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Ein mysteriöser junger Mann rettet Karin in letzter Sekunde vor einer Vergewaltigung. Noch bevor sie Aaron bei ihrem Job im Mannheimer Rettungsdienst erneut trifft, ist ihr klar, dass er eine dunkle Seite hat. Dennoch fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Schon bald gibt es zwischen Karins heiler Welt und Aarons brutaler Welt einen Crash, in dem Gefühle brennen und Menschen sterben. Als Karin eine furchtbare Todesdrohung erhält und nicht nur um ihr eigenes Leben kämpfen muss, wird ihr bewusst wie dunkel Aarons Seite tatsächlich ist ...
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Seitenzahl: 551
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Widmung
Für die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben,
für meine Schwester Anja
und meinen Partner Simon.
Danke, dass ihr an mich glaubt.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Über die Autorin:
Kristina Tiedemann wurde 1992 in Mannheim geboren. In der Schulzeit begann sie im Alter von zehn Jahren während einer Freistunde Geschichten zu schreiben und hat diese Leidenschaft bis heute fortgeführt. Sie studierte in Darmstadt, Cottbus und Melbourne und lebt heute mit ihrem Partner in Australien.
Für aktuelle Informationen über die Autorin besuchen Sie:
https://www.facebook.com/KristinaTiedemannWriter
https://www.instagram.com/kristinatiedemannwriter/
Prolog
Kapitel 1 –Nachts in den Quadraten
Kapitel 2 – Von Motorsägen und Psychosen
Kapitel 3 – Reanimation
Kapitel 4 – Abseits des Weges
Kapitel 5 –Von den harten Seiten des Lebens
Kapitel 6 – Doppelte Kälte
Kapitel 7 – Schwarzes Hellrot
Kapitel 8 – Eisige Gleichgültigkeit
Kapitel 9 – Spiel
Kapitel 10 – Verräter
Kapitel 11 – Schmerz
Kapitel 12 – Schwankungen
Kapitel 13 – Ein Sturm zieht auf
Kapitel 14 – Verloren
Kapitel 15 –Alles oder nichts
Kapitel 16 – Sonne hinter den Wolken
Kapitel 17 – Wahrheit
Epilog
„Du packst das mit dem Fahren?" Nina ließ sich auf den bequemen Ledersitz der Corvette fallen.
„Ich merke gar nichts von den zwei Bier." David schickte ihr einen Luftkuss zu und schloss die Beifahrertür, dann lief er um das Auto herum und öffnete die Tür auf der Fahrerseite. „Außerdem hast du mehr getrunken als ich."
„Nur ein bisschen." Ein Caipirinha und zwei Radler sind jetzt auch nicht die Welt...
„Wir haben es nicht weit."
Sie befanden sich in der Neckarstadt und mussten nach Sandhofen; beides waren Stadtteile von Mannheim. Bei dem geringen Verkehrsaufkommen in der Nacht würden sie in spätestens zehn Minuten in Davids Wohnung sein.
Er startete den Motor und fuhr los, während Nina sich in ihrem Sitz zurücklehnte und entspannt die Augen schloss. Der Abend war wirklich schön gewesen und Nina hoffte, dass er noch nicht zu Ende war. Aber so wie sie David einschätzte, würde er sie gleich die wenigen Stufen in den ersten Stock hochtragen und sie anschließend auf dem bequemen Doppelbett verwöhnen.
David riss plötzlich den Wagen zur Seite und betätigte die Hupe.
Nina sah den schwarzen BMW gerade noch an ihnen vorbeizischen. „Was war das denn?"
„Der Idiot hat mich geschnitten. Was ein Arschloch. Dem gehören mal Manieren beigebracht."
Der BMW blieb an der nächsten roten Ampel auf Höhe Mannheim Luzenberg auf der linken Spur stehen. Während David die rote Corvette auf die rechte Spur manövrierte, betrachtete Nina das Nummernschild und versuchte sich die Ziffern einzuprägen. Auch ihr Auto kam nun zum Stillstand und beide sahen sie zu dem Kerl in dem schwarzen BMW herüber. David umfasste das Lenkrad plötzlich so krampfhaft fest, dass die Venen auf seinem Handrücken deutlich sichtbar wurden.
„Was ist los?" Nina beugte sich vor und zeigte dem dunkelhaarigen Penner im BMW einen Vogel.
Dieser hatte beim Anblick Davids kurz die Augen überrascht geweitet. Er ließ die Scheibe der Beifahrerseite hinunter und begutachtete Nina nur mit einem amüsierten Grinsen, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder David zu und das Grinsen wurde zu einem kalten Lächeln.
„Kennst du den Kerl?", fragte Nina zögernd.
David ignorierte ihre Frage und ließ seine Scheibe ebenfalls hinunter. „Du dreckiger Hurensohn ..." Seine Stimme klang ungewohnt gefährlich.
„Oh, David. Was willst du machen?", meinte der Fahrer des BMW.
„Wo ist sie?" Davids Stimme war zu einem brodelnden Beben geworden, seine Hand zitterte am Lenkrad.
„Wer weiß."
Die Anspannung im Auto war greifbar, auch die Temperatur schien angestiegen zu sein. Nina musste sich vorbeugen, um Davids wutverzerrtes Gesicht im Seitenprofil sehen zu können. Der Fahrer des BMW hingegen war für sie gut sichtbar.
„Ich schwöre dir, ich bringe dich um ..." Davids Hand zuckte zum Türöffner, doch der Fahrer des BMW lachte nur und gab Vollgas.
David gab einen entsetzlichen, zornigen Schrei von sich und startete mit durchdrehenden Reifen.
„Vorsichtig!", rief Nina, aber ihr Freund wich dem Auto geschickt aus, das durch die rotgeschaltete Ampel rechtmäßig auf ihre Straße einbiegen wollte. Innerhalb weniger Sekunden befanden sie sich dicht hinter dem schwarzen BMW.
„DAVID! WAS IST HIER LOS?"
„Ich habe lange nach diesem Kerl gesucht, Nina."
Der Typ hatte innerhalb weniger Sekunden eine Geschwindigkeit von weit über 100km/h erreicht und wurde nicht langsamer; David hielt mit und beschleunigte bis er auf der rechten Spur gleichauf fuhr.
„Du suchst ihn? Warum? LANGSAMER! BITTE!"
„Sorry. Er darf nicht entkommen ..."
„Ich weiß das Nummernschild -"
„Ich bezweifle, dass es echt ist."
Die Strecke wurde kurvig und sie mussten die Geschwindigkeit etwas verringern. Eigentlich durfte man hier höchstens 5okm/h fahren, beide Fahrzeuge schossen aber mit der dreifachen Geschwindigkeit in die Kurven.
In den nächsten Sekunden ging alles ziemlich schnell. Nina wusste nicht, wer letztendlich an dem folgenschweren Unfall schuld gewesen war. Die beiden Autos berührten sich und im nächsten Moment donnerte Davids Corvette mit einem ohrenbetäubenden Schlag gegen den dicken Hauptmast für die Straßenbahnoberleitungen am Bahnhof Waldhof. Wie eine Ziehharmonika schob sich das Blech der Corvette zusammen. Es war ein grausames, sehr lautes Geräusch, das die gesamte Straße erschütterte. Der BMW bremste quietschend ab, dann war alles still. Absolut totenstill.
Es kam Nina vor als würden mehrere Minuten vergehen, bis der Fahrer des BMW an der Beifahrertür erschien. Sie nahm ihn nur verschwommen wahr. Er schien einige Sekunden in das Autowrack zu starren, dann verschwand er aus ihrem Sichtfeld.
Nina wartete. Ihr gesamter Körper brannte vor Schmerz. Sie hatte das Gefühl, immer schlechter Luft zu bekommen.
Der kräftige Motor des BMW wurde gestartet, dann entfernte sich das Geräusch.
Sie wartete. Nina schloss die Augen, versuchte ruhig zu atmen und wartete.
„Komm her, ich will dich ansehen."
Mit einem Blick auf die Uhr löste ich mich von der Tanzfläche und ging zur Bar hinüber, wo Sarah mit zwei jungen Männern flirtete Beide hatten schon viel zu viel über den eigenen Durst getrunken und Sarah war auch recht gut dabei.
„Ja, wir machen alle drei ein Freiwilliges Soziales Jahr im Rettungsdienst, hier in Mannheim", erklärte sie gerade stolz.
„Oh, drei kleine Sanitäterinnen also." Der Kerl mit den blonden Haaren grinste. „Sanitäterinnen sind mindestens genauso geil wie Krankenschwestern."
Spätestens dieser Kommentar war ein eindeutiges Signal für mich, die Disco nun zu verlassen. Wenn nicht noch Lisa dabei gewesen wäre, hätte ich durchaus ein schlechtes Gewissen gehabt, Sarah hier alleine zu lassen. Mein Alkoholpegel hielt sich in Grenzen. Gerade mal einen Cocktail hatte ich getrunken und bei dem schien der Barmann auch an Alkohol gespart zu haben.
Meine letzte Straßenbahn würde in fünfzehn Minuten abfahren. Vom Joso bis zur Haltestelle war es zwar nicht weit, dennoch wollte ich mich lieber frühzeitig von hier verabschieden. Discos waren nicht so mein Ding. Lisa und Sarah hatten Glück, dass ich nach unzähligen Anfragen tatsächlich mal mitgekommen war. Trotzdem hatte ich für den Abend mein hübschestes Kleid angezogen und mich dezent geschminkt.
„Ich muss schon gehen", meinte ich zu Lisa, die sofort enttäuscht dreinblickte, „Pass auf Sarah auf, okay?" Nach kurzem Zögern fügte ich etwas leiser hinzu: „Ich traue den beiden Typen nicht."
„Wirklich, Karin? Jetzt schon?" Lisa war glücklicherweise auch noch einigermaßen bei Verstand. „Ich weiß, was du meinst. Ich glaube, wir werden auch in der nächsten halben Stunde hier verschwinden – ohne diese beiden Spinner. Komm gut heim!"
Während ich auf die Tür zulief, nickte ich Sarah kurz zu. Die beiden Jungs bei ihr grölten mir hinterher ich solle doch noch dableiben. Die Rufe ignorierend erreichte ich die Tür und zog sie auf.
Ich lief an den Türstehern vorbei und trat in die kühle Nachtluft hinaus. Der stickige Dunst in Discos hatte mir noch nie zugesagt. Es standen einige Personen vor dem Joso; die meisten von ihnen waren Raucher. Ich kämpfte mich durch die kleine Menschentraube und lief in Richtung der nächsten Ampel. Ich hatte gerade erst ein paar Schritte getan, als mich jemand am Handgelenk festhielt. Überrascht fuhr ich herum und erblickte den größeren der beiden Kerle, der vor wenigen Sekunden noch neben Sarah an der Bar gesessen hatte.
„Bleib noch ein bisschen da...!", raunte er mir mit einem breiten Lächeln zu und wollte mich in seine Arme ziehen. Seine blonden Haare waren fettig und er hatte Schweißflecken unter den Armen. Wie konnte Sarah mit so einem Kerl überhaupt flirten?
„Nein danke!", zischte ich und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, „Loslassen!"
Betrunkene Leute konnten unheimliche Kräfte entwickeln, und so war es auch bei diesem. „Spiel ein bisschen mit mir!"
Er verdrehte mir fast das Handgelenk. Keiner der Umstehenden schien uns trotz meiner lauten Stimme zu bemerken, zumindest rührte sich niemand. Anscheinend will der Kerl es nicht anders. Der Absatz meines Schuhs donnerte mit voller Wucht auf seinen rechten Fuß; der dünne Stoff seiner Chucks konnte nicht viel von dem Schmerz abmildern. Direkt im Anschluss fand die Faust meines freien Arms den Weg zu seinem Bauch, während ich die andere Hand rhythmisch zurückzog. Er hatte mich augenblicklich losgelassen.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte ich mich um und verließ eilig den Eingangsbereich.
„Diese Schlampe!"
Seine Worte erreichten mich noch auf der Straße. Jetzt aber schnell zur Straßenbahn...
Bereits fünfzig Meter vom Joso entfernt wagte ich es, einen Blick über die Schulter zu werfen. Entsetzt musste ich feststellen, dass der große Kerl sich wieder gefasst hatte und sich nach mir umsah. Schnell flüchtete ich in die Straße zwischen den Quadraten 17 und K7.
In Mannheim war die Innenstadt aus sogenannten Quadraten aufgebaut. Hierbei handelte es sich um ein rechtwinkliges Straßenraster, das die hufeisenförmige Innenstadt unterteilte. Um die Innenstadt herum befand sich der Ring, eine breite, teils auch mit Straßenbahnen befahrene zweispurige Straße. Nicht die Straßen trugen Namen, sondern die rechteckigen Grundstücke, in der Umgangssprache als Quadrate bezeichnet. Sie waren meist komplett mit dicht aneinander stehenden Häusern bebaut und ließen in der Mitte grade mal Platz für einen Innenhof.
Am hell beleuchteten Luisenring hätte mich der Kerl jedenfalls sofort gesehen. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass er mich im Schatten der Autos nicht entdeckte und nicht gesehen hatte, wo ich mich befand. Mein Herz klopfte rasend schnell. Ich hasse Discos! Warum zum Teufel bin ich überhaupt mitgekommen? jetzt stehe ich mitten in der Nacht in den Quadraten und flüchtete vor einem Betrunkenen. Soll ich die Polizei rufen? Schon nach wenigen Sekunden war mir klar, dass diese Option für mich nicht in Frage kam. Vielleicht hatte ich auch überreagiert und hätte ihn nicht gleich mit körperlicher Gewalt angreifen sollen. Andererseits ... Lieber mehrmals zu viel verteidigt als einmal zu wenig.
Nach kurzem Überlegen beschloss ich zwischen den K- und I- Quadraten bis zur Kurpfalzstraße zu laufen und dort nach der nächsten Straßenbahn zu schauen. Die Kurpfalzstraße halbierte die Quadrate einmal mittig innerhalb einer Fußgängerzone.
Rasch setzte ich mich in Bewegung und wagte es nicht mehr, zurückzuschauen. Die Schuhe mit den Absätzen klackerten mit jedem Schritt unangenehm laut auf dem Gehsteig. Automatisch lief ich immer schneller. Obwohl wir heute eine recht kühle Juninacht hatten und ich sonst auch immer sehr verfroren war, verspürte ich eine derartige Hitze, dass mir der Schweiß auf der Stirn stand.
Bei dem Geräusch von Schritten hinter mir blickte ich im Laufen zurück. Zwei Männer, noch etwa dreißig Meter entfernt. Adrenalin durchströmte meine Adern. Ich blieb stehen und zog mir die Schuhe von den Füßen. Dann rannte ich los.
Sie waren betrunken und träge, sagte ich mir, und ich war beinahe nüchtern und schnell. Gewiss wäre ich davongekommen, wäre ich nicht vor Hektik über die nächste Bordsteinkante gestolpert, ein kleines Stück geflogen und letztendlich zwei Meter über den Gehsteig geschlittert. Im Grunde spürte ich bei dem Sturz kaum Schmerz. Meine Schuhe immer noch in den Händen, drückte ich mich hoch – da wurde ich grob an den Schultern gepackt, umgedreht und mit dem Rücken gegen die nächste Hauswand gedrückt.
Es war nicht der Kerl, der mich an der Tür vom Joso aufgehalten hatte. Es war sein Kumpel, der noch bei Sarah gesessen war, wahrscheinlich ein Türke. Der junge Mann mit den fettigen, blonden Haaren erreichte uns erst jetzt. Irgendwie sah er wütend aus ...
Einen kurzen Augenblick sahen wir uns gegenseitig einfach nur an. Es war ein Moment, in dem ich wieder zu Atem kam und den Schock überwand, dass sie mich aufgeholt hatten. Dann gab ich einen ohrenbetäubenden Schrei von mir, der sofort von dem Türken erstickt wurde, indem er mir fest seine Hand auf den Mund drückte. Klappernd landeten meine Schuhe auf dem Gehsteig.
Mein Herz raste und Panik schwappte durch meinen Körper wie eine Welle Eiswasser. Warum bin ich nicht bei der Disco geblieben oder zur Straßenbahnhaltestelle gelaufen? Eine Umgebung mit mehr Menschen zu suchen, wäre durchaus klüger gewesen. Ich hätte sofort zu den Türstehern laufen sollen. Aber diese Erkenntnis bringt mir jetzt auch nichts mehr.
„Schnauze halten du Schlampe, sonst ich mach dich kalt ey!" Er erfüllte wunderbar das Klischee einiger Mannheimer Ausländer, was Sprachprobleme anging. Mit einem kalten Lächeln wandte er sich an seinen deutschen Freund. „Ich halte, du nimmst sie."
„Du hast es tatsächlich gewagt, mich in der Disco zu blamieren. Ich hoffe, das wird jetzt richtig schmerzhaft und demütigend für dich", sagte der Blonde.
Erst als er den Reißverschluss seiner Hose öffnete, kam in meinem naiven Kopf an, was sie vorhatten. Meine Augen weiteten sich, als der Ausländer mein hübsches, blaues Sommerkleid hochziehen wollte. Ohne Zögern legte ich meine Hände an seinen Hals und drückte zu, worauf er mich losließ und meine Handgelenke umfasste.
Im nächsten Moment schrie der blonde Kerl auf und wich zurück. „Shit! Was machst du denn hier?"
Erst als der Türke einen gezielten Schlag in den Nacken erhielt und benommen vor mir zusammensackte, richtete sich mein Blick auf den jungen Mann, der mich mit einem fragenden Blick begutachtete. In seiner Hand hielt er ein Messer, dessen Klinge er in Richtung des blonden Kerls hielt. „Das hat noch Konsequenzen, du Wichser!", zischte dieser und zögerte kurz, dann drehte er sich um und rannte davon.
Langsam führte ich die Hände schützend vor meine Brust, um eine mögliche Messerattacke abzuwehren, aber der junge Mann mit den zerzausten, braunen Haaren grinste mich nur belustigt an. Mit einem Kopfnicken deutete er auf meine Schuhe, woraufhin ich vorsichtig, ihn genau beobachtend, in die Knie ging und sie aufhob.
Der Türke regte sich, und der braunhaarige junge Mann ergriff mit seiner freien Hand rasch mein Handgelenk und zog mich mit sich.
Wir rannten mehrere Meter quer durch die Quadrate, ehe er stoppte und mich in eine dunkle Hofeinfahrt drückte. Ich hatte die Orientierung verloren und hätte nicht beschreiben können, wo wir uns befanden. Er stellte sich vor mich und beobachtete die leere Straße. Die Klinge seines Messers schimmerte im Licht der Straßenlaterne. Ich war mir absolut sicher, dass allein schon der Besitz dieses Messers illegal war – es sah mehr als gefährlich aus.
Schließlich drehte er sich zu mir um und blickte mich musternd an. Mit einem unguten Gefühl wich ich ein Stück weiter in die Dunkelheit der Einfahrt zurück.
„Komm her, ich will dich ansehen." Seine Stimme war leise und ruhig.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Er war deutlich attraktiver und gepflegter als die anderen beiden, aber von einem Messerstecher wollte ich ebenfalls nicht vergewaltigt werden. Langsam machte ich einen Schritt auf ihn zu, dann wechselte ich blitzschnell die Richtung und flüchtete aus der Hofeinfahrt. Nach gerade mal zwei Metern hatte er mich bereits mit eisernem Griff am Handgelenk erfasst. Wieder fielen meine Schuhe mit einem lauten, hallenden Schlag zu Boden.
Auch er erstickte meinen Schrei mit seiner Hand, zog mich aber gleichzeitig dicht an seinen Körper heran und hielt mich mit einem Arm fest. Bei meinen Versuchen, mich gegen seinen Griff zur Wehr zu setzen, fiel sein Messer auf den Boden. Schon nach wenigen Sekunden ging mir die Kraft aus, während seine muskulösen Arme sich nicht im Geringsten bewegen ließen.
„Hast du dich beruhigt? Kann ich dich loslassen, ohne dass du abhaust?" Langsam nahm er seine Hand von meinem Mund. Ich atmete tief durch. Mir standen inzwischen verzweifelte Tränen in den Augen. „Ich will dir nicht wehtun."
„Und da bist du dir sicher?", brachte ich mühsam hervor.
Augenblicklich lockerte sich sein Griff, er ließ mich los und trat einen Schritt zurück. „Nimm mein Messer, wenn du dich dann sicherer fühlst."
Zögernd drehte ich mich zu ihm um; ich stand nun mitten im Licht der Straßenlaterne. Ich wagte es nicht, mich nach seinem Messer zu bücken. Wieder spürte ich seinen musternden Blick auf meinen blauen Augen, meinen langen blonden Haaren, dem taillierten Kleid und meinen schlanken Beinen.
„Du bist ziemlich leichtsinnig, dich nachts durch die Innenstadt zu wagen. Dazu siehst du sehr hübsch aus. Das Kleid ist die reine Einladung für Kerle wie die."
Als er wieder einen Schritt auf mich zumachte, wich ich erschrocken zurück, stieß aber gleich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Dicht vor mir blieb er stehen. Ich schluckte. Vorsichtig ergriff er wieder mein Handgelenk, doch anstatt mich gewaltsam festzuhalten, drehte er meinen Arm ein Stück und begutachtete die Schürfwunde an meinem linken Unterarm. Diese hatte ich bis jetzt nicht einmal bemerkt.
Anschließend ging er in die Hocke und betrachtete die leichten Verletzungen an meinen Beinen, hauptsächlich an meinem linken Knie. „Sieht nicht allzu schlimm aus."
„Ich will dich ansehen."Hat er nur das damit gemeint?
„Du kennst die beiden, oder?", fragte ich zögernd. Ich war immer noch nervös, beunruhigt.
Ja."
„Sag mir die Namen. Ich werde sie anzeigen."
Ruckartig richtete er sich wieder auf und durchbohrte mich mit einem kalten Blick. „Das wirst du nicht tun."
Mein Magen krampfte sich zusammen. „Warum nicht?"
„Sowas passiert hier öfter als du denkst. Nun, vielleicht nicht hier. Aber in anderen Stadtteilen von Mannheim. „Du wärst schockiert, wenn du wüsstest, wie viele Verbrechen geschehen, ohne dass sie polizeilich gemeldet sind. Ich rate dir, zu schweigen. Die wenigsten Leute hier lassen eine Anzeige einfach auf sich sitzen."
„Willst du damit andeuten, dass die mich wieder angreifen, wenn ich sie anzeige?"
„Ja, dann erst recht."
„In Ordnung", sagte ich möglichst beherrscht. Mein Herzschlag hatte sich immer noch nicht normalisiert und mir war fast übel. Ich hatte das Gefühl, dass gleich die Nerven mit mir durchgehen würden. Um ein Haar war ich einer Vergewaltigung entkommen. Meine Stimme zitterte, als ich weitersprach. „Ich werde dann mal gehen."
Aber er ließ mich nicht. Seine Hand lag auf meiner Schulter und hielt mich fest.
„Bitte...", flüsterte ich, ohne ihn anzusehen. Ich biss mir auf die Unterlippe, während die erste Träne, sich von meinen Augen löste.
„Hey..." Seine Hand näherte sich meiner Wange als wollte er sie berühren, verharrte dann aber kurz davor in der Luft, bis er sie schließlich wieder sinken ließ. Nach kurzer Stille kramte er in seiner Hosentasche herum, bis er schließlich ein verknittertes Taschentuch hervorholte und mir reichte. „Darf ich dich ein Stück begleiten? Die beiden Kerle sind vermutlich noch in der Nähe. Ich wollte dir keine Angst machen. Ich möchte dich nur nicht allein gehen lassen."
Zwei, drei, vier Tränen kullerten über meine Wange und ein leises Schluchzen entrang meiner Kehle.
„Ich will dir nur helfen. Vertraue mir, ich würde dir nie wehtun. In Ordnung?"
„Tut mir leid", erwiderte ich, ergriff sein Taschentuch und hielt es in meiner zitternden Hand. Es sah schon etwas mitgenommen aus, aber ich freute mich über diese nette Geste. „Du hast mir schon sehr geholfen. Ohne dich würde ich jetzt ... Ich wäre ..." Rasch wischte ich mir die Tränen weg. Er hatte mir zwar geholfen, aber auch er war mir unheimlich. Ich wollte einfach nur nach Hause ...
„Aber du hast dich ganz schön gewehrt, das war echt nicht schlecht. Ich glaube, du hättest ihn beinahe erwürgt." Der junge Mann lächelte und sah dabei unheimlich attraktiv aus. Ich schätzte ihn auf Anfang Zwanzig, also grade etwas älter als ich selbst. In der Dunkelheit konnte ich nicht viel von ihm erkennen, vielleicht waren seine Haare auch gar nicht dunkelbraun. Deutlich sichtbar war aber die feine, etwa drei Zentimeter lange Narbe an seiner rechten Wange, die sich diagonal unterhalb seines Auges nahe am Ohr befand. Ich schätzte, dass sie von einem Messer stammte.
„Ich glaube, ich habe einfach nur Panik bekommen."
„Auch schon vor dem Joso. Ich habe eure Auseinandersetzung mitbekommen, konnte aber nicht rechtzeitig eingreifen. Mir war klar, dass er das nicht einfach auf sich sitzen lässt. Nicht, nachdem du ihn halb verprügelt hast."
„Du warst dort und bist ihnen extra gefolgt?" Nun war ich erstaunt. Ich hatte angenommen, er sei zufällig in der Nähe gewesen.
„Er hat nicht mit deiner Attacke gerechnet. Traut man einem Mädchen wie dir auch nicht zu." Als ich nichts erwiderte, räusperte er sich. „Zieh deine Schuhe ruhig wieder an. Deine Füße müssen ganz kalt sein. Wenn du ein Taxi nimmst, lasse ich dich guten Gewissens gehen. Aber zu Fuß möchte ich dich ein Stück begleiten."
„Das dauert ewig bis hier ein Taxi ankommt, oder? Ich laufe ..." Ich ging in die Hocke, um mir die Schuhe wieder anzuziehen.
„Ich werde jetzt mein Messer aufheben und einfach einstecken. Also keine Angst." Er verstaute die Waffe wieder in seiner Hosentasche – er musste eine Art Vorrichtung installiert haben, um nicht von der scharfen Klinge verletzt zu werden. Dann beobachtete er mich, wie ich den zweiten Schuh anzog. „Wie heißt du denn überhaupt?"
„Karin."
„Ich bin Aaron. Wohin müssen wir denn ungefähr?"
„Ich wohne in der Oststadt." Die Oststadt war eine der edelsten Gegenden von Mannheim, wo sogar noch einige alte Villen standen.
„Okay, gut. Dann mal los."
Den Widerhall der Absätze meiner Schuhe empfand ich als unheimlich laut in der nächtlichen Stadt. Ich fühlte mich unwohl. Gewiss würde es eine Weile dauern, bis ich das nächste Mal hohe Schuhe anzog.
„Solange ich hier bin, wird dir nichts passieren." In seiner Stimme lag eine Überzeugung, die mich tatsächlich etwas beruhigte.
„Sieht man mir das so sehr an?"
„Ja", antwortete er sofort. Dann lachte er kurz.
Auf der Kurpfalzstraße angekommen, schaute ich nach der nächsten Straßenbahn. Weil diese erst in über einer halben Stunde kommen würde, entschied ich mich, gleich ganz nach Hause zu laufen.
Aaron leistete mir fast den gesamten Weg schweigend Gesellschaft. Erst als wir die Tullastraße in der Oststadt erreichten, sagte ich wieder etwas. „Jetzt ist es nicht mehr weit. Ich kann von hier aus alleine weiter. Es sind grade noch zwei, drei Straßen."
„Wie geht es dir?"
„Besser. Viel besser." Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Danke für alles, was du heute Nacht für mich getan hast. Das werde ich bestimmt nie vergessen. Wie kann ich das wieder gut machen?"
Aaron schüttelte den Kopf. „Pass einfach auf dich auf, okay?"
Ich nickte und sah dann besorgt in seine grünen Augen. „Werden sie dir etwas tun, weil du mir geholfen hast?"
Er lächelte mich an. „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen."
Es war immer noch ein schwaches Lächeln auf meinen Lippen, als ich mich umdrehte und langsam loslief.
„Karin."
Ich blieb stehen und blickte zu ihm zurück.
Einen Augenblick zögerte er. „Ich bin morgen um 16 Uhr im Café Grando. Kennst du das?"
„Klar." Das Café Grando war eines der angesagtesten Cafés in ganz Mannheim und befand sich im Quadrat Cl, ganz in der Nähe von der Universität und dem Schloss, weshalb sich dort immer viele Studenten aufhielten.
„Es würde mich freuen dich wiederzusehen. Aber ich kann es gut verstehen, wenn du mich zusammen mit den Ereignissen dieser Nacht vergessen möchtest. Denk einfach drüber nach."
„Werde ich", erwiderte ich, nun mit einem ehrlichen Lächeln, „Gute Nacht, Aaron."
„Schlaf gut."
* * *
Stefan Winter verzog das Gesicht. Lava heizt Polizei auf. Die Schlagzeilen werden immer bescheuerter. Verärgert schloss er die Registerkarte mit dem Zeitungsartikel, den einer seiner Kollegen auf Facebook geteilt hatte. Bei Lava handelte es sich um eine Diebin, die nach jedem Diebstahl kleine Zettel mit Botschaften am Tatort zurückließ. Wenn es überhaupt eine Frau ist. Aber Lava klingt weiblich.
Anstatt sich noch weiter über den Artikel zu ärgern, überprüfte Stefan die Gebote auf die Gegenstände, die er in ebay gestellt hatte. Es hatte sich noch nicht viel getan, aber die ganzen Auktionen waren ja auch erst gestern Abend gestartet worden.
Er blickte von seinem Laptop auf, als seine Tochter die Wohnung betrat.
„Du bist spät. Alles in Ordnung?"
Karin warf einen Blick auf die Uhr im Wohnzimmer, es war Viertel vor zwei. „Ich hab die letzte Straßenbahn verpasst und bin gelaufen."
Stefan seufzte. „Das gefällt mir nicht. Das weißt du." Ihr hätte etwas passieren können! Zudem war seine Tochter sehr hübsch. Das blaue Kleid betonte ihre Augenfarbe. Verdammt gefährlich in dem Outfit nachts allein rumzulaufen. „Nächstes Mal rufst du bitte an, damit ich dich abholen kann. Ich weiß, was nachts für Typen in Mannheim rumlaufen, okay?"
„Ich auch ...", murmelte Karin in sich hinein und verschwand wieder im Flur, vermutlich um sich die Schuhe auszuziehen. „Oh, Papa ... Woher sollte ich denn wissen, dass du noch wach bist? Es ist Montagnacht. Hast du morgen nicht Frühdienst?"
„Nein. Spätdienst. Aber ich gehe auch gleich schlafen."
Sie kam ins Wohnzimmer und ließ sich neben ihm auf dem Sofa nieder. „Hab ich auch, 14-21 Uhr." Entsetzt holte sie Luft, als wäre ihr soeben etwas eingefallen. „Oh, shit." Sie verschränkte die Arme vor der Brust und biss sich auf die Unterlippe.
„Was ist?" Stefan betrachtete ihr nachdenkliches Gesicht.
„Ich hätte quasi eine Verabredung gehabt um 16 Uhr. Aber ich war mir eh noch nicht sicher, ob ich hingehen soll. Jetzt hat der Rettungsdienst mir die Entscheidung wohl abgenommen."
Er klappte den Laptop zu und stellte ihn auf den Couchtisch. „Das ging mir auch schon öfter so. Berufe mit Schichtdienst können einen echt einschränken."
„Als Polizist musst du es ja wissen." Karin lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloss die Augen. Mehrere Sekunden saßen sie schweigend nebeneinander, dann setzte Karin zögernd zum Wort an. „Papa ... wie viele Verbrechen geschehen denn in Mannheim, ohne, dass sie gemeldet werden?"
Augenblicklich richtete Stefan seinen Blick aufmerksam auf seine Tochter. „Wieso fragst du?"
„Ohne bestimmten Grund", antwortete sie sofort. Dann lächelte sie ihn beruhigend an. „Ich hab doch im Rettungsdienst auch manchmal mit dem Thema zu tun."
„Mehr als wir denken, fürchte ich. Ich kann dir logischerweise keine genaue Zahl nennen. Aber man sollte jedes Verbrechen melden. Sonst wiederholen das die Täter an weiteren Opfern und dem Ganzen wird nie Einhalt geboten."
„Was ist, wenn das Opfer Angst hat? Vor einem Racheakt anderer oder einer Wiederholungstat?"
„Ja, zugegeben, das ist ein Problem. Es gibt natürlich Zeugenschutzprogramme. Aber nur in ernsten Fällen und es dauert, bis so etwas in Kraft tritt. Bis dahin kann es schon zu spät sein." Stefan betrachtete seine Tochter mit ernster Miene. Karin hielt immer noch die Arme vor der Brust verschränkt und schien tief in ihre Gedanken versunken zu sein. Irgendetwas ist anders als sonst.
„Ist etwas passiert, was ich wissen muss, Karin?", fragte er schließlich ruhig.
Sie sah ihn an und ihr Blick schien kurz verwirrt, als wisse sie nicht, was sie sagen sollte. „Ach quatsch, Papa. Es ist alles okay", erwiderte sie nach kurzem Schweigen, „Wir hatten nur heute eine junge Ausländerin, die wahnsinnige Angst vor ihrem Mann hatte. Das hat mich ein bisschen nachdenklich gemacht."
„Ich verstehe, was du meinst. Manche Männer sehen die eigene Ehefrau als ihr Eigentum und machen mit ihr, was sie wollen, besonders in ausländischen Kulturkreisen. Allerdings gibt es auch einige Ausnahmen, von denen wir in unseren Berufen nur wenig mitbekommen. Und es gibt ebenso deutsche Männer, die sich ähnlich verhalten."
„Ja ... ist wohl so." Karin schien mit ihren Gedanken schon wieder woanders zu sein.
Stefan erhob sich und schaltete in Flur und Küche die Lichter aus. Als er das Wohnzimmer erneut betrat, streckte sich Karin, stand auf und kam ihm dann mit einem Gähnen entgegen.
„Ich gehe schlafen, Papa. Bis morgen. Träum was Schönes."
Stefan wünschte ihr eine gute Nacht und seine Tochter lief die Treppe hoch in ihr Zimmer.
Bevor er ebenfalls nach oben ging, ließ er die Katze noch zur Terrassentür heraus und sah ihr nach, bis sie in der Dunkelheit der Büsche verschwunden war. Vielleicht machte er sich auch einfach zu viele Gedanken. Karin und er, sie hatten es beide nicht leicht, seit seine Ehefrau letztes Jahr an einem Gehirntumor gestorben war. Es war immer noch seltsam alleine in dem großen Doppelbett zu schlafen. Oder vom Nachtdienst zu kommen und keinen gedeckten Frühstückstisch vorzufinden.
Vermutlich war das Soziale Jahr im Rettungsdienst Karins Lösung, mit dem Verlust ihrer Mutter klar zu kommen und alles besser zu verstehen. Er hatte sie nach dem Abitur nicht aufhalten wollen und auch nicht aufhalten können. Es war ihre alleinige Entscheidung gewesen. Und jetzt wuchs sie täglich an ihren Herausforderungen und kam ihm schon viel erwachsener vor.
Stefan schaltete das letzte Licht aus und legte sich in das kalte Doppelbett.
* * *
Auf Höhe der Quadrate G2 und F2, kurz nach dem Marktplatz, bemerkte Aaron einen Schatten, der in eine Hofeinfahrt huschte. Er verlangsamte seine Schritte mit einem unguten Gefühl und griff nach seinem Messer, das sich in seiner linken Hosentasche befand.
Noch bevor er es richtig ergreifen konnte, erfasste ihn jemand von hinten und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen die Hauswand von Quadrat G2. „Shit ...", stöhnte er, als sein Kopf seitlich gegen die Backsteine schlug und ihm kurz schwarz vor Augen wurde.
„Das hast du dir selbst eingebrockt, Aaron. Das war meine Tussi."
Aaron öffnete die Augen und sah die hässliche Fratze von dem blonden Kerl vor sich. „Ach, Max." Er richtete sich an die Wand gelehnt wieder zu voller Größe auf. „Du bist so ein Arschloch."
Den darauffolgenden Schlag wehrte Aaron mit einer Drehbewegung ab und gab Max einen Stoß, so dass dieser ein paar Meter zurück torkelte. Dann zog er mit einer schnellen Bewegung sein Messer.
Der Türke kam nun aus Richtung der Hofeinfahrt, mit einem aufgeklappten Butterfly in der Hand. „Na Alta, Spaß beim Ficken gehabt?"
Aaron spürte eine Flüssigkeit an seiner Wange hinab laufen. Er fasste sich an die schmerzende Stelle an seiner rechten oberen Gesichtshälfte kurz vor dem Haaransatz. Blut. „Danke für die Platzwunde, ihr Penner ..." Sein Kopf brummte als hätte ihm jemand mit einem Baseballschläger die Rübe eingehauen.
„Du hättest sie mir nicht wegnehmen sollen. Das war unklug. Aber sag ... wie war es?"
Aaron spuckte vor ihm auf den Fußboden, worauf Max einen ungestümen Schritt nach vorne machte, jedoch aufgrund von Aarons erhobenem Messer stehen blieb. „Ich vergewaltige keine Frauen. Grundsätzlich nicht. Was Schlimmeres könnt ihr einer Frau nicht antun. Und dieses Mädchen bekommt keiner von euch je in die Finger."
„Treib es nicht zu weit. Denk bloß nicht, dass ich mich wegen den Iren zurückhalte. Ich hab eh noch was gut bei René."
„Süße Kleine, was? Du hättest trotzdem gern gefickt, was, Aaron?" Der Türke grinste und zeigte seine schlechten Zähne.
Meine Güte. Als Frau von diesen Kerlen vergewaltigt zu werden muss grauenhaft sein.
„Ich werde René daran erinnern, damit das endlich vom Tisch ist", erwiderte Aaron ungerührt.
Max lächelte kalt. „Ich weiß, wo sie arbeitet. Und es ist bestimmt nicht so schwer noch mehr herauszufinden." Mit Genuss beobachtete er das bedrohliche Funkeln in Aarons Augen.
„Wenn du ihr etwas antust..."
„Du magst die Kleine." Max lachte leise. „Ich werde sie in den nächsten zwei Tagen durchficken. Nur um dich zu ärgern, das wird die reine Genugtuung. Und sei froh, dass ich das Abkommen noch nicht als gebrochen ansehe. Die Iren wären nicht so erfreut."
„Ich scheiß auf die Iren. Wenn du ihr was antust ... Ich schwöre dir, ich bringe dich um."
„Sag René, er soll bald seine Schuld ausgleichen." Mit einem lauten Lachen wandte er sich wieder an seinen türkischen Freund. „Alp, wir gehen."
Welch passender Name für den Türken. Die beiden sind der reine Alptraum.
Aaron lehnte sich gegen die Hauswand und beobachtete Max und Alp, bis sie um die nächste Hausecke verschwunden waren.
* * *
„Bereit für Runde zwei?" René schlang die Arme um seine Freundin und zog sie ein weiteres Stück näher an sich. Jennifer richtete ihren Oberkörper auf, um ihn von oben ansehen zu können. Er fuhr mit seinen Händen ihre Taille entlang über ihre Hüften und stoppte an ihrem Hintern. Ihren Po sanft massierend drückte er ihr Gesäß gegen seine Hüfte, so dass sie sein erigiertes Glied in seiner Hose spüren konnte.
„Sorry, Baby. Mir reicht es für heute." Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss und wollte sich von ihm lösen und aufstehen, doch er legte seine Hände wieder an ihren Rücken und nahm sie fest in den Arm. Die Fernbedienung rutschte vom Kissen und landete auf dem Teppichboden.
„Wir gehen gleich schlafen, okay? Jenny ... nur einen Moment noch ..." René streichelte zärtlich ihren Nacken und genoss ihre Nähe.
„Ich hatte vor, mich im Bett noch einmal an dich zu kuscheln", sagte Jenny belustigt.
„Na wenn das so ist ..." Er ließ sie los und sie erhob sich nach einem weiteren Kuss auf seine Lippen.
René streckte sich und gähnte, dann tastete er auf dem Boden nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
Jennys beunruhigte Stimme drang aus dem Flur. „Aaron, was zum Teufel ist passiert?"
„Eine unangenehme Begegnung auf dem Heimweg."
René setzte sich aufrecht hin und betrachtete mit finsterem Blick den Durchgang zum Flur. Aaron stützte sich auf seine Schwester und verzog das Gesicht als er Renés ernste Miene erblickte. Die Hand hatte er an seinen Kopf gelegt als hätte er Kopfschmerzen. Das Blut an seiner Wange war deutlich sichtbar. Das gibt doch wieder irgendwie Ärger...
Jennys Blick zeigte eine Mischung aus Sorge und Tadel. „Geht es dir gut?"
„Mein Kopf brummt etwas, könnte man sagen."
„Oh Mann." Sie verdrehte die Augen. „Setz dich hin. Ich schaue es mir an." Mit einem Kopfschütteln ließ sie ihn stehen und lief in die Küche, um Materialien zur Wundversorgung herauszusuchen.
Aaron zögerte einen Moment, dann lief er langsam zum Sofa und setzte sich neben René. „Jetzt schau nicht so grimmig."
René verschränkte die Arme vor der Brust. „Also? Was ist passiert?"
„Das würde mich auch interessieren", fügte Jenny hinzu, stellte den Verbandskasten auf den Couchtisch und betrachtete Aarons Verletzung. Aaron schloss die Augen und seufzte, während sie bereits anfing, das Blut von seinem Gesicht zu wischen. „Ich hatte schon mal erwähnt, dass ich meinen Bruder nicht bei einer sinnlosen Messerstecherei verlieren will, oder?" Sie fixierte Aaron mit einem ernsten Blick. „Du musst vorsichtiger sein."
„Ich weiß." Er lächelte sie kurz an, dann wurde seine Mimik wieder ernst und er wandte sich an René. „Ich soll dich daran erinnern, deine Schuld bei Max auszugleichen."
Augenblicklich ballte René die rechte Hand zur Faust. „Erzähl mir jetzt nicht, dass der sich deswegen mit dir prügelt!"
„Ich dachte wir hätten mit Max und seinen Kumpanen eine Art Friedensabkommen wegen den Iren?", hakte Jenny nach und sprühte etwas Hautdesinfektionsmittel auf Aarons Wunde.
„Haben wir auch." René besah Aaron mit einem scharfen Blick. „Dieses Abkommen verbietet uns, ihn oder einen anderen aus seiner Gruppe anzugreifen oder zu verraten."
„Sorry", sagte Aaron und schloss die Augen, „ich habe sie heute Nacht zuerst angegriffen."
Ihm entfuhr ein wütender Schrei, der Jenny zusammenzucken ließ. Aaron jedoch regte sich keinen Millimeter, als hätte er einen derartigen Ausbruch schon vorhergesehen. Als René ihn am Kragen packte, öffnete er die Augen und biss die Zähne zusammen. „Du weißt, dass sowas immer Konsequenzen hat, oder? Für ALLE."
„René!" Jenny ergriff seinen Arm, damit er von Aaron abließ.
Zögernd lockerte René seinen Griff und ließ Jennys Bruder schließlich wieder komplett los. „Mit solchen Aktionen schaufelst du dein Grab, Aaron." Jenny ist viel zu sanft mit ihm. Haben die beide keine Ahnung, was für Konsequenzen sowas ziehen kann? „Ich hab schon genug Sorgen wegen dem Deal übermorgen ..."
„Sie waren kurz davor, zu zweit ein Mädchen zu vergewaltigen. Diese ganze Bande ist das allerletzte."
René zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Nun, das ist mir neu." Er spürte immer noch den Arger in sich wallen, hielt sich aber zurück. Verärgert verschränkte er erneut die Arme vor der Brust. „Ich weiß trotzdem nicht, ob es klug war, sie anzugreifen."
„Sie sehen unser Abkommen nicht als gebrochen an. Aber ich scheiße auf ein Friedensabkommen mit solchen Arschlöchern."
„Nicht jeder von uns scheißt da drauf", ertönte eine ruhige Stimme aus dem Flur.
„Ich dachte, du schläfst schon." René nickte seinem Freund kurz zu.
Simon setzte sich in den Sessel am Fenster. „Du hast ziemlich laut herum geschrien in deiner aufbrausenden Art." Ein kurzes Grinsen erschien auf seinem Gesicht, dann wurde auch er wieder ernst. „Das Problem sind die Wellen, die sowas schlagen kann. Die Iren sind besser mit Max' Truppe als mit uns. Bringen mehr Geld anscheinend. Wir müssen vorsichtig sein – wenn das außer Kontrolle gerät, vergewaltigen sie irgendwann noch Jenny oder stechen einen von uns ab."
„Ich wollte hier jetzt keine Krisensitzung auslösen." Aaron verdrehte die Augen. „Ich habe nur einem Mädchen eine widerliche Erfahrung erspart."
„Meiner Meinung nach hast du das Richtige getan", sagte Jenny leise und kramte in dem kleinen Erste-Hilfe-Koffer herum. „Die Wunde ist nicht groß und nicht tief. Ein größeres Pflaster und ein bisschen Ruhe sollten genügen."
„Was für eine Wiedergutmachung ist überhaupt gemeint?", fragte Aaron und ließ sich von seiner Schwester ein Pflaster auf die Verletzung kleben. „Danke, Jenny."
René atmete laut und wütend aus. „Ich hatte letzte Woche eine kleine Auseinandersetzung mit Jayden von den Iren. Logans Sohn. Max hat mir geholfen die Lage wieder zu beruhigen. Im Grunde hat er uns sogar mehr Zeit ausgehandelt für den Deal diese Woche."
„Stimmt, das hattest du mir erzählt", erinnerte sich Jenny.
„Aber was er sich unter einer Wiedergutmachung vorstellt, weiß ich auch nicht. Ich dachte eigentlich, dass sich das automatisch wieder ausgleicht. Kann ja keiner ahnen, dass Aaron nachts den Helden spielen muss."
„Das gleicht sich auch irgendwann wieder aus", meinte Simon und gähnte. „Einfach abwarten." Er erhob sich, wünschte allen eine Gute Nacht und verschwand wieder im dunklen Flur.
„Aaron. Du musst dich bei sowas zurückhalten." René betrachtete Jennys Bruder mit einem strengen Blick. „Ich bezweifle, dass die Sache hiermit gegessen ist. Das Mädel wird die beiden anzeigen und wir kriegen noch richtig Probleme."
„Darüber solltest du dir keine Gedanken machen."
„Muss ich aber." René verzog wütend das Gesicht. „Ich trage für uns offiziell die Verantwortung. Und was immer ihr anstellt, wird von den anderen automatisch auf mich zurückgeführt."
Jenny setzte sich neben ihn aufs Sofa und legte den Kopf auf seine Schulter. Vermutlich sah sie einen erneuten Wutausbruch kommen.
Aaron erhob sich wortlos. Er berührte das Pflaster an seiner rechten Schläfe und schenkte seiner Schwester ein kurzes Lächeln. Am Durchgang zum Flur drehte er sich noch einmal um.
„Ich weiß genau, was ich tue, René. In manchen Situationen muss ich mich über dieses Abkommen hinwegsetzen. Das heißt aber nicht, dass ich mir der Konsequenzen nicht bewusst bin." Er seufzte. „Es tut mir leid. Schlaft gut."
Jenny sah ihrem Bruder nach, wie er um die Ecke verschwand und wartete ab, bis das Klacken seiner Zimmertür ertönt war. „Es ist richtig, weißt du? Einem Mädchen in Not zu helfen."
„Es ist auch ziemlich leichtsinnig. Wir können froh sein, dass ihm kein Messer im Bauch steckt."
„Vergewaltiger sind echt das Letzte ..."
„Ich weiß", erwiderte René, „die werden nicht umsonst im Knast in den Arsch gefickt. Aber dieses Bündnis mit Max ist wichtig."
Jenny schwieg und ließ sich von ihm den Oberschenkel streicheln.
„Komm, wir gehen auch schlafen", meinte er schließlich, legte einen Arm unter ihre Kniekehlen und den anderen an ihren Rücken und hob sie hoch.
„Ich kann doch laufen!" Sie lachte und legte ihre Arme um seine Schultern. Jenny strich lächelnd durch seine dunkelbraunen, kurzen Haare und fuhr dann mit ihren Fingern über seinen gut gebauten Oberkörper. René trainierte jeden Tag mit Hanteln, um in Form zu bleiben.
Er hatte Jenny vor etwa fünf Jahren kennen gelernt. Er war damals Mitte dreißig gewesen, sie zehn Jahre jünger. Sie hatte keine Probleme mit dem relativ hohen Altersunterschied und René wusste, dass sie ihn ebenso attraktiv fand wie er sie.
Und er brauchte Jenny. Sie war der beruhigende Ausgleich an seiner Seite. Sie konnte seinen aufbrausenden, manchmal sogar gefährlichen Charakter wieder unter Kontrolle bringen.
René schaltete das Licht im Wohnzimmer aus und trug sie durch den dunklen Flur zum Schlafzimmer, wo er mit einer Hand das Licht wieder anschaltete und sie liebevoll auf dem Bett ablegte. Er schloss die Tür und grinste seine Freundin an. „Vielleicht brauche ich jetzt doch noch eine zweite Runde zur Beruhigung."
„Na dann komm her und überzeuge mich, dass ich das auch brauche ...", erwiderte Jenny ebenfalls mit einem Grinsen.
„Du bist wirklich atemberaubend schön."
Einen Moment stand er nur da und betrachtete sie, wie sie in ihrem hautengen Top mit den hervorquellenden Brüsten und der kurzen Hose mit den schlanken Beinen auf der Bettdecke lag und ihn anlächelte. Die offenen langen Haare zierten ihren Körper; in dicken blonden Strähnen reichten sie ihr fast bis zur Hüfte.
René streifte sich das T-Shirt vom Körper und näherte sich seiner Freundin. Dann begann er sanft ihren Mund und ihren Hals zu küssen. Jenny legte die Arme um seinen muskulösen Körper und zog ihn an sich. Liebevoll strich er über ihre Brüste und schon bald versank er vollkommen in ihrer Wärme.
„Männlich, chirurgisch, ins Klinikum."
Erst am nächsten Morgen bemerkte ich die zahlreichen SMS und WhatsApp-Nachrichten, sowie die zwei verpassten Anrufe auf meinem Handy, alle von Lisa. Ich hatte mein Smartphone gestern Abend auf lautlos gestellt. Offensichtlich hatte Lisa sich Sorgen um mich gemacht. Klar, sie musste gesehen haben, was zwischen mir und dem blonden Kerl an der Tür passiert war und auch, dass er das Joso zusammen mit dem Türken kurz nach mir verlassen hatte.
Ich überflog die Nachrichten, während ich mir frische Handtücher schnappte und ins Badezimmer lief.
Lisa, 00:47Uhr, Karin, alles in Ordnung, die folgen dir!!!
Lisa, 00:50Uhr, Habe Sarah überzeugt zu gehen, treffen wir uns an der Straßenbahn?
Lisa, 00:53Uhr, Wo bist du? Alles okay???
Lisa, 00:57Uhr, Wir sind jetzt in der Straßenbahn, Sarah kann nicht mehr grade laufen. Bitte melde dich!
Dem Ganzen folgten noch sieben weitere besorgte Nachrichten. Beim Durchlesen stellte ich erleichtert fest, dass sie weder den Notruf gewählt, noch meinen Vater angerufen hatte. Letzteres hätte ich gestern Nacht bestimmt auch bemerkt. Mit einem schlechten Gewissen, dass sie sich so lange hatte Sorgen machen müssen, schickte ich eine Nachricht zurück.
Karin, 10:28Uhr, Hey Lisa. Sorry, mir geht es gut. Sie sind mir gefolgt, aber ich war schneller ;) Handy war auf lautlos.
Nur wenige Sekunden später kam schon eine Antwort.
Lisa, 10:29Uhr, Was ein Glück. Mach mir nicht nochmal so Sorgen!!
Lisa, 10:30Uhr, Klaus hat mich angerufen. Fahre jetzt Spätdienst auf dem Parkring für den Rest der Woche. Sarah hat Glück, dass sie frei hat. Sie war echt voll gestern :D
Karin, 10:30Uhr, Echt cool, vielleicht sieht man sich. Hab ja Lagerstraße spät die ganze Woche.
Die Rettungswachen vom Roten Kreuz in Mannheim lagen in der Lagerstraße und auf dem Parkring. Auf der Lagerstraße gab es nur Tagdienst, während der Parkring als 24h-Wache auch Nachtschichten hatte. In Mannheim gab es auch noch eine Rettungswache vom Arbeiter-Samariter-Bund und eine von der Johanniter Unfallhilfe. Eher zufällig hatten wir uns alle drei für das Rote Kreuz entschieden.
Ich zog meinen Schlafanzug aus und stieg direkt in die Dusche. Lisa würde mich gewiss später noch ausfragen, was genau letzte Nacht noch vorgefallen war. Mit einem Seufzen schaltete ich das heiße Wasser an und ließ meinen Körper von der beinahe kochenden Flüssigkeit umspülen. Es war wohl am Sinnvollsten, die ganze Sache einfach komplett zu vergessen. Ins Joso würde ich jedenfalls nicht mehr gehen. Für die nächste Zeit würde ich abends gar nicht mehr weggehen. Die Erlebnisse der letzten Nacht waren so beängstigend gewesen, ich wollte nicht mehr daran erinnert werden.
Nach einem späten Frühstück zusammen mit meinem Vater klickte ich noch ein bisschen an meinem Computer herum, während er sich schon zur Arbeit verabschiedete. Ich hatte das Gefühl, dass er mich heute besonders aufmerksam beobachtet hatte. Ich sollte wohl erst mal keine Verbrechen mehr erwähnen.
Kurz nach 13Uhr nahm ich eine Straßenbahn am Wasserturm, um in Richtung Lagerstraße zu fahren. Ich musste in die Linie 3 oder 1 umsteigen und erreichte die Rettungswache zwanzig Minuten vor Dienstbeginn. Dem Chef rief ich ein schwaches „Hallo" entgegen, als ich an seiner geöffneten Bürotür vorbeiging. Weitere fünf Minuten vergingen, bis ich ein Polo-Shirt in der Größe S aus dem Kleiderpool gesucht hatte. Mein Kleiderfach war leer; erst morgen würde die nächste Lieferung der professionell gereinigten und in einzelne Plastiktüten verpackten Kleidung ankommen. Die Rettungsdienst-Uniform des Roten Kreuzes war komplett weiß, was es manchmal wirklich schwer machte sie sauber zu halten.
Als ich umgezogen den Aufenthaltsraum betrat, war es kurz vor 14 Uhr. Überrascht stellte ich fest, dass es nicht Herbert war, der auf mich wartete. Herbert war ein älterer, sehr netter Kollege, der aber leider favorisiert Krankentransporte fuhr. Ich hatte, wie fast alle jungen Leute im Rettungsdienst, lieber Notfälle.
In Mannheim gab es das sogenannte Mehrzwecksystem. Die Rettungswägen, abgekürzt RTW, fuhren Krankentransporte, wenn es keine Notfälle gab. Natürlich gingen Notfalleinsätze immer vor. Wenn man noch ohne Patient zu einem Krankentransport unterwegs war und es passierte ein Notfall in unmittelbarer Umgebung, so bekam man diesen zugeteilt und der Krankentransport ging an ein anderes, weiter entferntes Fahrzeug. Bei Notfällen unterschied man in Notfälle mit Sondersignal, Notarzteinsätze und Primärfahrten. Letztere waren ohne Sondersignal und es handelte sich meist um Menschen, die krank waren, aber noch keine Einweisung vom Arzt in ein Krankenhaus hatten, oder um Menschen, die sich verletzt hatten, aber deren Zustand nicht so kritisch war, dass man mit Signal anfahren musste.
Die Entscheidung, in welche Kategorie ein Transport gehörte, wurde von der Leitstelle getroffen, die Anrufe entgegennahm und die Fahrzeuge koordinierte.
In Deutschland war es Rettungsassistenten noch nicht erlaubt Medikamente zu geben. Es war offensichtlich, dass das System in den nächsten Jahren ein paar Veränderungen erfahren würde. Notärzte, also Krankenhausärzte mit einer besonderen Zusatzausbildung, wurden bei manchen Einsätzen, bei denen klar war, dass man Medikamente brauchen würde, automatisch dazu alarmiert. Es gab nur zwei Orte in Mannheim, an welchen Notarzteinsatzfahrzeuge, die von einem Rettungsassistenten gefahren wurden, stationiert waren: Das Universitätsklinikum und das Theresienkrankenhaus. Waren beide Notärzte bereits an Einsatzstellen, konnte man Ärzte aus umgebenden Städten alarmieren, wie Hockenheim, Weinheim oder Lampertheim. Eine weitere Möglichkeit war der Rettungshubschrauber. Der nächste hatte seinen Standort in Ludwigshafen. Diese Stadt erstreckte sich auf der anderen Seite des Rheines, einer der beiden Flüsse, die in Mannheim zu finden waren. Der zweite Fluss war der Neckar, der direkt an den Quadraten vorbei mitten durch die Stadt floss.
Vermutlich würde sich das Mehrzwecksystem innerhalb der nächsten Jahre ändern, so dass Rettungsassistenten eine weitere Ausbildung zum sogenannten Notfallsanitäter erhalten würden und Medikamente geben durften.
„Dich hab ich ja schon seit Wochen nicht mehr gesehen." Björn grinste mich an.
Mein Rucksack glitt auf einen der Stühle; ich lief mit einem strahlenden Lächeln auf den jungen Mann zu und umarmte ihn einmal kräftig. Seine Hand streichelte kurz über meinen Rücken, dann ging ich einen Schritt zurück und sah zu ihm auf. „Wenn du halt auch immer nur auf dem Parkring fahren musst! Warum bist du hier? Du fährst nicht zufällig mit mir 14-21?"
Björn war fast einen Kopf größer als ich, hatte dunkelbraune Haare, braune Augen und einen Dreitagebart. Vor zwei Monaten war ich zuletzt mit ihm gefahren. Da er nicht auf der Rettungswache Lagerstraße arbeitete, sondern auf dem Parkring, kam eine gemeinsame Schicht leider nicht allzu häufig vor. Wir hatten uns super verstanden, aber mit Björn schien sich eigentlich jeder gut zu verstehen. Er war ein sehr netter und gut verträglicher Mensch und Arbeitskollege.
„Ich habe hier heute Spätdienst und das offensichtlich mit dir. Ich glaube, Herbert hat sich krankgemeldet."
Begeistert strahlte ich ihn an und nahm den Meldeempfänger entgegen, den er mir reichte. Wir fuhren mit dem 6/83-9. Das war der Funkrufname unseres Rettungswagens. 6 für den Bezirk, 83 kennzeichnete es als RTW, und 9 bedeutete, dass es sich um das neunte Fahrzeug des DRK Mannheim handelte.
„Ich schätze, du fährst, oder?", fragte er mich, während er die grüne Box mit Materialien vom Schrank nahm und überprüfte, ob sich alle auf dem Dienstübernahmeprotokoll eingetragenen Materialien in der Box befanden. Alles, was die Vorschicht verbraucht hatte, mussten wir bei unserem Schichtbeginn wieder im Rettungswagen auffüllen. Die Box war vom Rettungswachenleiter vorbereitet worden.
„Ja, ich fürchte schon." Als Rettungshelfer oder Rettungssanitäter musste ich meistens den Rettungswagen fahren. Die Vorschrift sagte, dass die qualifizierte Person, also der Rettungsassistent, bei Notfalltransporten hinten im Patientenraum beim Patient sein sollte. Bei Krankentransporten war es kein Problem, wenn ich hinten war. Manchmal ließ mich ein Kollege auch bei Notfällen nach hinten, insbesondere, wenn Notärzte begleiteten. Dabei lernte man nämlich am meisten.
Björn nickte und nahm dann den Telefonhörer in die Hand, um bei der Leitstelle für den Rhein-Neckar-Kreis anzurufen. Weil die Wache auf der Lagerstraße keine 24-Stunden-Wache war wie der Parkring, war es Pflicht, den Rettungswagen anzumelden, damit er bei den Leitstellendisponenten im System angezeigt wurde und ihm eine Fahrt zugeteilt werden konnte.
Während er telefonierte, schnappte ich mir meinen Rucksack, meine Rettungsdienstjacke und die Box mit den Materialien und lief in die Garage, wo der 6/83-9 auf mich wartete. Kaum hatte ich das Material in die unterschiedlichen Schubladen im Patientenraum eingeräumt, kündigte mein Melder eine Notfallfahrt an.
Die Meldung lesend öffnete ich die Beifahrertür, um das Funkgerät zwischen den beiden Sitzen zu erreichen und die Statusmeldung 3 zu drücken. Dies signalisierte der Leitstelle, dass wir die Fahrt erhalten hatten und unterwegs waren. Von Alarmierung bis zum Ausrücken hatten wir bei Fahrten mit Sondersignal sechzig Sekunden Zeit.
Die grüne Box brachte ich rasch wieder zurück in den Aufenthaltsraum, während ich mir den schnellsten Weg zum Stadtteil Mannheim-Schönau ins Gedächtnis rief, denn dorthin würde unsere Fahrt gleich gehen. Björn kam mir auf halbem Weg entgegen, in der Hand hielt er seine Mappe, welche EDV-Berichte, Notfallprotokolle und Büroklammern enthielt. Der Job des Beifahrers oder des Patientenbetreuers war im Rettungsdienst manchmal eher der eines fahrenden Sekretärs, so viel wie man zu schreiben hatte.
Zurück am Auto, entfernte ich den Stecker, welcher den RTW in den Standzeiten mit Strom versorgte, schwang mich hinter das Steuer und stellte mir innerhalb weniger Sekunden meinen Sitz ein. „Ich hab die Meldung nur überflogen und mir die Straße gemerkt. Was für einen Notfall haben wir denn?"
„Arbeitsunfall. Schnittverletzung. Mehr weiß ich auch nicht."
Ich fuhr aus der Fahrzeughalle und Björn betätigte einen Knopf, wodurch sich das Rolltor hinter ihm automatisch schloss. Dann lief er vor, setzte sich auf den Beifahrersitz und ich fuhr los.
Mit Sondersignal zu fahren war ein vollkommen anderes Fahrerlebnis. Die Verkehrsregeln schienen außer Kraft gesetzt und es war als Rettungsmittel sogar egal, wo man parkte. Natürlich achtete man darauf, die Straßen nicht komplett zu versperren, aber das „Absolute Halteverbot" existierte für uns nicht.
Die Ampeln konnte ich bei Rot überfahren und die Autos hielten an, auch wenn sie Vorfahrt hatten. Nun, die meisten jedenfalls. Es gab immer ein paar verwirrte Autofahrer, wegen denen man bremsen oder komplett stehen bleiben musste, weil sie einen nicht sahen oder hörten. Oder einfach mit der Situation überfordert waren und nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten, wenn plötzlich ein Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn hinter ihnen auf der Straße stand.
Auch heute bildeten die Autos keine perfekte Rettungsgasse für unseren RTW, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Es gelang mir auch so, mich durch den Verkehr zu schlängeln und letztendlich die gesuchte Straße mit ein bisschen Navigationshilfe von Björn zu erreichen.
Ein Mann in Arbeitskleidung, offensichtlich Schnittschutzhosen, winkte uns auf der Straße schon aufgeregt zu. Nur ein kurzer Blick nach links auf das Privatgrundstück mit mehreren gefällten und zersägten Bäumen reichte mir schon, um festzustellen, dass es sich hier um eine ganz besondere Schnittverletzung handelte.
Ich nickte dem Mann freundlich zu, als ich ausstieg. Er fing schon an zu reden, während Björn noch auf der Beifahrerseite den Notfallrucksack aus dem Patientenraum holte.
„Hallo. Er hat sich mit der Motorsäge ins Gesicht geschnitten. Einer meiner Mitarbeiter. Seine Frau wird mich umbringen!"
Meine Augen weiteten sich anhand der Informationen. Sofort kramte ich ein paar Einmalhandschuhe aus meiner Hosentasche und zog sie an, während er weiterredete.
„Also er ist stabil und so und sitzt hinten auf dem Stuhl. Hier lang."
Ich warf Björn einen schnellen Blick zu und gemeinsam folgten wir dem Mann durch den Vorgarten. Es war ein kurzer Weg, vorbei an zahlreichen abgesägten Kiefernästen und zwei auf dem Boden abgestellten Motorsägen. Ein älteres Ehepaar, offensichtlich die Hausbesitzer, welche die beiden Arbeiter engagiert hatten, liefen unruhig auf dem Gartenweg auf und ab.
Wir grüßten kurz und wandten unsere Aufmerksamkeit dann dem jungen Mann zu, der auf der Terrasse saß. Sein Pullover war mit zahlreichen Blutspritzern verunreinigt und in einer Hand hielt er eine halbvolle Wasserflasche. Es war ein langer, hässlicher Schnitt, aber er war nicht so beunruhigend tief wie ich es jetzt von einer Motorsäge erwartet hatte. Die Verletzung zog sich von knapp unter seinem rechten Auge die gesamte Wange herunter und führte dann in einem Bogen das komplette Kinn entlang. An ein paar Stellen hatte das Schwert der Motorsäge die Haut nur angekratzt, während es sich an anderen gewiss einen halben Zentimeter tief eingesägt hatte. Teilweise sah man weißes Fettgewebe hervorquellen. Wenn ich mich nicht irrte, fehlte ihm sogar ein kleines Stück von seinem Kinn. Es war schwer zu erkennen, weil an dieser Stelle noch eine größere Menge Blut aus der Wunde austrat.
Die Verletzung schien nicht so tragisch zu sein, dass wir einen Notarzt brauchten. Der Kerl schien verdammt viel Glück gehabt zu haben. Nicht mal der Blutverlust war besonders hoch, denn auf seinem Arbeitshemd waren nur verhältnismäßig kleine Blutspritzer und die Wunde blutete nun fast gar nicht mehr.
„Oh je, da haben sie sich aber ordentlich geschnitten", meinte Björn und öffnete den Notfallkoffer, um ein paar Kompressen und eine Mullbinde herauszuholen.
„Wenn schon, dann richtig", erwiderte der junge Mann und trank noch einen Schluck Wasser. Man sah ihm aber an, dass ihm nicht wirklich nach Lachen zumute war.
Björn benutzte etwas Hautdesinfektionsmittel und ich riss zwei Kompressen auf und drückte sie an die am stärksten blutenden Stellen. Björn legte vorsichtig mit der Mullbinde darüber einen behelfsmäßigen Verband an. Das war nicht gerade leicht zu bewerkstelligen, ohne dem armen Kerl den Mund zuzubinden.
„Drückt der Verband oder geht das so?" Björn musterte unser Werk kritisch.
„Im Moment tut mir seltsamerweise gar nichts weh."
„Wir haben jetzt erst mal die Blutung gestoppt und den Eintritt weiterer Fremdkörper verhindert", erklärte ich. „Richtig gereinigt und behandelt wird die Wunde erst im Krankenhaus. Es sind Ölspuren vom Sägeblatt eingetreten, da können wir jetzt hier nicht viel machen."
„Arbeiten Sie hier privat oder als Firma?", wandte sich Björn an den anderen Arbeiter.
„Wir sind die Firma Block für Baumpflege und Fällarbeiten aus Weinheim. Ich bin der Chef, Michael Block, und er ist mein Mitarbeiter. Sekunde." Er durchsuchte sein Hemd und zog eine Visitenkarte hervor. „Hier. Das ist die Firma. Sowas Schlimmes ist uns in den acht Jahren seit Firmengründung jetzt zum ersten Mal passiert."
Björn nahm die Karte dankend entgegen und holte dann sein Handy heraus.
„Ja, Björn hier, vom 6/83-9. Ist die Polizei auf dem Weg? Unterwegs, okay. Danke. Ich denke, wir fahren ins Klinikum. Ja, alles klar, ciao."
„Bei Arbeitsunfällen kommt immer die Polizei mit dazu, das ist normal", erklärte ich den beiden Arbeitern. „Außerdem müssten wir die Berufsgenossenschaft wissen. Bei welcher sind Sie denn?"
Michael Block runzelte die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. „Wir fallen beim Friedhof mit rein. Gräber und ... keine Ahnung wie genau die heißt."
„In Ordnung", meinte ich nur. Das würde das Krankenhaus selbst herausfinden müssen. „Kommen Sie, wir gehen schon mal zum Auto. Aber machen Sie ruhig langsam."
Der Mann stellte die Wasserflasche auf den kleinen Gartentisch und erhob sich. Er hatte einen sicheren Stand, daher unterstützte ich ihn nicht beim Laufen, sondern schnappte mir den Notfallrucksack. Wieder einmal ergriff mich die Faszination, dass man sich derart verletzen konnte und es einem dabei dennoch verhältnismäßig gut gehen konnte. Hätte er mehr Blut verloren, wäre sein Kreislauf zusammengesackt und wir hätten zweifellos einen Notarzt gebraucht.
Im Auto legte der junge Mann sich auf die Trage und ich machte mich daran, seinen Blutdruck zu messen. Trotz dem Geschehen hatte er einen normalen systolischen Wert von 130 mmHg.
Gerade als ich die Blutdruckmanschette wieder von dem Oberarm des Patienten löste, öffnete sich die Schiebetür und Björn zwinkerte mir lächelnd zu.
„Der Blutdruck ist bei 130. Ist die Polizei schon da?"
„Nein, noch nicht." Er stieg in den Patientenraum und wendete sich an den Patienten. „Wir warten noch kurz, bis die Kollegen von der Polizei da sind. Wie sieht es bei Ihnen aus? Sind irgendwelche Beschwerden aufgetreten?"
„Es ist alles okay soweit."
Ich schlug die Mappe auf, die Björn auf die ebene Arbeitsfläche direkt am kleinen Fenster zum Fahrerraum gelegt hatte. „Haben Sie zufällig Ihre Krankenkassenkarte dabei? Das Krankenhaus braucht die Karte zum Aufnehmen Ihrer Daten, auch wenn es sich hierbei um einen Arbeitsunfall handelt."
„Ja, Moment." Der junge Mann zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und zog die Karte heraus. Björn legte sie mir neben die Mappe. Dann gab er dem Patienten einen Clip an den Finger, das sogenannte Pulsoxymeter, das den Sauerstoffgehalt seines Blutes und seinen Puls maß.
Ich hatte bereits Name und Geburtsdatum von der Karte übertragen, als ich aus dem Augenwinkel das Polizeiauto auf der gegenüberliegenden Straßenseite halten sah. Meinen Kugelschreiber ließ ich auf der Ablage liegen und verließ das Auto, um den Polizisten die Situation zu erklären. Sie waren von einer anderen Polizeiwache als mein Vater.
Nach meiner knappen Erklärung betrat einer der Polizisten den Patientenraum unseres Rettungswagens, um die Patientendaten aufzunehmen und ihn noch einmal selbst zu dem Unfall zu befragen; der andere betrat das Grundstück, um mit dem Inhaber der Firma zu sprechen.
Ich setzte mich wieder hinter das Steuer und überlegte, wie ich von hier am Schnellsten ins Klinikum fahren konnte.
Das kleine Schiebefenster zum Patientenraum hinter mir öffnete sich und Björn teilte mir mit, dass wir losfahren konnten. Der Polizist war wieder ausgestiegen und hatte ebenfalls das Grundstück, auf dem der Unfall passiert war, betreten.
Ich schnallte mich an und startete den Motor. Auf dem Funkgerät drückte ich noch die Zahlen 7 und 5 und wartete auf die Aufforderung der Leitstelle zum Funken. Mit der 7 hatte ich ihnen mitgeteilt, dass wir den Patienten aufgenommen hatten. Jetzt musste ich ihnen nur noch sagen, in welches Krankenhaus wir fahren würden.
„6/83-9", meldete sich die Leitstelle innerhalb weniger Sekunden.
Mit gedrückter Sprechtaste sagte ich: „Männlich, chirurgisch, ins Klinikum."
„Verstanden."
Das war alles. Die Funkdisziplin wie sie im Buche stand, gab es im Mannheimer Rettungsdienst nur selten.
Mit einem Lächeln fuhr ich los.
* * *
„Na, immer nur am Arbeiten."
Überrascht drehte ich mich um. „Erich!" Ich nahm ihn kurz in den Arm. „Hast du auch Spätdienst?"
„Ich fahre NEF. Der Doktor ist noch in der Aufnahme."
Das Notarzteinsatzfahrzeug des Theresienkrankenhauses in Mannheim wurde vom Roten Kreuz besetzt. Es gab rund um die Uhr einen Rettungsassistenten, der mit einem der Ärzte aus dem Krankenhaus NEF fuhr.
Erich half mir die Trage fertig zu beziehen, die ich frisch desinfiziert hatte. Der junge Mann mit der Schnittverletzung hatte ein paar Blutspritzer zurückgelassen, daher war eine Desinfektion zwingend notwendig gewesen. Björn wartete noch in der Notaufnahme auf den Transportschein, den das Krankenhaus für den Transport ausstellen musste, damit das Rote Kreuz die Fahrt abrechnen konnte. Am Längsten dauerte hierbei allerdings immer, die Unterschrift des Aufnahmearztes zu bekommen.
Ich schob die Trage wieder in unseren RTW und schloss die Hintertüren. Erich war schon dabei sich eine Zigarette zu drehen. Dann ließ er sich auf dem Trittbrett unseres RTWs nieder und zündete sie an.
Er war schon Ende Zwanzig, hatte schulterlange schwarze Haare, die er immer zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, und seine beiden Arme waren mit Tattoos überzogen. Trotz seines eher wilden Aussehens war er eindeutig einer meiner Lieblingskollegen, auch wenn ich erst eine Woche lang mit ihm gefahren war.
„Fährst du mit Björn? Ich hab ihn in der Aufnahme gesehen."