Zwei Frauen in Dublin - Emilie Pine - E-Book

Zwei Frauen in Dublin E-Book

Emilie Pine

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Beschreibung

Der Debütroman der internationalen Bestsellerautorin von »Botschaften an mich selbst«

Dublin, der 7. Oktober 2019: Ein Tag, eine Stadt, zwei Frauen. Sie kennen sich nicht, aber beide sind mit denselben Fragen konfrontiert: Wo ist mein Platz in der Welt, und was tue ich, wenn meine Wünsche nicht in Erfüllung gehen? Ein tief berührender und strahlend intelligenter Roman über die Grenzen von Trauer und Liebe und über den zarten Mut, den wir im Alltag brauchen.

Ruth arbeitet als Therapeutin und steckt in einer Ehekrise. Ihr Mann Aidan ist auf einer Konferenz in London, und sie ist nicht sicher, ob er zurück nach Hause kommen wird. Die beiden sind ungewollt kinderlos und haben schon mehrere künstliche Befruchtungen hinter sich, doch Ruth weiß an diesem Morgen: Sie will nicht weitermachen. Gleichzeitig wappnet sich die sechzehnjährige Pen für diesen Tag. Heute wird sie nicht in die Schule gehen, sondern zur Klima-Demo; gemeinsam mit ihrer besten Freundin Alice, in die sie heimlich verknallt ist. Pen hat sich fest vorgenommen, es ihr heute zu sagen, inmitten der beängstigenden Menschenmenge.

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Seitenzahl: 336

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Zum Buch

Dublin, am 7. Oktober 2019

Ruth arbeitet als Therapeutin und steckt in einer Ehekrise. Ihr Mann Aidan ist auf einer Konferenz in London, und sie ist nicht sicher, ob er zurück nach Hause kommen wird. Die beiden sind ungewollt kinderlos und haben schon mehrere künstliche Befruchtungen hinter sich, doch Ruth weiß an diesem Morgen: Sie will nicht weitermachen. Gleichzeitig wappnet sich die sechzehnjährige Pen für diesen Tag. Heute wird sie nicht in die Schule gehen, sondern zur Klima-Demo; gemeinsam mit ihrer besten Freundin Alice, in die sie heimlich verknallt ist. Pen hat sich fest vorgenommen, es ihr inmitten der beängstigenden Menschenmenge zu sagen.

Ruth und Pen, zwei Frauen in Dublin, sind an diesem Tag mit denselben Fragen konfrontiert: Wo ist mein Platz in der Welt, und was tue ich, wenn meine Wünsche nicht in Erfüllung gehen?

Zur Autorin

EMILIEPINE ist Associated Professor für Modernes Drama an der School of English, Drama and Film am University College Dublin. Ihre Sammlung persönlicher Essays, »Botschaften an mich selbst«, wurde international euphorisch gefeiert und unter anderem mit dem »Newcomer of the Year«-Award und dem »Irish Book of the Year«-Award ausgezeichnet. »Zwei Frauen in Dublin« ist ihr lang ersehnter Debütroman.

EMILIE PINE

ZWEI FRAUEN IN DUBLIN

Roman

Aus dem Englischen von Cornelia Röser

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Ruth & Pen« bei Hamish Hamilton, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Der Verlag dankt Literature Ireland für die Förderung der Übersetzung.

Deutsche Erstausgabe Juni 2024

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2022 Emilie Pine

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: Semper Smile nach einem Entwurf von Penguin Random House UK unter Verwendung eines Motivs von © Trunk Archive/Takuya Uchiyama

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MSP · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-29574-5V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Ronan

6:19 Uhr Sie ist hier.

Mit voller Blase erwacht Ruth aus einem Traum, in dem sie irgendwo anders war. Wo war das gewesen? Nein, sie muss herausfinden, wo das Jetzt ist. Montagmorgen. Zu Hause. Neben einer leeren Betthälfte.

Im Bad knipst sie das Licht an, setzt sich hin, um zu pinkeln, und überprüft automatisch ihre Unterwäsche. Kein Blut. Ein stummer Dank. Das wird sie später im Krankenhaus angeben. Alles ist gut. Nur eine Nachkontrolle. Doch die Angst lässt sich nicht so leicht abschütteln. Vielleicht noch mal hinlegen, nur ein paar Augenblicke, früh genug ist es noch. Aber sie fühlt sich klebrig, wie nach einer durchfieberten Nacht. Warum nicht gleich duschen.

Als sie sich nach dem Stöpsel bückt, wird ihr plötzlich schwindelig, ihr Sichtfeld trübt sich.

»Ist es das, was du willst?«, hatte er gestern Abend kurz vor dem Auflegen gefragt. Und Ruth hatte gedacht: Was wäre, wenn ich die Wahrheit sage? Aber vielleicht war es eigentlich gar keine Frage gewesen. Vielleicht wollte er die Antwort überhaupt nicht wissen. Jetzt kann sie sich nicht einmal mehr an seinen Tonfall erinnern. »Ist es das, was du willst?« War es eine Frage oder ein Vorwurf?

Bevor das Wasser kommt, ist ein leises Ächzen aus den Rohren zu hören, ein anklagendes Zögern: Sie hätte sich um die Wartung der Therme kümmern sollen. Lieber Gott, lass sie nicht kaputtgehen. Ruth stellt sich unter den Strahl, das heiße Wasser trifft auf ihre Haut. Doch die Frage lässt sie nicht los. Vielleicht sollte sie das Wasser abstellen, aus der Dusche steigen, Aidan zurückrufen und alles ungeschehen machen. Sie stellt sich vor, wie sie ihn fragt: »Was hast du damit gemeint, mit diesem ob ich daswill?« Aber wahrscheinlich schläft er noch, er kann immer schlafen. Egal, ob Lärm, emotionaler Aufruhr oder was auch immer, Aidan verschläft es. Ein weiteres Argument, das sie gegen ihn vorbringen kann: dass er gut schläft.

Zweimal Shampoo, so macht sie das jetzt, einmal das billige, einmal das mit Zitronengrasduft. Manchmal braust sie sich zum Schluss noch kräftig kalt ab. Doch an diesem Morgen dreht sie das Wasser auf heiß, weil sie hofft, damit die aufgestaute Angst und Nervosität in ihrer Brust zum Schmelzen zu bringen.

Wasser aus, die Lüftung läuft noch, vielleicht kann der Nachbar sie hinter der Wand, einer wirklich sehr dünnen Wand, hören: die Lüftung und Ruth. Die Intimsphäre, der Lebensrhythmus eines anderen Menschen, der sich im Klicken von Schaltern offenbart. »Wir sind Tiere, die sich selbst domestizieren«, hatte Aidan am Anfang ihrer Beziehung einmal gesagt, und sie hatte sich dagegen gesträubt. Sie wünschte sich mehr, nicht bloß das Bild von einer Kuhherde, die sich selbst in den Stall treibt. Verliebtheit sollte schönere Metaphern hervorbringen. Aber nun: Nun entdomestizieren sie sich. Das Handtuch will sich nicht vom Haken nehmen lassen, Schlaufe hoch, Handtuch runter, einwickeln, was hatte er vor dem Teil mit dem Wollen gesagt? Irgendetwas wie »Du hast überhaupt nicht bedacht …«. Doch bevor es richtig losging, hatte sie innerlich abgeschaltet (ein Schutzinstinkt), deshalb weiß sie jetzt nicht, was sie überhaupt nicht bedacht hatte, obwohl sie natürlich eine begründete Vermutung hat. Allerdings bedenkt sie eine ganze Menge. Zu viel sogar. Wieder im Schlafzimmer, Blick auf die Uhr, nicht mal sieben, kurz auf die Bettkante setzen, nur einen Augenblick. Im Grunde war es kein Wunder, dass seine Worte nicht zu ihr durchgedrungen waren.

Er war nicht nach Hause gekommen. Er war nicht nach Hause gekommen, das war der Punkt. Der Sonntagvormittag kam und ging, und gegen Mittag erhielt sie eine SMS, in der nichts weiter stand als VERSPÄTEMICH. Es konnte alles Mögliche passiert sein.

Ruth sollte sich anziehen, die Haare föhnen, sich zusammenreißen. Aber hier auf der Bettkante fühlt sie sich wie auf dem offenen Meer ausgesetzt. Das Ehebett. Ihr Bett. Um halb neun die erste Klientin. Wenn man es in den Kalender einträgt, sieht es immer aus wie eine gute Idee: Montagmorgen 8:30 Uhr Sitzung. Nach dem Motto: Ja, so fängt die Woche gut an. Jetzt kommt es ihr eher wie ein Sabotageakt vor. Aus dem Handtuch (einem Hochzeitsgeschenk) hängen lose Fäden. Sie zieht an einem davon. Ihre Füße sind eiskalt, doch sie rührt sich nicht. Sirena hatte er sie immer genannt, wenn er frisch geduscht aus dem Bad kam und sie noch im Bett lag, in die Bettdecke gekuschelt oder in vom Sex zerwühlten Laken. »Aufstehen, meine Sirena.« Die Radionachrichten. »Guten Morgen, es ist Montag, der siebte Oktober, sieben Uhr …«

Vielleicht war das die Strafe dafür, dass sie sich selbst mochte. Das war einer der Lieblingssätze ihrer Mutter gewesen. »Oh, da mag sich aber jemand«, die Diagnose eines moralischen Fehltritts. War es das? Hatte sie sich selbst zu sehr gemocht und Aidan damit vertrieben?

Ruth sollte ihre Kleidung für heute raussuchen, aber sie hat nichts zum Anziehen für die Person, die sie heute sein soll. Psychologin, Patientin, Ehefrau. Ehefrau? Aufstehen, eine heroische Leistung. Ihre rechte Hüfte ist steif, sie massiert sich den vorstehenden Hüftknochen – stimmt damit etwas nicht? Mit dem Knochen, dem Gelenk? Oder macht ein Körper so etwas mit dreiundvierzig eben? Die Schranktür öffnen, eine Entscheidung treffen. Bleiben oder weglaufen. Oder einfach nur, welche Jacke du anziehst, Ruth, mach nicht aus allem ein Drama.

Als er gestern Abend endlich anrief, hatte er gesagt, die Vertriebskonferenz sei seit Samstag vorbei. Doch er habe bemerkt – das hatte er gesagt, als hätte er gar nichts dagegen tun können –, dass er urplötzlich seinen Aufenthalt verlängert habe. Also nicht direkt eine Verspätung. »Das Zimmer war noch frei«, sagte er. Ruth blickt in den Spiegel, sieht ihr Gesicht mit den Kissenabdrücken, sieht sich in dem marineblauen Kostüm und denkt: Ja, das bin ich. Doch die Erkenntnis geht im Tosen des Föhns unter.

Unten sagt ein Blick auf die Uhr, dass sie keine Zeit mehr fürs Frühstück hat, der Gedanke daran stößt sie ohnehin ab, als würde die Milch in ihrem Körper sauer werden. »Du bist nicht einfach«, hatte Aidan gesagt, und sie war so voller Wut gewesen, dass sie nichts hatte antworten können. Oder war es Traurigkeit? »Ich weiß nicht, was ich fühle«, hatte sie irgendwie herausgebracht. »Ist das nicht dein Job?«, hatte er gefragt.

Ruths Tasche ist gepackt, sie schlüpft in den Mantel, tastet nach Schlüssel und Portemonnaie und zieht die Haustür hinter sich zu. Feucht und kalt schlägt ihr die Oktoberluft entgegen. Blick zum Himmel. Von jetzt bis Dezember jeden Tag zwei Minuten weniger Licht. Hat sie die Tür abgeschlossen? Sie geht zurück und sieht nach. Abgeschlossen. Natürlich. Das Gartentor geht schwer, sie sollte es schmieren oder mit etwas einsprühen, was man in solchen Fällen eben so macht. Auf dem Brighton Square ist es noch ruhig. Sie machen sich darüber lustig, warum er Square, also Viereck, heißt, wo er doch dreieckig ist. »Brighton Triangle« – wie oft hat Ruth diesen Witz gemacht? Hatte sie wirklich so selbstgefällig geklungen? Sich selbst zu mögen: ihr Sündenfall.

Andererseits, Ruth biegt um die Ecke, warum soll man sich nicht selbst mögen, wo man doch der einzige Mensch ist, mit dem man sein ganzes Leben verbringt? Auch wenn man geheiratet hat, wenn man vor einem Raum voller Menschen (zwar ohne ihre Mutter, die sich nicht hatte erweichen lassen), wenn man dort gestanden und gesagt hat – sich versprochen hat – für immer zusammenzubleiben, selbst dann sieht die Wirklichkeit anders aus. Man hat sich selbst, und das war’s. Die leere Betthälfte erbringt den Beweis.

Jetzt geht sie die Hauptstraße entlang, Verkehrsgeräusche, Passanten, Kaffeeduft aus dem neuen Laden neben dem Schreibwarengeschäft. Als würden all ihre Sinne angeknipst. Es ist noch nicht acht, und die Autos stauen sich bereits. Drei Leute warten an der Bushaltestelle. Ruth überquert die Straße an der Ampel und stellt sich dazu.

Es ist ja nicht so, dass sie sich die Frage nicht selbst schon gestellt hätte: Ist es das, was ich will?

Die Wahrheit ist: Nein.

Die Wahrheit ist: Ja.

7:10 Uhr Auf Instagram küssen sich zwei Mädchen. Duae puellae osculantur. Was hat es zu bedeuten (nährt es, oder zehrt es?), wenn sich etwas warm anfühlt, einen aber auch verunsichert? Wenn man jemanden liebt, heißt das dann zwangsläufig auch, dass man sich küsst? Und wenn die eine küssen will und die andere das lieber nur in Gedanken tun möchte? Oder wenn beide es wollen, aber Angst haben, was passiert, wenn jemand ihr Gesicht berührt?

Pen sollte nicht schon vor dem Aufstehen aufs Handy schauen. Davon kriegt sie immer dieses morbide Gefühl, und das will sie heute nicht. Heute wird der beste Tag! Die Mädchen auf dem Bild sind gar nicht zusammen, das ist alles fake, nur Werbung für irgendwas, vielleicht für Jeans, und man soll denken, so sieht Glück aus, und dann soll man die Sachen kaufen. Bei allem muss sie immer an so vieles andere denken (jeder Insta-Post verbraucht vier Gramm CO2, kostet also Energie, also zehrend. Aber auf der anderen Seite gibt ihr das Internet Kraft, ist also nährend, weil sie online besser klarkommt als im echten Leben). Allerdings ist es weniger schlimm als Fliegen. Ein Flug, selbst wenn er nur nach England geht, setzt schon unvorstellbar viel CO2 frei. Und wie oft fliegt man im Leben? Zehrend. Außer, der Kraftstoff wird aus CO2 und Wasser hergestellt, dann ist es weniger, aber einen Preis hätte es trotzdem. Für alles, was man tut, muss etwas sterben. Sie tippt das Herz auf dem Display an, um den Beitrag zu liken (eines der Mädchen hat rote Haare), und das kostet wieder 0,2 g CO2, also hat sie etwas getötet. Entschuldige bitte.

Pen liegt unter ihrer Gewichtsdecke, betrachtet das Verdunklungsrollo und überlegt, einen Fuß hinauszustrecken, vielleicht aufzustehen, aber dafür bräuchte sie mehr Energie, eine andere Art von Energie. Vielleicht findet sie eine Möglichkeit, nichts zu töten. Wenn sie hier liegt und die Luft anhält, ist sie dann neutral? (Man sagt ja, man solle nicht die Luft anhalten, wenn man sich etwas wünscht, als ob die Angst vor dem Ersticken automatisch das Bedürfnis nach Hoffnung aufhöbe.) Pens Brust fühlt sich wie zugeschnürt an, bis ihr wieder einfällt, dass heute ein guter Tag wird, und die Luft in einem Stoß entweicht.

Heute wird sie Alice’ Hand halten, und vielleicht muss sie nicht mal etwas sagen, vielleicht wird die Geste genügen. Sie haben schon einmal Händchen gehalten, doch das kommt ihr jetzt so unschuldig vor. Damals, bevor sie … (Was sind sie eigentlich?) Aber Pen ist so dankbar, ja, das ist das richtige Wort, wenn sie einfach nur neben ihr stehen kann, so dankbar, dass sie gefragt wurde, so dankbar, weil Alice sie ausgewählt hat. Heute wird alles gut gehen. Sie werden sich wie verabredet treffen, und dann haben sie den ganzen Tag zusammen. Für heute Abend hat Pen Tickets gekauft (ein Konzert!), aber Alice weiß nur, dass Pen eine Überraschung für sie hat, und das ist ein unbeschreibliches Gefühl, es kribbelt überall in Pens Körper, und sie wird Alice’ Hand halten und ihr außerdem sagen, was sie sagen will, ganz egal, was andere denken, heute werden die Worte kommen, aus Liebe und Luft, oder Aspiration, worin sowohl Atem (spiritus) als auch hoffen (sperare) steckt.

Nebenan ist alles still. Soraya ist auch noch nicht aufgestanden. Pen riskiert erneut einen Blick auf ihr Handy. 7:30 Uhr, gleich wird ihre Mutter mit dem Besenstiel an die Decke klopfen, es ist immer besser, wenn sie vorher schon aufgestanden ist. Da ist ein Foto von dieser Sängerin, sie könnte Schlabbersachen tragen, ihre Klamotten sind hässlich (das weiß sogar Pen), aber das Mädchen darin ist so strahlend, sie leuchtet regelrecht und kann es sich leisten, auf hässlich zu machen. Frustrierend, wie solche Fotos in Pen den Wunsch wecken, jemand anderes zu sein. »Wahrscheinlich braucht sie tonnenweise Make-up, um die Pickel und Augenringe zu überdecken, und du bist du selbst, Pen, du bist wunderschön, so, wie du bist. Sieh doch nur, wie stark du bist.« Solche Sachen sagt ihre Mum ständig. »Das ist hier kein Hotel«, gehört auch zu ihren Lieblingssätzen, dabei ist das ja wohl klar. Wie cool wäre es, in einem Hotel zu wohnen, sich Filme anzusehen und Essen beim Zimmerservice zu bestellen. Vielleicht zusammen mit Alice. Oder nur sie allein.

Pen liegt auf der Seite, hat die Knie an die Brust gezogen und die Arme darumgeschlungen, ihr Kopf rutscht auf die Matratze, und sie denkt daran, wie sie an jenem Abend genauso dalag und Alice, die unglaublich schöne Alice, sich dazulegte und Pen von hinten umarmte, aber ganz behutsam, sie streichelte ihren Arm und drückte das Gesicht an ihren Rücken und flüsterte so leise, dass Pen nicht sicher war, ob es wirklich Worte waren oder bloß Gedanken im Raum zwischen ihnen. Nach einem Moment bewegte sich Alice’ Hand ein Stück, ein ganz kleines nur, nach vorn, bis drei Fingerspitzen, nur die Spitzen, auf Pens rechter Brust lagen. Alice flüsterte, sie könnten sich vorstellen, sie beide wären ganz allein auf der Welt, und Pen lag regungslos da und hielt den Atem an (doch den Atem anhalten). In diesem Moment hätte sie sich zu Alice umdrehen sollen. Alice war so mutig, aber Pen hatte nichts gesagt und nichts getan, und dann war es wieder nur eine Umarmung gewesen. Aber für einen Moment war da etwas gewesen, da ist sie sicher, das ist eine Tatsache: Sie war im Arm gehalten worden.

Pen setzt sich auf, die Decke rutscht herunter. Heute ist es so weit. Sie haben einen ganzen Tag zusammen, das längste, perfekteste Date der Welt. Sie zieht das Rollo hoch, kein Regen, das ist ein gutes Zeichen. Schnell ins Bad, bevor Soraya es besetzt. Unter der Dusche seift sie sich überall ein, ihre Hand streicht über die glatte, weiche Haut, vorsichtiger an den Stellen, wo sie noch die Erhebungen spürt. Sie heilen ab, hat der Arzt gesagt, und wenn Pen sie mit Vitamin-E-Öl einreibt, wird es schon bald niemandem mehr auffallen. Pen glaubt, wenn sie wirklich heilt, dann durch die Berührung eines anderen Menschen: wenn eine andere Person die Linien berührt, die sich in säuberlichen Reihen über die weiche, rosige Haut ihrer Oberschenkel ziehen.

Pen stellt das heiße Wasser ab. Wie soll man die drei Minuten einhalten? Pflichtgemäß zieht sie die Wände ab (das ist hier kein Hotel). Ob sie die teure Gesichtscreme ihrer Mutter benutzen soll? Auf dem Tiegel steht strahlender Teint, und vielleicht sieht Alice sie dann so, wie sie Alice sieht: als ein Strahlen, ein Leuchten. Pen wischt mit der Hand den Spiegel frei. Es ist eigenartig: Wenn man hineinschaut, sieht man sein eigenes Gesicht so, wie es sonst niemand sieht, man schaut sich selbst in die Augen. Pen fragt sich, ob man sein Aussehen dadurch besser kennt als andere, und mit besser meint sie hier genauer, aber vielleicht auch besser? Oder schlechter? Sie meint beides. Pen hat eine Keine-Selfies-Regel, weil ihre Augen auf Fotos nie da sind, wo sie sein sollten, ihr ganzes Gesicht ist irgendwie schief, so sehe ich nicht aus, will sie dann sagen. Ihre Mutter meint, sie soll sich nicht so viele Gedanken machen, »niemand sieht dich an, Pen«. Insgeheim, ins-sehr-geheim, hat Pen die Befürchtung, sie könnte eitel sein (und außerdem sehen sie doch alle an). Ecce. In pictura est puella. So beginnt jede Geschichte.

»Es kommt nur auf das Innere an«, wiederholt ihre Mutter immer wieder und benutzt Wörter wie Spiegelsteuer, weil die jungen-Frauen-von-heute ihren ganzen Ehrgeiz dafür einsetzen, sich gegen-die-ganzen-Negativbotschaften-zu-wehren. Manchmal spricht Pens Mutter so: wie bei einem Vortrag. Weil sie nämlich Dozentin ist. Und sie hat auch Regeln dafür, was man sich im Internet ansieht und ob man jemandem textet, während man mit anderen zusammen ist, Mahlzeiten seien wertvolle Zeit, als ob es Zeit mit verschiedenem Wert gäbe, besser und schlechter, dabei vergeht sie doch immer genau gleich schnell. Obwohl, das stimmt nicht. In größerer Höhe vergeht die Zeit schneller, wenn Pen also im ersten Stock ist und ihre Mutter unten im Wohnzimmer, dann ist Pens Zeit schneller oder komprimierter, oder so was in der Art, als die ihrer Mutter, aber wer könnte festlegen, welche wertvoller oder besser ist? Vom Inneren zu sprechen, ist im Übrigen auch nicht hilfreich, denn was ist, wenn man im Inneren erst recht anders ist? Noch etwas, das Pen nur denken und nicht aussprechen darf, denn wenn sie es laut sagt, bekommt sie den langen Jeder-Mensch-ist-anders-Vortrag zu hören. Ja, sicher, denkt Pen augenrollend, wenn sie diesen speziellen Vortrag zu hören kriegt.

Anders ist so ein Wort, genau wie besonders, das Menschen auf eine Art und Weise betonen, die sie für taktvoll halten. »Sagt doch, was ihr wirklich meint«, möchte Pen dann rufen, aber dann hieße es wieder, sie sei überreizt. Wenigstens die Therapiefrau teilt ihre Ansicht. Und wenigstens sie versteht, dass Pen keine Schublade braucht, sondern Strategien, um das Chaos der Welt zu bändigen. Also gut, Pen. Spür die Trigger, Pen. Fühle sie. Benenne sie, erkenne sie. Schau auf deine Hände, das vermittelt dir ein Gefühl von Kontrolle. Sieh den Leuten nicht ins Gesicht, wenn sie mit dir reden, das sind zu viele Reize. Wenn in deinem Kopf zu viel los ist, finde heraus, was es ist: Denken oder Fühlen. Was für ein Gefühl ist es? Positiv, negativ oder neutral? Das Beobachten ist Pens Verbündeter geworden. Früher nannte Pen sie nur die Frau, denn zu einer Therapeutin gehen zu müssen, war ja praktisch der Beweis, dass sie nicht so war wie die anderen Mädchen, aber dann hat ihre Mutter gesagt: »Ach, komm, Pen, fall nicht auf den alten Trick mit der Scham rein.« Ihre Mutter hat nämlich auch eine Therapeutin. Also überlegte Pen sich eine eigene Bezeichnung.

Pens Zimmer ist schwierig, das erkennt man ohne viel Beobachtung. Es ist entweder total aufgeräumt oder total chaotisch, und heute ist es chaotisch, was den Weg zur Tür erschwert, weil Pen über einiges hinwegsteigen und um anderes herumgehen muss, und das ist kompliziert. Sie sollte es ordentlich halten, aber nur weil man etwas tun sollte, heißt das noch lange nicht, dass man es auch tut, und manchmal will Pen schreien, dass alle Regeln der Welt, selbst wenn sie jede einzelne befolgt, nicht verhindern können, dass sie durcheinanderkommt oder erstarrt oder sich an etwas stößt. Das hatte Pen genau so in einer Sitzung erzählt, und die Therapiefrau hatte gestutzt, und es klang, als würde sie lachen, aber natürlich tat sie das nicht, das war ja gegen die Regeln, und dann sagte sie: »Ach, Pen, das ist völlig normal, du bist ein Teenager«, und da hatte Pen sich besser gefühlt und sich später zu Hause erlaubt, eine Tür zuzuknallen, woraufhin ihre Mutter beim Abendessen fragte: »Was war da los?«, aber kein Drama machte. Das alles hilft Pen jetzt allerdings nicht weiter, denn jetzt fliegt alles überall herum, also nimmt sie nur ihr Cooles-Date-Outfit vom Stuhl und spürt den weichen, glatten Stoff auf ihrer Haut, und davon geht es ihr sofort besser. Da ist das Wummern am Boden, der für ihre Mutter die Decke ist, und wie schnell oder langsam die Zeit auch vergehen mag, jetzt ist es Zeit, nach unten zu gehen.

Der Teller knallt, der Toast kracht, die Wasserpumpe knirscht und lässt Pen zusammenfahren. Der Lärm von anderen ist immer so viel schlimmer. »Pass heute auf dich auf«, sagt Claire. Claire ist Pens Mutter, und sie meint es gut und will nur, dass Pen nichts passiert, aber sie will nicht, dass Pen dorthin geht, das weiß Pen. Was ihre Mutter nicht versteht: Pen tut es aus Liebe.

»Da könnten ein paar … na ja, es werden nicht unbedingt alle aus denselben Gründen dort sein wie du. Und es ist laut.«

Pen konzentriert sich auf die kleinen Tabletten, die in einer Reihe auf dem Tisch liegen, auf das Gefühl der aufweichenden gelben Cornflakes in ihrem Mund. »Du kannst jederzeit wieder gehen«, fügt Claire hinzu, weil ihre Tochter Lärm hasst und Menschenmengen hasst und lieber für sich ist. Allein ist sie vollkommen glücklich, deshalb wird eine Demo mit Hunderten von Menschen schwierig für sie werden. Claire würde sich sofort mit jedem duellieren, der behauptet, ihre Tochter dürfe bestimmte Dinge nicht tun, aber gleichzeitig wünscht sie sich manchmal, sie könnte sie zu Hause behalten. »Sicher, das Klima ist wichtig, aber mir wäre lieber, du würdest zur Schu…«

»CLAIRE!«

Immerhin eine Reaktion. Pen hatte den schulfreien Tag als Sozialkundelektion verkauft, und Claire weiß von den Streiks, sie selbst entschuldigt ihre Studierenden an Freitagen, aber heute ist Montag, und Pen geht in die elfte Klasse, und der Punkt ist nicht, dass Pen in Englisch praktisch besser ist als ihre Lehrerin, sondern dass sie zum Unterricht erscheint, und Claire weiß, man kann auf verschiedene Arten lernen, bezweifelt allerdings, dass die Erdkundeprüfung einen Abschnitt über Extinction Rebellion enthalten wird.

Wenn sie innehält und darüber nachdenkt, überkommt auch Pen wegen der bevorstehenden Prüfungen ein bedrohliches Gefühl: eine Art Angst ganz unten in ihrer Magengrube. Aber eigentlich fühlt sich jeder Tag so an.

Rumms! Die kleinste Person macht den meisten Krach. Soraya verlangt nach Aufmerksamkeit. Pen sieht sie nicht an, sondern betrachtet eingehend die Milch in ihrer Schale und die wenigen darin treibenden Cornflakes (angeblich enthält eine Schale von diesem Zeug mehr Salz als Meerwasser), aber sie hört Sorayas zu laute Schritte und ihr Quengeln und ihren Atem. Jetzt will sie sogar einen Apfel, »für die Schule«. Sie mag gar keine Äpfel, denkt Pen, doch als Claire dann die Kühlschranktür öffnet und sie den Apfel aus den raschelnden Tüten holt und Pen sich vorstellt, ihre Schwester wegzustoßen, um sie nicht sehen zu müssen, da beugt Soraya sich dicht zu ihr und flüstert: »Hab einen schönen Tag heute.« Überrascht hebt Pen den Blick und sieht Sorayas seliges Lächeln. Das hat Sandy den O’Neil’schen-Jojo-Effekt getauft: Immer wenn man denkt, diese Menschen können nicht mit mir verwandt sein, die machen mich wahnsinnig, sagt oder tut einer von ihnen etwas, das einen glücklich macht.

Und plötzlich wird es wieder ein guter Tag. Pen spürt es bis tief in die Knochen. Ihre Mutter legt ihr einen Apfel auf den Tisch.

»Räum die Spülmaschine ein, stell das trockene Geschirr von gestern Abend weg, und mach irgendwas mit deinem Zimmer, Pen, das ist nämlich ein Saustall, und das ist hier kein Hotel.« Claire ist entschlossen, ihrer Tochter wenigstens ein bisschen Hausarbeit abzuringen. Den Mantel in der Hand, kramt sie in ihrer Tasche. »Hier, das ist für heute.« Das Geld auf den Tisch. »Vergiss nicht, etwas zu essen, trag deinen Regenmantel, ist mir egal, ob das uncool ist, du sollst dich nicht erkälten.« Pen nickt. »Ab und zu könntest du auch mal was sagen.« Claire klingt genervt, ist es aber nicht – sie hatte witzig sein wollen.

Pen blickt auf und sieht ihre Mutter an, dann hebt sie die Hände und wackelt mit den Fingern in der Luft. Auch Soraya hat die Hände erhoben, Claire ebenfalls, ein undurchtrennbarer Kreis. Die O’Neil-Frauen. »Habt einen schönen Tag. Wir sehen uns nachher zur Montagabendpizza.« Die Haustür schlägt zu, die Wände zittern leicht.

Pen wird heute nicht zittern. Heute wird sie die Worte finden. Heute wird sie Alice’ Hand halten.

7:23 Uhr »Guten Morgen!«, sagt eine Stimme. Ruth blickt auf und denkt, was denn jetzt / oh nein / wo bleibt der Bus? Sie will sich nicht unterhalten, fühlt sich nicht dazu in der Lage, aber es ist Stephen, das muss Jahre her sein, sie sind zusammen zur Schule gegangen. Ganz schön groß ist er, und plötzlich wird Ruth bewusst, dass sie ungeschminkt ist.

»Du löst die Probleme des ganzen Landes«, sagt Stephen, und das irritiert Ruth, wovon redet er da? Und dann begreift sie, dass er die Anrufsendung im Radio meint, woher weiß er überhaupt davon, arbeitet er nicht im Ausland?

»Mhm, sehr gut, reichlich Probleme.« Sie klingt wie eine Idiotin. »Es ist schon anspruchsvoll«, sagt sie, um Boden zu gewinnen, den sie jedoch direkt wieder an einen verirrten Gedanken verliert. »Bist du nicht in Australien?«

»Bin vorübergehend hier, um meine Wohnung zu verkaufen.« Stephen deutet Richtung Terenure Cross. »Ich will mir da unten ein Haus kaufen … und kann hier in unserem Dubliner Büro arbeiten, wobei es durch die Zeitverschiebung ein bisschen kompliziert ist.«

Ruth nickt nur.

»Eigentlich bin ich gerade auf dem Weg ins Fitnessstudio.« Er hebt die Sporttasche zum Beweis. »Ich warte gar nicht auf den Bus, ich kam nur hier vorbei.«

Vom Nachobenschauen tut Ruth der Nacken weh, sie versucht, einen unauffälligen Blick auf die Anzeigetafel zu werfen. Da steht immer noch 1 MIN / 1 NÓM. Jetzt komm schon, komm schon, wünscht sie den Bus herbei.

»Macht übrigens Spaß, dir zu folgen«, und dann merkwürdigerweise: »Ich habe deine Stimme im Ohr.« Stephen lächelt, und als sie immer noch verständnislos guckt, tippt er sich seitlich an den Kopf, als hätte sie das Konzept Ohr nicht begriffen. »Podcast«, sagt er schließlich.

»Oh. Ha. Verrückt«, sagt Ruth, denn, ehrlich, was soll sie darauf antworten?

»Ist …« Stephan sieht besorgt aus. »Ist alles in Ordnung, Ruth?«

»Montagmorgen«, sagt sie mit einem Anflug von Panik. Sie sagt nicht: und mein Mann ist nicht nach Hause gekommen.

»Manic Monday, na klar!« Stephen lächelt breit, ein Kopfschütteln über den Beginn der neuen Woche. Lautere Motorengeräusche, der Bus kommt. »Dann viel Glück heute. Vielleicht können wir uns ja mal abends treffen, bevor ich wieder abreise?«

»Super!« Ruth reagiert mit einem unbeholfenen Halbwinken, sie steigt schon ein, und als sie sich umsieht und nickt (beide wissen, dass sie sich nicht treffen werden), hat sie den Eindruck, dass sein Lächeln ein bisschen gezwungen wirkt.

Sie hält ihre Karte vor das Gerät, und auf der Treppe nach oben denkt sie an den Abend damals zurück, der einundzwanzigste Geburtstag von irgendwem. Stephen und sie sahen sich, und als Nächstes lagen sie sich betrunken in den Armen und gestanden sich gegenseitig, wie toll sie einander in der Schule gefunden hätten, aber zu schüchtern gewesen seien, und in dieser Nacht war alles anders, es gab keine Hemmungen, es lag alles vor ihnen, ihre aufregende Zukunft, und sie redeten und knutschten im Park, er half ihr über den Zaun, und plötzlich dämmerte der Morgen, und sie lagen in seinem Bett. Gott, der Tag danach. Ruth hasste es, verkatert zu sein. Stephen hatte ihr geschrieben, und zuerst war alles ganz romantisch mit Küsschen hinter seinem Namen, aber dann stellte sich heraus, dass er eine On-off-Beziehung hatte, die jetzt definitiv wieder on war. Ruth hatte ohnehin auf Reisen gehen wollen. Bei der Erinnerung daran, wie real ihr das alles damals erschienen war, verzieht sie das Gesicht.

Der Bus kriecht durch Harold’s Cross, und Ruth kann richtig spüren, wie sie altert. War das damals die freieste Zeit ihres Lebens gewesen? Oh ja, die vertrödelten Stunden und Tage waren ihr wie ein Luxus erschienen. Aber war damals wirklich alles so wunderbar? Hat sie es als Freiheit empfunden? Fast verzieht sie das Gesicht. »Alles ist möglich«, hatte man ihr gesagt. »Dir steht alles offen.« Die Leute meinten es gut, doch wenn alles möglich war, hieß das nicht auch, dass nichts davon real war?

Ruth klappt ihre Minipuderdose auf. Betrachtet skeptisch ihr Spiegelbild. Wie soll sie es hinkriegen, wie ein normaler Mensch auszusehen? Also gut. Das Gesicht mit einem Stift bemalen, der Strahlen verspricht, darüber eine Schicht Puder. Puderdose und Wimperntuscheröhrchen in der einen Hand, mit der Bürste in der anderen die Wimpern traktieren. Fast heruntergefallen, Mist. Wieder den Spiegel vorhalten, um die Wirkung zu beurteilen. Ruth tupft sich Rouge auf die Wangen. Sinnlos, das alles kommt ihr so sinnlos vor. Ist es nicht absurd, die Röte in einem Teil des Gesichts abzudecken, nur um sie in einem anderen hinzuzufügen?

Der Bus ruckelt auf die Clanbrassil Street. Sie ist eleganter geworden – den Schlachthof gibt es nicht mehr, die alten Häuser wurden bereits in Ruths Kindheit abgerissen, um Platz für die neuen Busspuren zu schaffen, und tatsächlich kommt man jetzt schneller in die Stadt. Ruth spürt die Anziehungskraft, die das Haus ihrer Mutter auf sie ausübt, wenn sie den Hals reckt, könnte sie es sehen, Lombard Street. Inzwischen ist es das Haus von jemand anderem, immer noch mit den Glyzinien über der Tür. Sie wird nicht hinsehen, es ist doch nur ein Haus.

Vorbei an St. Patrick’s, und endlich kommt Christ Church in Sicht. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, bevor sie alles wieder in der Tasche verstaut und die Treppe hinuntergeht. Der Bus passiert die Kathedrale, in der ihre Freunde an Weihnachten singen, beim alljährlichen Kniefall mit Liedern und Kerzen. Vorbei am Lord Edward Pub an der Ecke. Liegt da immer noch Sägemehl auf dem Boden? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Stockend hält der Bus an.

Raus aus dem Bus, sie spürt den Regen noch in der Luft, auch wenn sich der Himmel aufgehellt hat. Nach links in die Cow’s Lane, normalerweise mag sie diese erfundene Straße, in der es Yoga und Tattoos, Pflanzen und Bücher gibt. Wann hat sie zuletzt ein Buch gelesen? Das war wirkliche Freiheit: nicht Zeit zum Vertrödeln, sondern Zeit, das zu tun, was man will. Die Rückseite des Theaters, die Straßen und Gassen hier sind in Vergessenheit geraten. Merkwürdige Vorstellung, dass dies früher einmal das Stadtzentrum gewesen war, direkt vor dem Schloss, dem Herzen von allem. Ein paar Jahrhunderte besaßen die Macht, Grenzen zu verschieben. Der kleine Laden, in dem Ruth ihrer Mutter zu Weihnachten Kaschmirhandschuhe gekauft hatte, Made in Ireland hatte auf dem Etikett gestanden, aber auf die Anerkennung dieser Frau hatte sie vergeblich gehofft. An der Ecke das Denkmal für die Magdalenen-Wäschereien, an anderen Tagen, Tagen, die nicht heute waren, überkam sie bei dem Gedanken daran ein schlechtes Gewissen, weil ihr eigenes Leben in Wahrheit aus einer langen Abfolge von Freiheit bestand. Heute jedoch geht sie achtlos daran vorbei. Als sie auf die breitere Parliament Street tritt, sieht sie sich kurz nach dem Pub um, in dem sie während ihrer Studienzeit gearbeitet hat, damals gab es nur wenige Orte, an denen Männer Händchen halten konnten. Grattan Bridge. Während sie an der Ampel wartet, denkt sie an Aidan und verflucht sich, sie hatte sich doch so gut geschlagen. »Sieh mal«, hatte er einmal gesagt, war mitten auf der Brücke stehen geblieben und hatte auf die Verzierungen am Geländer gedeutet. »Das sind Seepferdchen.« Er hatte ihr erklärt, sie seien ein Symbol für Treue, weil sie sich fürs ganze Leben paarten. Sie hat das anschließend recherchiert und würde ihm jetzt gerne sagen, dass sie außerdem einzigartig sind, weil bei ihnen das Männchen die Jungen austrägt.

Capel Street, benannt nach wem, einem Earl vielleicht? Das scheint in weiter Ferne zu liegen, jetzt gibt es hier Suppen und Sushi und Bibimbap. Seltsam, denkt Ruth, als sie vor einem Schaufenster stehen bleibt, wenn man den Duft von Oliven oder Gewürzen riecht, kann die Aussicht auf Essen fast vollständig den Umstand verdrängen, dass einen der eigene Mann eventuell/vielleicht/wahrscheinlich hasst. Ruth betritt den Laden und nickt der Frau an der Kasse zu. (Griechisch? Türkisch? Ist es schlimm, das nicht zu wissen?) »Ja, von diesen bitte.« Der Mann vor ihr zeigt auf ein Tablett Baklava mit Pistazien. Die Frau reicht es ihm und lächelt Ruth an, die abermals nickt, um zu signalisieren, dass sie warten kann.

Das Gebäck in ihrer Hand ist warm, das Öl sickert bereits durch die Papiertüte. Ruth schlägt eine Ecke zurück und beißt hinein. Sie geht die Straße hinauf (sie nennt sie ihre Straße) und nimmt sich einen Augenblick Zeit, um das blättrige, knusprige, salzige, mit Käse gefüllte Börek zu genießen. Sie spürt ihre Füße auf dem Pflaster und die Wärme unter dem Papier und den öligen Film auf ihren Lippen, und das alles zusammen bedeutet, dass sie den heutigen Tag vielleicht irgendwie überstehen wird.

Ruth schließt die Tür auf und tritt in den schmalen Flur. Es ist dunkel und still, offenbar ist sie die Erste. Sie hebt die Werbeflyer für Pizza und Massagen auf und legt sie aufs Sims, dann steigt sie die Treppe hinauf, höher, immer höher. Ganz im Effizienzmodus schaltet sie überall das Licht an und dreht die Heizung voll auf, nach dem Wochenende ist es immer kälter, knipst die Schreibtischlampe an. Eine Art Zuhause. Sie geht in die Küche, setzt Wasser auf, nimmt einen Becher aus dem Schrank, ganz schön durcheinander, sie sollten mal ausmisten, gibt abgemessenes Kaffeepulver in die French Press, hört auf das anschwellende Kochgeräusch und wartet, bis das Licht mit einem Klacken erlischt. Teelöffel in die Spüle, abwaschen kann sie ihn später. Um alles kann sie sich später kümmern. Ruth nimmt den Becher mit nach nebenan, steht vor ihrem Schreibtisch, nimmt den Ordner mit ihren Notizen zur Hand und wirft einen Blick hinein. Ihre handschriftlichen Notizen auf dem Papier, die getippten Anmerkungen, alles hat seine Ordnung. Ja, sie weiß, wer diese Person ist. Kissen aufschütteln, die Schachtel Taschentücher näher an den Stuhl rücken. Innehalten. Es ist noch Zeit.

»Da kriegst du ja bestimmt interessante Geschichten zu hören?« Es war ihr erstes Date gewesen. Aidan wirkte ehrlich interessiert, war das der Grund, warum sie es ihm hatte beichten wollen? Dass sie sich unzulänglich fühlte angesichts des Leids, das die Menschen ihr anvertrauen? Stattdessen hatte sie gesagt, wie sehr es sie (damals wie heute) verblüffe, wie viel Energie wir auf ein schlechtes Gewissen verwenden. Ohne ins Detail zu gehen, hatte sie ihm erzählt, dass der Schmerz, den die Menschen erleben, bei fast allen derselbe sei. Dann hatte sie innegehalten, weil ihr die Kluft zwischen dem, was sie empfand, und dem, was sie sagte, bewusst wurde. Später hatte Aidan ihr erzählt, er habe diese Zurückhaltung – er hatte es Schüchternheit genannt – charmant gefunden, und auch da hatte sie den falschen Eindruck nicht korrigiert. Aidan. Sie waren keine Seepferdchen.

Die Türklingel. Vom Fenster abwenden, zur Tür gehen, den Knopf drücken. Ruth hört das Echo einer Stimme, sagt etwas, betätigt den Summer und lässt Anthony herein. Jetzt hat sie noch eine Minute, denn Anthony steigt die Treppe langsam hinauf, er möchte nicht außer Puste oben ankommen, und Ruth atmet aus, um ihre Gedanken zu klären, zur Ruhe zu kommen, sie macht sich bereit, um zuzuhören und eine Grenze zwischen ihrem Leben und dem des anderen zu ziehen.

8:01 Uhr Beim Besteck die Spitzen und Zinken nach oben. Pen ordnet es nach Kategorien, die Messer zusammen, die Gabeln zusammen, die Löffel auf die andere Seite. Da ist so ein Gefühl im Kopf, wenn Dinge geordnet sind. Nichts im Kopf zu haben, heißt unintelligent sein, aber wie schön müsste es sein, wirklich gar nichts im Kopf zu haben, keine wild flatternden Echos von dummen Menschen, die behaupten, man wäre kaputt. In der allerersten Sitzung hatte Pen die Therapiefrau gefragt, ob Reden die einzige Möglichkeit wäre, etwas aus dem Kopf zu bekommen. Die Therapiefrau hatte gesagt, dass Pen a) recht habe und nicht kaputt sei und deshalb auch nicht repariert werden müsse, ob es b) nicht fantastisch wäre, wenn man die Welt so machen könnte, dass sie für jeden passe, und dass c) niemand reden müsse, wenn er oder sie das nicht wolle. Deshalb sitzen sie manchmal nur da und schweigen, und das ist dann ein bisschen so, als hätte sie nichts im Kopf.

»Wie fühlt es sich an, wenn dein Kopf voll ist?« Das hatte die Therapiefrau sie gefragt. Als Pen nur den Kopf schüttelte, bat die Therapiefrau sie, für die folgende Woche ein paar Zeilen aufzuschreiben, dann würden sie sich dem langsam annähern. Wenn Pen die richtigen Worte findet, ist das, als könnte sie die Welt scharf stellen, doch wenn sie nach Worten dafür sucht, wie es sich im Inneren ihres Kopfes anfühlt, dann ist das, als stünde sie vor einer Wand aus Worten. Deshalb war Pen am Morgen ihres nächsten Termins immer noch nichts eingefallen, was sie hätte sagen, geschweige denn aufschreiben können. Stattdessen hatte sie einen Gedichtband ihrer Mutter aus dem Regal genommen, Emily Dickinson, ein Buch mit goldenen Buchstaben auf dem Rücken. Als sie dann ins Sprechzimmer kam, schlug sie die Seite auf und zeigte sie vor:

Begräbnis fühlt’ ich im Gehirn

Und die Therapiefrau sagte: »Beschreibt das ganze Gedicht, wie du dich fühlst?«, und Pen nickte, und die Therapiefrau fragte, welche Zeilen ihr Gefühl am stärksten wiedergäben. Pen zeigte auf die erste Zeile, und dann, als sie spürte, dass sie noch etwas sagen sollte, las sie langsam vor:

»Und als sie Platz genommen,

tönt dumpfer Trommelklang:

es schlug und schlug bis es mir schien,

es raubt mir den Verstand.«

Die Therapiefrau nickte wieder, und da erkannte Pen, dass sie endlich jemanden gefunden hatte, der richtig zuhörte. Dann erklärte die Therapiefrau, dass beim Denken – wenn sie daran dachte, dass sie etwas tun sollte oder was andere von ihr hielten oder ob es ihrer Mum gut ging – für jeden dieser Gedanken eine Datei im Gehirn geöffnet werde. Und je mehr Gedanken man habe, desto voller werde der Kopf mit offenen Dateien, die blinken und klicken, um den Kopf auf sich aufmerksam zu machen. Wenn Pen also viele »aktive Gedanken« habe, sagte die Therapiefrau, dann wirke das, als wäre ihr Gehirn voller Blinklichter und Klickgeräusche. Und davon würde wohl jeder Panik bekommen.

Pen spült die Müslischalen ab. Das Wasser auf der Haut fühlt sich beruhigend an, deshalb hat sie sich diese Hausarbeit ausgesucht. Die Schalen ins obere Regal und ganz nach hinten, damit die Scharniere weniger belastet werden. Das Therapiezimmer ist ruhig und leise und ziemlich leer, was Pen gefällt, nachdem sie oft genug hier gewesen ist und sich entspannen und ihre Umgebung wahrnehmen kann. Sie sitzt der Therapiefrau gegenüber, und dort ist auch ein Fenster, und sie kann den Himmel sehen, und weil sie hoch oben sind, auch die Dächer der Häuser auf der anderen Straßenseite, eine Dachlandschaft (wenn Pen jemals ein Gedicht schreibt, soll es das Wort Landschaft