie sich nicht wie eine jungfräuliche Braut kleiden sollte, wenn sie schon benutzt war.

»Sehr hässliche Worte! Und sehr falsche Worte!«, donnerte Keeran.

Ich nickte zustimmend, auch wenn ich wusste, dass Yogi und Lakshmi ihre ehelichen Privilegien während des halben Jahres, das ich mit ihnen in Darjeeling verbracht hatte, schon im Voraus genossen hatten.

Eine Viertelstunde später begann die lärmende Brassband auf der Straße wieder zu spielen, und ein Scheinwerfer wurde auf das Tor zum Festplatz gerichtet. Herein kamen die Musikanten. Sobald sie den Garten betreten hatten, wichen sie zur Seite, um Platz zu machen, damit die Hauptperson von Neuem eintreten konnte.

Yogi kam zusammen mit seinen beiden Schwestern und einem Onkel. Majestätisch schritten sie nach vorne, in einer Prozession, die noch zwei weitere männliche Verwandte umfasste, die einen großen Bogen aus Rosenblättern über den Bräutigam hielten. Yogi hatte den kleinen Vorhang abgelegt, der von seinem Turban herabgehangen hatte, und strahlte über das ganze verpflasterte Gesicht wie eine Sonne. Das Veilchen um das eine Auge und die Zahnlücke konnten keinen Deut von dem Glück trüben, das sein Lächeln vermittelte. Ich glaube, ich hatte ihn noch niemals so voller Freude und Stolz gesehen wie jetzt, als er durch den Garten zu der beleuchteten Bühne ging, wo Lakshmi auf einem weißen Sofa saß, von einem Blumenmeer umgeben. Als sie zusammentrafen, detonierten mehrere Konfettikanonen, die einen Regen von kleinen Goldstreifen über das Paar sprühten.

»Das war der Bollywoodteil!«, rief Keeran. »Jetzt kommt sehr, sehr großer Krach!«

Noch ein Feuerwerk mit noch größeren Knallern als vorher prasselte los, falls das überhaupt möglich war. Erst eine Viertelstunde später verstummten die Raketen und Kracher und wurden von einem klingelnden Geräusch in den Ohren abgelöst, das ich erst nicht zuordnen konnte, das jedoch, wie ich bald merkte, aus meinem eigenen Schädel kam. Wenn ich irgendwann in Zukunft Tinnitus bekommen würde, konnte ich wohl ziemlich sicher sein, wo die Krankheit ihren Ursprung hatte.

Nach der farbenprächtigen und ohrenbetäubenden Kanonade kam eine lange Fotosession, bei der das Brautpaar sich mit allen möglichen und unmöglichen Konstellationen von Verwandten und wichtigen Freunden aufstellte. Nachdem ich zu Letzteren gezählt wurde, musste ich so viele Male »Cheese« sagen, dass ich mir fast den Kiefer ausrenkte. Danach ging die Hochzeit in ihre ruhige, religiöse Phase, die, wie ich aus Keerans Erklärungen verstand, hauptsächlich tamilisch geprägt war. Das Brautpaar wechselte in einen abgelegenen Teil des Gartens, der hinter einer Hecke von kleinen Ashokabäumen lag, wo ein Brahmane mit nacktem Oberkörper Gebete auf Sanskrit über sie zu sprechen begann. Es folgten unzählige Zeremonien mit Austausch von Armbändern und Blumengirlanden und Reis, der in verschiedene Schalen gefüllt wurde. Yogis entspanntes Lächeln war einem tief konzentrierten Gesichtsausdruck gewichen. Während der Durchführung aller Elemente, die der Akt der Eheschließung beinhaltete, fuhr seine Zunge im Mund vor und zurück wie bei einer Eidechse.

Mrs Thakur war auf einem Stuhl mit weicher Unterlage vor dem Priester und dem Brautpaar platziert worden. Die Aufregungen des früheren Abends hatten merklich an ihren Kräften gezehrt, und hier und da nickte die Alte ein.

Nach eineinhalb Stunden ununterbrochener Zeremonien spürte ich selbst, wie mich die Müdigkeit überfiel. Ich war fünf Stunden zuvor nach einer fast vierundzwanzigstündigen und weitgehend schlaflosen Flugreise mit zwei Zwischenstationen in Madurai gelandet und dann das letzte Stück auf holprigen indischen Straßen Auto gefahren. Es war schon nach Mitternacht, und ich dachte an das Bett, das frisch gemacht für mich in genau diesem Hotel bereitstand.

»Schauen Sie jetzt genau, Sir. Es ist Zeit für Saptapadi!«, zischte Keeran und rammte mir den dritten wohlplatzierten Ellenbogen des Abends in die Seite.

Saptapadi war der wichtigste Teil der Eheschließung, bei dem die Braut und der Bräutigam einander Treue und Liebe schwören sollten. Ein Feuer war angezündet worden, und während Yogi und Lakshmi Hand in Hand darum herumgingen, verlasen sie ihre Versprechen. Nach sieben Runden blieben sie stehen und beteten zusammen. Dann gaben sie einander jeweils eine Süßigkeit. Yogi leckte sich zufrieden die Lippen, bevor er die Finger in ein rotes Pulver tauchte, das er direkt am Haaransatz auf Lakshmis Stirn strich.

»Jetzt sind sie Mann und Frau«, flüsterte Keeran, und ich konnte mich gerade noch zur Seite bewegen, um einer weiteren Ellenbogenattacke auszuweichen.

Nach ein paar weiteren Prozeduren war der Akt vorüber, und ich ging nach vorn, um das Brautpaar zu umarmen.

»Mr Gora! Ich bin so glücklich, wie es ein Mann nur sein kann!«, strahlte Yogi. »Und jetzt, wo du auch hier bist, bin ich noch glücklicher! Ich habe wirklich den bitteren Geschmack der Enttäuschung im Mund gespürt, als du sagtest, dass dein überaus wichtiges Meeting in Schweden dich hindern würde. Aber du bist trotzdem gekommen!«

Yogi hielt Lakshmi im Arm und strahlte wie ein Kind am Heiligabend.

»Ist sie nicht absolut betörend, meine wunderbarste und schönste Frau?«

Lakshmi warf ihrem Mann einen zärtlichen Blick zu und strich mit der Hand über seine runde Wange.

»Und du bist richtig elegant, mein Prinz. Dieses Veilchen steht dir eigentlich, es sieht aus, als hättest du dich für deine Braut geschlagen«, zog sie ihn auf.

»Genau! So wie Rama es tat, als er mit der Hilfe Hanumans den gefürchteten Dämon Ravan besiegte, der seine geliebte Gemahlin Sita nach Sri Lanka entführt hatte!«

Plötzlich hörte man, wie sich Mrs Thakur räusperte. Sie hatte sich unbemerkt neben Lakshmi geschlichen und mit ihrer zittrigen Hand den Arm ihrer Schwiegertochter ergriffen.

»Meines Wissens nach hat nur einer von euch sich heute Abend geschlagen, und das warst nicht du, Yogendra.«

Eine unangenehme Stille erfüllte die Luft. Doch dann zog die Alte ein Taschentuch heraus und trocknete sich eine Träne im Augenwinkel.

»Und daran hast du recht getan, Lakshmi. Niemand spricht ungestraft schlecht über eine Thakur, denk daran! Denn jetzt bist du eine Thakur.«

Das war eine Willkommensgeste, die in Bezug auf den Absender alle Erwartungen übertraf. Yogi ging hinüber und berührte respektvoll die Füße seiner Mutter, bevor er sie umarmte.

»Jaja, Yogendra, das reicht jetzt«, brummte sie nach einer Weile. »Kümmere dich nun um deine Frau und sieh zu, dass es an diesem Abend nicht noch mehr Vorfälle gibt.«

Ich spürte, wie meine eigenen Augen sich mit Tränen füllten. Ich war Zeuge einer Hochzeit, bei der der Bräutigam kopfüber von einem Pferd gefallen war, die Braut eine schallende Ohrfeige ausgeteilt und die Schwiegermutter mithilfe ihres Stocks und ihrer scharfen Zunge für Ordnung gesorgt hatte. Und trotzdem war es die schönste Hochzeit, die ich je erlebt hatte.

»Was für ein Abend«, sagte ich zu Yogi, als seine Mutter sich entfernt hatte. »Ich glaube, jetzt muss ich gehen und mich aufs Ohr legen. Ich habe ein Zimmer hier im Hotel gebucht.«

»Das kommt nicht infrage!«, protestierte Yogi.

Ich war zwar vertraut mit der indischen Gastfreundlichkeit, hatte aber keine Lust, so spät noch bei irgendeinem Verwandten einquartiert zu werden.

»Bitte, Yogi, lass mich nur heute Nacht im Hotel schlafen, dann kann ich morgen umziehen.«

»Natürlich.«

»Okay, dann sage ich jetzt Gute Nacht.«

»Mr Gora, hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Das kommt nicht infrage!«

»Jetzt verstehe ich nicht ganz.«

»Es ist vollkommen in Ordnung, dass du heute Nacht in diesem exzellenten Hotel schläfst, aber es kommt nicht infrage, dass du jetzt schon ins Bett gehst! Zuerst musst du essen, denn mit leerem Magen schläft man nicht besonders gut.«

Es gibt einen Mitternachtssnack, dachte ich und überlegte, wie ein solcher indischer Imbiss aussehen könnte.

»Ich weiß nicht, Yogi, ich bin schon pappsatt von dem großen Abendessen.«

»Abendessen? Du meinst die Snacks?«

»Snacks?«

»Ja, die kleinen Appetithäppchen, die ihr Gäste während des Wartens auf die Eheschließung serviert bekommen habt. Komm jetzt mit, dann bekommst du endlich etwas Richtiges zu essen!«

Er nahm mich bei der Hand und führte mich zurück zu dem großen offenen Festplatz, wo die Köche und Kellner sich inzwischen verdoppelt hatten. Ein gigantisches Büfett aus ausschließlich vegetarischen Gerichten war in einem offenen Rechteck um den ganzen Garten angerichtet worden. Von den Hunderten von Hochzeitsgästen saßen viele im Schneidersitz auf dem getrimmten Rasen und aßen ihr Essen mit den Händen von Bananenblättern, während andere sich auf weiß bezogene Stühle um weiß gedeckte Tische gesetzt hatten.

»Das hier, Mr Gora, ist, was ich eine würdige Auswahl dessen nenne, was die südindische Küche zu bieten hat. Greif jetzt ordentlich zu, dann sehen wir uns morgen!«

Ich tat, was mein Freund gesagt hatte, wohl wissend, dass er sich nicht mit weniger zufriedengeben würde. Eine Stunde später, nachdem ich das letzte Stückchen eines Dosa in meinen bereits prall gefüllten Bauch gepresst hatte, lehnte ich mich erschöpft in einem Stuhl zurück und atmete aus. Ich warf einen Blick zu Yogi und Lakshmi hinüber, die am Eingang standen und sich von den Gästen verabschiedeten. Die meisten hatten den Festplatz bereits verlassen und waren nach Hause gegangen. Und ich saß hier und genoss die laue tamilische Nacht, anstatt mich zu Hause in Schweden meinem Arbeitsmeeting zu widmen. Das Meeting war eine Lüge, die genauso weiß war wie das Blumenarrangement in Lakshmis Haar. Das einzige Treffen, das ich im Terminkalender gehabt hatte und dem ich aufgrund meiner Reise nach Indien ferngeblieben war, war das mit meiner Arbeitsvermittlerin.

KAPITEL 4

Als meine Lebensgefährtin Karin Vallberg Torstensson bei unserem zweiten richtigen Streit neulich behauptet hatte, ich sei konfliktscheu, tat ich das als ein Zeichen ihrer Berufskrankheit ab, alles zu psychologisieren. Außerdem warf ich ihr vor, dass sie ihre Stellung ausnutzte.

Bevor wir ein Paar wurden, war sie nämlich meine Therapeutin. Es ist nicht ganz unkompliziert, eine Beziehung auf einer solchen Basis aufzubauen. Ich hatte zwar als Patient bei ihr aufgehört, als wir zusammenkamen, aber das änderte ja nichts an der Tatsache, dass wir die Beziehung mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen eingingen. Sie hatte, was Einsichten und Wissen über das Seelenleben des anderen anging, einen gigantischen Vorsprung mir gegenüber.

In den ersten Monaten störte mich dieses Ungleichgewicht nicht nennenswert. Ich fand es manchmal sogar ein bisschen süß, wenn sie mich ihren »kleinen Grübler« nannte oder mich daran erinnerte, dass ich in den Bauch atmen solle, wenn ihr Adlerauge sah, dass ich in Gedanken an einem unangenehmen Ort war. Aber dann schlich sich etwas in den Subtext, das mich irritierte. Wenn ich während eines Gesprächs mit meiner Mutter etwas kurz angebunden war, deutete Karin an, ich hätte einen nicht aufgearbeiteten Konflikt mit ihr. Und obwohl ich im letzten halben Jahr daran gearbeitet hatte, meinem Sohn John näherzukommen, und versucht hatte, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, die annähernd so herzlich war wie die zu meiner Tochter Linda, sprach sie in einer Art und Weise von »mental abwesenden Vätern«, dass ich das als indirekte Spitze interpretierte. Sie drückte sich subtil aus, und vermutlich war ich überempfindlich, aber in unsere Kommunikation hatten sich Missverständnisse eingeschlichen, die an mir nagten.

Dass ich arbeitslos war, machte die Sache nicht besser. Seit ich von meiner vorigen Indienreise vor fast einem Jahr nach Malmö zurückgekehrt war, hatte ich mich erfolglos um mehrere Jobs als Texter beworben. Mein Alter sprach in Kombination mit der herrschenden Zeitungskrise ganz einfach nicht für mich. Die größte Zeitung der Stadt, Sydsvenskan, war dabei, ihre eigene Redaktion zu schlachten, und von den Gratiszeitungen bekam ich freundliche, aber ablehnende Antworten auf die Mails, in denen ich meinen Stift anbot. Meine bisherigen Einkünfte als Journalist beschränkten sich auf die dreitausend Kronen, die ich vom Skånska Dagbladet für ein Feature über den goldenen Tempel der Sikh in Amritsar bekommen hatte, das ich mithilfe alter Fotos von dort zusammengeschustert hatte. Nicht einmal als ich in dem Tümpel namens »Malmös Werbeszene« zu fischen versuchte (obwohl ich mir einmal hoch und heilig geschworen hatte, dort nie wieder zu planschen), biss einer an. Es gab ganz einfach keine Nachfrage nach einem vierundfünfzigjährigen Texter mit Lücken im Lebenslauf, mittelmäßigem Wortwitz und allzu vielen Feinden in der Branche.

Finanziell begann es auch ein wenig eng zu werden. Meine Teilhaberschaft an der Teeplantage in Darjeeling zusammen mit Yogi, Lakshmi und ihrem Vater warf noch keine größeren Summen ab, und das Sparkonto auf der Bank versiegte ein wenig zu schnell, als dass es sich für den Blutdruck wirklich gesund anfühlte. Ein paar Fonds hatte ich natürlich noch übrig, aber die sollte ich plangemäß eigentlich vor der Pensionierung nicht anrühren.

Ich hatte mich lange Zeit davor gedrückt, aufs Arbeitsamt zu gehen, aber zum Schluss doch angerufen und einen Termin bei einer Arbeitsvermittlerin vereinbart. Es war eine Frau um die dreißig, mit Zöpfen, die mich genauso nervten wie ihr nassforsches Auftreten. Den Großteil unseres ersten Treffens brachte sie damit zu, mir, einem Texter mit dreißig Jahren Berufserfahrung, Tipps zu geben, wie man am besten eine Bewerbung schrieb, und mit einer Menge Floskeln um sich zu werfen, wie dass man manchmal »außerhalb der Norm denken« müsse und dass »tägliche Routinen auch wichtig sind, wenn man arbeitslos ist«. Als ich in einem unbedachten Moment die Augen verdrehte, bekam ich zu hören, wie entscheidend eine »offene und positive Einstellung« sei. Nachdem ich kein Anrecht auf normales Arbeitslosengeld hatte, war ich gezwungen, mich bei etwas anzumelden, das »Alfa-Kasse« hieß, aber trotz seines testosteronstrotzenden Namens nicht sonderlich potent wirkte. Durch sie sollte ich lediglich eine bescheidene Versorgungsstütze bekommen, doch die Voraussetzung war, dass ich zu allen abgesprochenen Treffen erschien und dem Arbeitsmarkt ständig zur Verfügung stand.

»Das heißt unter anderem, dass Sie nicht ins Ausland reisen dürfen«, sagte sie und lächelte fröhlich, als sie mir eine Broschüre mit den Regeln reichte.

Danach hatte ich weitere drei sinnlose Treffen durchlitten und sollte gestern eigentlich bei meinem vierten gewesen sein, um nicht nur Fräulein Nassforsch mit den Zöpfen, sondern auch einen Jobcoach zu treffen, der mir helfen sollte, »versteckte Jobs« zu finden.

»Soll ich Privatdetektiv werden?«, hatte ich die Zöpfe gefragt, und sie hatte mit einer plötzlichen überraschenden Ironie in der Stimme gesagt, dass ich mit meinem gut entwickelten Humor stattdessen vielleicht eine Stelle als Stand-up-Comedian bekommen könnte. Sogar aus diesem Match ging sie also als Siegerin hervor, und das war wohl der Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen brachte – dass ich gerade beim Thema Humor gegen sie verlor.

So zog ich mich in meine Junggesellenwohnung am Davidshallstorg zurück und setzte mich aufs Fernsehsofa, um zur Wiederholung eines deutschen Bundesligamatches auf Eurosport zu schmollen und mir dabei einen Becher Ben & Jerry’s mit der Geschmacksrichtung Chunky Monkey und eine halbe Flasche klebrigen Amaretto (den einzigen Schnaps, den ich zu Hause hatte) einzuverleiben. Der Mandellikör versetzte mich in einen kombinierten Zustand aus Alkoholrausch und Zuckerschock, was dazu beigetragen haben könnte, dass ich direkt nach dem Abpfiff von Bayer Leverkusen gegen Dortmund, das übrigens auch in der Wiederholung mit 1:3 endete, ins Internet ging und den Flug nach Madurai ohne Reiserücktrittversicherung buchte. Obwohl ich es mir eigentlich nicht leisten konnte und obwohl ich die kleine Unterstützung, die ich bekam, aufs Spiel setzte.

Aber als ich nach Yogis Hochzeit in einem bequemen Gartenstuhl saß und zum sternklaren Nachthimmel aufblickte, fühlte es sich trotzdem richtig an, dass ich hierhergekommen war. Das Einzige, was schmerzte, waren Karin Vallberg Torstenssons harte Worte, ich sei »ein konfliktscheuer Mann mit Bindungsproblemen, der ständig auf der Flucht ist«.

Als ich sie dann gefragt hatte, ob sie mit ihren Diagnosen fertig war, hatte sie einen Teller genommen, ihn auf den Boden geworfen und geschrien: »So mache ich das, wenn ich wütend bin!« Dann hatte sie mich einen Waschlappen genannt, der weder den Mut hatte, zu ihr ehrlich zu sein noch zu sich selbst, und auch wenn sie sich später beruhigt und das Ganze mit Versöhnungssex geendet hatte, war alles, was sie gesagt hatte, an mir hängen geblieben wie Federn an einem geteerten Körper. Die Sache war nämlich die, dass KVT, wie ich sie im Hinblick auf ihren Beruf und ihre Initialen manchmal nenne, in allem Wesentlichen recht hatte. Ich war nicht ehrlich zu ihr gewesen, und vielleicht auch nicht zu mir selbst.

Es war ja keineswegs so, dass sie es mir nicht gönnen würde, zu Yogis Hochzeit zu fahren. Im Gegenteil, als es zum ersten Mal zur Sprache kam, hatte sie vorgeschlagen, dass wir beide nach Indien fliegen sollten. Damals hatte ich gesagt, dass ich wohl in Schweden bleiben und mit meiner Jobsuche weitermachen sollte, und auch wenn sie etwas enttäuscht gewesen war, hatte sie es akzeptiert. Völlig klar, dass sie wütend wurde, als ich später eine Kehrtwende gemacht und die Reise gebucht hatte, ohne sie miteinzubeziehen.

Bindungsprobleme. Sie hätte auch noch Minderwertigkeitskomplexe und ein hohes Bedürfnis nach Bestätigung hinzufügen können. Denn natürlich war etwas Pathetisches und Jämmerliches an einem erwachsenen Mann, der vor seinem besten Freund vertuschte, dass er arbeitslos war, und hier und dort wichtige Meetings vortäuschte, und der aus irgendwelchen Gründen die Frau, die er vielleicht liebte, nicht richtig in sein Leben zu lassen wagte. Und trotzdem war Karin weit von einem bloßen Trostpflaster entfernt. Sie hatte keinerlei Versprechen von mir eingefordert oder davon gesprochen, dass wir zusammenziehen sollten. Da sie vor nicht allzu langer Zeit eine Scheidung hinter sich gebracht hatte, hatte sie selbst betont, dass wir es langsam angehen lassen sollten. Sie hatte auch einen Sohn und ein Enkelkind in Östersund, die sie gerne besuchte, es bestand also kaum ein Risiko, dass wir einander völlig abnutzen würden.

»Die Party ist jetzt vorbei, Sir.«

Keerans Worte weckten mich aus meinen Gedanken, und ich dankte ihm mit einem freundlichen Lächeln dafür, dass er seinen Ellenbogen diesmal nicht verwendet hatte. Einige wenige Gäste waren immer noch da, aber Yogi, Lakshmi und alle ihre Verwandten hatten den Festplatz schon verlassen. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet, dass es Viertel vor drei war. Ich sagte Gute Nacht zu Keeran, ging hinauf und legte mich in mein steinhartes Hotelbett.

Obwohl ich todmüde war, lag ich lange wach und wälzte mich hin und her. Als ich endlich einschlafen konnte, hatte ich einen Alptraum, in dem ich in einen großen Käfig eingeschlossen war und eine Hundeleine um den Hals trug. Draußen stand Karin Vallberg Torstensson und klimperte mit einem Schlüsselbund um den Zeigefinger. Man musste nicht psychologisch versiert sein, um die überdeutliche Botschaft meines Unterbewusstseins zu verstehen. Nach gut zehn Jahren als Junggeselle hatte ich schreckliche Angst davor, mich zu binden.

KAPITEL 5

Am nächsten Tag wurde ich um halb neun Uhr morgens von boshaftem Klopfen an meiner Tür geweckt. Als ich mich dazu aufraffte, aufzustehen und zu öffnen, traf mein trüber Blick Keerans muntere Augen. Er erklärte, dass Yogi ihn geschickt hatte, um mich abzuholen, weil es zu Hause bei Lakshmis Vater ein südindisches Frühstück gab. Wie sich zeigte, war Keeran Autorikschafahrer, und eine Viertelstunde später saß ich hinter ihm in seinem knatternden Fahrzeug und sah, wie die Stadt zum Leben erwachte.

Die Stahlrollläden der Geschäfte rasselten beim Hochziehen, und am Straßenrand standen Männer in Trauben um die rollenden Teestände und stärkten sich mit frisch gebrühtem Masala Chai für die tägliche Arbeit. Die Frauen waren schon vollauf damit beschäftigt, vor den Geschäften zu putzen, Wasser in großen Gefäßen auf dem Kopf zu tragen, Kuhdung zu runden Briketts zu formen, um sie zu trocknen und dann Feuer damit zu machen, rotznasige Kinder zu schleppen und all die Dinge zu tun, die indische Frauen ständig auf Trab hielten, wo auch immer im Land man sich befand.

Motorräder und Roller schlängelten sich gemächlich zwischen Kühen und Ziegen hindurch. Die Hupe eines farbenfrohen Lastwagens spielte eine aufdringliche Melodieschleife, als wolle sie das Publikum vor einem Cricketspiel aufheizen. Trotz all der lärmenden Betriebsamkeit fand ich die Stimmung hier deutlich entspannter als in und um Delhi. Sowohl die Menschen als auch ihre Fahrzeuge bewegten sich etwas langsamer und schienen nicht ganz so erpicht darauf, immer der Erste zu sein, was den Vorteil hatte, dass der Verkehr zwar träge, aber gleichmäßig floss und ohne heftige Bremsmanöver auskam.

Als wir die kleine Stadt verlassen hatten, öffnete sich die schöne Landschaft in ausgedehnten Reisfeldern und großen Plantagen mit Kokospalmen, Avocadobäumen und Bananenpflanzen vor einem majestätischen Bergpanorama. Der warme Wind streichelte meine Haut, und ich spürte, wie ich langsam, aber sicher auch mental aufzutauen begann. Die anstrengenden Gedanken um meine Arbeitslosigkeit und den aufreibenden Streit mit Karin zu Hause in Schweden rückten in den Hintergrund, und mich erfüllte die angenehme Gewissheit, dass sich alles letztendlich zum Guten wenden würde, jetzt, wo ich endlich hier war. Denn obwohl ich während meiner früheren Aufenthalte in Indien mehrere ernsthafte Probleme durchlitten hatte, hatte ich das Land immer mit dem Gefühl verlassen, durch neue Einsichten und Erfahrungen etwas Wertvolles mit nach Hause genommen zu haben.

Nach guten zehn Kilometern Fahrt rollten wir ins Heimatdorf der Familie Krishnamurti. An der asphaltierten Hauptstraße lagen ein paar kleine, einfache Geschäfte, eine Straßenküche, ein gut besuchter Obst- und Gemüsemarkt, ein Rasiersalon und eine kleine Schule. Keeran ging vom Gas und fuhr im Schneckentempo durch den Ort, wodurch wir bald einen kleinen Tross von Kindern im Schlepptau hatten, die hinter uns herrannten, als wir links auf einen Schotterweg abbogen.

»Du bist hier ein sehr besonderer Mann mit deiner weißen Haut!«, brüllte er mir zu und lächelte triumphierend, bevor er den Kindern fröhlich zuwinkte und wieder an Tempo zulegte.

Einige Jungen versuchten die Verfolgung aufzunehmen, gaben aber bald auf und verschwanden in einer Staubwolke aus unserem Blickfeld. Die herumscharrenden Hühner, die uns in den Weg kamen, mussten ob Keerans markanter Tempoerhöhung um ihr Leben rennen, und nach ein paar scharfen Kurven durch eine Mischbebauung von niedrigen Steinhäusern und einfachen Hütten mit Strohdach kamen wir auf einen einsamen und erstaunlich ebenen Weg, der zu einer großen, weiß getünchten Villa führte. Das Haus hatte eine Terrasse mit runden Wassertanks auf dem Dach und war von einem gepflegten Garten mit großen Bougainvilleabüschen umgeben. Vor dem verschnörkelten Eisentor standen Yogi und Mr Krishnamurti und warteten auf uns.

Mein Freund klopfte mir auf den Rücken, als ich aus der Rikscha stieg, und stellte mich seinem Schwiegervater vor. Ich hatte ihn während der Hochzeit nur kurz begrüßt und war bereits da von seiner ruhigen und zurückhaltenden Art fasziniert gewesen. Vielleicht hatte das etwas mit der Qualität seines Hörgeräts zu tun. Yogi schrie mehr oder weniger, wenn er mit ihm sprach.

»Mr Gora kommt aus Schweden!«

»Wie interessant. Ich war selbst nie in der Schweiz, aber es soll ja ein sehr schönes Land sein«, antwortete Mr Krishnamurti.

»Mein Schwiegervater ist auf seine alten Tage etwas schwerhörig geworden«, flüsterte Yogi.

»Wie alt ist er?«

»Das weiß er nicht. Hier draußen auf dem wunderbaren Land maß man solchen Nichtigkeiten wie Jahreszahlen keine Bedeutung zu, als er geboren wurde. Das Einzige, was mein Schwiegervater weiß, ist, dass er während eines exzeptionell starken Monsuns zur Welt kam, der beinahe das Haus der Familie fortschwemmte. Das hat ihm seine liebe Mutter in seliger Erinnerung erzählt.«

Yogi wandte sich an Mr Krishnamurti und rief laut in dessen Hörgerät.

»Nicht wahr, lieber Schwiegervater?«

Der Mann lächelte und nickte, und ich verstand bald, dass das Mr Krishnamurtis üblichste Art der Kommunikation war. Sein ausgezeichnetes Englisch verriet ein hohes Bildungsniveau, aber er verwendete die Sprache sehr sparsam, und im Hinblick darauf, dass er die letzten Tage in der Gesellschaft Mrs Thakurs verbracht hatte, war das vermutlich eine kluge Strategie.

Seine ruhige und etwas weltferne Art konnte einen dazu verleiten, zu glauben, Mr Krishnamurti wäre auf dem Weg zur Senilität, aber der Blick hinter der Brille war aufmerksam, und Yogi hatte beteuert, dass sein scharfer Verstand noch immer völlig intakt war.

Dafür, dass er als einfacher Bauernjunge in dieser entlegenen Gegend Südindiens aufgewachsen war, hatte er im Leben einiges erreicht. Mr Krishnamurtis Finanzen waren wieder im Gleichgewicht, seit die Teeplantage in Darjeeling, die Yogi von seinem Geld gekauft hatte, kein Verlustgeschäft mehr war, sondern inzwischen sogar einen bescheidenen Gewinn abwarf. Lakshmis Hochzeit hatte ihn zwar viel Geld gekostet, sowohl für die Mitgift als auch für die Feierlichkeiten, aber seine Textilfabrik in Madras lief wieder ausgezeichnet und er hatte keine Schulden.

Wir gingen mit Cousin Keeran im Schlepptau durch die Diele und landeten direkt im großen Wohnzimmer, in dem das überbordende Frühstück aufgetischt stand. Am einen Tischende saß Mrs Thakur mit einer Decke um die Schultern und einem gequälten Ausdruck in dem rosinenartig verschrumpelten Gesicht. Ich ging zu ihr und begrüßte sie.

»Mr Borg, sagen Sie, ist es nicht verwunderlich, dass man nun endlich herunter in die Wärme gekommen ist, und dann stecken sie einen in einen Kühlschrank?«

Die Alte nickte genervt zur Klimaanlage hinauf, die eine angenehme Kühle im Raum verbreitete. Lakshmi zwinkerte mir zu und lächelte. Sie hatte sich neben ihren Vater an die andere Seite des Tisches gesetzt, während der Rest der Verwandtschaft die Plätze dazwischen füllte.

Ich schaffte es, neben Yogi zu landen, und hatte so etwas Zeit, mich ein bisschen mit meinem Freund zu unterhalten. Er fragte nach meinem Arbeitsmeeting zu Hause in Schweden, und ich log ihn an und sagte, dass es um einen ganz neuen Auftrag als Texter bei einem von Schwedens größten Immobilienmaklern ging. Er erzählte seinerseits, dass sich die bevorstehenden Flitterwochen auf einen Besuch in der heiligen Stadt Varanasi und in Agra beschränken würden, wo sie das Taj Mahal besichtigen wollten.

»Wann fahrt ihr?«, fragte ich.

»Übermorgen geht der Flug von Madurai mit mehreren Zwischenstopps nach Varanasi, und nach ein paar Nächten dort geht es nach Agra, in die Stadt der Mogulkaiser. Es wird ein wunderbarer kleiner Trip im Zeichen der Liebe, bevor wir bei meiner geliebten Amma in Delhi einziehen!«

Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen, als mir die Tragweite seiner Worte bewusst wurde. Das bedeutete, dass ich nur zwei Tage zusammen mit Yogi haben würde, bevor sie fuhren, und ganze acht Tage allein verbringen musste, bevor mein Flug zurück nach Schweden ging. Aber was hatte ich auch erwartet, nachdem ich zuerst mitgeteilt hatte, dass ich nicht zu seiner Hochzeit kommen konnte, und dann unangemeldet aufgetaucht war? Dass er seine eigenen Flitterwochen wegen mir verschieben würde?

»Mr Gora, warum siehst du aus, als wäre dir dein letztes Stück Chapati auf dem staubigsten aller staubigen Wege heruntergefallen?«, fragte Yogi, der immer ein Meister darin gewesen war, aus meinem Gesicht zu lesen.

»Es ist nichts, mein Freund. Ich überlege nur, was ich hier unten im Süden machen soll. Aber da kannst du mir bestimmt Tipps geben.«

»Sicher! Wir werden natürlich den fantastischen Minakshi-Tempel in Madurai besuchen.«

»Das kann ja nicht mehr als einen Tag dauern?«

»Nein! Denn dann geht es ja nach Varanasi!«

»Ja, und wenn ihr dorthin geflogen seid, was soll ich dann anfangen?«

Es lag ein etwas genervter Unterton in meiner Stimme, den ich sofort mit einem freundlichen Lächeln zu übertünchen versuchte. Yogi sah mich mit Verwunderung in seinen großen runden Augen an.

»Wovon redest du, Mr Gora? Du kommst natürlich mit!«

KAPITEL 6

Auch wenn Yogis Angebot mich zutiefst rührte, gab es ein paar Einwände. Was würde Lakshmi sagen? Auch wenn ich mich während der Reise etwas auf Abstand zu den Frischvermählten hielt, könnte sie meine bloße Anwesenheit natürlich als Eindringen sehen. Und wie sollte ich mir die Flugtickets leisten können? Doch bevor ich die Sache überhaupt mit Yogi besprechen konnte, tätschelte er mir kameradschaftlich das Knie und versicherte, dass seine frischgebackene Ehefrau einverstanden war. Sie hatten am Morgen über die Sache gesprochen und hatten sich geeinigt, mich mitzunehmen, wenn ich mir schon die Umstände gemacht hatte, ein wichtiges Arbeitsmeeting abzusagen und den ganzen Weg hierherzukommen, um mit ihnen ihre Hochzeit zu feiern.

»Wir haben ja, wenn ich ehrlich bin, schon oben in Darjeeling ein bisschen von unseren Flitterwochen gehabt«, flüsterte Yogi und zwinkerte mir zu. »Und weil ich auch dich liebe, kann man mit jedem Recht der Welt sagen, dass es in doppelter Hinsicht eine Reise im Zeichen der Liebe wird.«

Ich sah Lakshmi an, die meinen Blick mit einem kurzen Nicken erwiderte. Zu Beginn unserer Bekanntschaft war ich mehrmals mit ihrem feurigen Temperament konfrontiert worden. Aber sie hatte ein gutes Herz, und mit der Zeit hatte sich auch zwischen uns beiden eine Freundschaft entwickelt.

»Das klingt ganz fantastisch, Yogi. Aber werde ich euch nicht im Weg sein?«

Er sah mich an und atmete angestrengt aus.

»Ihr Westlichen habt eine merkwürdige Art zu denken. Hier in Indien sind wir es gewohnt, dass auf unseren Wegen Dinge auftauchen, und wir sehen das überhaupt nicht als Problem, im Gegenteil. Nehmen wir zum Beispiel das kleine indische Lastauto mit Ladefläche von der Marke Tata, das alle unsere Straßen befährt. Wenn ihm etwas in den Weg kommt, kann es würdevoll darum herumfahren, wenn es eine heilige Kuh ist, oder hupen, wenn es ein anderer Autofahrer ist, der über die Existenz des Fahrzeugs informiert werden muss, oder das, was im Weg steht, einfach auf die Ladefläche aufspringen lassen, zu allen anderen, die dort schon sitzen, wenn es ein Bekannter des Chauffeurs oder einfach ein normaler sympathischer Mensch ist, der mitfahren möchte. So funktioniert das bei uns!«

Er brach ein Stück Uttapam ab, das er in die Gemüsesauce Sambar tunkte, und verschlang es mit einer Bestimmtheit, die keinen Platz für Einwände von meiner Seite ließ.

»Und was die Kosten betrifft«, schmatzte Yogi, »brauchst du dir keine einzige Sekunde Sorgen zu machen. Die Teeplantage hat ein wenig eingebracht, also sollst du deinen Anteil bekommen. Es handelt sich um ungefähr ein Lakh, und das deckt alle Ausgaben mehr als gut!«

Es gab zwar sicherlich andere Löcher, die ich mit den circa zwölftausend Kronen hätte stopfen können. Trotzdem sagte ich Ja, ohne auch nur eine Sekunde zu zweifeln.

Yogi kümmerte sich um alle Details meiner Mitreise. Nachdem ich auf meinem Heimflug nach Schweden ja sowieso in Delhi zwischengelandet wäre, buchte er das Ticket um, sodass ich dort anstatt in Madurai einchecken konnte. So würde ich auch noch ein paar gemütliche Tage in der indischen Hauptstadt verbringen können, wo ich ja fast ein Jahr gewohnt hatte. Dann bestellte er Tickets für den Inlandsflug und buchte Hotelzimmer für mich.

Am nächsten Tag waren wir eine ganze Gruppe, die einen etwas in die Jahre gekommenen weißen Reisebus enterte, um die Flitterwochen einzuläuten. Auf der ersten Etappe nach Madurai waren nicht nur Yogi, Lakshmi und ich, sondern auch Mrs Thakur, Mr Krishnamurti und sämtliche Geschwister des Brautpaars inklusive Familien und Bediensteten mit von der Partie. Ich zählte vierundzwanzig Erwachsene und vier Kinder. Das Gepäck, das neben allen Koffern noch den sperrigen Rollstuhl enthielt, in dem Mrs Thakur herumgefahren wurde, wurde vom Assistenten des Busfahrers mit einer bedächtigen Sorgfalt auf dem Dach festgezurrt, die die Alte ungeduldig machte. Sie wedelte mit ihrem Stock und schrie: »Jetzt muss es aber wirklich reichen mit den Seilen, Sie da oben!? Wir wollen doch keine Weltumsegelung machen!«

Cousin Keeran hätte sich mit Sicherheit auch gern angeschlossen, musste sich aber damit zufriedengeben, uns vor der weißen Villa zum Abschied zu winken. Obwohl ich vorbereitet war, gelang es mir nicht, seinen scharfen Ellenbogen zu parieren, der diesmal als Abschiedsgruß fungierte und den er mit einer blitzschnellen Bewegung ausführte, als ich gerade in den Bus steigen wollte.

»Gute Reise, Sir! Ich werde Sie nie vergessen!«

»Ich auch nicht«, grimassierte ich. »Weder seelisch noch körperlich.«

Mrs Thakur zischte genervt, als der Assistent des Chauffeurs einen Käfig mit Hühnern herbeitrug, der offenbar auch im Bus mitfahren sollte.

»Sollen wir jetzt wie Vieh in einem Tiertransporter befördert werden? Was ist denn das nun wieder für ein tamilischer Wahnwitz?«

Nach einer Woche am Ende der Welt hatte die Alte offenbar genug von der südindischen Landluft und dem ruhigen Dorfleben. Mr Krishnamurti lächelte sein nachdenkliches Lächeln, in seligem Unwissen über Mrs Thakurs harte Worte, und hob einen von Yogis Neffen auf seinen Schoß. Es war ein kleiner Junge von ungefähr drei Jahren, der sich bei dem freundlichen alten Mann offensichtlich wohlfühlte.

»Wie wundervoll es sein muss, Enkelkinder zu haben«, sagte er mit sehnsüchtiger Stimme zu Mrs Thakur.

»Meistens«, räumte die Alte ein und tätschelte einer Enkeltochter die Wange.

Der verwunderte Blick des Mädchens entlarvte, dass sie diese Art von Zärtlichkeitsbekundung von ihrer Großmutter nicht gewöhnt war. Aber das hieß nicht, dass Mrs Thakur ihre Enkelkinder nicht liebte. Sie hatte große gerahmte Fotografien von ihnen in der Vitrine zu Hause in Sundar Nagar und vergaß Yogi zufolge niemals ihre Geburtstage. Wenn sie zu Besuch kamen, widmete sie ihnen ein gewisses Interesse und spielte zwischen dem Lesen im Dainik Jagran und den Wiederholungen alter Bollywoodfilme mit ihrem Lieblingsschauspieler Amitabh Bachchan hin und wieder mit den ältesten beiden Enkeln Karten. Aber eine gemütliche Großmutter, auf deren Schoß man kroch, um Märchen zu hören, würde sie niemals werden.

Sie setzte eine ungewöhnlich milde Miene auf und wandte sich an Lakshmis Vater.

»Bester Mr Krishnamurti, bald werden auch Sie diese Freude haben. Dann kann Ihr Enkelkind Sie besuchen kommen.«

Sie hatte die Stimme erhoben und zog den Schluss des Satzes in die Länge, um zu betonen, dass Yogis und Lakshmis Nachkommen bei ihr in Sundar Nagar aufwachsen würden. Anschließend lehnte die Alte sich im Sitz zurück und schlief ein. Sie öffnete die Augen nicht eher als fünf Stunden später, als der Bus in Madurai auf einer breiten, von Juweliergeschäften gesäumten Straße stehen blieb.

»Amma, ist es nicht absolut fabelhaft, wie viel Glitzer und Gold es in dieser Stadt gibt?«, strahlte Yogi und zeigte eifrig auf ein Geschäft mit einem blinkenden Schild davor.

»Genau da habe ich den Schmuck für meine geliebte Lakshmi gekauft.«

Mrs Thakur gähnte und hob ihre Lupe.

»Ich hoffe, du wurdest nicht betrogen, Yogendra. Es wäre besser gewesen, du hättest das Gold zu Hause in Delhi gekauft.«

Als sie den Strom von Mopeds und Motorrädern sah, die auf der Straße hervorquollen, und die fast alle mit mindestens drei Personen bestückt waren, schüttelte die Alte den Kopf.

»Und das ist also die zivilisierte Großstadt? Eine Hauptstraße mit Unmengen von Zweirädern, auf denen Männer in Röcken sitzen.«

Mitten in dem wimmelnden Verkehr stiegen wir alle aus dem Bus. Yogis Mutter wurde in ihren Rollstuhl gesetzt, und dann ging das ganze Gefolge in einem langsamen Fußmarsch weiter, durch einen Elektronikmarkt und schließlich zum Hauptziel des Ausflugs, der großen Tempelstadt mit tausendjähriger Geschichte, die im Herzen von Madurai lag und zur Ehre der hinduistischen Göttin Minakshi erbaut worden war.

»Minakshi ist Parvatis Avatar und die wichtigste Göttin hier in Südindien«, erklärte Lakshmi. »Sie repräsentiert das Leben und die Schönheit.«

»Da habt ihr beide viel gemeinsam«, sagte Yogi und sah seine Frau liebevoll an.

Als wir zu einem der Eingänge kamen, verschlug es mir vor Begeisterung die Sprache. Wie eine Pyramide aus zierlich geschnitzten Götterstatuen erhob sich das Tor fast fünfzig Meter in die Höhe. Sogar Mrs Thakur wirkte beeindruckt und ließ sich willig von ihren Schuhen befreien und aus dem Rollstuhl helfen, sodass auch sie mit hineingehen konnte, auf ihren Stock und das Dienstmädchen Lavanya gestützt.

Innerhalb der äußeren Mauer breitete sich das große Gelände mit mehreren Tempeln und Türmen aus. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die heißen Steinplatten brannten unter meinen nackten Fußsohlen. Wir gingen an einem Stall mit Kühen vorbei, die die Aufgabe hatten, die heilige Stadt mit Milch für all die religiösen Zeremonien zu versorgen, die dort vor sich gingen, und weiter in den Komplex hinein. Ausgezehrte Männer und Frauen trugen schwere Körbe mit Stein und Ton auf ihren Köpfen die Treppe vor einem abgesenkten Brunnen herauf, der gerade restauriert wurde. An einem großen Shiva Lingam, dem Phallussymbol, das Shiva, den Gott der Zerstörung und des Neubeginns ehrte, stand eine Schlange betender Menschen. Mit Lakshmi als kundigem Guide verbrachten wir ein paar Stunden damit, durch die schön beleuchteten Tempel mit prächtig verzierten Pfeilern und detailreich bemalten Decken zu wandern. Der Räucherduft und der flackernde Kerzenschein flossen mit den Messen der Brahmanen zu einem suggestiven Sud von Spiritualität zusammen, der sogar mein atheistisches Herz berührte.

»Das ist es, was mein höchst geliebtes Indien eher zu einem Universum macht als zu einem Kontinent«, verkündete Yogi feierlich, bevor seine Nase etwas Essbares witterte, was ihn schnell dazu brachte, die Richtung zu ändern.

Er eilte aus dem Tempel und landete bei einem kleinen Stand außerhalb, der frisch frittierte Pakoras verkaufte. Yogi kaufte drei eingerollte Zeitungen voll mit dem fettigen Gemüse im Teigmantel und aß rasch selbst ein paar Stück, bevor er uns davon anbot. Als Mrs Thakur sich über seine ständige Nahrungsaufnahme beklagte, verteidigte Yogi sich damit, dass man nach so viel geistiger Nahrung, wie wir sie während der Wanderung durch die Tempelstadt zu uns genommen hatten, auch den Hunger des Magens stillen mussten.

»Das weißt du doch, liebe Amma, dass Körper und Seele eins sind, und wenn keine völlige Harmonie zwischen ihnen herrscht, stört man die universelle Balance, und das gefällt den Göttern nicht.«

Die Alte, die an die selbst geschnitzten religiösen Sentenzen ihres Sohnes gewöhnt war, die so oft einen kleinen kulinarischen Ringelschwanz hatten, gab sich diesmal mit einem Schnauben zufrieden. Dagegen war sie sehr bestimmt, als sie die ganze Gesellschaft zu einem heiligen Baum herüberbeorderte, wo sie für fünfzig Rupien eine kleine Holzkiste mit einer einfachen Statue von Shiva aus bemaltem Pappmaschee kaufte. Sie reichte sie ihrer Schwiegertochter mit den Worten »nun mach sowohl mich als auch deinen Vater glücklich«.

»Dazu gehören ja wohl zwei«, murmelte Lakshmi und bat Yogi um Hilfe, als sie die kleine Holzkiste mit einer Schnur an einem Ast festband. Es hingen bereits mehrere ähnliche Kisten mit Shivastatuen im Baum, um den viele andere Paare herumstanden.

»Hierher kommt man mit dem demütigen Wunsch der Segnung des mächtigen Fruchtbarkeitsgottes Shiva«, flüsterte Yogi mir zu.