Zwei Seiten einer Mauer - Alexander Stapper - E-Book + Hörbuch

Zwei Seiten einer Mauer E-Book und Hörbuch

Alexander Stapper

4,5

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Beschreibung

»Unter Theos Füßen, die von der Mauer herabbaumeln, haben sich einige von ihnen angesammelt. Sehen kann er sie nicht. Einzig das leise Kratzen am Stein und das Röcheln sagen ihm, dass sie da sind. Bestimmt greifen ihre Hände nach seinen Füßen. Ob sie wohl irgendwann begreifen, dass ihre Bemühungen völlig sinnlos sind? Sie können es noch so oft versuchen, die letzten Meter fehlen am Ende doch. Die obere Kante bleibt für sie unerreichbar.« Nach einer weltweiten Epidemie wächst Theo hinter einer hohen Mauer auf, die ihn vor den Infizierten beschützt. Die Katastrophe liegt weit zurück, Ordnung und Struktur sind wieder eingekehrt. Doch eines Abends macht er eine Entdeckung, durch die sein gesamtes Weltbild ins Wanken gerät.

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Seitenzahl: 352

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Zeit:8 Std. 27 min

Sprecher:Yasmina Ramdani
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Für Caro

INHALTSVERZEICHNIS

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 1

Früher leuchteten die großen Scheinwerfer auf der Stadtmauer jede Nacht. Inzwischen werden sie nur noch selten eingeschaltet, etwa, um ihre Funktionsfähigkeit zu überprüfen.

In der Dunkelheit der Nacht erkennt Theo nicht viel von dem Wald, den er wohl nie betreten wird. Der große Vollmond erhellt zumindest die Wipfel der Nadelbäume, die sich wie ein gigantischer Teppich vor ihm erstrecken.

Der Junge setzt sich auf die glatten Steine der Mauerkante.

Logisch betrachtet ist es noch immer verwunderlich, weshalb gerade der Ort, der der Gefahr am nächsten zu sein scheint, für ihn eine Art Zufluchtsort geworden ist.

Natürlich gefällt ihm die Ruhe, die man in der Stadt tagsüber nur selten findet. Doch das ist nicht der eigentliche Grund, warum er immer wieder hierher zurückkehrt. Es ist dieses unerklärliche Fernweh, das ihn jedes Mal packt, wenn er in die Endlosigkeit des Waldes blickt.

Was sich unterhalb der Baumkronen abspielt, kann er nur erahnen. Ab und an sieht er ein paar schwarze Silhouetten vorbeihuschen. Wie viele von ihnen sich wohl im Wald tummeln?

Nachts sind sie meist sehr aktiv, am Tag verkriechen sie sich in den Wäldern oder in den Hausruinen außerhalb der Stadt.

Bereits in seinem ersten Schuljahr hat Theo gelernt, dass sie Licht nicht ausstehen können.

Bevor man sich für das Abschalten der Scheinwerfer entschieden hat, hat er sie nie in der Nähe der Mauer gesehen. Gehört hat er, dass es Einzelne trotzdem bis dorthin geschafft haben sollen. Doch sobald sie durch das Gemäuer am Weiterkommen gehindert wurden, flüchteten sie sofort wieder zurück in die Schatten der Bäume.

Unter Theos Füßen, die von der Mauer herabbaumeln, haben sich einige von ihnen angesammelt. Sehen kann er sie nicht. Einzig das leise Kratzen am Stein und das Röcheln sagen ihm, dass sie da sind. Bestimmt greifen ihre Hände nach seinen Füßen. Ob sie wohl irgendwann begreifen, dass ihre Bemühungen völlig sinnlos sind? Sie können es noch so oft versuchen, die letzten Meter fehlen am Ende doch. Die obere Kante bleibt für sie unerreichbar.

Der letzte Einbruch liegt bereits viele Jahre zurück. Theo kann sich kaum noch daran erinnern.

Damals, als sich Teile der neuen Mauer noch im Bau befanden, war es für sie auch wesentlich einfacher.

Inzwischen hat man ein unüberwindbares Hindernis aufgetürmt. So hat Theo kein bisschen Angst, wenn seine Füße direkt über ihren ausgestreckten Armen hin und her schaukeln. Im Gegenteil, er findet ihre vergeblichen Versuche sogar unterhaltsam.

Sie erinnern ihn an einen auf dem Rücken liegenden Käfer. Als Kind dachte er, die kleinen Tierchen würden ihm zuwinken, wenn sie mit ihren Beinchen vergebens in der Luft umher ruderten. Auch wenn er es heute besser weiß, bleibt es für ihn noch gleichermaßen unterhaltsam.

Von Zeit zu Zeit wirft Theo Gegenstände vor die Mauer und beobachtet, wie die schattigen Gestalten darauf reagieren. Das ist sozusagen seine eigene kleine wissenschaftliche Studie.

Für die meisten Dinge scheinen sie sich gar nicht zu interessieren. Einmal hat er eine Taschenlampe herunter geworfen. Im ersten Moment stürmten sie davon, aber bereits nach kurzer Zeit hatten sie sich an das schwache Licht gewöhnt und versuchten sich erneut am Erklimmen der glatten Mauerwand. Das einzig Ungewöhnliche, das er je durch seine Studie herausgefunden hat, ist, dass sie auf infrarotes Licht sehr heftig reagieren.

Bemerkt hat er das, als er mit einer Garagentor-Fernbedienung auf sie zielte. Jedes Mal, wenn Theo die Knöpfe drückte, wurde das Röcheln lauter. Dann rannten sie in den Wald und es war still.

Sein Vater hat ihm die Fernbedienung überlassen, weil er das Tor auf manuellen Betrieb umgebaut hat. Da Batterien immer seltener werden, hat Ernst schon frühzeitig mit dem Umbau begonnen. Inzwischen ist im Haus fast alles wieder verkabelt, was damals ferngesteuert funktionierte. Das ist allerdings kein so großer Verlust. Eine Fernbedienung ist streng genommen ohnehin ein reiner Luxusgegenstand. Das Problem ist nicht, dass es, sondern wie es verkabelt ist; aber das ist dem handwerklichen Geschick seines Vaters geschuldet.

Von seiner Infrarot-Entdeckung hat er damals natürlich sofort seinem Lehrer erzählt, aber der entgegnete nur: »Und wie soll uns das jetzt nützen? Irgendwann gibt es sowieso keine Batterien mehr. Was willst du dann mit der Fernbedienung?«

Zugegebenermaßen war der Zeitpunkt für die Bekanntgabe seiner Entdeckung auch sehr ungünstig gewählt.

Frau Flink war erst ein paar Wochen zuvor gestorben, was Theo zu seiner Verteidigung damals noch nicht wusste. Bis heute weiß er nicht genau, woran sie gestorben ist, hat jedoch gehört, dass man es hätte medikamentös behandeln können. Nur gab es das benötigte Medikament zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr.

Im Nachhinein ist es also kein Wunder, dass er damals so reagierte. Vorher hatte Herr Flink immer ein offenes Ohr für neue Ideen. Vielleicht wird er ihn irgendwann noch einmal an seine Entdeckung erinnern.

Theo blickt in den sternenklaren Himmel, dann wieder auf die darunter schimmernden Wipfel. Er will raus aus dieser Stadt, sehen, was sich hinter dem Meer aus Bäumen befindet. Die Mauer, auf der er sitzt, sperrt nicht nur die Gestalten aus, sondern auch ihn ein. Leider steht er mit dieser Meinung weitgehend alleine da.

Es ist fast jeden Abend dasselbe: Er sitzt hier und schaut auf den Wald und er weiß genau, dass er nie einen Fuß hinein setzen wird. Natürlich ist das angesichts der Lage auch nicht empfehlenswert. Das wäre mit Sicherheit einer der letzten Schritte seines Lebens.

Sein Vater hat dazu einmal Folgendes gesagt: »Was solltest du außerhalb der Stadt wollen? Da ist nichts mehr. Das sind die Reste einer Welt, die schon lange nicht mehr existiert.«

Vermutlich hat er damit Recht. Vermutlich sind die Menschen hier in der Stadt die einzig Überlebenden auf dem gesamten Planeten. Da draußen erwartet ihn nichts. Dieser Gedanke macht ihn traurig.

Und wahrscheinlich ist die ganze Situation noch schlimmer für die Menschen, die den Ausbruch damals selbst miterlebt haben. Die Älteren wissen noch, wie sich ein Leben außerhalb dieser Festung anfühlt. Er selbst kennt die Situation ja nicht anders, und trotzdem hat er dieses Fernweh; vielleicht eben wegen der Erzählungen dieser Menschen. Oft hört er sie über die Dinge fluchen, die sich seit dem Ausbruch zum Negativen verändert haben. Dieses war noch vorhanden, jenes konnte man tun. Manchmal nervt ihn das ständige Gejammer ein wenig.

Ständig erzählen die Älteren über Orte, von denen Theo noch nie etwas gehört hat, von Menschen, die er nie kennenlernen wird.

Wenn Theo sein Leben mit diesen Erzählungen vergleicht, dann fühlt er sich richtig eingeengt, fast schon erdrückt. Es ist, als hätten sie alle ein Buch gelesen; einzig in seinem Exemplar hat man die ersten Seiten herausgerissen.

Hoffnung, die Stadt je verlassen zu können, hat er, ernsthaft betrachtet, natürlich keine, da sich in der Stadt niemand mit der Entwicklung eines Impfstoffes beschäftigt. Und ohne einen Impfstoff gibt es auch keine Hoffnung auf Besserung. Das Problem ist, dass es kein Labor gibt und vor allem niemanden mehr, der über das nötige Wissen verfügt. Die Experten auf diesem Gebiet, angesehene Virologen in weißen Kitteln, befinden sich wahrscheinlich inzwischen ein paar Meter unter seinen Füßen.

Theo beobachtet die Silhouetten, deren hin und her schwingende Arme jetzt vom Mondlicht angestrahlt werden. Irgendwie fehlt die Musik bei ihrem Tänzchen.

Natürlich weiß er, dass diese Art Gedanken nicht angebracht sind und dass er sie wohl besser nie laut aussprechen sollte, aber hin und wieder verliert er die Ernsthaftigkeit der ganzen Situation aus den Augen.

Bei dem Ausbruch hat er ja auch nicht in Todesangst fliehen müssen, niemanden sterben sehen, keine Angehörigen verloren. Zu dem Zeitpunkt war er ja noch nicht einmal geboren. Viele andere können selbst heute noch nicht schlafen, kämpfen mit Panikattacken. Natürlich wird er die Situation niemals mit den Augen der Älteren betrachten können. Trotzdem erwarten alle, dass er genau das tut.

Er kann es sich alles bildlich vorstellen, aber es kommt ihm insgesamt eher wie ein Film und nicht wie reale Vergangenheit vor.

Niemand sollte von ihm erwarten, dass er jede Kleinigkeit, jedes Gefühl haargenau nachvollziehen kann, wenn ihm seine Wirklichkeit doch so vollkommen anders erscheint.

Natürlich kann er froh sein, dass er sich mit diesen Gedanken nicht herumplagen muss, so wie seine Eltern. Auch sie haben diese Vergangenheit erlebt, doch sie sprechen nie darüber.

Einmal hat Theo das Thema beim Mittagessen angeschnitten. Unvermittelt hat er in seiner Neugier gefragt, was sie damals auf der Flucht erlebt hatten.

Keine Antwort. Seine Mutter starrte reglos auf ihren Teller, sein Vater zum Fenster hinaus. Es war so, als hätte er diese Frage nie gestellt.

Das war einer der wenigen Momente seines Lebens, in denen auch ihm die Situation kurz real vorkam. Zu dieser Zeit hat er zum ersten Mal bemerkt, dass die damaligen Ereignisse eben doch nicht abgeschlossen sind und es keine strikte Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt. Die Nachwirkungen werden diese Generation wohl bis in den Tod verfolgen.

An jenem Tag änderte sich, auch ohne dass er eine Antwort auf die Frage bekam, seine komplette Sicht auf die Menschen in dieser Stadt. Er erkannte es fortan auch in den Gesichtern auf der Straße; dieselbe Leere, die seine Eltern täglich so gut es nur geht zu überspielen versuchen. Manchmal fühlt es sich so an, als hätten sich die Menschen um ihn herum an jenem Tag verändert. In Wahrheit hat er sie vorher einfach mit den Augen eines naiven Kindes gesehen; ihre Fassade hat er gesehen und jedes Bröckeln daran ignoriert. Was wirklich in ihnen vorging, war ihm bis dato völlig entgangen.

Aus den vielen fröhlichen Menschen seiner Kindheitserinnerungen sind nun hohle Fratzen geworden. Ein einziges großes Theaterstück. Wie viel seiner Erinnerung entspricht der Wahrheit und welchen Teil sah er nur so, weil er es zu diesem Zeitpunkt nicht besser wusste?

Obwohl ihm klar ist, dass die Älteren seine skurrilen Gedanken als Respektlosigkeit gegenüber ihrem Schicksal werten würden, kann er sie nicht unterbinden.

Wenn er nach unten blickt, sieht er eine tanzende Meute, der die Musik fehlt. Er ermahnt sich jedes Mal selbst für diese Gedanken. Innerlich lacht er dann trotzdem.

Doch vielleicht denken einige andere ja genauso, nur redet eben niemand darüber. Diese aufgezwungene Humorlosigkeit hilft ja praktisch niemandem. Ist es denn so schlimm, beides gleichzeitig denken zu können?

Ändern kann man dadurch, dass man sich den Spaß verbietet, wohl auch nichts mehr. Man sollte wenigstens versuchen, sich so gut es geht mit der Situation abzufinden. Irgendwann muss man mit der Vergangenheit abschließen und auch wieder Spaß haben. Warum lebt man sonst überhaupt?

Bestimmt war das Leben vor dem Ausbruch viel unbeschwerter. Hatten die Menschen damals überhaupt ernsthafte Probleme? So gut wie nie hat er etwas Negatives über diese Zeit gehört. Den Erzählungen nach war es ein Schlaraffenland, in dem jeder tun konnte, wonach ihm der Sinn stand.

In einem Buch hat Theo einmal gelesen, dass positive Erinnerungen länger im Gedächtnis der Menschen bleiben als die Negativen. Dieser Fakt relativiert ihre Aussagen natürlich. Ob Theo später einmal genauso über seine Kindheit erzählen wird?

Schließlich ist auch jetzt nicht alles schlecht. Und wenn Theos Gehirn irgendwann die negativen Aspekte herausfiltert, bleibt sicher noch etwas übrig, um davon seinen Kindern vorschwärmen zu können.

Gerne würde Theo seinen Eltern verständlich machen, dass jeder Einzelne in dieser Stadt auch wahnsinniges Glück hatte. Dass gerade sie es geschafft haben, widerspricht jeglicher Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und ohne diesen Umstand wäre Theo schließlich nicht hier.

Sein Fazit lautet also: In allem Negativen steckt auch etwas Positives.

Natürlich ist ihm klar, dass das ein wirklich bescheuert verallgemeinerndes Resultat seiner Gedanken ist. Er muss fast ein wenig schmunzeln über diesen kläglichen Versuch, das Thema abzuschließen.

Theo schaut auf seine Uhr, deren Glas das Mondlicht reflektiert. 23:37 Uhr zeigt die goldene Rolex. Sie ist ein Geschenk seines Vaters, der sie noch vor einem Jahr selbst jeden Tag an seinem Handgelenk trug. Sie gehörte einmal seinem Großvater und ist das einzige noch vorhandene Familienerbstück.

Allem Anschein nach wird Theo nun ihr letzter Träger sein, denn sie tickt mit der einzig verbliebenen Ersatzbatterie. So ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihren Dienst beendet und für immer stillsteht.

Schon komisch irgendwie. Da fehlt so eine winzig kleine Batterie, früher ein nahezu wertloser Gegenstand, und schon ist die so schön funkelnde Uhr völlig nutzlos.

Wahrscheinlich hat die Batterie jetzt einen weitaus höheren Wert als die Golduhr. So schnell kann sich das Blatt wenden.

Doch selbst wenn die Rolex bald keinerlei Funktion mehr haben wird, behalten wird Theo sie trotzdem. Schließlich ist sie ein Geschenk und seinem Vater sehr wichtig. Und ihr Tauschwert wird sowieso gleich null sein. Bevor er sie in den Müll oder zu denen da unten wirft, trägt er sie lieber um sein Handgelenk. Dazu kommt die Gewohnheit. Sein Arm und die Rolex gehören einfach zusammen. Nicht einmal zum Waschen legt er sie ab. Ohne diese Uhr würde sich Theos Arm irgendwie unvollständig anfühlen.

»Diese Uhr bekommt ihr sicher nicht. Da braucht ihr gar nicht erst so zu betteln«, ruft er nach unten.

Dann springt Theo auf und klettert die quietschende, rostige Leiter hinunter. In wenigen Minuten beginnt die Ausgangssperre. Diese Regelung erscheint ihm bei weitem als die sinnloseste Entscheidung seit langem. Weil die Straßenbeleuchtung in der Stadt nachts für mehrere Stunden abgeschaltet wird, werden nun alle dazu gezwungen, sich ab Mitternacht in ihren Häusern zu verschanzen.

Die neuerlichen Stromsparmaßnahmen regen ihn auf. Ohne Straßenbeleuchtung kann die Stadt nicht überwacht werden, sagen sie.

Gegen diese Regelung hat natürlich niemand protestiert, da sowieso die meisten das Rausgehen in der Dunkelheit meiden. So sind kurz vor Eintritt der Sperre nur sehr selten Leute auf der Straße anzutreffen. Er blickt in eine leere Gasse. Auch heute wird Theo wohl niemandem begegnen.

Obwohl alle im Grunde wissen, dass die Stadt auch in der Dunkelheit genauso sicher ist wie am Tage, verbringen sie die Zeit nach der Dämmerung im Haus. So ist es auch bei seinen Eltern. Da baut man eine so hohe Mauer, vielleicht sogar ein oder zwei Meter höher, als sie sein müsste, und die Leute fühlen sich trotzdem nicht sicher. Vielleicht sollte man eine Glaskuppel über die Stadt stülpen, doch vermutlich wäre auch das nicht ausreichend.

Jedes Mal, wenn sich Theo auf den Weg zur Mauer macht, behauptet er, er besuche einen Schulfreund. Natürlich sei er dort sicher beschützt im Haus und den Rückweg gehe er natürlich auf kürzestem Wege, quasi Luftlinie, und im Eiltempo. Seine Eltern ließen ihn sonst niemals alleine aus dem Haus. Sie bilden da leider keine Ausnahme zu den anderen übervorsichtigen Erwachsenen.

Und ihre Meinung darüber zu ändern, versucht er gar nicht erst. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er seinen Vater in dieser Sache umstimmen könnte. Eher würde sein vergeblicher Versuch Ernsts Aufmerksamkeit auf seine Lügengeschichte lenken. Und dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis alles aufflöge.

Der Heimweg ist nicht sehr lang. Theo spaziert mitten über die breite Straße, an deren Ende bereits sein Zuhause erkennbar ist, und zählt die Risse im Asphalt, um sich die Zeit zu vertreiben.

Theo wohnt auf dem Kronenweg außerhalb des neuen Stadtzentrums. Obwohl den Straßen inzwischen kryptische Namen zugewiesen wurden, so bleibt er bei den Namen, die vorher auf den Schildern zu lesen waren. Das Reihenhaus, in dem er zusammen mit seinen Eltern wohnt, ist eigentlich zu klein für drei Personen. Was man bei Nacht nicht erkennt, ist, dass aus dem ehemals weißen Anstrich mittlerweile ein schmutziger Grauton geworden ist. Farbe für einen Neuanstrich gibt es natürlich nicht mehr. Und selbst wenn, würde das in seiner Familie trotzdem niemanden interessieren. Zu den Personen in der Nachbarschaft, die ihr Grundstück mit einer Hingabe pflegen, als hätte es nie eine Epidemie gegeben – wahrscheinlich aus nostalgischen Gründen – gehören seine Eltern ganz sicher nicht.

Sein Vater hat den Gartenzaun mit Holzbrettern erhöht, verstärkt und einen Stacheldraht entlang der oberen Kante gezogen. Insgesamt wirkt der Kronenweg wie eine Mischung aus Gartenschau und Hochsicherheitstrakt.

Theo unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen zwei Arten von Menschen. Die, die dauerhaft auf den Notfall vorbereitet sein wollen, und die, die es ignorieren und möglichst wie vor dem Ausbruch leben. Typ Zwei ist natürlich seltener anzutreffen, doch sein Nachbar Tom gehört zu dieser Gruppe.

Er sagt immer: »Das ist Schwachsinn! Wenn die einmal hier drin sind, dann nützt so ein blöder Holzzaun auch nicht mehr viel.« Wahrscheinlich hat er damit vollkommen Recht, aber seine Mutter fühlt sich sicherer mit dem Zaun und so hat sein Vater das Ding eben gebaut.

Einen Moment lang betrachtet er das dilettantisch zusammengebaute Restholzgebilde, das den gesamten Vorgarten umzäunt. Kein Wunder, dass man seinen Vater nicht zum Schreiner ernannt hat.

Theo öffnet das Gartentor. Durch das große Wohnzimmerfenster scheint, wie erwartet, das flackernde Licht einer Kerze. Die letzten drei Glühbirnen, die sie noch besitzen, werden geschont. Nur zu besonderen Anlässen werden sie in ihre Fassungen geschraubt.

Drinnen angekommen hört er die Stimme seines Vaters aus dem Wohnzimmer in den Flur hinein hallen:

»Theo, komm mal kurz her!«

Theo betritt das Wohnzimmer, in dem der kleine dickliche Mann wie gewöhnlich zu später Stunde in seinem Schaukelstuhl sitzt und liest.

Vor dem Ausbruch war Ernst-Dieter noch wesentlich dicker. Das ist zumindest das, was er jedem sofort als erstes mitteilt, wenn sein Gewicht zur Sprache kommt. Und darüber sprechen wirklich so einige. Jedes Mal läuft er dann rot an, fast so wie in einem Comic, nur dass ihm kein Rauch aus den Ohren schießt. Dabei passiert es jedoch nie, dass er deswegen die Fassung verliert. Bis auf eine Farbänderung zeigt er kaum emotionale Reaktionen. Eigentlich hat sein Vater eine bemerkenswert große Ähnlichkeit mit einem Chamäleon. Das liegt nicht allein an seiner Farbwechselfähigkeit oder der eingefrorenen Mimik. Schuld daran ist ebenfalls seine Brillenkonstruktion, durch deren falsch ausgerichtete Lupengläser er leicht schielt.

Das ungewöhnliche Gestell ist inzwischen fast so etwas wie sein Markenzeichen geworden. Es fällt jedem als erstes ins Auge. Die alte Brille hatte den Ausbruch unbeschadet überstanden, doch sein im Halbschaf ins Bett torkelnder Vater hinterließ vom linken Glas nur ein paar winzig kleine Scherben. Einen passenden Ersatz gab es natürlich nicht, zumal seine Augen eine unterschiedliche Sehstärke haben. So hat er sich notgedrungen aus dem Rest seiner alten Brille und den Augengläsern eines Nachbarn ein Provisorium gebastelt, ähnlich professionell wie das Restholzgebilde im Vorgarten.

Wochenlang hat er sich damals über sein Missgeschick geärgert und jeden Blick in den Spiegel verflucht. Insgesamt kann er jedoch froh sein, dass er überhaupt noch etwas sehen kann. Die Optik spielt in diesem Fall wohl eine untergeordnete Rolle. Es hätte ihn weitaus schlimmer treffen können. Ohne diesen Notbehelf würde er jetzt blind wie ein Maulwurf durch die Gegend irren. Lieber ein Chamäleon als ein Maulwurf. Die Brille erfüllt zumindest ihren Zweck.

»Was gibt es, Ernst?«, fragt Theo.

Obwohl jeder weiß, dass er Dieter genannt werden will, nennen ihn die meisten Ernst, was wohl auf seine Außenwirkung zurückzuführen ist. Sein Vater hasst das.

Eine Zeit lang hat ihn Theo fast täglich mit einem neuen Wortspiel über seinen Namen genervt. Sein Name bietet wirklich viel Potential, um sich darüber lustig zu machen. Inzwischen passiert es sogar hin und wieder seiner Mutter, dass sie ihren Mann mit dem ungeliebten Vornamen anspricht. Wirklich lustig findet sie den Namen oder Theos Scherze darüber nicht einmal, doch ein kurzes Schmunzeln kann sie sich daraufhin nur selten verkneifen. Das darauf folgende überzogene, eher an ein Kind erinnernde, Schmollen seines Vaters ist vermutlich überhaupt erst der Grund für ihre Mimikentgleisung. Und je mehr sie sich zu amüsieren scheint, desto heftiger folgt seine Reaktion. Ein Teufelskreis, der dann mit sofortiger Wirkung jegliche Konversation zwischen seinen Eltern für eine Weile beendet. Was zuerst da war, das Schmollen oder das Schmunzeln, weiß mit Sicherheit niemand von beiden mehr. Es ist wie mit dem Huhn und dem Ei, nur lustiger. Seine Eltern scheinen dieses Verhaltensmuster nicht durchbrechen zu wollen.

»Wo warst du?«, fragt Ernst-Dieter, ohne dabei aufzublicken. Er blättert in seinem Buch.

»Bei Pitz. Das weißt du doch«, erwidert Theo kurz und bündig und dreht sich währenddessen langsam wieder in Richtung Flur um.

»Soso«, lautet die Antwort, »Da sagt deine Mutter aber etwas ganz anderes. «

»Was sagt sie denn?«

Ist seine Lüge aufgeflogen? Irgendwann musste es ja so kommen. Aber wie konnte er davon erfahren?

»Oh! Ich hab… «

»Was hast du draußen gemacht?«

»So dies und das, eigentlich nur rumgesessen und nachgedacht.«

»Soso«, wiederholt Ernst, »Rumgesessen und nachgedacht. Darüber reden wir noch. «

Das ist typisch. Theo kann sich nicht daran erinnern, dass er je direkt eine Strafe bekommen hätte. Sein Vater trifft nie eine Entscheidung aus einer Laune heraus. Schlimmer als die eigentliche Strafe ist meist das Warten darauf. Die Strafe gibt es dann am nächsten Tag zum Frühstück aufgetischt.

»Ich bin in meinem Zimmer. «

»Lass dir bloß nicht nochmal einfallen, in der Nacht draußen zu bleiben! Und sei leise, wenn du hochgehst!«

»Ist Mama schon im Bett?«

Keine Reaktion.

Entweder nimmt sein Vater die Frage, wieder in das Buch vertieft, gar nicht wahr oder er ignoriert sie ganz einfach, wie so oft bei schlechter Laune. Noch einmal fragen wird er nicht. Stattdessen marschiert er schweigend die Treppe hinauf.

Theos Zimmer ist klein und sehr chaotisch. »Ordnung ist ein Fremdwort für dich. « ist wohl einer der Lieblingssätze seiner Mutter.

Direkt tritt er zum Dachfenster hinüber und öffnet es. Heute ist das nötig, denn die gesamte Hitze des Tages staut sich in dem kleinen Raum. Noch einmal wirft er einen kurzen Blick auf die leere Straße. Die Straßenbeleuchtung ist bereits abgeschaltet worden. Nur der Gartenzaun und einige Dächer werden vom Mondlicht angestrahlt.

Theo beobachtet, wie in den Nachbarhäusern nach und nach die Kerzen erlischen. Für viele ist das Abschalten der Straßenlaternen das Signal zur Bettruhe. Also eine Art Anti-Wecker.

Seine Mutter betritt das Zimmer. Sie wirkt noch dürrer als sonst. Ihre zerzausten Haare erinnern ihn an einen Strohballen auf dem Feld. Mit halb zugekniffenen Augen murmelt sie: »Denk daran, dass du morgen wieder in die Schule musst. Ich werde nicht da sein, um dich zu wecken oder dir Frühstück zu machen. Nicht wieder verschlafen!«

»Ja, ja, ich stell mir den Wecker. Ich dachte, du wärst schon im Bett.«

»Ja, bis du die Treppe hochkamst, war ich das auch.«

Die Holztreppe im Flur kann ziemlich laut sein. Auch Theo wird manchmal von dem Knarzen wach, wenn jemand mitten in der Nacht zur Toilette oder in die Küche wandert.

»Tut mir leid, ich habe versucht leise zu sein. Gute Nacht«, sagt er und wirft sich auf die Matratze. Elena kämmt sich noch einmal mit der Hand die blond-grauen Haare zurück, bevor sie, ohne noch ein Wort zu sagen, die Tür schließt. Ihre dumpfen Schritte im Flur werden leiser.

Theo kann meist nicht direkt einschlafen. Er ist ein Nachtmensch. Es gibt Leute, die können jeden Tag früh aufstehen, fallen dann nachts erschöpft ins Bett und schlafen sofort wie ein Baby. Bei ihm klappt das nie. Jeden Morgen wacht er mürrisch und schlaftrunken auf, nachts hingegen liegt er hellwach da und starrt an seine Zimmerdecke.

Sonntagnacht ist der Zeitpunkt der Woche, den Theo am wenigsten leiden kann. Volle fünf Schultage liegen vor ihm. Und das wiederum bedeutet fünf Tage langweilige Quälerei.

In der Schule werden sie lediglich in einfachen praktischen Fächern unterrichtet, die nützlich für die Allgemeinheit sind, aber ihn meist nicht interessieren; Grundlagen in Elektronik und Mathematik, Ackerbau, ab und an auch ein wenig Biologie und so weiter.

Pro Klasse unterrichtet eine fest zugewiesene Lehrkraft, ab und zu kommen aber auch mal Handwerker vorbei und erzählen etwas aus ihrem Berufsleben. Doch das ist meist auch nicht viel interessanter. Das Niveau ist unleugbar niedrig. So kommt es, dass sich Theo einen Großteil seiner Bildung aus Büchern angeeignet hat. Dabei ist ihm gleich, um was für ein Buch es sich handelt, Hauptsache, es basiert auf Fakten. Immer, wenn er genug Zeit findet, hängt er über seinen Büchern, manchmal sogar tagelang ohne Unterbrechung. Da ist es sehr praktisch, dass sein Vater in der Bibliothek arbeitet und ihm so jedes Buch, das er lesen möchte, direkt mitbringen kann.

Schon lange sind alle Bücher für die Allgemeinheit zugänglich. Man hat damals entschieden, dass das gesamte Lesematerial aus den Privathaushalten der städtischen Bibliothek zur Verfügung gestellt wird. Natürlich ist das sinnvoll, da sonst die große Nachfrage wohl nicht mehr bedient werden könnte.

Seit der Fernseher nur noch als Staubfänger dient, ist das Buch als eine der wenigen verbliebenen Beschäftigungsmöglichkeiten wahrscheinlich beliebter als je zuvor. Was können die Menschen auch anderes tun, wenn sie die Nacht im Haus verbringen. Entweder sie spielen Karten oder sie lesen.

Und Theo liest eben lieber, als dass er Gesellschaftsspiele spielt.

Außerhalb der Schule hat er nur mit wenigen aus seiner Klasse Kontakt. Streng genommen lediglich mit zwei Personen.

Pitz, vollständig Frank Pitzler, ist ein Jahr jünger als er und – Theo hat ihn noch nie so bezeichnet – sein bester Freund. Auf den ersten Blick wirkt er ziemlich unscheinbar. Selbst auf dem Familienfoto in seinem Flur erkennt man ihn nicht. Nur die zotteligen Haare ragen hinter seinen vier Geschwistern hervor.

Wer ihn länger kennt, weiß, dass dieser erste Eindruck nicht falscher sein könnte.

Pitz' Vater arbeitet in der städtischen Windkraftanlage als Elektroniker. So hat sein Freund schon als Kind anstatt mit Bauklötzen und Murmeln mit Kabeln und Kondensatoren hantiert.

Die zweite Person ist Hanna: Schulterlange braune Haare, Grübchen, Sommersprossen. Sein bestgehütetes Geheimnis ist, dass er schon seit der fünften Klasse in ihr mehr als nur eine Freundin sieht. Das liegt wohl vor allem an ihrem untypischen Verhalten. Pitz sagt immer, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie sich die ersten Stoppeln aus dem Gesicht rasieren müsse. Es ist dementsprechend einfach mit ihr befreundet zu sein, wenn man nicht gerade in sie verliebt ist.

Da sie und Theo schon seit der Einschulung sehr gute Freunde sind und er darauf auf keinen Fall verzichten will, wird er ihr wohl nie von seinen Gefühlen erzählen können. Damit muss er sich irgendwie arrangieren, doch es fällt ihm schwer, sich mit seiner selbstauferlegten Verhaltensschablone anzufreunden. So hat es bei Hanna lange gedauert, bis er gewisse Auffälligkeiten wie ein zu langes Anstarren oder seine Wortnot im Gespräch mit ihr ablegen konnte.

Für ihn ist das gesamte Leben eine Ansammlung von Kompromissen, die einen ganz ok leben lassen. Kompromisse, die sowohl gutes, als auch schlechtes verursachen. Man muss ständig abwägen, mit welchem man besser leben kann. Und weil man die Folgen einer Entscheidung nie voraussehen kann, ist es meist ganz unmöglich, sich richtig zu entscheiden.

In diesem konkreten Fall hatte Theo zunächst versucht, die Vor- und Nachteile aufzulisten, um so eine logische Entscheidung treffen zu können. Das funktionierte überhaupt nicht. Am Ende war er sich doch unsicher.

Und wenn man sich mit einer Entscheidung nicht sicher sein kann, dann belässt man es am besten so, wie es bereits jahrelang funktioniert.

KAPITEL 2

Theo schlendert den Trampelpfad entlang, möglichst langsam. Am liebsten liefe er rückwärts.

Die roten Backsteine des Schulgebäudes glühen in der Sonne, deren Spiegelung im hohen Metalltor vor dem Haupteingang ihn blendet.

Von weitem könnte man den Bau irrtümlicherweise für ansehnlich halten. Spätestens, wenn man direkt unter dem Torbogen steht, hat man diesen Gedanken verworfen. Renovierungen hat der alte Bau schon viel zu lange nicht erhalten. Marode war er vermutlich schon vor dem Ausbruch. Und um einem Sprichwort zu widersprechen: Die Zeit heilt nicht alle Wunden.

Undichte Stellen im Dach, bröckelnder Putz, keine Heizung im Winter.

Der große Brand im letzten Jahr ließ von Gebäudetrakt A nichts weiter als ein paar verrußte Mauern übrig.

Theo hätte es nicht gestört, wenn man sich mit dem Löschen des Feuers etwas mehr Zeit gelassen hätte. Dem beherzten Einsatz der freiwilligen Feuerwehr ist es zu verdanken, dass sie sich jetzt die verschonten Gebäudeteile mit den unteren Stufen teilen dürfen.

Diese Lösung war sicherlich die einfachste und günstigste. Ungefähr so müsste sich Ernst in einem T-Shirt Größe S fühlen. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, hat man zusätzlich entschieden, einen Großteil der Freifläche um das Gebäude für den Anbau von Kartoffeln zu nutzen. So tummeln sich in den Pausen hunderte Schüler auf einem winzigen Schulhof.

Sein Wunsch, dieser Stadt zu entfliehen, war nie deutlicher spürbar als in dem Moment, in dem er das erste Mal vom Balkon im ersten Stock auf den menschlichen Ameisenhaufen im Hof herunterblickte.

Es ärgert ihn, dass sich nach und nach jede Freifläche in der Stadt in eine Ackerfläche verwandelt, auch wenn er weiß, dass dies nötig ist, um den Nahrungsbedarf zu decken. Die Sinnhaftigkeit stellt er nicht in Frage, ihn stört allein die Konsequenz: Platzmangel.

Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis man auch die Ruine von Gebäude A, die zurzeit den Jüngeren als übergroßes Klettergerüst dient, durch weitere Kartoffelpflänzchen ersetzt.

Unbeachtet betritt Theo den Schulhof. Überall um ihn herum haben sich bereits Menschentrauben gebildet und erzählen sich die Neuigkeiten des Wochenendes. Er drängt sich einfach zwischen ihnen hindurch und versucht einen freien Sitzplatz auf einer der wenigen Bänke vor dem Eingang zu finden.

»Hey T…Theo«, vernimmt er hinter sich. Pitz' Stimme würde er mit verbundenen Augen unter tausenden heraushören. Wenn man ihn zum ersten Mal sprechen hört, empfindet man sie wohl als merkwürdig. Manchmal klingt es, als würde er sich fast verschlucken. Normalerweise fällt ihm diese Eigenart seines Freundes gar nicht mehr auf, doch heute dringt Pitz' Stottern in sein Bewusstsein zurück.

»Hi, alles klar?«

»Ja, soweit schon. Ist halt nur Montagmorgen!«

»Ja, ich leide mit dir. Mein Vater hat gestern irgendwie von deiner Mutter erfahren, dass ich nicht bei dir war. Heute Morgen war er schon vor mir aus dem Haus. Jetzt darf ich noch länger auf seine endlose Predigt warten. Darauf kann ich gut verzichten. Drum herum kommen werde ich sowieso nicht. Du kennst das ja.«

»Naja, ich denke mal, die haben sich auf der Straße getroffen. Meine Mutter hat im Moment wieder so eine Phase, wo sie den ganzen Tag die Straße rauf und runter läuft, weil sie es im Haus nicht aushält. Das legt sich bald wieder. «

»Das Dumme ist nur, dass ich mir beim nächsten Mal was anderes einfallen lassen muss, falls das überhaupt noch klappen sollte.«

»Du brauchst 'ne Freundin, dann hast du immer ein glaubwürdiges Alibi. «

»Ach. Du klingst schon wie meine Mutter: Wer war denn das Mädchen bei dir auf dem Zimmer? Hast du eine Freundin? Dabei war es nur Hanna.«

Oft fällt Theo selbst auf, dass er zu häufig auf Hanna zu sprechen kommt. Vermeiden kann er es trotzdem nur selten. Wie lange wird er sein Geheimnis noch vor seinem Freund verbergen können? Vielleicht hat er es bereits herausgefunden, oder ahnt es zumindest. Er ist ja schließlich nicht dämlich.

»Naja, Eltern halt. Lass uns mal reingehen«, schlägt Theo vor, um das Gespräch schnell zu beenden.

Das einzige Fenster im langen Flur von Gebäudetrakt B hat man mit Brettern zugenagelt. Irgendwer hat vor Jahren einen Stein hineingeworfen. Und weil Glas schwierig zu ersetzen ist, hat man es kurzerhand mit Holz verkleidet.

Sie sagen, es wäre nun auch sicherer im Notfall. Theo findet es hauptsächlich dunkler, vor allem, seit auch die letzte Leuchtröhre ihren Dienst beendet hat. Jetzt fällt einzig durch die geöffneten Türen der Klassenzimmer ein wenig Licht in den Gang hinein. Und wie könnte es anders sein: Sein Klassenzimmer liegt genau am Ende des Flures.

Manchmal, wenn er zu spät zum Unterricht kommt, sind bereits alle Türen geschlossen. Dann muss er aufpassen, sich nicht den Kopf an einem der vielen Kleiderständer zu stoßen.

Theos Orientierung im Dunkeln ist eigentlich recht gut, nur die ersten Male musste er sich zögerlich an die richtige Tür herantasten. Inzwischen weiß er, dass er genau 78 Schritte gehen muss, bis er sein Klassenzimmer erreicht hat.

Eigentlich hat Theo sich vorgenommen, sich nicht weiter über den Zustand des Gebäudes zu beschweren. Schließlich will er nicht so wie die Älteren klingen. Es hilft ja doch nichts. Bei fast jeder sogenannten Reparatur, egal um was es geht, muss man am Ende einen Rückschritt hinnehmen. Hoffentlich wird es bald wieder bessere Zeiten geben.

Heute steht die Tür des Klassenraums weit offen und so braucht er nur geradewegs auf das Licht zulaufen.

Jedes Mal fühlt sich Theo wie ein Insekt, das in der Nacht vom Licht einer Taschenlampe angezogen wird. Der Unterschied ist nur, dass ihn rein gar nichts zu diesem Raum hinzieht. Im Grunde ist sogar das Gegenteil der Fall. Gerne würde er vor dem Licht fliehen. Er sollte umziehen, vor der Mauer leben. Da hätte er sicher viele Gleichgesinnte um sich.

Ungefähr auf der Hälfte des Gangs angekommen, hört er erneut eine bekannte Stimme hinter sich: »Theo, warte!«

Sofort bleibt er stehen, dreht sich reflexartig zur Seite und sucht in der Dunkelheit nach Hanna.

»Hi, bin hier vorne!«, antwortet er. Wenn er mit ihr redet, gibt er sich immer große Mühe, alle Sätze so sachlich wie möglich zu formulieren. Bloß kein Wort zu viel. Eine falsche Randbemerkung und schon ist seine Tarnung in Gefahr. Das ist oft anstrengend.

»Theo?«

Hanna scheint schon näher gekommen zu sein.

»Hast du den Vortrag vorbereitet?«, fragt sie.

»Oh, der Vortrag.«

Bereits kurz nach dem Aufstehen beschlich Theo das Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben. Jedoch konnte er die passende Schublade in seinem Kopf nicht finden und hatte es in der morgendlichen Hektik gleich wieder verdrängt. Wenn seine Mutter wüsste, wie es manchmal in seinem Kopf zugeht, würde sie nie wieder den Zustand seines Zimmers kritisieren.

Das ist bei weitem nicht das erste Mal in diesem Monat, dass er seine Hausaufgaben vergisst. Was seine Eltern Faulheit schimpfen, nennt er ein alternatives Zeitmanagementkonzept. Den Wortlaut hat er aus irgendeinem Buch aufgeschnappt. Da die Lebenszeit eine konstante Größe ist, muss er zwangsläufig für jede sinnlose Tätigkeit, und dazu zählt er Hausaufgaben, das Zeitfenster einer sinnvolleren Tätigkeit beschränken. Und sinnvoller ist eigentlich alles andere.

Trotzdem ärgert es Theo jedes Mal, wenn er die Aufgaben vergessen hat. Und zwar, weil Herr Flink ihn dann immer vor der ganzen Klasse vorführt. Das kann richtig peinlich sein.

»Verdammt!«, ruft er ihr entgegen, »Was mache ich denn jetzt nur?«

»Dich bedanken«, flüstert sie direkt in sein Ohr. Sie drückt ihm einen Zettel in die Hand.

»War mir klar, dass du nicht daran denkst, deshalb hab ich dir meine Notizen mitgebracht. Hab sie sogar auf dem Weg zur Schule zusammengefasst«, erklärt sie und grinst ihn an.

»D…Danke!«, stottert er etwas. Wieder kein Wort zu viel.

»Fängst du jetzt schon wie Pitz an? Wenn du mich nicht hättest…«

»Ich bin auch h…hier, Hanna. Das ist nicht komisch«, tut Pitz beleidigt.

»Du kommst drüber hinweg«, lacht sie.

Dank Hannas Notizen ist Theos Vortrag über die Erzeugung von Solarenergie in Herrn Flinks Augen eine halbwegs akzeptable Leistung. Bis auf einige kleine Aussetzer klingt es zumindest so, als sei Theo nicht völlig unvorbereitet.

»Gut, gut, Theo. Diesmal war es ja wider Erwarten ganz ordentlich«, lobt ihn sein Lehrer sogar, »Siehst du! Wenn du willst, dann kannst du es auch. Ich hoffe, dass es sich hierbei um keinen Ausrutscher handelt. Weiter so.«

»Kann ich mich setzen?«

»Ja, kannst du.«

Während Theo zu seinem Sitzplatz zurück schlurft, formt er mit den Lippen ein lautloses »Danke« in Richtung Hanna.

»Theo, wäre das nicht etwas für dich?«, fragt Herr Flink in seinem Rücken.

»Was meinen Sie?«, dreht er sich fragend um.

»Na, Erzeugung von Solarenergie. Ein interessantes Berufsfeld oder nicht?«

»Ja, interessant«, nickt er ab, ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen.

Vor kurzem hat er im Gespräch seiner Eltern aufgeschnappt, dass sie sich vor dem Ausbruch frei entscheiden konnten, welchen Beruf sie ausüben möchten.

Für Theo wird das nicht mehr möglich sein. Ihm wird der Beruf je nach Talent und Arbeitskraftmangel zugewiesen.

Das ist ihm eigentlich egal, denn selbst wenn er sich etwas aussuchen könnte, wüsste er nicht, wie er entscheiden sollte. Allgemein ist es natürlich besser, eine Wahl zu haben, aber ab und an ist es auch einfacher, wenn jemand anderes die Entscheidung trifft.

Das Berufsleben interessiert ihn generell nicht, denn ein Beruf ist ja allgemein ein notwendiges Übel wie der Schulunterricht oder das Aufräumen seines Zimmers.

Damit stößt er bei seinen Klassenkameraden immer wieder auf Unverständnis. Einige erwarten bereits mit Sehnsucht den Tag, an dem sie der Gemeinschaft etwas zurückgeben können, endlich ein produktives Mitglied der Bevölkerung darstellen.

Theo findet, eine Arbeitskraft mehr oder weniger verbessert die Gesamtsituation sowieso nicht merkbar. In der Stadt gibt es mit Sicherheit mehr Probleme, als man mit noch so viel Schweiß lösen kann.

Sein Nachbar Tom sagt immer: »Die Schule haben sie nur wieder eingeführt, um euch durch einen geregelten Alltag von den vielen Problemen abzulenken.«

Elena nennt Tom einen Schwarzseher.

Die Glocke zum Schulschluss reißt Theo aus seinen Gedanken. Schon wieder hat er nur geistesabwesend da gesessen und von Herrn Flinks heutigem Unterricht kaum etwas mitbekommen.

Er springt auf und marschiert zusammen mit den anderen Schülern, die ebenfalls aus den Klassenräumen strömen, zurück auf den Schulhof, wo er wie üblich auf Hanna wartet.

Auf dem Rückweg nimmt Theo gerne einen Umweg in Kauf. Das liegt zum einen daran, dass die Strecke am Kraftwerk vorbei viel ruhiger ist, der Hauptgrund ist aber, dass er so Hanna bis zu ihrer Haustür begleiten kann.

Die beiden schlendern den Feldweg hinter dem Kraftwerk entlang. Von den Weizenhalmen sind seit der Ernte nur noch kurze Stoppeln übrig geblieben. Bis auf ein paar vereinzelte Bäume und leerstehende Häuser, die ihnen als Orientierungspunkte dienen, sieht alles gleich aus. Manchmal wirkt es so, als würde man sich auf der Stelle bewegen.

Damals, als man noch rausgefahren ist, um Lebensmittel, Benzin und Medikamente zu besorgen, waren hier viel mehr Menschen zu sehen. Jetzt sieht man nur ab und zu mal jemanden mit dem Fahrrad vorbei sausen.

Das alte Stahltor, dem sie immer näher kommen, ist die einzig verbliebene Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Geöffnet wurde es jedoch schon lange nicht mehr. Seit es in den umliegenden Geisterstädten nichts mehr zu finden gibt, für das sich das Risiko lohnen würde, es zu öffnen, rostet es weiter vor sich hin.

Sein Vater ist damals auch in einer dieser Städte gewesen. Es war sehr riskant und oft kamen nicht alle Personen, die aus dem Tor hinausfuhren, wieder durch selbiges zurück.

Daher war es auch keine Aufgabe, die die Menschen gern erledigten. Wenn sich nicht genug Freiwillige meldeten, wurden Personen ausgelost, die dort nach allen möglichen Verbrauchsgütern für die Stadt suchen mussten. Ernst hatte in seinem gesamten Leben nicht einmal in der Lotterie gewonnen, doch als nach dem Ausbruch aus dem Hauptpreis die einzige Niete wurde, traf es ihn gleich zweimal.

Als sie vor dem Tor kurz stehen bleiben, fällt Theo eine der Geschichten seines Vaters ein.

»Hanna, weißt du eigentlich, dass das Bild in unserem Wohnzimmer ein echter Picasso ist?«, fragt er stolz.

»Was ist ein Picasso?«, blickt sie ihn verwirrt an.

Auf die Frage hat er gewartet. Als sein Vater ihm die Geschichte erzählte, hat er dasselbe gefragt.

»Das war mal einer der bekanntesten Künstler vor dem Ausbruch«, will er sie mit seinem Halbwissen beeindrucken, »Seine Bilder waren Millionen wert!«.

Theo blickt kurz auf seine Golduhr, die dasselbe Schicksal teilt. Der Picasso war Millionen Wert und hängt jetzt in seinem Wohnzimmer neben der Strichmännchen-Zeichnung, die er seiner Mutter als Kind zum Geburtstag gemalt hat.

Den Wert eines Gegenstandes bemisst man anscheinend ausschließlich daran, wie viele sich dafür noch interessieren.

»Jedenfalls hat mein Vater das Bild aus einem Museum mitgebracht, als er draußen war. Er hat es dann meiner Mutter zum Hochzeitstag geschenkt und deshalb hängt es im Wohnzimmer.«

»Das war bestimmt gefährlich damals. Hat er da draußen Infis gesehen?«

»Bestimmt, aber genau weiß ich das nicht. Er redet eigentlich so gut wie nie darüber. Es ging in unserem Gespräch nur um den Picasso, nicht um den Rest.«

Sie gehen weiter und schweigen.

Das tun sie oft.

Theo findet es sehr wichtig, gut miteinander schweigen zu können. Manchmal herrscht zwischen ihm und Hanna minutenlang Funkstille, doch dadurch entsteht eigentlich nie eine unbequeme Situation. Wenn man das Ganze von außen betrachtet, könnte man ihr Verhalten wahrscheinlich als einen Streit missdeuten. Zumindest hat man Theo darauf schon mehrmals angesprochen.

Doch die beiden sind nie unterschiedlicher Meinung. Er erinnert sich an keine einzige richtige Meinungsverschiedenheit, jemals. Das ist fast ein wenig gespenstig.

Im Prinzip lässt sich Streit immer vermeiden, wenn man seine Argumente sachlich miteinander austauscht. Wenn man zu keiner Einigung kommt, sucht man eben nach einem Kompromiss. Das steht zumindest in einem Buch, das Theo letzten Monat ausgeliehen hat.

Die Umsetzung ist natürlich nicht so einfach wie die Theorie, zumindest was die Gespräche mit seinen Eltern betrifft. Sein loses Mundwerk macht ihm da jedes Mal aufs Neue einen Strich durch die Rechnung.

Vor Hannas Haustür verabschiedet er sich mit einem gewohnt kurzen »Dann bis morgen!« und geht weiter, noch bevor sie in der Wohnung verschwindet.

Schon seit langem fragt er sich, ob sie ihm hinterherschaut. Umdrehen wird er sich aber sicher nicht. Er marschiert einfach geradeaus weiter.

Theo spaziert an einigen leerstehenden Häusern vorbei. Pflanzen wuchern aus den eingeschlagenen Fensterscheiben. Als Kinder haben sie immer darin Verstecken gespielt. Für viele dieser Häuser findet man noch immer keine neue Verwendung. Das liegt sicherlich daran, dass sie sich inzwischen in einem fürchterlichen Zustand befinden. Und wenn schon eine Schule so wenig Zuwendung erhält, werden diese Häuser wohl ewig auf eine Renovierung warten.

Die meisten leerstehenden Gebäude sind am Rande der Stadt zu finden. Niemand wohnt gerne so nah an der Mauer. Theo würde das überhaupt nicht stören. Im Gegenteil: So müsste er abends nicht so weit zur Mauer laufen.

Seine Golduhr, die das grelle Sonnenlicht reflektiert, blendet ihn. Erst jetzt merkt er, dass der kleine Zeiger schon eine halbe Runde gedreht hat. In Gedanken versunken hat er mal wieder zu viel Zeit vertrödelt.

Zuhause bekommt er das auch direkt von seiner Mutter durch ein begrüßendes »Wo zum Henker warst du?« zu spüren.

»Hallo, freue mich auch, euch zu sehen«, entgegnet er ihr, obwohl er genau weiß, wie sehr sie sich über solche Antworten aufregt. Doch wenn der Grund für ihr Nörgeln so unleugbar trivial ist, kann er sich so einen Kommentar nur schwierig verkneifen.