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Feuerwerk der Gefühle. Das neue Jahrtausend ist zum Greifen nahe, da sieht Kata ihn das erste Mal: Jackson! Doch nach der magischen Silvesternacht in New York verliert Kata den jungen Künstler im Großstadtdschungel aus den Augen. Zurück in München kann sie ihn nicht vergessen – bis sie Samu kennenlernt und sich ein Leben mit ihm aufbaut. Als Kata siebzehn Jahre später jedoch eines von Jacksons Bildern in einer Galerie entdeckt, sind plötzlich alle Erinnerungen wieder da. Auf der Suche nach der Frage, was hätte sein können, reist sie zu seiner Vernissage nach Berlin ... Eine feinfühlige und leidenschaftliche Lovestory über die Frage, ob es nur die eine große Liebe geben kann.
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2023
New York, 1999: Sekunden, bevor das neue Jahrtausend beginnt, erblickt Kata ihn zwischen all den Feierwütigen. In Kapuzenpulli und Jeans steht er plötzlich einfach da – Jackson. Augenblicklich ist Kata fasziniert von dem jungen Künstler, doch nach der gemeinsamen Nacht ist sie derart überfordert von ihren Gefühlen, dass sie das Weite sucht. Ihre einzige Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Jackson bleibt eine hastig niedergekritzelte Festnetznummer zu ihrer WG auf der Upper West Side …München, 2017: Katas Leben steht kopf, als sie frisch getrennt von ihrem Mann Samu, der ihr damals nach New York das Herz zusammengeflickt hat, ein Bild im Schaufenster einer Galerie entdeckt. Das freche Gemälde stammt von niemand anderem als Jackson. Auf einmal sind alle Erinnerungen wieder da und Kata kann nicht anders: Sie muss nach Berlin zu Jacksons Vernissage.
Vanessa Jung wurde 1980 in München geboren. Seit ihrer Kindheit arbeitet sie als Schauspielerin und studierte schließlich in New York an der Neighborhood Playhouse School of the Theatre Schauspielerei. Parallel begann sie Drehbücher zu schreiben und verbindet seitdem die Schauspielerei mit ihrer Arbeit als Autorin. »Zwei Sterne für uns« ist ihr erster Roman. Sie lebt mit ihren beiden Kindern und Mann und Hund in München.
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Vanessa Jung
Zwei Sterne für uns
Roman
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Widmung
New York, 1999
München, 2017
New York, 2000
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Long Island, 2017
München, 2000
Long Island, 2017
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München, 2017
München, 2000
München, 2017
München, 2000
Frankfurt, 2017
Barcelona, 2001
München, 2017
New York, 2023
Impressum
Für Mama, für Omi. Für Sabrina.
Liebe. Das Wort, das alles zusammenbringt, was zwischen zwei Menschen sein kann.
Es war Silvesterabend. Der Abend, die Nacht, der Jahreswechsel, dem die ganze Welt entgegenfieberte. Millennium. Das Jahr 2000 stand kurz bevor. Manche behaupteten, um Punkt Mitternacht gäbe es einen großen Knall und die Welt explodiere, alles würde sich neu justieren. Aber für mich war es nur eine Zahl. Die Erde würde sich einfach weiterdrehen, dachte ich. Dabei ahnte ich nicht, dass meine Welt sich in dieser Nacht schlagartig verändern würde.
Die Stadt, die niemals schläft. Ich stand in einer Schneise Feierwütiger. Meine Mädels waren im Getümmel verloren gegangen. Also nicht direkt. Ich hatte sie verloren. Amy an einen gut aussehenden Boxertypen aus Harlem und Suki an ihren Kunstprofessor, mit dem sie nicht ganz jugendfrei über die Tanzfläche wirbelte. Irgendwie fühlte ich mich merkwürdig, aber nicht alleingelassen, ganz im Gegenteil. Ein ungewohntes Kribbeln erfasste mich. Die Feiermeute war aufgekratzter als gewöhnlich, gemeinsam brüllten sie den alles entscheidenden Countdown. Erwartungsvoll, aber auch etwas angsterfüllt.
Ich ließ das ungewohnte Kribbeln zu und machte seine Quelle aus.
Er stand in einiger Entfernung. Um ihn herum tanzten Knicklichter, sein Gesicht leuchtete abwechselnd neongrün und pink auf. Zu Beginn des Countdowns war er an mir vorbeigehuscht. Als alle »49« riefen, hatte ich schemenhaft sein Gesicht wahrgenommen, spürte eine krasse Anziehung, einzig allein durch seine Anwesenheit in dem aufgeheizten Raum. Ich war unruhig geworden und hatte bis runter zur 25 versucht, seine Gestalt komplett auszumachen.
Jetzt stand er da, jetzt hatte ich freie Bahn. Mein Blick konnte unbehelligt über seinen etwas schlaksigen Körper wandern. Hängende Jeans, ein Kapuzenpulli, die Haare über den Nacken fallend bis zu den Schultern. So entspannt und unaufgeregt stand er einfach da, mir noch den Rücken zugewandt. Bei 12 hatte er sich dann zur Seite gedreht und einem Kumpel zugeprostet. Ich sah, wie sich kleine Lachfalten um seine Augen bildeten. Bei sechs hatte er sich schließlich umgedreht, bei vier sah er auf und setzte in das Zählen ein: »Drei, zwei, eins.« Im tosenden Rausch des gellenden »Happy New Year« wanderten seine Augen durch die Menge der feiernden Gestalten und trafen meine.
Es war, als hätte jemand den Ton ausgeschaltet: Stille.
Wir sahen uns einfach nur an. Trotz etlicher Meter Entfernung. Mein dünnes Glitzerkleid vibrierte. Mein Körper darunter war es, der zitterte, obwohl mir auf einen Schlag knallheiß war. Meine alberne Partykrone blinkte hektisch auf meinem Kopf. Alle um uns herum lagen sich in den Armen, und wir standen, beinahe bewegungslos, durch ein magisches Band voneinander angezogen und doch distanziert, einfach da. Die kleinste Bewegung konnte diese unverhoffte Nähe durchtrennen. War es das, was jetzt geschehen würde?
Durch das Starren begannen meine Augen zu brennen, und ich blinzelte. Er schob seinen Mundwinkel nach oben in ein entwaffnendes Lächeln. Seine im dämmrigen Licht beinahe surreal strahlenden Zähne schienen wie eine Einladung. Der Beat der Musik synchronisierte sich mit meinem Herzschlag. Bum, Bum, Bum. Musste ich jetzt etwas tun?
Diese Entscheidung wurde mir im nächsten Moment abgenommen, als Amy mir schwer und partytrunken um den Hals fiel und mich fast zu Boden riss.
»Happy New Year, German girl!«, kreischte sie schrill in mein Ohr. Ich hatte große Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Beeilte mich, wieder hochzukommen, aber als ich dann aufsah, war es bereits zu spät. Er war verschwunden.
Unruhig klapperten meine Augen den Raum ab. Vergebens. Suki winkte lässig von der Tanzfläche und Amy versuchte, mich aus meiner Starre zu holen, aber ich wollte nicht. Mir war nicht nach tanzen. Mich zog es ins Freie, ich brauchte frische Luft, wollte schnell eine rauchen.
Enttäuscht bahnte ich mir meinen Weg durch tanzende, lachende, vor Freude heulende, singende Menschen. Der große Knall war ausgeblieben, alle hatten überlebt, die Erde drehte sich weiter.
Draußen vor der Bar tummelten sich Massen von Menschen auf der Straße. Es war so kalt, dass sich alle wie Pinguine zusammengerottet hatten, um sich aneinander zu wärmen. Ein tröstender Anblick. Ich sog die eiskalte Januarluft ein und zuckte zusammen, als die Kälte an meinen Zähnen schmerzte. Mein Blick fiel hinauf in den Himmel. Dort erhellten Silvesterraketen das Schwarz der Nacht. Hier und da mischten sich grelle Sterne dazwischen, beinahe winzig, aber doch so klar. Wie tief verborgene Augen, die uns hier unten beobachteten. Ich musste über meine wirren Gedanken schmunzeln. Schon oft hatten mir diese mich ständig beobachtenden Augen den Weg gewiesen.
Hier im Village schienen die Häuser, eng aneinandergeschmiegt, als würden sie mit der Menge tanzen. Ich kniff meine Augen zusammen, die heiße, aufgestaute Luft in der Bar hatte mich beinahe betrunken gemacht. Hatte ich mir all das gerade eben nur eingebildet? Er war aus dem Nichts aufgetaucht und genauso rasch wieder verschwunden. Da und wieder weg. Die Begegnung so kurz, dass die Erinnerung nicht lange würde anhalten können.
Musste sie auch nicht. Nur ein Blick in Richtung der Mülltonnen, und die dort lässig lehnende Gestalt war mir ungewohnt vertraut. Das zum Mund geführte Feuerzeug erhellte für ein paar Sekunden sein Gesicht. Die Flamme blitzte in seinen Augen auf, ehe ihn wieder die Dunkelheit verbarg und nur noch das Glühen seiner Zigarette mir den Weg zeigte.
Seine warme, sichere Stimme mit fettem New-Jersey-Akzent war erstaunlich beruhigend. »Brauchst du Feuer?«
Ich versuchte sein Gesicht auszumachen, ehe ich in seine Richtung ging. Ob ich Feuer brauchte? In mir loderte es bereits.
Mein zum Glitzerkleid passendes Paillettentäschchen baumelte mir über meine halb erfrorene Schulter, als ich mit kalten Fingern versuchte, die zerknautschte Packung Parliament-Zigaretten herauszuziehen. Irgendwann schaffte ich es tatsächlich und schob mir eine Zigarette zwischen die trockenen Lippen. Er richtete sich auf und tauchte im Schein der blinkenden Barbeleuchtung auf. Als er sich zu mir beugte und gentlemanlike meine Zigarette entzündete, meinte ich seinen warmen Atem zu spüren, so nahe kam er mir.
»Ich bin Jackson«, sagte er cool.
»Kata«, entgegnete ich. Er hob eine Braue. »Von Katharina«, ergänzte ich schnell.
Er blies den Rauch aus. »Bist du Deutsche?«
»Ja.«
»Machst du hier Urlaub?«, fragte er bemüht lässig.
Ich sog kräftig den Rauch ein, es brannte in meiner Kehle. Mir gefiel diese Frage irgendwie. Dennoch zögerte ich einen Moment genussvoll.
»Nein, ich studiere an der NYU. Und du?«
Er lächelte.
»Ich lebe hier.«
Ich erwiderte sein Lächeln, denn ohne es auszusprechen, wussten wir, dass wir Zeit hätten, uns kennenzulernen.
Der Schmerz war undefinierbar geworden. Eben noch pochend, dann dröhnend, schließlich nachebbend, ehe er ebenso wütend erneut aufflammte. Mein Spiegelbild glich einer Fratze. Eine Fratze, die mich hämisch wissend angrinste. Sie zeigte mir blökend die Zunge, ehe sie sich zu einem verkrampften Heulgesicht zusammenzog. Keine Träne mehr, schwor ich mir. Keine.
Mein leerer Körper fühlte sich an, als hätte ich einen lang anhaltenden Muskelkater nach zu viel Sport. Alles schmerzte, alles krampfte, alles zog sich zusammen. Mein Magen glich einem verschrumpelten, in der Sonne vertrockneten Apfel. Das Hungerknurren wurde von meinem Schluchzen übertönt.
Ich kapierte mich nicht. Wie konnte jemand, der so gelebt hatte wie ich, derart in Selbstmitleid zergehen? Obwohl ich wusste, dass das nicht stimmte. Es war kein Selbstmitleid. Mein Herz war definitiv gebrochen. In zwei glatte Hälften. Es wieder zu kitten, bedürfe einem Spezialkleber, ultrastark.
Jetzt hockte ich also hier. In der mittlerweile zu groß geratenen Altbauwohnung in Schwabing.
Ich hatte nicht damit gerechnet. So schon gar nicht. Es war zwar ab und zu mal da gewesen, dieses Gefühl, aber die 16 Meter hohe Welle kam dann doch aus dem Nichts. Sie würde brechen, irgendwann. Hatte ich es heraufbeschworen?
Die 16 Meter standen für die 16 Jahre meiner wie ich finde mühevoll, aber vor allem liebevoll errichteten Ehe. War ich all die Jahre eine Surferin gewesen, sich im Balanceakt haltend, immer auf einer Seite? Jedenfalls jetzt, da die Welle brach, stürzte alles über mir zusammen.
Ich drohte unter dem Druck unterzugehen. Wurde von Wasser umspült, japste nach Luft, suchte verzweifelt nach dem richtigen Weg. Würde ich es jemals an die Oberfläche schaffen?
Ich musste der Wahrheit ins Angesicht sehen, auch wenn sie eine Fratze zog: Meine Ehe war über mir zerschellt, und alle Beteiligten irrten nun ziellos im offenen Ozean umher. Mein Mann Samu und die beiden Kinder Paul und Emma. Irgendwie verloren auf offener See. Wann kam das Rettungsboot?
Mir war klar, es lag an mir, die Segel herumzureißen und alle wieder mit an Bord zu hieven. Dann einen sicheren Hafen anzusteuern. Aber bis zum nächsten Sturm waren es nur ein paar Stunden und was, wenn er diesmal nichts von uns übrig lassen würde?
Letzte Woche hatte ich meinen 41. Geburtstag gefeiert. Mit Samu war ich seit 17 Jahren zusammen. Wir heirateten im Jahr, als wir uns kennenlernten, im selben Jahr wurde ich mit Paul schwanger. Fünf Jahre später kam Emma. Alles ganz normal, mein Leben lief gut.
Samu ploppte damals völlig unverhofft in mein Leben. Ich kam rat- und rastlos aus New York nach München zurück. Keinen Cent in der Tasche und außerdem keinen Plan. Ich heulte ununterbrochen. Wehmütig über New York, über mein mir gestohlenes Herz, das ein Fremder im Big Apple mit sich herumschleppte.
Ich mochte Samu auf Anhieb. Seine Ehrlichkeit und die Gabe, die Dinge beim Namen zu nennen. Ihm hingegen gefiel meine dramatische Art. Er selbst kannte derartige Gefühlsausbrüche nicht. Für ihn stand fest, die Zeit in New York hatte mir ganz und gar nicht gutgetan.
Und so passierte es dann. Ich hörte auf, meinem gestohlenen Herzen nachzujagen, heilte das, was noch vorhanden war, und genoss Samus Anwesenheit. Er war immer da. Als hätte man ihn angeknipst, wusste er zu allem den richtigen Rat, Spruch oder Witz. Er war perfekt, weil er allem widersprach, wie ich mir mein Leben vorgestellt hatte.
Die Geburt meines zweiten Kindes, meiner Tochter, ließ mich komplett ankommen. Manchmal konnte ich es nicht fassen, dass ich so viel Glück gehabt hatte. Die Kunst wurde immer mehr zur Nebensache, und ich entfernte mich von der Vorstellung, sie irgendwann einmal zu meinem Beruf zu machen. Als Künstlerin durchzustarten, davon hatte ich damals geträumt. Später, als die Kinder da waren, stellte ich mir dann vor, als Galeristin zu arbeiten. Das alles klappte nicht. Ich steckte zurück, begnügte mich mit einem Job im Archiv der Alten Pinakothek und widmete mich hauptberuflich meiner Familie.
Irgendwann lernte ich, Kunst einfach nur ansehen zu können, ohne total emotional zu werden oder an mein großes Scheitern zu denken. Manchmal schmerzte es noch, dass ich meine Karriere einfach so an mir hatte vorbeiziehen lassen. Dennoch hatte ich ein gutes Leben, eine gute Liebe. Eine, die allen Beteiligten guttat.
Wenn du den Horizont jedoch aus den Augen verlierst, bekommst du nicht mit, wann die Welle bricht.
»Mama!«, schallte die Stimme meiner Tochter durch die bereits leeren Räume. Ich schrak aus meinen Gedanken.
»Mhm?« Meine Stimmte war kaum hörbar, vom Weinen heiser.
»Ich suche meine Kuschelschildkröte.«
Emma kam auf mich zu, und ich sah sie seit Langem mal wieder so richtig an. Meine kleine Große, nächsten Monat würde sie zehn. Ihr Bruder lehnte an der Wohnungstür und wartete darauf, dass es klingelte. Er überragte mich auch aus der Ferne. Wann war er mir buchstäblich entwachsen? Schon mit zwölf waren wir auf Augenhöhe, dann wuchs er einfach weiter und überragte mich. Seitdem Samu ausgezogen war, sprach er nicht mehr mit mir. Würdigte mich kaum eines Blickes, weil er mir die Schuld daran gab, dass sein geliebter Vater litt. Wir kommunizierten nur noch über Emma. Die starke, tapfere Kleine.
Ich bemühte mich, die Tränen zurückzuhalten. Emma wand sich, sie konnte es nicht leiden, wenn ich weinte.
»Die haben wir doch letztes Jahr schon aussortiert«, antwortete ich auf ihre Frage. Emma zuckte mit den Achseln.
»Jetzt will ich sie wieder zurück.« Emma schaffte es, ihre Wut darüber, dass sie jetzt ständig den Ort wechseln sollte, um ihre Eltern zu sehen, runterzuschlucken. Sie schlug sich ehrlich tapfer zwischen den Fronten ihrer Eltern. Sie wollte sich für keinen von uns entscheiden, das musste sie auch nicht.
»Warte, dann suchen wir sie«, sagte ich und fand mühevoll auf die Beine. Ich hasste mich dafür, dass ich mich so gehen ließ. Im Vorbeigehen streifte Emma meinen Arm.
»Das wird schon, Mama.« Sie war eindeutig die erwachsenere von uns beiden.
Die Kinder packten bereits zum zweiten Mal ihre Sachen, um sie in der noch fremden Wohnung ihres Vaters wieder auszupacken. Samu, noch unsicher, wie er die Zeit mit ihnen allein bewerkstelligen sollte, würde jeden Moment klingeln, und die Kinder gehen. Es brach mir mein Herz. Ich kannte dieses Gefühl ja bereits, auch, dass es wieder verheilte. Aber der Schmerz war ein anderer. Meine Kinder derart leiden zu sehen, hielt mir unmittelbar vor Augen, dass ich etwas in ihnen kaputtgemacht hatte. Den Glauben daran, jemanden bedingungslos lieben zu können.
Ich hatte das Boot nicht umlenken können. Nein, ich war es gewesen, die es auflaufen ließ. Ich hatte die Trennung von Samu gewollt, weil ich das Gefühl hatte neben ihm zu ertrinken. Und ich ganz allein hatte die Kinder der Gefahr ausgesetzt, dass sie jetzt ihren Vater lieber haben könnten als mich.
Ich fand das Kuscheltier in einer der Kisten mit den aussortierten Sachen. Der Anblick der zerknautschten Schildkröte versetzte mir einen Stich in die Magengrube. Emma hatte sie zur Einschulung bekommen, sie sollte sie beschützen, wenn sie sich draußen in der großen Welt allein fühlte.
Puh, wenn ich gekonnt hätte, ich hätte in diesem Moment zurückgespult oder zumindest auf Pause gedrückt.
Das klingt jetzt wie eine Phrase aus einem Ratgeber, aber es stimmte. Der gemeinsame Alltag war irgendwann zu meinem Alltag geworden und meine liebevollen Gefühle für Samu durch ständiges Anklagen ersetzt worden. Ich erwischte mich, wie ich neidisch war. Auf meinen eigenen Mann, weil er derjenige war, der beruflich immer weitermachen konnte und so etwas wie eine Karriere aufzuweisen hatte. Weil er nicht unter dem anhaltend schlechten Gewissen litt, seinen Kindern und dem Partner nicht genügen zu können. Weil er nicht an der Veränderung seines Aussehens und seines Körpers litt. Er hatte die Kilos, die er aus Solidarität für mich in den Schwangerschaften zugenommen hatte, wieder runter, joggte jeden Abend seine Runde, hielt sich fit, auch für mich und die Kinder, wie er sagte. Er pflegte seine Freundschaften von früher und war zufrieden. Das dachte ich zumindest immer.
»Ich habe auf so viel verzichtet«, hatte er über einem Glas Rotwein gesagt, als wir nach einigen emotionalen Ausbrüchen das erste Mal die Trennung auf den Tisch packten. »Ich habe immer alles versucht, um diese Familie finanziell gut über Wasser halten zu können.«
Ja, nur mich, mich hast du nicht über Wasser halten können, ich war einfach untergegangen. Blubb, blubb, blubb.
Oh, ich wusste, wie unfair das war, denn Samu hatte mich einst gerettet. Mich in den Genuss gebracht, was es bedeutete, bedingungslos geliebt zu werden. Und ich hatte einfach aufgegeben, mich über die Jahre nicht nur von ihm, sondern vor allem von mir selbst entfernt. Bevor ich ihn getroffen hatte, hatte ich mal etwas gewollt. War das einzig dadurch ersetzt worden, Mama zu sein und zu einer Arbeit zu gehen, die man nicht mochte?
»Du hast so große Panik davor, mit mir hier allein in unserem Zuhause zu sitzen und unsere Kinder in ihre verheißungsvolle Zukunft zu winken. Warum?«
Ich konnte es ihm nicht beantworten. Meine Gefühle waren über den Zustand des andauernden Zukurzkommens so verbittert, dass ich es ihm nicht sagen konnte. Ich hatte mich so sehr darauf versteift, dass Samu am Nichtleben meines eigenen Lebens Schuld hatte, dass ich in der Trennung von ihm die einzige Rückkehrmöglichkeit zu mir selbst sah.
»Ich will, dass wir uns scheiden lassen.«
Die Worte waren damals augenblicklich im Raum verklungen, kein Echo hallte nach und dennoch hatte dieser eine simple Satz massive Folgen. Ich hatte ihn im Affekt schon ein paarmal geschrien, und Samu hatte daraufhin gerufen: »Dann lass dich doch scheiden!« Aber jetzt war ich so ruhig, die Bedrohung so groß, er wusste, dass ich nicht scherzte, und es verletzte ihn zutiefst. Ich hatte keine Trennung vorgeschlagen, kein ›jeder lebt mal für sich‹. Ich wollte das mühevoll aufgebaute Band zwischen uns einreißen – und zwar ein für alle Mal.
An jenem Abend redeten wir seit Langem erstmals wieder über unsere Gefühle. Und doch fingen wir erst an, miteinander zu reden, als schon alles gesagt war. Es war vorbei, Samu zog sich zunächst komplett zurück, dann aus.
Paul würdigte mich keines Blickes, als ich mit Emma zur Tür kam.
»Komm schon«, forderte Emma ihn auf, aber mein Versuch meinem gefühlsstarken Sohn über den Kopf zu streicheln, scheiterte, als er meiner Berührung auswich und sich an seiner Schwester vorbei ins Treppenhaus schob. Wer gibt dir das Recht?, hallte es in meinen Ohren.
Ich machte einen Versuch, ihm zu folgen, aber Emma schüttelte den Kopf und schloss vehement die Tür. Das Schloss in der Tür, es klang wie ein Schuss, mitten ins Herz.
Nach der gemeinsamen Zigarette waren wir entgegen dem Strom der Menschen gelaufen, die ins Herz Manhattans Richtung Times Square wanderten. Uns zog es zum Hudson River, wo die Enge der Stadt am Ufer des Flusses Erleichterung fand. Es war so eisig kalt, alle Umherstreunenden zogen ihre Mäntel und Kapuzen fest um ihre Körper. Aber ich, ich glühte. Wir liefen wie in Zeitlupe. Weiße Rauchwolken schoben sich von unseren Mündern in den kalten Millenniumshimmel.
Er hieß Jackson und hatte sein Kunststudium an der New York University bereits vor ein paar Jahren abgeschlossen. Jetzt arbeitete er als freier Bildhauer und Bühnenbildner für Theater Off-Broadway und tauchte nur noch gelegentlich zu Partys der Uni auf. Das erklärte, warum Jackson überhaupt auf der Silvesterparty war, die der Millennium-Abschlussjahrgang organisiert hatte. Er war dabei, sich in der Stadt einen Namen zu machen. Das war mir in diesem Moment allerdings egal. Ich hatte keine Ahnung warum, aber irgendetwas in mir ließ mich komplett treiben, ohne zu wissen wohin. Orientierung suchte ich nur in seinem Gesicht. Ich konnte nicht wegsehen. Seine Züge waren so wunderbar imperfekt. Seine etwas zu eng aneinander stehenden Augen, die dunklen Pupillen, die mit dem Braun seiner Iris verschwammen, die fein gezogenen Brauen darüber, als seien sie hauptsächlich dazu da, damit seine Lachfältchen ihm nicht aus dem Gesicht fielen. Der etwas schmale Mund, die Grübchen, darüber ein sich in alle Richtung bohrender Bartansatz. Ich musste ihn die ganze Zeit ansehen. Ihm gefiel das. Sein Lächeln war eine Einladung, mehr von ihm wissen zu wollen. Er, Jackson, 28, ursprünglich aus New Jersey, wohnhaft in Lower Manhattan.
»Du bist eiskalt«, bemerkte er, als er zufällig meine Hand berührte.
»Ja, ich spüre nichts«, sagte ich schnell.
»Ist das jetzt gut oder nicht?«, fragte er stirnrunzelnd und mit leicht kratziger Stimme. Sein Amerikanisch war glockenklar.
»Ich spüre die Kälte nicht«, löste ich auf und bemühte mich um ein Lächeln, doch meine Gesichtszüge waren von dem eisigen Wetter tatsächlich wie gelähmt.
Jackson blieb abrupt stehen, öffnete seinen dicken Wollmantel. Ich war völlig verunsichert. Allein schon die Kälte trieb mich zu ihm, es war quasi überlebensnotwendig, dass meine Arme sich unter dem Mantel behutsam auf seine knochigen Hüften legten.
»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, lächelte ich und spürte seinen Atem jetzt ganz nah an meinem Ohr. Ich bekam noch mehr Gänsehaut.
»Schon klar«, flüsterte er zurück und hielt mich einen Moment, die Unsicherheit sprach aus der Art, wie er mich berührte. Wir standen einen Moment so da. Zwei sich völlig Unbekannte in einer nach außen hin sehr innig anmaßenden Umarmung in der Neujahrsnacht in New York City. Wir wirkten wie ein Liebespaar, nicht wie Fremde, die sich gerade erst begegnet waren. Es war befremdlich und anziehend zugleich. Verborgen unter seinem Hoodie konnte ich Jacksons regelmäßigen Herzschlag erspüren, der sich, je länger wir so dastanden, allmählich beschleunigte.
Manche Momente im Leben passieren vollkommen unüberlegt und sie treiben einem später die Schamesröte ins Gesicht. Manch verpasste Gelegenheit löst noch Jahre später eine Enttäuschung aus. Ich dachte in diesem Augenblick mit Jackson an rein gar nichts. Schloss einfach kurz die Augen und sog den Moment ein. Erst dann kamen die Gedanken. Wie absurd, ich kenne diesen Menschen überhaupt nicht. Aber ich schob sie beiseite. Keine Scheu, keine Skepsis. Sonst war ich vorsichtig, immer auf der Hut, vor allem, wenn ich mich Männern näherte. Aber jetzt hörte ich nur auf mein Gefühl, das sich, angefeuert von unseren beiden Herzschlägen, vereinte. In mir breitete sich eine große Sehnsucht nach dem fremden Menschen aus, den ich da einfach so im Arm hielt. Und ich wusste, es war okay. Wir waren okay. Und so umarmte ich nicht nur Jackson, sondern den Augenblick, ganz und gar.
Nachdem die Kinder weg waren, und die Stille der Altbauwohnung in meinen Ohren zu einem unerträglichen Brummen mutierte, schnappte ich mir meinen Mantel und ging nach draußen. Ich wollte die Tür hinter mir erst wieder öffnen, wenn sich der Sturm gelegt hatte. Wie naiv.
Die frühsommerliche Sonne Ende Mai wärmte mein vom Nicht-mehr-Weinen-Können dennoch verquollenes Gesicht. Der Kaffeemann auf der Türkenstraße nickte mir durch die Scheibe seiner Kaffeebar einladend zu. Ein freundliches Gesicht, ich war erleichtert.
»Ciao, Kata!«
Ich folgte ihm ins Innere und bestellte wie jeden Tag einen Flat White. Carlo war ein echter Süditaliener und schüttelte wie jeden Tag angewidert den Kopf.
»Wenn du diesen Kaffee mit so viel Milch mischst, kannst du auch gleich deutschen Filterkaffee trinken.«
Ich genoss irgendwie, dass er seine Belehrung nicht aufgab. »Si, certo, Carlo.«
Ich schob ihm 4 Euro über den Tresen, gab 50 Cent Trinkgeld wie jeden Tag. Alles war wie immer. Nur, dass ich jetzt Single war.
Samu war vor einem Monat in die kleine Terrassenwohnung nach Giesing gezogen, die seine Eltern eigentlich mal für uns beide gekauft hatten und die er bis vor Kurzem vermietet hatte. Sie sollte mal unsere Rente sein, unsere gemeinsame.
Ich verschluckte mich am Kaffee. Beim Gedanken, dass ich alles kaputtgemacht hatte, bekam ich keine Luft.
Die Wohnung, an deren Terrasse ein kleines Stückchen Isarkanal vorbeilief. Samu würde in diesem Moment dort mit unseren Kindern sitzen und in der Hoffnung, dass nichts anbeiße, Angeln in den Kanal halten, weil Samu Vegetarier war. Paul hätte endlich das Handy weggelegt und seinen Freunden für heute abgesagt, weil sein Dad jetzt seine volle Aufmerksamkeit bräuchte, und Emma würde all ihren Schmerz wegschieben und wie immer die Große mimen, so dass es Papa nicht allzu schwerfiel. Lange würden wir das nicht durchhalten, das Schweigen. Irgendwann müssten wir darüber sprechen. Über alles. Irgendwann müsste Paul wieder mit mir sprechen.
Ich bog in eine kleine Straße in Richtung Ludwigstraße ein. Es war immer mein Plan gewesen, die kleine Galerie dort am Eck zu übernehmen und illustre Künstler der kaufwilligen Münchner Gesellschaft zu präsentieren. Das war zumindest mal die Idee gewesen, ehe ich die Kunst an den Nagel gehängt hatte.
Abrupt blieb ich stehen. Es war nur kurz in mein Sichtfeld geraten, aber ich hielt inne. Das Bild im Fenster der Galerie auf der anderen Straßenseite übte eine solche Anziehungskraft auf mich aus, dass ein Weitergehen unmöglich war. Es war das Außergewöhnlichste, was ich seit Langem gesehen hatte. Bunt und nicht besonders groß zeigte es eine Art maskenartigen Totenkopf mit dunklen Augenhöhlen, in deren Mitte sich mit naiven Strichen gezeichnete Sterne befanden. Darum tanzten beinahe fratzenartige Gesichter. Das Besondere an dem Bild aber war, das man es auch auf den Kopf stellen konnte und es ein ähnliches Maskengesicht ergab.
Ich konnte es erst einmal gar nicht einordnen. Es war unglaublich naiv, erzeugte aber zugleich Neugierde und strahlte dennoch Ruhe aus. Ich musste lächeln und wollte schon weiter, da huschte mein Blick über die Initialen in der rechten unteren Ecke des Bildes. Jetzt musste ich unweigerlich laut lachen. J. C. Ja, klar. Diese Provokation auf Leinwand sollte also eine Botschaft an mich sein? Ich schüttelte erst den Kopf, dann den Rest meines Körpers, um die wirren Gedanken loszuwerden und ging ein paar Schritte weiter, als ich meine Spiegelung in der Scheibe wahrnahm. Der für die warmen Temperaturen viel zu dicke Wollmantel ließ mich mächtig wirken. Meine Strubbelmähne war verpeilt zusammengebunden und das aufgequollene Gesicht hinter einer von Samus ausrangierten Sonnenbrillen verborgen. Ich fand mich zum Wegrennen. Und doch war da etwas: In meine eigentlich total fade Erscheinung mischten sich in der Reflektion die Farben des Bildes vor mir, fast so, als wolle es mich wieder zum Leben erwecken.
»Wer bist du?«, fragte ich leicht schizophren die mir völlig Fremde in der Spiegelung. »Was hast du heute schon noch vor?«
Erst holte ich tief Luft, ließ dann einen tiefen Seufzer los und machte auf dem Absatz kehrt. Ich enterte die Galerie.
Die Besitzerin musterte mich misstrauisch, sie kannte mich schon. Ich, die hier ständig herumlungerte, aber noch nie ein Bild gekauft hatte. Ich ignorierte sie und starrte auf die Tafel am Eingang, auf der die Biografie des Künstlers gedruckt stand.
Jackson Carter. Geboren 1972 in New Jersey.
Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen, einzig sein Name trat in scharfen Konturen in mein Blickfeld. Jackson. Das Bild war von ihm.
Die Galeristin musste meine Fassungslosigkeit wohl erkannt haben, denn ihre Stimme war um einiges milder als bei der knappen Begrüßung soeben, als sie mir jetzt erzählte, dass das Bild eine Leihgabe einer Galerie aus Berlin war, in der Jackson Carter eine Ausstellung haben würde. Der Künstler würde am Eröffnungsabend der Vernissage anwesend sein.
»Wirklich poetisch seine Kunstfertigkeit«, schloss sie und tippte auf die Preistafel von 28 000 Euro.
»Auch nicht ganz billig.« Ich hob eine Braue, das war ein stolzer Preis. Dann legte ich meinen Kopf schief und sog das Bild in Gänze noch einmal ein. Das hatte mich mein Kunstprofessor einst an der NYU gelehrt. Wenn man den Kopf schief legt, verschiebt sich die Perspektive nur für einen Augenblick, und es macht den Anschein, als könne man unter die Fassade der Farben blicken und dem Ungewissen, welches der Künstler mit dem Bild vielleicht aussagen wollte, ein Stück näher sein. Die zwei Sterne in den Augenhöhlen des Bildes schienen sich beinahe zu bewegen. Wie ein Kompass, der mir die Richtung weisen wollte. So ein Quatsch. Es war einzig und allein ein Zufall. Dennoch ein merkwürdiger.
Ich nahm alle Facetten des Bildes in mir auf, ehe ich dann sehr eilig die Galerie verließ.
Bereits an der nächsten Straßenecke hatte ich auf meinem Smartphone die Seite der Galerie in Berlin Mitte aufgerufen.
Jackson käme in einer Woche nach Deutschland.
Wir sogen den Geruch des jeweils anderen ein, als wir dort in unserer Umarmung verharrten. Mein Magen grollte wütend, mir war richtig übel vor Hunger.
Jackson sah mich an. »Alles klar bei dir?«
»Ich sterbe vor Hunger!«, sagte ich und musste lachen ob des Wortlautes. »I’m dying of hunger.«
Jackson versuchte, meine wortwörtliche Übersetzung zu verstehen. »You are starving?!«
Ich nickte und befreite mich aus der Wärme seiner Arme und zog ihn in Richtung Pier. Hier gab es mitunter die besten Falafel der Stadt. Jackson folgte mir wie selbstverständlich auf Schritt und Tritt.
Der Falafelstand am Pier war gut besucht, aber nicht mehr als sonst. Da die Partycrowd jetzt allmählich in die Clubs der Stadt zog, machte dieser Ort nun beinahe den Eindruck, als handle es sich um eine stinknormale Freitagnacht.
»Ich habe hier anfangs immer gemalt. Der Fluss erinnerte mich an zu Hause«, erklärte ich und hoffte, Jackson würde nicht anfangen, meine Heimatstadt im Internet zu suchen, denn im Vergleich zur beschaulichen Isar war der Hudson River ein Ozean.
Ich orderte Falafel Spezial für uns beide, zwei Heineken, dazu zwei Tequila Shots. Zum Essen kauerten wir uns unter einen Heizstrahler, und es schmeckte wie ein Fünf-Gänge-Menü.
Bei Tageslicht war der Ausblick auf den Hudson River schon beeindruckend, aber jetzt erleuchteten nur die Spiegelung vereinzelter Raketen, die auf der anderen Seite in New Jersey gezündet wurden, den schwarzen Fluss. Die Sterne hatten es in dieser Nacht schwer, den mit Raketenstaub verhangenen Nachthimmel zu säumen, was mich immer verunsicherte. Sternenlose Nächte hatten sich für mich bisher immer sehr einsam angefühlt. Als hätten meine Weggefährten da oben mich verlassen.
»Die Sterne trauen sich noch nicht raus«, folgte Jackson meinem Blick in den Himmel. »Die wissen noch nicht, was sie vom neuen Jahrtausend halten sollen.«
Ich fühlte mich nicht einsam, überhaupt nicht. Und Jackson war der Grund. Also wandte ich den Blick jetzt ihm zu und fing an, seine nicht ganz symmetrischen Züge im grellen Neonlicht des Falafelstandes gedanklich nachzuzeichnen.
»Was ist?«, fragte Jackson, der unsicher damit kämpfte, sich den Hummus nicht über sein ganzes Gesicht zu verteilen.
»Du bist schwer zu malen.«
Er hob eine Braue.
»Deine T-Linie ist sehr hoch und deine Nase nicht ganz gerade, außerdem ist deine Oberlippe zu schmal im Vergleich zur Unterlippe.«
Jackson sog seine Unterlippe ein, und ich konnte nicht wegsehen. Ich hätte ihn gern geküsst. Genau in diesem Moment. Jackson näherte sich mir unvermittelt, und ich dachte schon, ich hätte es laut ausgesprochen, und er gab meinem Verlangen nach einem Kuss so einfach nach. Stattdessen flüsterte er nur: »Dein Gesicht ist einfach nur perfekt.«
Er fuhr mit seiner kalten Fingerspitze sanft über die Silhouette meines Gesichtes, als würde er es zeichnen, und ich konnte nicht anders und schmiegte meine Wange in seine Hand.
Mir war bewusst, an jedem anderen Ort auf der Welt wären wir jetzt übereinander hergefallen. Aber nicht in New York. In jeder Wohnung, in jedem WG-Zimmer wurde gerade gefeiert. Die Hotels waren ausgebucht, alle zelebrierten das Überleben der prognostizierten Apokalypse. Die Stadt drohte, aus allen Nähten zu platzen, nirgends war man allein. Nirgendwo war es still.
Wissend, dass der Moment noch nicht gekommen war, verharrten wir noch einen Augenblick in der beschaulichen Umgebung des Hudson Rivers, ehe Jackson mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, noch ein bisschen zu feiern.
»Hey, wir haben Millennium überlebt!«, johlte er.
Ich war etwas überrumpelt von Jacksons plötzlicher Feierlaune, ließ mich aber sofort von seiner Lebensfreude animieren und folgte ihm zurück in die nicht mehr ganz so überfüllten Straßen. Der Nachthimmel klärte sich allmählich.
Jacksons Bild hatte sich in mein Hirn gefressen. Ich konnte es nicht mehr abschütteln, die Farben tauchten immer wieder vor meinem inneren Auge auf. Warum jetzt? Wie war die kleine Galerie am Eck, an der ich beinahe täglich vorbeiging, ausgerechnet auf ihn gekommen? Auf den bis dato hier noch ziemlich unbekannten Künstler aus New York? 28 000 Euro für dieses maskenartige bunte Etwas! Eine Frechheit, versuchte ich mir einzureden. Ja, und was für eine! Eine großartige.
Sofort malte ich mir aus, wie in dem einst so schlaksigen Körper von damals heute sein immer noch jung gebliebener Geist wohnen musste, um so ein provokant naives Bild zu malen. Jacksons mühelose Art mit Menschen, insbesondere mit mir, umzugehen, hatte mir viele schlaflose Nächte beschert. Lange hatte sich mein Körper schmerzvoll nach seinem verzehrt. Lange hatte ich gegrübelt, wie er wohl jetzt aussehen würde, was er gerade im Moment machte und mit wem er zusammen war. Bis sein Bild in mir verblasste, und ich von meinem Leben zu abgelenkt war, um mich mit seinem zu beschäftigen.
Aber seit ich Jacksons Bild gefunden hatte – ehrlich gesagt glaubte ich, dass es mich gefunden hat –, war es alles wieder da. Peng, auf einen Schlag. Jackson.
Mit einem Klick fand ich im Netz zu dem, nicht wie von mir angenommen, unbedeutenden Namen ein Bild von ihm. Da war er. Sein Gesicht, immer noch voller Makel und doch makellos. Er lächelte mich vom Screen meines Laptops an. Schien mir mit seinem Jersey-Akzent beinahe zuzurufen: »Na, damit haste wohl nicht gerechnet, was? Bereit, dass ich wieder alles auf den Kopf stelle? Deine ganze mittlerweile nicht mehr so heile Welt?«
Zwei Tage hatte ich ihn mir immer wieder auf dem Bildschirm meines Laptops angesehen. Seit meiner Rückkehr aus New York vor 17 Jahren hatte ich mich nie mehr nach ihm erkundigt. Bis jetzt.
Erst am Sonntag klappte ich den Laptop zu, als meine Kinder wieder nach Hause kamen. Nach einem Wochenende bei ihrem Vater. Das zweite bis jetzt. Immer noch überfordert davon, welches Zuhause denn jetzt das eigentliche Zuhause sein sollte. Überfordert von dem Gedanken, ob sie sich für ein Elternteil entscheiden mussten. Wen sollten sie jetzt lieber haben? Sollten sie das überhaupt?
»Und? Wie war es?«, fragte ich und merkte, wie meine Stimme kippte, ich war überambitioniert. Paul zuckte mit den Schultern und zog schweigend an mir vorbei. Emma bemühte sich um Leichtigkeit. Sie roch fremd. So war das wohl jetzt. Ich hielt Paul leicht am Arm und fragte, ob sie Lust auf Pasta hätten.
»Ich habe keinen Hunger. Papa hat Burger gemacht.« Natürlich hatte er das, das Duell war eröffnet. Ich schämte mich sofort für diesen Gedanken und ließ meinen Sohn ziehen.
»Er braucht noch Zeit«, sagte meine kluge Tochter und klang dabei unnatürlich reif. Ich fühlte mich augenblicklich klein.
Mir war klar, ich musste mit meinen Kindern reden, ehe zu dem fremden Geruch noch die komplette Entfremdung kam. Sie waren alt genug, beide gingen emotional so unterschiedlich mit der Situation um. Sie waren Teil des zerbrochenen Familienkonstrukts. Eigentlich waren sie es doch, die Samu und mich erst zu einer Familie gemacht hatten. Aber ich scheute mich so davor. Davor, erwachsen sein zu müssen. Meine Kinder zu bitten, mich zu verstehen, obwohl ich mich im Moment selbst nicht erkannte. Konnten sie jetzt nicht einfach diejenigen sein, die mich in den Arm nahmen und mir sagten, alles würde gut? Nein, das konnten sie nicht. Das musste ich tun. Die Kinder waren zerrissen. Mir schauderte bei dem Gedanken.
»Kann ich bei Feline essen? Wir wollten noch ’ne Runde in den Hof«, fragte Emma besorgt. Sie wollte mich nicht allein lassen, weil sie wusste, ich müsste die Stille um Paul und mich allein aushalten.
»Klar«, sagte ich knapp. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Weichei, dachte ich.
»Ich kapier’s nicht«, sagte Emma vorsichtig. »Wenn du weinen musst, warum musste Papa dann ausziehen?«
Es fühlte sich an, als hätte mir meine Tochter mit diesem Satz mitten ins Gesicht geschlagen.
Eltern sind wirklich Monster. Sie sorgen dafür, dass zerrissene Kinder gebrochene Erwachsene werden.
Emma wartete noch kurz eine Antwort ab, die ich ihr aber nicht geben konnte, griff sich dann ihre Schildkröte, die sie offenbar das ganze Wochenende nicht losgelassen hatte. Irgendjemand musste schließlich auf sie aufpassen, wenn ich es schon nicht tat. Sie ging.
»Tschüssi«, hallte es aus dem Flur.
Ich war das Monster. Ein egoistisches Monster. Ich hasste mich dafür. Vor allem für die Tatsache, dass ich, als meine Kinder emotional hilflos umherschwirrten, nur daran denken konnte, warum er sich ausgerechnet jetzt durch sein Bild einen Weg zurück in mein kaputtes Leben gebahnt hatte. Jackson. Ich dachte nur an ihn.
Aus Pauls Zimmer wummerte »No Roots« von Alice Merton. Wie passend. Hatte ich meinen Kindern wirklich ihre Wurzeln genommen? Ich holte tief Luft, dann stellte ich mich.
Ich schlich durch die halb leere Wohnung zu seinem Zimmer. Ich klopfte, wartete ab. Als ich keine Reaktion bekam, trat ich ein in das Reich meines Sohnes.
Er kauerte auf einer Ecke seines Bettes und zog lustlos die noch frischen Sachen aus seinem Rucksack. Er trug das Gleiche wie vor zwei Tagen. Ich setzte mich vor ihn auf den Boden und sah ihn ratlos an. Er nahm mir diese Überforderung nicht ab und doch steigerte er sie durch die Verachtung, die in seinem Blick lag.
»Papa geht’s scheiße«, sagte er tonlos.
Zumindest hatte er etwas gesagt, er sprach.
»Hat er das gesagt?«, fragte ich schnell, um die angehende Konversation nicht jetzt schon abzubrechen.
»Der redet nicht darüber.«
Ich suchte nach Worten, die den Zustand, in dem wir gerade alle feststeckten, verbessern konnten, aber kein einzig passendes kam mir über meine Lippen. Paul richtete sich auf. Seine stechend grünen Augen fixierten ein Ziel in der Ferne. In ihm arbeitete es. Sein Gesicht war nervös gerötet.
»Mama, wie kann man einfach aufhören, jemanden zu lieben?«, fragte er in seiner nach dem Stimmbruch erstaunlich tiefen Stimme.
Mein Herz zog sich zusammen. Da war er, der Elefant im Raum. Liebe. Paul hatte also schon davon gehört.
»Ich meine, wenn man jemanden ehrlich liebt, dann hört das doch nicht auf? Einfach so.«
Ich kam mir so hilflos und dumm vor.
»Hast du Papa überhaupt geliebt?«
»Natürlich. Tue ich auch noch.«
Er sah mich fragend an. Seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen.
»Das ist schwer zu erklären.«
Paul seufzte. Diese Antwort auf alle Lebensfragen kannte er bereits. Aus der Schule und auch sonst. Er war kurz davor aufzugeben, ich musste jetzt liefern. Irgendwie. Er kam mir zuvor.
»Gibt’s da einen Schalter, der die Gefühle einfach abstellt? Weil wenn ja, dann will ich das niemals erleben. Hab ich keinen Bock drauf!«
Mein Herz schrumpfte weiter zusammen. Da saßen wir. Ich, das Monster, das aus einem arglosen Teenager einen emotional verstümmelten Erwachsenen machen würde. Und er, bei dem die Trennung seiner Eltern in ihm bereits unwiderruflichen Schaden angerichtet hatte.
»Paul.« Ich suchte in seinem Gesicht nach Worten. Er sah mich nicht an. »Liebe hört nicht auf. Sie verändert sich. Wir verändern uns und manchmal reicht es einfach nicht aus, jemanden einfach nur zu lieben.«
Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. Zumindest dachte ich das. »Und was ist mit mir?«
Ich verstand die Frage nicht, oder besser, ich fürchtete mich davor, dass Paul meine Gefühle zu ihm und seiner Schwester infrage stellen könnte.
»Ihr seid meine Kinder, euch zu lieben reicht mir vollkommen und das wird sich nie, wirklich niemals ändern!«
Ich griff nach seiner Hand, die er einfach zur Seite schob. Seine besonnene Art machte mich nervös. Sie erinnerte mich an Samu. Paul forderte mich immer wieder heraus, ich tat mich schwer, mich in ihn hineinzuversetzen. Mit Emma war es leichter. Mütter sind anders zu ihren Töchtern als zu ihren Söhnen. Sie setzen mehr voraus oder nehmen einfach an, dass eine Tochter ähnlich tickt. Vielleicht ist das generell so. Frauen setzen bei Frauen mehr voraus, weil sie wissen, was mal auf sie zukommt. Egal, wie alt oder jung sie sind. Wie bescheuert.
Paul wandte sich ab.
»Immer noch keinen Hunger?«, fragte ich behutsam.
Er schüttelte den Kopf und griff nach seinem Handy. Ich war dankbar darüber, dass er überhaupt ein paar Sätze mit mir gesprochen hatte. In der Tür wandte ich mich aber ihm noch einmal zu. Er lauschte, obwohl er mich keines Blickes würdigte.
»Paul? Ich weiß, du willst das nicht hören. Gerade nicht von mir, aber lass das bitte nicht sein mit dem Lieben. Probiere es bitte ruhig aus. Mit allem, was du hast! Je intensiver du liebst, desto größer ist zwar der Schmerz, wenn du jemanden verlierst. Aber erst, wenn dir mal alles wehtut, weißt du, dass du echt geliebt hast.«
Ich kam mir vor wie eine Therapeutin, dabei war ich doch das Monster.
Ich sah ein vages Nicken und vertraute in diesem Moment auf mein Gefühl. Ich würde ihn nicht verlieren. Es würde dauern, aber ich würde seine Mama bleiben, egal, was passierte.
Auf dem Weg allein zurück in die Küche stellte ich mir die Frage, ob ich dem Weg, den ich gewählt hatte, überhaupt gewachsen war. Wie sehr wünschte ich mir jemanden, den ich einfach anrufen konnte und der für mich mein Leben übernahm. Ich fühlte mich hilflos und gemein. Samu ging es nicht gut. Meinen Kindern ging es nicht gut. Und ehrlich genommen, ging es mir auch nicht besser als vorher. Ich goss die Nudeln, auf die ich überhaupt keinen Appetit mehr hatte, in das Sieb und zwang mich, Haltung zu bewahren. Für die Kinder, für mich, für die Entscheidung, die ich getroffen hatte. Meinen Mann zu verlassen und so allen das Leben zur Hölle zu machen.
Ich versuchte meinen Körper aufzurichten, aber der Gedanke an ihn ließ mich innerlich komplett kollabieren. Ich wehrte mich, vehement, obwohl ich es wusste: Ich musste Jackson wiedersehen.
Das Selbstverständnis nahm nicht ab. Wie auf natürliche Weise miteinander verbunden, gingen wir nebeneinanderher durch die aufgeladene Millionenmetropole. Nein, wir gingen nicht, wir schwebten. Auch wenn uns die Arme des jeweils anderen immer wieder vom Abheben abhielten, so waren wir dennoch schwerelos. Irgendwie erleichtert, nicht mehr orientierungslos umherzuschwirren.
Ich hatte neugierig gefragt, und er hatte bereitwillig Auskunft gegeben. Jackson hatte ein Stipendium an der NYU bekommen. Seine Eltern waren einfache Leute, wie er selbst sagte. Sie hatten einen Eisenwarenladen irgendwo in Jersey und wenig übrig für seine nicht handfeste Kunst. Jackson hatte sich nie gegen seine Herkunft gewehrt, vielmehr machte er sie zum Ursprung seiner Begierde, die Welt mit anderen Augen sehen zu wollen. Er erzählte mir das mit solcher Erhabenheit, dass ich mir auf einen Schlag so gewöhnlich vorkam.
Ich, aus dem beschaulichen München, mit dem Wunsch, Kunst zu erlernen. Kunst lernen zu müssen, da ich nicht glaubte, mein Talent allein könnte ausreichen. Ich wäre so gern außergewöhnlicher gewesen. Hätte Spannendes aus meiner schlimmen, gebrochenen Kindheit erzählen wollen. Doch ich hatte lediglich die Trennung meiner Eltern vorzuweisen, die meinen Glauben an die große Liebe zwar schwer erschüttert, aber nie zerstört hatte. Ich schnappte nach Luft und dachte kurz über die eigenartige Situation nach. Was machte ich hier eigentlich? Mein Herz begann schlagartig zu rasen, noch konnte ich einfach gehen. Mich mit einem »Hey, sorry, war nicht so gemeint« einfach aus dem Staub machen.
Aber ich wollte nicht. Er war hier mit mir. Mit dem gewöhnlichen Mädchen aus München. Nur der Mensch, der ich jetzt war, ließ es zu, den Augenblick mit Jackson so unbeschwert genießen zu können. Meine Fähigkeit, den Dingen eine Chance zu geben, ehe ich urteilte, erlaubte mir, Jackson so zu sehen, wie er war. Ein Mensch, der mich in seinen Bann zog, gern auch mit Haut und Haaren. Ziemlich ungewöhnlich für gewöhnlich, dachte ich.
Wir passierten die W 14th Street und ließen uns in Chelseas Mitte treiben. Dort nahmen die herumlungernden Junkies, auf der Suche nach ihrem ersten Fix im neuen Jahr, zu, und ich spürte, wie Jackson mich näher zu sich heranzog.
Auch wenn er seinen ganzen Charme spielen ließ, so gewährte Jacksons Kumpel Bobby uns dennoch keinen Einlass in den kleinen RnB-Club an der W 16th Street, aus dem tiefe Bässe wummerten. »No Scrubs« von TLC, ich hatte die Melodie sofort im Ohr. »No, I don’t want your number. No, I don’t want to give you mine and no, I don’t want to meet you nowhere and no, I don’t want none of your time.«
Ich musste schmunzeln. Es half nichts. Der Club war an diesem Abend für eine Privatparty reserviert, es waren ausschließlich afroamerikanische Gäste. Wir, als einzige Weiße, würden doch gar nicht auffallen in der Menge, versuchte Jackson Bobby zu überreden, und wir alle drei mussten bei dieser Vorstellung schließlich lachen. Nein, sicher nicht!
»Okay«, gab Jackson schließlich auf.
»See you next time.« Bobby nickte uns freundlich zu.
Ich beobachtete Jackson, wie er wehmütig das Gesicht verzog, weil sein Plan, mir den offensichtlich coolsten Club der Stadt zu zeigen, gescheitert war. Ich wusste, es ging ihm dabei nur um mich. Nicht, dass Jackson vor mir den coolen Macker zu machen versuchte, der in alle Clubs der Stadt hineinkam, nein, ihm ging es vielmehr darum, mir seine Welt zu offenbaren. Tja, nicht diese Nacht, nicht in diesem Club.
Wir schwiegen einen Moment, ehe Jackson mich in Richtung Subway schob, aus der eine Meute Partywütiger schreiend auf uns zukam.
»Hat du Lust? Ich zeige dir, wo ich gewohnt hab, als ich noch auf der NYU war.«
Mein Herz setzte einen Moment aus. Konnte ich ihm eigentlich vertrauen? Stimmte mein Gefühl? Oder lag es völlig daneben? Nutzte Jackson meine Naivität, wie meine Mutter es nennen würde, wenn sie in Reichweite wäre, nur aus?
Als hätte ich mein plötzlich einsetzendes Wirrwarr im Kopf laut ausgesprochen, grinste er mich an und sagte mit einem Zwinkern: »In diesem Moloch von Stadt tut man sich schwer, jemanden zu finden, der im gleichen Takt ist wie man selbst.«
Dabei nahm er völlig selbstverständlich meine Hand und schob sie unter seinen Mantel, wo ich das Pochen seines Herzens spüren konnte. Wie in einem kitschigen Liebesroman, dachte ich kurz. Aber es war mir egal. Ich wusste in diesem Moment nur, ich wollte einfach in seiner Nähe sein. Also folgte ich ihm in den Untergrund der New Yorker Subway, aus dem ein miefender, aber wärmender Dunst zog. Schweigend stiegen wir in die übervolle, laute Bahn. Schweigend, um in der Menge nicht den Halt zu verlieren, drückten wir uns aneinander und fuhren uptown. Ich vergrub mich schutzsuchend unter Jacksons Kinn, und er klemmte mich mit seinem Kopf zärtlich ein. Mein Herz raste. Dieser Mann war mir bis eben noch vollkommen fremd gewesen und dennoch fühlte sich seine Gegenwart so vertraut an.
Ich kannte dieses Gefühl nicht. Seit mein damaliger Freund Nils mich in meiner eigenen Wohnung betrogen hatte und ich nach New York geflohen war. Seit mein Vater kurz nach meiner Abreise in die Staaten meine Mutter verlassen hatte und einfach ausgezogen war. Ja, ich tat mir schwer damit zu vertrauen.
Mein erstes Studienjahr hatte ich damit verbracht, über Nils hinwegzukommen und meinen Vater zu ignorieren. Ich hatte beiden lange Abschiedsbrief geschrieben, in denen ich mit ihnen abrechnete. Von einer Freundin hatte ich dann erfahren, dass Nils den Brief so verstanden hatte, dass ich nicht über ihn hinwegkomme, und dass er anschließend als prahlender Herzensbrecher durch die Stadt lief. Mit meinem Vater war es etwas komplexer. Ich nannte ihn nur noch beim Vornamen. Ich sprach nicht mehr mit Christoph. Das ermöglichte mir auch, kein schlechtes Gewissen zu haben, dass er mir Geld für mein Studium vorstreckte.
Männer hatten mich in meinem bisherigen Leben so wütend gemacht, dass ich pauschal eine Verurteilung über alle legte. In New York verabredete ich mich völlig wahllos mit Typen. Auf einen Kaffee, einen Drink, in der Uni oder auch in Bars. Ein paar schafften es in mein Bett, keiner in mein Herz. Ich wollte mich partout nicht verlieben. Je mehr du liebst, desto mehr schmerzt es, und das wollte ich einfach umgehen. Ich wollte allen beweisen, dass Liebe nicht funktionierte.
Und so hatte ich beschlossen, mich in New York auf mein Studium zu fokussieren und mich nicht von Dingen ablenken zu lassen, die mich von meinem Vorhaben, nämlich als Künstlerin die Welt zu erobern und schon mit meinen ersten Ausstellungen meinen Studienkredit bei Christoph zurückzahlen zu können, abbringen würde. Volle Konzentration. Ich zog mich zurück, wälzte kunsthistorische Bücher, besuchte in jeder freien Minute Museen und wollte mir ein außergewöhnliches Fachwissen aneignen, um von meinem, wie ich immer wieder fand, mäßigen Talent als Künstlerin abzulenken. Ich hatte mir vorgenommen, zuversichtlich in das Millenniumsjahr zu starten, da ich mich als Künstlerin immer öfters infrage stellte. Inmitten dieser brodelnden Metropole der Multi- und Ausnahmetalente quälte mich zunehmend die Frage, ob ich die Kunst überhaupt im Blut hatte. Das Gebrochene, Verruchte, den Exzess, das Über-die-Grenzen-Hinausgehen. Meine Grenzen waren so klar abgesteckt, kaum setzte ich auch nur einen Fuß über eine imaginäre Linie. Immer mehr rang ich damit, immer seltener holte ich tief Luft.
Und doch, umgeben von dicht aneinandergedrängten Menschen in Manhattans Subway, atmete ich in der Silvesternacht zum ersten Mal seit Langem wieder völlig frei, und das, obwohl die Luft bleiern war von schweiß- und parfümgetränktem Alkoholmief. Vorbei an allen Duftnuancen sogen sich meine Lungen voll. Ich hatte die Linie übertreten, aber so was von, und es fühlte sich verdammt gut an.
Der abschätzige Blick von Caro verunsicherte mich immer noch, sobald ich an die Situation zurückdachte. Caro und Hannes waren unsere Freunde gewesen. Unsere gemeinsamen Freunde, und sie hatten Samu zum Essen eingeladen. So wurden aus unseren Freunden seine Freunde. Ich hatte Caro kurz getroffen, als ich die Kinder, weil wir morgens viel zu spät dran waren, mit dem Auto in der Schule abgeliefert hatte.
»Wie geht es dir?« Schnippisch hatte sie geklungen, die Frage meiner einstigen Freundin, der enttäuschte Blick bohrte sich in mich hinein.
»Okay. Und euch? Wann sehen wir uns denn mal wieder?« In Caros Augen spiegelte sich Verständnislosigkeit. Als hätte ich eine andere Sprache gesprochen.
»Viel zu tun im Moment.«
Emma hatte mir dann später erzählt, dass Samu mit den beiden essen war.
Ich hatte den Weg gewählt, allein zu sein. Jetzt musste ich ihn also auch gehen.
Ich schüttelte mich kurz, um mein Gedankenkarussell zu einem Nothalt zu zwingen, und konzentrierte mich auf die vorbeifliegende Landschaft. Der Zug war voll, weswegen ich mir von Paul die Noise-Cancelling-Kopfhörer ausgeliehen hatte, um meiner in letzter Zeit immer wieder aufkommenden Platzangst unter zu vielen Menschen entgegenzuwirken. Ich hatte Sades Album von 2000 gewählt, »Lovers Rock«. Wie passend. Wie erbärmlich. Leider cancelten Pauls Kopfhörer nicht meine konstant kreisenden Gedanken.
Was würde ich sagen? Es waren 17 Jahre vergangen. Eine Schlucht lag zwischen uns. Meine Ehe, die zwei Geburten meiner Kinder, deren Kindheit, ich als Mutter, mein Versuch einer glücklichen Familie. Meine gescheiterte Karriere als Künstlerin.
Sade lallte mir »By your side« ins Ohr. »When you’re on the outside baby and you can’t get in, I will show you you’re so much better than you know. When you’re lost. You’re alone and you can’t get back again, I will find you darling and I bring you home.«
Ich musste schlucken. Ich dachte an Samu, der bedingungslos immer für mich da gewesen war, der mir das Gefühl von Zuhause gegeben hatte. Ich nahm die Kopfhörer ab und ging zum Bordbistro, ich brauchte dringend ein Bier.
Bis Berlin waren es noch zweieinhalb Stunden. Mit jedem Kilometer, dem ich der Großstadt näher kam, wurde ich fahriger, in meinem Vorhaben verunsichert. Was würde mich dort erwarten? Was erwartete ich überhaupt? Jackson war jetzt Mitte 40. Hatte auch er eine Ehe hinter sich oder steckte er in einer glücklichen Beziehung? Hatte er Kinder? Über sein Privatleben hatten meine stalkerartigen Nachforschungen im Internet nicht viel ergeben. Noch mal: Was würde mich erwarten? Was erwartete ich? Reichte mein derzeit emotional völlig desolater Zustand nicht aus? Wollte ich riskieren, dass Jackson die mittlerweile vernarbte Wunde in meinem Herzen wieder aufriss? Fühlte sich so Abenteuer an? Wollte ich wirklich alles riskieren? Erwartete ich tatsächlich, dass Jackson sich von seiner Ausstellung los und mir anschließend die Kleider vom Leib riss?
Das Bier aus dem Bistro war warm, ich brachte es kaum herunter. Ich stand an einem der Tischchen, der Zug hatte an Geschwindigkeit zugelegt.
»Bitte?« Ein Mann hatte mich angesprochen, aber ich sah nur seinen Mund, wie er sich bewegte. »Ich wollte nur wissen, ob ich mich zu Ihnen stellen kann.«
Ich starrte den Mann an, kapierte die Frage nicht und reagierte patzig. »Was?«
Der Mann wollte seine nette und überhaupt nicht anbaggernde Frage gerade wiederholen, da bemerkte ich, dass die Bordbar sich gefüllt hatte und kaum noch Plätze frei waren. Also nahm ich einfach wortlos das zu warme Bier und ging zurück zu meinem Platz. Der Mann sah mir irritiert nach. Ich war zu einem unfreundlichen Zombie mutiert, Monster und Zombie, das passte ja ganz wunderbar.