Zuviel Zufall - Elisabeth Sailer - E-Book

Zuviel Zufall E-Book

Elisabeth Sailer

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Beschreibung

Hass ist wie ein Geschwür, das sich unbemerkt ausbreitet. Rosalinde hat alles, was man sich wünschen kann. Sie ist jung, vermögend, gutaussehend und sie liebt ihren Mann, Fernando. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern zieht das Paar in Rosalindes Elternhaus im Freiamt. Das große Anwesen liegt abgeschieden mitten in einem Auenwald. Fernando richtet seine Psychologie-Praxis im Haus ein und breitet sich dort immer mehr aus. Seiner Frau gegenüber legt er einen zunehmend bedrohlichen und herrschsüchtigen Charakter an den Tag. Als Rosalinde herausfindet, dass er sie mit seiner Assistentin betrügt, ist für sie das Maß voll. Sie bereitet heimlich die Scheidung vor, will ihn mit ihrem Begehren aber erst konfrontieren, nachdem sie Vorkehrungen zu ihrem Selbstschutz getroffen hat.Kurz darauf verschwindet die junge Frau spurlos. Jahre später ziehen Julia und Erik in Rosalindes ehemaliges Haus ein. Sie wissen nichts von der Vorgeschichte der großen weißgetünchten Villa. Julia und Erik genießen in dem Haus einen unbeschwerten Sommer, ehe der Herbst mit dichtem Nebel, Kälte und unheimlichen Wahrnehmungen Einzug hält. Julia ist im selben Alter wie Rosalinde. Die beiden Frauen sind sich nicht nur äußerlich ähnlich. Liegt es an den herbstlichen Reuss-Nebeln, dass bei Julia die Nerven mehr und mehr blank liegen? Von den merkwürdigen Dingen, die im und um das Haus passieren, scheint zunächst niemand außer ihr etwas mitzubekommen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Rosalinde

Die kühle Einsamkeit der Aue

Verhasster Termin

Jahrestag

Champagner-Laune

Alte Bekannte

Ein Mann verschwindet

Marta packt aus

Suche nach Rosalinde

Die Mauer einreißen

Termin auf der Baustelle

Neue Anhaltspunkte

Ortstermin in der Aue

Zuviel Zufall

Hass ist wie ein Geschwür, das sich unbemerkt ausbreitet.

Rosalinde ist jung, schön und vermögend. Sie heiratet ihre große Liebe, Fernando, und ihr Glück scheint perfekt. Doch bald darauf verschwindet die junge Frau spurlos.

Als Julia und Erik Jahre später in Rosalindes ehemaliges Haus einziehen, wissen sie nichts von der Vorgeschichte des großen Anwesens, das abgeschieden mitten in einem Auenwald liegt. Sie genießen einen unbeschwerten Sommer, ehe der Herbst mit dichtem Nebel, Kälte und unheimlichen Wahrnehmungen Einzug hält.

Julia ist im selben Alter wie Rosalinde. Die beiden Frauen sind sich nicht nur äußerlich ähnlich.

Liegt es an den herbstlichen Reuss-Nebeln, dass bei Julia die Nerven mehr und mehr blank liegen?

Von den merkwürdigen Dingen, die im und um das Haus passieren, scheint zunächst niemand außer ihr etwas mitzubekommen.

Ein Schweizer Kriminalroman aus dem wunderschönen, zuweilen nebelumwobenen Aargauer Freiamt.

Von Elisabeth Sailer

Rosalinde

Das lange weiße Leinenhemd klebte wie ein feuchter Duschvorhang an ihrem schlanken Leib.

Die schulterlangen, schwarzgelockten Haare waren tropfnass.

Rosalinde schlotterte vor Kälte.

Sie irrte barfuß zwischen dornigen Büschen und tief herabhängenden Weidenzweigen umher.

Panisch versuchte sie, einen Ausweg aus dem nebligen Labyrinth zu finden.

Wohin sie auch lief, es war kein Durchkommen.

Der milchige Nebel um sie herum wurde zusehends dichter.

Die Luft war so feucht, sie konnte kaum atmen.

Von fern hörte sie unheimliches Flüstern.

«Schneewittchen, du fühlst dich kalt an. Warte, ich schenke dir eine rote Rose zum Abschied.

Sieh nur. Blut tropft aus deinem Finger.»

Rosalinde fürchtete sich.

War es Todesangst, die ihr die Brust zuschnürte?

Tief aus ihrem Unterbewusstsein nährte sich eine Ahnung.

Als durchlebe sie einen Film, den sie vor langer Zeit einmal gesehen hatte.

Die Geschichte würde in einer Katastrophe enden.

Rosalinde schreckte hoch.

Sie bewegte ihre Gliedmaßen – Finger, Hände, Arme, Füße und Beine.

War sie wach oder in einen anderen Traum hinübergeglitten?

Die grauen Schleier lösten sich.

Sie riss die Augen weit auf, aber alles blieb dunkel.

Sie lauschte, doch es blieb totenstill.

Panisch versuchte sie, sich zu erinnern.

Auch in ihrem Kopf herrschte Finsternis.

Sie fühlte sich taumelig, als steckte sie nicht in, sondern stünde neben ihrem Körper.

Um festzustellen, wo sie war, tastete sie sich mit den Fingern durch die Dunkelheit.

Sie saß vornübergebeugt auf ihrem ledernen Bürostuhl.

Ihr Kopf ruhte auf der hölzernen Platte ihres Schreibtisches.

Urplötzlich schoss ein saurer Schwall, brennend wie Lava die Speiseröhre empor.

Sie warf reflexartig die Hände nach vorne, drückte ihre Arme durch und stemmte den Oberkörper auf.

Durch die Schwerkraft sackte der saure Schwall zurück.

Rosalinde fühlte sich sterbenselend.

In ihrem Magen mussten Käfer und Würmer herumkriechen.

Sie hatte einen Filmriss, erinnerte sich an nichts.

Im nächsten Moment schickte ihr Magen erneut eine Fontäne empor.

Sie machte sich lang.

Es half nicht.

Der Brechreiz war zu stark.

Was immer in ihrem Magen war, es wollte heraus.

Sie fürchtete um ihre lederne Schreibtischauflage und wichtige Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen.

Rosalinde schaffte es gerade noch, sich die Hand fest auf den Mund zu pressen, ehe sich ihr kompletter Mageninhalt unkontrolliert entleerte.

In völliger Dunkelheit beugte sie den Kopf, so tief sie konnte, unter ihren Schreibtisch.

In unzähligen Wellen beförderte Rosalindes Magen seinen kompletten Inhalt heraus, bis sie erschöpft zusammensackte.

Mit den letzten Schwallen hatte ihr Magen nur noch bittere Galle ausgeworfen.

Dennoch wollte er sich nicht beruhigen.

Vor lauter Übelkeit schwollen ihre Augen an und tränten, so dass ihr Gesicht ganz nass geworden war.

Anders, als wenn sie krank war oder etwas Schlechtes gegessen hatte, fühlte sie sich nach dem Erbrechen nicht besser.

Sie zitterte und schlotterte am ganzen Leib.

Weiße Blitze zuckten vor ihrem inneren Auge.

Sie war unendlich durstig und ekelte sich vor dem Geruch des Erbrochenen.

Wie war sie in diese Lage gekommen?

Sie musste die Treppe hochsteigen und sich waschen.

Oben im Badezimmer wären Kopfschmerztabletten und ein Medikament gegen die Übelkeit.

In ihrer miserablen körperlichen Verfassung schien Rosalinde das Badezimmer Lichtjahre entfernt.

Sie klammerte sich an den Tisch, weil sich alles drehte.

In ihren Ohren pochte das Blut.

Die Lippen fühlten sich eiskalt und pelzig an.

Vorsichtig bettete sie ihren Kopf zurück auf die Tischplatte.

Die langen Haare fielen wie eine schützende Decke über ihre Schultern, Arme und Hände.

Sie fasste eine Haarsträhne, drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger, wie sie das als Kind getan hatte, wenn sie sich beim Einschlafen vor der Dunkelheit fürchtete.

Das beruhigte sie.

Sie dachte an ihren Mann.

«Mein Schneewittchen spielt wieder mit ihren ebenholzschwarzen Haaren», hatte er sie oft geneckt.

Fernando hatte sich verändert.

Rosalinde ärgerte sich über sich selbst.

Sie konnte später über Fernando und ihre zerbrochene Liebe sinnieren.

Jetzt war dafür nicht die Zeit.

Sie musste hier heraus.

Schließlich war es Fernandos Schuld, dass sie oben keine Ruhe mehr fand und ihr Büro hinunter in den Keller verlegen musste.

Nur wegen Fernando saß sie da unten im Dunkeln.

Rosalinde richtete sich in ihrem Stuhl auf.

Sie würde nach oben gehen.

Das Karussell in ihrem Kopf drehte sich schneller und schneller, dass sie fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren.

In ihrer Schreibtischschublade müssten eine Packung Feuchttücher und eine Taschenlampe liegen.

Sie zog die Lade heraus und tastete sich durch das Sammelsurium.

Mit zittrigen Händen zog sie ein Tuch hervor und wischte sich Mund und Hände ab.

Der Duft von Aloe Vera überdeckte das Erbrochene.

Sie fühlte sich besser.

Gleichzeitig realisierte sie, wie taub und kraftlos sich ihr Körper anfühlte; so als ob sie aus tiefster Bewusstlosigkeit erwacht wäre.

Der Raum hatte keine Fenster und kein Tageslicht.

Der einzige Lichtschalter befand sich direkt bei der Türe.

Dass sie in völliger Dunkelheit an ihrem Schreibtisch saß, war unlogisch.

Hatte es einen Stromausfall gegeben?

Wie lange hatte sie bereits hier gesessen und wieso erinnerte sie sich an nichts?

Rosalindes Kopf schmerzte, als ob tausend kleine Männer darinsäßen und ihre Schädeldecke von innen mit Hämmern traktierten.

Ihr war so kalt.

Ihre Haare, die Arme und Schultern umhüllten, vermochten die Kälte nicht zu bannen.

Nie vorher hatte sie sich so elend gefühlt!

Würde sie jemand fragen, ob sie sterben wollte, würde sie ‹ja› sagen, dachte sie.

«Reiß dich zusammen!» befahl sie sich.

Sie war kein Mensch, der sich gehen ließ.

Ihre Eltern hatten sie Disziplin gelehrt.

Die Konzentration auf ihre Atmung würde helfen.

Sie sog die Luft tief ein und stieß sie in zwei Stößen wieder aus.

Nach wenigen Minuten bewusster Atmung schaffte sie es, ihre Gedanken zu sortieren.

Bilder und Fetzen von Erinnerungen kehrten zurück.

Sie war am frühen Nachmittag in ihr Büro im Keller gegangen.

Gleich nachdem Fernando das Hauswart-Ehepaar Ruckstuhl in die Ferien geschickt hatte:

«Ich werde eine Woche mit Rosalinde in die Ferien fahren. Sie werden hier nicht gebraucht.»

Fernando hatte sie nicht gefragt.

Mit Fernando in die Ferien zu fahren, war das Letzte, was sie wollte.

Sie würde sich von ihm trennen.

«Ich muss mein Manuskript fertigstellen, weil ich in einer Woche Abgabetermin habe», log sie ihn an und war hinunter in ihr Büro geflüchtet.

In dem riesigen Haus, alleine mit Fernando, fühlte sie sich schlecht.

Aus Furcht vor seinen cholerischen Ausbrüchen schob sie das unangenehme Gespräch vor sich her.

Stattdessen verschanzte sie sich in ihrem Büro im Keller.

Fernando war noch nie dort hinuntergekommen.

«Machen Sie schnellstmöglich Nägel mit Köpfen und leiten Sie die Scheidung ein», hatte ihr Anwalt geraten. Alle Details waren besprochen, die Papiere und Vollmachten unterzeichnet.

Dass sie sich scheiden lassen würde, hatte sie Fernando noch nicht eröffnet.

Wie ein eingesperrtes Tier war sie in ihrem Büro auf und ab gegangen, während sie gedanklich das Gespräch mit ihm vorbereitete.

Fernando vertrug weder Kritik noch ließ er zu, dass sie ihre eigenen Entscheidungen traf.

Sie hatte Angst, aber es musste sein.

Zumal sie sich mehr und mehr dabei ertappte, dass sie sich von seinem Verhalten anstecken ließ.

Seine Wut färbte ab.

Dabei war Wut eine Charaktereigenschaft, der sie nichts Positives abgewinnen konnte.

Wie konnte es sein, dass sie diesen rücksichtslosen und egoistischen Menschen geheiratet hatte?

War er früher anders gewesen oder hatte er sich wie ein Wolf, der Kreide gefressen hatte, verstellt?

Etwas Gutes hatte seine Wut.

Seitdem sie das Verhalten ihres Mannes nicht mehr traurig, sondern wütend machte, wuchsen ihre innere Kraft und Energie.

Sie würde sich nicht länger demütigen und zum Opfer degradieren lassen.

Das Lamm fletschte die Zähne.

Es würde auf den Wolf losgehen und zurückbeißen.

Die Vorstellung machte ihr Mut.

Entschlossen richtete sich Rosalinde in ihrem Stuhl auf und stieß sich fest mit den Händen von der Tischplatte ab, sodass der Stuhl auf seinen Metallrollen ein paar Zentimeter vom Tisch zurückwich.

Energisch zog sie die Schreibtischschublade heraus und fand auf Anhieb die Taschenlampe.

Sie erzeugte einen schmalen Lichtkegel.

Als das Licht über den Schreibtisch wanderte, fiel Rosalindes Blick auf ein leeres Champagnerglas, das am linken äußeren Rand der Tischplatte stand.

Der Anblick des Glases rief Erinnerungen zurück.

Sie hatte das nicht geträumt.

Nein, Fernando war zu ihr heruntergekommen, um mit ihr auf die Ferien anzustoßen.

«Gehst du wieder hinunter in deine Gruft?» So oder so ähnlich kommentierte er gewöhnlich, wenn sie zum Arbeiten hinunter in den Keller ging.

An diesem Nachmittag stand er überraschend mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern vor ihr.

Er hatte sein Glas bereits eingeschenkt und vermutlich einiges von dem Champagner getrunken.

Jedenfalls wirkte er alkoholisiert.

«Freust du dich auf deine Ferien Schneewittchen? Ich verrate dir nicht, wo es hingeht. Sei versichert, du warst noch nie dort!»

Er hatte Flasche und Gläser auf ihrem Schreibtisch abgestellt und ging um ihn herum.

Schockiert über sein unerwartetes Erscheinen, war sie stocksteif auf ihrem Stuhl sitzengeblieben.

Er stellte sich hinter sie und hatte seine Hände fest wie einen Schraubstock um ihren Hals gelegt.

Dann beugte er sich über sie, nahm ihre Haare zur Seite und begann, sie auf den Nacken zu küssen.

Er leckte mit der Zunge über ihr Ohrläppchen, während seine rechte Hand dabei war, den obersten Knopf ihrer weißen Leinenbluse zu öffnen.

Auf ihrem Stuhl, eingezwängt zwischen ihrem Schreibtisch und ihm, versuchte sie sich wegzudrehen.

Sein Körpergewicht lastete auf ihr, dass sie kaum atmen konnte.

Sein heißer Atem wanderte vom Nacken über ihren Hals. Er küsste sie auf den Mund.

Sie erstarrte.

Dass sie seinen Kuss nicht erwiderte, erregte ihn.

Seine Hand wanderte forschend über ihren Körper.

Er riss ihre Bluse auf, dass die Knöpfe abplatzten und klackernd auf dem Boden aufschlugen.

Ob er ahnte, dass Rosalinde von seinem Verhältnis mit seiner Assistentin wusste?

Felicitas war einfältig und vulgär.

Ihre beste Freundin hatte die beiden schamlos knutschend in einer Hotelbar beobachtet.

Fernando hatte sich durch das Verhältnis mit ihr selbst deklassiert.

Rosalinde dachte nicht im Traum daran, ihm noch gefügig zu sein, nachdem er mit dieser «Person» das Bett teilte. Sie hätte Fernando gerne die Wahrheit ins Gesicht geschleudert. Aber sie steckte in der Zwickmühle.

Niemand war da, um ihr zu helfen, wenn bei ihm die Sicherungen durchbrannten.

Fernando schien entschlossen, sein Verlangen zu befriedigen.

Seine feuchte Zunge leckte über ihren Nacken, ehe er plötzlich sein Bein über den Stuhl schwang.

Im nächsten Moment saß er rittlings auf ihr.

So eingezwängt konnte sie ihm nicht entkommen oder sich wehren, als er ihr die Bluse auszog und den Verschluss ihres Spitzen-BHs öffnete. Er presste seine feuchten Lippen auf ihre.

Schockstarr ließ sie es über sich ergehen.

Seine Hände kneteten grob ihre Brüste.

Dann fassten seine Finger ihre Brustwarzen.

Er quetschte sie so fest zwischen Daumen und Zeigefinger, dass es schmerzte.

Rosalinde konnte nicht schreien. Seine Zunge steckte tief in ihrem Mund.

Da stieß sie ihn mit aller Kraft von sich.

Unvermittelt ließ er von ihr ab.

Rosalinde lehnte sich erleichtert im Stuhl zurück.

Im nächsten Moment schnellte sein Kopf nach vorne und er biss sie wie eine angriffige Kobra in die Unterlippe.

Vor Schreck und Schmerz schrie sie laut auf.

Sie drehte das Gesicht zur Seite, um sich Raum zu verschaffen.

«Du tust mir weh!» schrie sie ihn an, fasste sich an die Lippe und realisierte, dass sie blutete.

Sie streckte ihm wütend den blutigen Finger entgegen und stieß ihn von sich.

Unverhofft erhob er sich und stieg von ihr herunter, indem er sein Bein wieder über den Stuhl zurückschwang. Er stand neben ihr und blickte ihr von oben ins Gesicht.

«Schade. Aber, wenn du nicht willst, dann lassen wir das.»

Fernando richtete sich auf: «Ich kann es kaum erwarten, endlich wegzufahren. Das wird phantastisch.»

Während er sprach, hatte er diesen ganz speziellen Ausdruck in seinem Gesicht, den Rosalinde nicht deuten konnte.

Seine Augenbrauen zogen leicht nach oben und seine Mundwinkel verzogen sich zu einer Grimasse.

Dabei fuhr er sich mit gespreiztem Daumen und Zeigefinder der rechten Hand über den Mund, so als ob er seine Mundwinkel geraderichten wollte.

Diese Geste vollführte er häufig, wenn seine Gedanken ausschweiften und er etwas im Schilde führte.

Er ging um den Schreibtisch herum, schenkte ihr das Champagnerglas voll und drückte es ihr in die Hand.

Dann nahm er sein eigenes und prostete ihr zu.

«Auf die Zukunft, Schneewittchen!»

Rosalinde nippte und wollte ihr Glas wegstellen, um sich ihrer Arbeit zu widmen.

«Halt, du musst austrinken. Sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung.»

Er lächelte sie geheimnisvoll an.

Rosalinde lächelte steif zurück.

«Wie du meinst. An mir soll es nicht liegen.»

Sie leerte das Glas in einem Zug und stellte es an den linken Rand des Tischs.

Von da an fehlte ihr jegliche Erinnerung.

Hatte sie weitergearbeitet?

Die kleinen Männer in Rosalindes Kopf fuhren fort, wie wild zu hämmern.

Fest entschlossen, dem Verlies zu entfliehen, stemmte sie sich auf.

Bis zur Türe waren es nur wenige Schritte.

Würden ihre Beine sie tragen?

«Reiß dich zusammen!» befahl sie sich.

Die Männer in ihrem Kopf hämmerten ekstatisch; alles drehte sich.

Irgendwie schaffte sie es, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis sie an der Türe angekommen war.

Sie richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Boden.

Da lag eine welke rote Rose. Woher kam sie?

Ihr Zeigefinger war blutig und schmerzte.

Auf wackeligen Beinen Halt suchend, streckte sie die Hand nach dem Türgriff aus.

Sie griff ins Nichts.

Irritiert tastete sie die Wand nach dem Lichtschalter ab. Erfolglos.

Ihre Erinnerung musste ihr einen Streich spielen.

Rosalinde richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Türe.

Sowohl der Türbeschlag als auch der Lichtschalter waren verschwunden.

Das aus der Wand heraushängende, abgeschnittene Elektrokabel zeugte von Sabotage.

Sie versuchte, die Türe aufzudrücken.

Das konnte nicht funktionieren, die Türe öffnete in den Raum hinein.

Rosalinde ahnte das Schlimmste.

«Fernando! Mach sofort auf!»

Sie rief, so laut sie konnte, und bearbeitete die Türe mit der Faust.

Nachdem sie sich fast die Seele aus dem Leib geschrien hatte, hielt sie erschöpft inne und lauschte.

Es herrschte Totenstille.

Ihr Puls raste und das Herz schlug ihr bis in den Hals, als sie begriff, in welch hoffnungsloser Situation sie sich befand. In wütender Verzweiflung holte sie mit dem Fuß aus.

Sie trat, so fest, wie sie konnte, gegen die Türe aus massivem Eichenholz.

«Du verdammter Teufel. Du sollst in der Hölle schmoren! Ich hasse dich so sehr!»

Im nächsten Augenblick spürte sie ihre Beine nicht mehr.

Ihr Oberkörper kippte vornüber und sie sank der Türe entlang zu Boden.

Das Karussell in ihrem Kopf drehte schneller und schneller.

Sie merkte, wie sie wegtauchte.

Aus dem Boden stieg dichter, nassgrauer Nebel.

Er war überall.

Der gefühllose Atem dieses unsäglich tauben Nebels umhüllte sie und nahm sie mit hinab in sein kaltes Reich.

Die kühle Einsamkeit der Aue

«Verdammt. Ich muss total verrückt gewesen sein.

Was mache ich bloß hier draußen in dieser Einöde?»

Julia saß an ihrem Schreibtisch und blickte erschrocken zum Fenster hinaus.

Draußen versank die Welt im Grau.

Dichte Nebelschwaden hatten die Zufahrtsstraße, den Wald und den Teich verschluckt.

Damit nicht genug, stiegen immer neue Nebel aus dem feuchten Auenboden.

Bald würden die Zweige der Büsche und Bäume ganz nahe beim Haus unter ihren Schwaden verschwinden.

So, als wollte die Aue wie ein schwarzes Loch das ganze Anwesen in ihren dunklen Schlund hinunterziehen.

Julia sah auf die Uhr.

Es war fünf Uhr nachmittags. Ein nebliger Tag im Oktober.

Sie fröstelte und fühlte sich unwohl.

Julia hatte seit Mittag an ihrem neuen Bauprojekt gearbeitet, das sie zusammen mit ihrem Onkel Klaus, der im Hauptberuf Anwalt war, vor einiger Zeit in Angriff genommen hatte.

Julia war stolz, weil Klaus ihr die alleinige Verantwortung für große Teile des neuen Projekts anvertraut hatte.

Es war bereits das dritte Projekt, das sie zusammen durchführten.

Ihre Projekte waren von Mal zu Mal ambitionierter geworden.

Klaus hatte Julia gegenüber angedeutet, dass er sich in wenigen Jahren zur Ruhe setzen und die Geschäftsführung auf sie übertragen wollte.

Zuweilen stellte er Julia seinen Geschäftspartnern als seine «Adoptiv-Tochter» vor.

Julias leiblicher Vater wäre damit gar nicht einverstanden gewesen.

Hans Villiger, Julias Vater, lebte wenige Kilometer östlich von Baden.

Er hatte Julia kurz zuvor einen großzügigen Erbvorbezug in Form von Baugrundstücken gewährt.

Klaus besaß ein großes, schönes Haus auf der Allmend.

Ohne diese Immobilien als Sicherheit wären die Banken nicht mit dem für ihr neues Projekt benötigten Kapital in Vorleistung gegangen.

Julia wusste, ihr Vater hatte ihr quasi das Familienerbe anvertraut.

Nur so war es Klaus und ihr möglich gewesen, ein Projekt in dieser Größenordnung aufzugleisen.

Eine enorme Verantwortung lastete auf ihren Schultern.

Die Ellbogen auf dem Schreibtisch aufgestützt, ruhte ihr Kopf zwischen ihren Händen.

Während sie angestrengt über ihren Vater nachdachte, blies sie sich eine Strähne ihrer langen dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht.

Was war ihr Vater für ein Mensch?

Sie kannte niemanden so lange wie ihn.

Und dennoch war er ihr zeitlebens irgendwie fremd und unnahbar geblieben.

Würde sie jemand danach fragen, hätte sie nicht einmal sagen können, ob sie ihn liebte.

Julia hegte zärtliche Erinnerungen an ihre Mutter.

Die war früh gestorben. Ob ihre Mutter, Eva, sie als Kind wirklich so innig geherzt und in den Arm genommen hatte, wie es Julia die Erinnerung glauben machte?

Sie träumte oft von ihr, aber das war so lange her, sie konnte sich kaum mehr an sie erinnern.

Als ihre Mutter starb, war sie acht und ihr Bruder Leonhard sechs Jahre alt gewesen.

Statt den Halbwaisen nach dem Verlust der Mutter Milde angedeihen zu lassen, war ihr Vater stets gerecht, aber konsequent streng mit ihnen umgegangen.

Sie hatte es sich als Kind so sehr gewünscht, aber nie hatte ihr Vater sie oder den Bruder in den Arm genommen.

Der größte Liebesbeweis, zu dem er sich jemals hatte hinreißen lassen, war, dass er ihr oder Leonhard gelegentlich mit der flachen Hand wie beiläufig über den Kopf strich.

So als würde er seinen Hund tätscheln, der ihm gerade brav einen Stock apportiert hatte.

Julia verharrte in Tagträumen, während sie aus dem Fenster starrte.

Ihre Schwiegermutter, Edith, kam ihr in den Sinn.

Auch Edith pflegte keine besonders innige oder fürsorgliche Beziehung zu ihrem Sohn.

Aber anders als ihr Vater forderte Edith ständig Dank und Unterstützung von Erik.

Julia war froh, dass ihr Vater im Gegensatz zu Edith eigenverantwortlich, pragmatisch und bodenständig war.

Edith dagegen kreiste ständig um sich selbst, hatte Allüren wie eine Diva und baute Luftschlösser.

«Ich hatte immer großes Talent zum Aquarell-Malen. Hätte ich mehr Zeit, könnte ich mein Hobby zum Beruf machen. Gemälde erzielen heutzutage bei Auktionen horrende Preise. Aber damit ich Kurse besuchen und mir professionelles Material kaufen kann, müsstet ihr mich unterstützen», das war nur eine von ihren dauernd wechselnden Ideen.

In Julias Augen bestand Ediths größtes Talent darin, ihr Umfeld für ihre eigenen Interessen einzuspannen.

Allein ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie dieses viel zu große und einsame Haus in der Aue gekauft hatte und mit Erik dort eingezogen war.

Nur weil Edith es schick fand, bei ihren Stadt-Züricher-Freundinnen mit dem großen Landhaus angeben zu können.

Aber Julia war selbst schuld.

Niemand sonst nahm Ediths Einfälle ernst.

Diesen alten maroden Kasten zu kaufen und in die Aue zu ziehen, das war eine Schnapsidee.

Julia wohnte mit ihrem Mann, Erik, seit gut einem halben Jahr in dem Haus.

Sie liebte die Ruhe, die ihr die isolierte Lage des Anwesens bot.

Aber Edith zitierte Erik laufend zu sich.

Er verbrachte viele Abende bei ihr in Zürich und kam erst gegen Mitternacht zurück.

Wenn Julia dann ganz alleine in dem großen Haus war, fühlte sie sich unwohl.

Die Stille wirkte wie ein Lautsprecher.

Das Knacken eines Balkens oder das Ächzen eines vom Wind malträtierten Astes, das sind Geräusche, die man in einer dichtbesiedelten Stadt nicht wahrnimmt.

Wenn dieselben Geräusche plötzlich hier draußen die Stille durchschnitten, gingen sie durch Mark und Bein.

Sie hörten sich ohrenbetäubend laut und furchterregend an.

Nachdem sie noch lange weitergearbeitet hatte, stand Julia auf.

Sie schloss ihre Unterlagen gewissenhaft in den Tresor ein.

Draußen war es finster.

Julia horchte wieder in die Stille.

Sie blickte auf ihre Apple Watch.

«Was? Schon so spät?» dachte sie.

Sie war so vertieft in ihre Arbeit gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie schnell die Zeit vergangen war.

Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr.

Julia erschrak gewaltig, als im Esszimmer Ediths Hochzeitsgeschenk lospolterte und mit blechernen Schlägen die Stunden in die Nacht hinaushämmerte.

Erik würde frühestens um Mitternacht zurücksein. Er war mit seiner Mutter zu einem Konzert in die Tonhalle gegangen. Danach wollten sie noch irgendwo eine Kleinigkeit essen.

Julia ging zum Fenster.

Sie hatte bei Einbruch der Dunkelheit die Jalousien fast ganz heruntergelassen, aber durch einen schmalen Spalt konnte sie noch nach draußen sehen.

Sie kniff die Augen zusammen, die gerade noch auf den hellen Computerbildschirm fokussiert gewesen waren und sich nur langsam umstellen konnten.

Sie meinte, draußen sehr deutlich und sehr nahe beim Haus das Knirschen von Kies gehört zu haben.

Vielleicht ein Tier?

Nein. So knirschte Kiesbelag nur unter schwerem Gewicht wie einem erwachsenen Menschen.

Julia hielt inne und überlegte, was das sein konnte.

Plötzlich erschrak sie.

Wenn sie durch die Spalte in den Jalousien hinausspähen konnte, dann konnte, wer immer da draußen im Dunkeln womöglich herumschlich, auch zu ihr hineinspähen.

Ehe sie zum Lichtschalter hechtete und ihn ausknipste, ergriff sie ihr Smartphone und steckte es in die Tasche ihrer Strickjacke.

Im Dunkeln trat sie ans Fenster und spähte durch die Ritzen der Jalousie in die Nacht.

Der Nebel draußen hatte sich wieder verzogen.

Aber weil Neumond war und der Himmel voller Wolken, konnte sie nicht einmal die Bäume im Garten erkennen.

Draußen war es einfach nur stockdunkel.

Sie horchte angestrengt. Nichts.

Nur das blecherne Ticken der Uhr im Wohnzimmer.

Ediths Hochzeitsgeschenk sollte sie durch den permanenten Lärm, den die Uhr machte, an sie erinnern.

Das laute Ticken der Uhr übertönte sogar Julias Herz, das ihr jetzt vor Angst bis zum Hals hochschlug.

Wieder war das Knirschen von Kies, und diesmal direkt vor dem Fenster, zu hören.

Julia huschte in der Dunkelheit zum anderen Fenster in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Die Wolken waren aufgebrochen und schemenhaft waren die Umrisse einzelner Bäume zu erkennen.

Sie lugte durch den Spalt der Jalousie in die Dunkelheit hinaus.

«Oh, mein Gott!»

Julia presste sich die Hand auf den Mund, um vor Entsetzen nicht laut zu schreien.

Durch die Ritze der Jalousie hatte sie ein Augenpaar angestarrt.

Julia sprang zur Seite, streckte die Hand aus und riss am Gurt, der die Jalousie mit einem lauten Knall komplett nach unten sausen ließ, sodass die Augen sie nicht mehr anstarren konnten.

Starr vor Panik verharrte sie einige Sekunden mit dem Rücken zur Wand.

Sie musste sich zusammenreißen.

Als sie sich einen Moment später wieder im Griff hatte, eilte sie zum anderen Fenster, um auch hier den Rollladen ganz zu schließen. Sie kauerte sich auf den Boden und tippte die Notfallnummer der Polizei in ihr Smartphone.

Flüsternd erzählte sie der Stimme am anderen Ende der Leitung, was geschehen war.

Julia flehte darum, schnellstmöglich einen Streifenwagen zu ihr zu schicken.

Nachdem sie aufgelegt hatte, fühlte sie sich schutzlos ausgeliefert und allein.

Sie traute sich kaum zu atmen.

Julia verharrte zusammengekauert in der Dunkelheit auf dem Boden, während sie auf die Ankunft der Polizei wartete.

Nach Minuten voller Angst hörte sie ein Motorgeräusch. Es kam ihr bekannt vor.

Das Auto hielt neben dem Haus, eine Autotür wurde zugeschlagen, dann hörte sie wieder das Geräusch von Schritten im Kies.

Kurz darauf schlug die schwere hölzerne Haustüre ins Schloss.

Julia horchte angestrengt in die Nacht.

Das Licht im Flur wurde angemacht. Ein heller Streifen leuchtete aus dem Hausgang unter der Türe hindurch.

Die Anspannung in Julias Kopf wich zurück und machte der Hoffnung Platz.

War Erik früher zurückgekommen?

«Julia, bist du da?» hörte sie Erik rufen.

Sie war unendlich froh, seine Stimme zu hören.

Julia sprang auf und öffnete die Türe.

«Ich bin hier», antwortete sie und trat aus dem dunklen Zimmer auf den Flur.

«Wieso hast du das Licht ausgemacht und versteckst dich im Dunkeln?»

«Da war eine Person draußen direkt vor dem Fenster.»

Julia suchte Augenkontakt mit Erik und zeigte auf das rechte Fenster.

«Er hat mich durch einen Spalt in der Jalousie angestarrt. Kannst du dir vorstellen, wie sehr er mich erschreckt hat und wie ich mich vor ihm gefürchtet habe?»

Erik wendete den Blick von Julia ab und fingerte sein Smartphone aus der Brusttasche seines Hemdes.

«Ich rufe Fernando an. Du musst das mit ihm besprechen. Er sagte, er ist immer für uns da, und er wird dir noch diese Woche einen Termin geben.»

«Was könnte Fernando mir hierbei helfen? Ich habe schon bei der Polizei angerufen.

Es wird in Kürze ein Streifenwagen kommen. Ich hoffe, dass sie den Stalker vielleicht sogar gesehen haben und dass sie mir mehr glauben als mein eigener Mann.»

Wieder hörte Julia ein Motorengeräusch.

Das musste die Polizei sein. Sie ließ Erik stehen und eilte nach draußen, um den Polizisten die Türe aufzumachen und sie einzulassen.

Sie war gerade dabei, den beiden uniformierten Polizisten in ihrem Flur zu erklären, was vorgefallen war, als Erik hinzutrat.

«Sie müssen wissen, meine Frau hat Angstzustände und sie ist deswegen bereits in Behandlung bei einem Psychologen. Ich habe ihn gerade angerufen und für morgen Nachmittag einen neuen Termin bei ihm arrangiert.»

«Aha, verstehe. Wenn das so ist», der ältere der beiden Polizisten setzte einen mitleidigen Blick auf und wandte sich zum Gehen.

Der jüngere zögerte.

Er war stehengeblieben und blickte Julia unschlüssig an.

«Halt, warten Sie bitte», bat sie.

Julia konnte es nicht glauben, dass ihr Mann sie wie ein Kind behandelte und die Polizisten sie wie eine arme Irre nicht ernst nahmen.

Der jüngere Polizist hielt weiter Blickkontakt zu Julia. Er rang mit sich. Das konnte sie deutlich spüren.

In diesem Augenblick trat Erik hinzu.

Groß, breitbeinig und muskulös stellte er sich neben Julia und legte demonstrativ seinen Arm um sie:

«Sie können beruhigt gehen. Ich bin da und werde gut auf meine Frau aufpassen», sagte er, während er den jungen Polizisten mit den Augen taxierte und ihm signalisierte, dass er das Haus verlassen solle.

Wie ein Pinguin verlagerte der junge Polizist sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und wieder zurück.

Er war nicht ganz überzeugt und unschlüssig, was er tun sollte.

Aber es gab für ihn keinen Grund, länger zu bleiben.

So sagte er schließlich nach kurzem Überlegen zu Julia:

«Bitte rufen Sie uns jederzeit wieder an, wenn Sie das Gefühl haben, dass jemand um Ihr Haus schleicht. Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend und lassen Sie jetzt alleine.»

Dann wandte er sich zum Gehen, drehte sich aber nochmals um, als er zur Türe hinaus war.

«Ich sehe mich sicherheitshalber kurz draußen um. Ist das für Sie in Ordnung?»

Julia nickte stumm.

Erik hatte noch immer seinen Arm um Julia gelegt, während beide Polizisten bereits draußen in der Dunkelheit verschwunden waren.

Seine Finger gruben sich in Julias Schulter, sodass es ihr weh tat.

Sie versuchte sich aus seinem Klammergriff zu lösen und seinen Arm abzustreifen.

Er hielt sie fest an sich gepresst, bis die Polizisten in ihr Auto eingestiegen waren und sie durch die offene Haustüre nur noch die Rücklichter sahen.

Sie blieb wie ein gescholtenes Kind an der Haustüre stehen und blickte dem Auto nach.

Erst als die Scheinwerfer des Autos im Wald verschwunden waren, schloss Erik die Türe und drehte den Schlüssel um.

«Komm jetzt, Liebste. Alles ist gut. Wir wollen schlafengehen.»

«Wie kommst du dazu, mich vor diesen beiden Polizisten als hysterische Psychopathin hinzustellen?»

Julia stampfte mit dem Fuß auf den Boden.

«Nichts ist gut. Ich weiß genau, was ich gehört und gesehen habe.»

Sie schaute ihm ins Gesicht, um seine Reaktion zu verfolgen.

Er war dabei, sein Sakko auszuziehen.

Anstatt es anschließend auf einen Bügel zu hängen, warf er es achtlos auf den Stuhl in der Garderobe und schleuderte im nächsten Moment seine Halbschuhe unter denselben Stuhl.

Er musste wissen, dass sich Julia darüber ärgern würde und sie reagierte prompt auf seine Provokation.

«Du warst nicht da. Wie kannst du behaupten, dass ich mir das alles nur einbilde? Jemand stand draußen vor dem Fenster und hat mich durch einen Spalt in der Jalousie angestarrt!»

«Themawechsel. Möchtest du wissen, wie das Konzert war? Wir trinken ein Glas Wein zusammen und dann erzähle ich es dir», wollte er die Situation beschwichtigen.

«Keine Lust!»

Erik hatte inzwischen seine Hausschuhe angezogen.

«Komm Liebes, wir gehen ins Bett. Ich sage dir, da draußen ist niemand.»

Julia drehte sich wortlos um und ging in ihr Büro.

Sie schlug wütend die Türe hinter sich zu.

Wieder alleine, ließ sie sich auf ihren Bürostuhl plumpsen und weinte sich ihre Frustration und die ausgestandene Angst von der Seele.

Verhasster Termin

Am Montagmorgen lag Julia auf diesem abgewetzten und zu allem Überfluss auch noch muffig riechenden Ledersofa. Sie hatte bewusst ihre älteste Jeans und ein einfaches langärmeliges Kapuzenshirt angezogen.

So sehr ekelte sie sich vor dem schmuddeligen Sofa.

Gleich nach dem Termin würde sie nach Hause fahren und ihre Kleider in die Waschmaschine stecken. Während sie in Fernando Eggers dämliches Pferdegesicht blickte, hasste sie sich dafür, dass sie es wieder einmal nicht geschafft hatte, sich durchzusetzen und den von Erik kurzfristig arrangierten Termin abzusagen.

Egger war vermutlich der schlechteste Psychologe und gleichzeitig der arroganteste Mensch, den diese Welt je gesehen hatte.

Aber gleichzeitig war Egger der beste Freund von Edith und für ihren Mann, Erik, nicht nur ein Golf-Kollege, sondern auch so etwas wie ein väterlicher Freund.

«Na, Julia, wie fühlst du dich heute?»

Sie fühlte sich extrem unwohl.

Aber Julia hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als diesem unsympathischen Menschen ihre Befindlichkeit kundzutun.

Dass sie sich schlecht fühlte, lag vor allem daran, dass sie Egger nicht leiden konnte und dass sie am liebsten aufgesprungen und davongelaufen wäre.

Noch vor drei Jahren wäre Julia niemals auf die Idee gekommen, einen Psychologen aufzusuchen.

Sie war jung und fühlte sich stark genug, mit jeder Situation im Leben zurechtzukommen.

Ihre Einstellung änderte sich schlagartig an diesem unsäglichen März-Tag vor gut zweieinhalb Jahren, als erst ihr Bruder Leonhard und zwei Wochen später ihre Tante Anna ums Leben kamen.

Julia hätte ihrem Vater, den der Verlust noch schwerer getroffen hatte als sie selbst, beistehen sollen.

Aber sie konnte es nicht.

Sie machte einerseits sich selbst, aber auch ihm, Vorwürfe.

Julia wusste, dass das falsch war, und litt sehr darunter.

Erik bemühte sich, so gut er konnte, ihr beizustehen, aber ihn überforderte die Situation zunehmend.

«Du solltest dir professionelle Hilfe holen», schlug er vor.

Auch ihre beste Freundin, Theresa, hatte ihr dazu geraten. So willigte sie schließlich ein.

Heute wusste Julia, dass es ein Fehler gewesen war, sich ihren Psychologen nicht selbst und sehr sorgfältig auszuwählen.

Eine Grundbedingung wäre sicherlich gegenseitige Sympathie gewesen.

Daneben würde sie erwarten, dass sich ein Psychologe in die Gefühlswelt seiner Patienten hineinversetzen könnte und hundertprozentig vertrauenswürdig wäre.

Bei Egger traf keine einzige dieser drei grundlegenden Eigenschaften zu.

Sympathie? Absolute Fehlanzeige.

Der Mann war so rau und unempathisch wie das Leder seiner spröden alten Couch, auf der sie gerade lag.

«Danke, es geht mir bestens. Deshalb habe ich mir gedacht, dass wir die Therapie nach dem heutigen Termin abbrechen sollten. Ich brauche deine Hilfe nicht mehr», informierte ihn Julia.

Egger machte ein sehr ernstes Gesicht und fuhr sich mit der flachen Hand über seinen kahlen Schädel.

Er erhob sich nachdenklich von seinem Ledersessel, trat ans Fenster und warf einen kurzen Blick hinaus.

Es war klar, dass er sich eine Argumentation zurechtlegte.

Als er gedanklich bereit war, wandte er sich wieder Julia zu.

«Das gravierende an einer Angststörung, so wie sie sich bei dir manifestiert, meine Liebe, ist, dass Laien sie komplett unterschätzen.

Als Psychologe weiß ich, dass wir unsere Therapie mindestens noch ein weiteres Jahr fortsetzen müssen, ehe wir in deinem Fall wenigstens ansatzweise Fortschritte erzielen.»

Julia fühlte sich, als hätte er ihr gerade mit voller Wucht seine Faust ins Gesicht geschlagen.

Sie überlegte krampfhaft, wie sie unbeschadet aus diesem Dilemma herauskommen konnte.

«Ich bin da anderer Meinung. Es geht mir blendend. Ich danke dir für deine Hilfe, aber ab jetzt komme ich alleine klar.»

Sie stützte sich mit dem Ellenbogen ab, um sich von der Couch zu erheben.

Flink trat Egger einen Schritt nach vorne und beugte sich sehr tief zu ihr herunter. Sie musste von ihrem Vorhaben ablassen, wenn sie nicht mit ihm zusammenstoßen wollte.

Von oben blickte er streng auf sie herab.

Sie konnte sein viel zu moschushaltiges Aftershave riechen und bemühte sich, die Luft anzuhalten.

Seine Augenbrauen zogen hoch, seine Brille rutschte nach unten, sodass sie die vielen geplatzten Äderchen und einen leichten Gelbstich in seinen wasserblauen Augen sehen konnte.

Seine Mundwinkel zuckten nervös.

Stumm starrte er sie einen Moment an.

Dann fuhr er sich mehrmals hintereinander mit gespreiztem Daumen und Zeigefinder der rechten Hand über den Mund, so als ob er seine Mundwinkel geraderichten wollte.

«Und was ist gestern wieder passiert?»

Egger blickte sie herablassend an.

«Du hast die Polizei gerufen, weil du dir eingebildet hast, jemand würde um dein Haus herumschleichen und dich von draußen beobachten.

Die Jalousien beider Fenster in deinem Büro waren komplett geschlossen.

Dennoch warst du überzeugt, dass dich jemand durch sie hindurch beobachten würde.»

Egger gestikulierte mit den Händen, um seiner Rede noch mehr Ausdruck zu verleihen.

Erik hatte Fernando über den Vorfall informiert.

Julia wusste, dass sie verloren hatte und diese Runde an Egger ging.

Sie fühlte sich von Erik hintergangen, insbesondere weil er die Fakten falsch dargestellt hatte.

Die Jalousien waren nicht geschlossen gewesen, als Julia den Mann vor dem Fenster sah.

Zu gerne hätte sie ihm die Leviten gelesen.

Erik insistierte förmlich, dass sie regelmäßig bei Egger Termine buchte und diese einhielt.

Bei dem schlechten Ruf, den Egger hatte, war sie womöglich seine einzige Klientin.

Kein Wunder also, dass er so vehement auf eine Fortsetzung seiner Behandlung insistierte.

Julia hasste die Vorstellung, dass Erik hinter ihrem Rücken mit Egger über sie sprach.

Diese so genannte «Therapie» war im Grunde eine Farce.

Die enge Verbindung zwischen ihrem Mann und Egger stellte einen Vertrauensbruch zwischen ihm als Therapeut und ihr als Klientin dar und untergrub ihr Verhältnis zu Erik.

Julia überlegte fieberhaft, was sie Egger antworten sollte.

Sie entschied, dass es sinnlos wäre, mit ihm zu diskutieren.

Er verdrehte wieder einmal die Fakten, und wenn sie nicht aufpasste, würde er seine Diagnose und die voraussichtliche Behandlungsdauer weiter in die Höhe schrauben.

In Gedanken sehnte sie den Tag herbei, bis sie dieses Theater – mehr war es nicht – ohne Eklat beenden konnte.

Bis es soweit war, würde sie mitspielen.

Wie bei früheren Sitzungen, hatte sie sich ein Thema zurechtgelegt, das banal und unverfänglich war.

Als sie noch ein Kind war, erzählte ihm Julia, war eine pechschwarze Katze im Keller ihres Hauses eingesperrt.

Sie hörte seltsame Geräusche, und als sie nachsehen ging, sprang die Katze sie urplötzlich aus dem Dunkeln an und verletzte sie schwer an der Hand.

Julia streckte Egger die rechte Hand hin. Zum Glück schaute der nicht genauer hin, sonst hätte er gesehen, dass sie keinerlei Narben hatte.

«Seit diesem Tag habe ich fürchterliche Angst vor Katzen, insbesondere vor schwarzen», log Julia.

Die Geschichte hatte sich Julia auf dem Hinweg zu Egger ausgedacht.

Julia liebte Katzen, und schwarze ganz besonders, und sie hatte weder Angst noch Berührungsängste gegenüber diesen edlen Tieren.

Aber Egger hatte den Köder geschluckt.

Er machte ein bedeutsames Gesicht und wurde nervös.

Ohne den Betrug zu ahnen, fiel er auf ihr Ablenkungsmanöver herein.

Vor lauter Aufregung fuhr er sich dreimal hintereinander mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel, um sie geradezurichten.

So bedeutsam kam ihm das Gesagte vor.

«Wie ich mir gedacht habe, Julia. Das passt genau in das Schema. Wir kommen dem Problem jetzt näher!»

Es folgte ein zehn Minuten langer Monolog.

Julia war froh, ihre Ruhe zu haben, und ließ ihn palavern.

Solche Momente zählten zu den wenigen Highlights, die die Termine bei Egger boten.

Gut gelaunt sprang Julia schließlich fünfzehn Minuten später von der Couch.

«Ist deine Sprechstundenhilfe heute nicht da?» fragte Julia gespielt belanglos.

«Sie hat geheiratet und ist umgezogen. Ich bin auf der Suche nach einer neuen Kraft, aber es ist momentan schwierig, eine gute Assistentin zu finden. Ich lasse mir lieber Zeit damit.

Obwohl ich manchmal kaum weiß, wo mir der Kopf steht.»

Julia kommentierte das Gesagte nicht weiter.

Egger hatte seit zwei Jahren keine Assistentin mehr und seine ehemalige Assistentin war nur ein paar Straßen weiter in eine andere Wohnung gezogen.

Julia hatte die junge Frau namens «Chantal» zufällig beim Einkaufen getroffen.

«Der alte Lüstling wollte mir immer an die Wäsche, und der Lohn kam auch nie pünktlich», hatte Chantal ihr damals freimütig anvertraut.

«Das machst du richtig. Besser, du lässt dir mehr Zeit und suchst nach einer Assistentin, die optimal zu dir passt.»

Julia lächelte Egger treuherzig an.

«Wegen eines neuen Termins melde ich mich wieder bei dir.»

Sie wartete seine Antwort nicht ab, schnappte sich ihre Tasche, streckte ihm die Hand entgegen und beeilte sich zu gehen.

Egger ergriff seinen Teminkalender und einen Stift und schickte sich an, ihr zu folgen.

«Bemühe dich nicht. Ich finde selbst hinaus. Du hast bestimmt gleich den nächsten Klienten.»

Schon war sie an der Türe, winkte kurz und schlug sie hinter sich zu.

Egger hatte seine Praxis im Seefeld in Zürich. Gutgelaunt, dass sie den Termin bei ihm einigermaßen glimpflich hinter sich gebracht hatte, stieg Julia in ihr Auto.

Sie sah kurz auf die Uhr und überlegte, ob sie nicht noch ein oder zwei Stunden in Zürich bleiben könnte?

Bevor sie das große, alte Haus in der Aue gekauft hatte, hatte Julia einige Jahre in Zürich gewohnt.