Zweimal Istanbul und zurück - Claudia Tenit - E-Book

Zweimal Istanbul und zurück E-Book

Claudia Tenit

2,0

Beschreibung

Den Urlaubsflirt wiedersehen - und dann vergessen. So ist es geplant, als Claudia kurzentschlossen mit ihrer kleinen Tochter in die Türkei fliegt. Dann aber kommt alles ganz anders. Das einfache Leben am türkischen Bauernhof übt auf sie eine ungeheure Faszination aus, und die Bräuche und Traditionen erscheinen ihr wie eine Märchenwelt. Also lässt sie, anstatt nach zwei Wochen wieder nach Hause zu fliegen, ihren Rückflug sausen und bleibt. Ihr Urlaubsflirt hat jedoch andere Pläne: Er will nach Österreich. Damit beginnt eine weite Reise, die zweimal nach Istanbul führt. Und von dort zurück. Zurück nach Ortaca, einer Kleinstadt im Südwesten der Türkei und zurück nach Österreich, wo die Geschichte eigentlich beginnt ...

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Wenn es nichts besseres gibt...

langweillig
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Inhalt

Vorwort

Ein gedankenloser Abflug und erste Zweifel

Eine Märchenwelt und eine folgenschwere Entscheidung

Viele Reisevorbereitungen und ein denkwürdiger Vorfall

Eine weite Reise und ein unerwartetes Ende

Wieder zurück und ein neuer Plan

Noch einmal Istanbul und eine lange Bahnfahrt

Viele Schwierigkeiten und kein Visum

Eine europäische Schwiegertochter und geheimnisvolle Vorkommnisse

Gute Aussichten und trotzdem nicht glücklich

Böse Geister und magische Amulette

Arbeitslos und ein leichtsinniger Plan

Vedats Schicksal, viele Erlebnisse und ein wichtiger Besuch

Neue Chancen und eine bittere Erkenntnis

Autotausch und fauler Zauber

Ein greifbares Ziel und eine notwendige Einsicht

Erfüllte Träume und große Sorgen

Eine traurige Nachricht und eine Staatsbürgerschaft mit Folgen

Abschied für immer

Vorwort

Die Erzählung beginnt im Jahr 1989. Die Staaten in Europa unterliegen der Trennung in „Ost“ und „West“, und Jugoslawien ist noch nicht in seine Teilrepubliken zerfallen. Die Türkei ist gerade erst als Urlaubsland entdeckt worden, das Leben der Bevölkerung folgt den alten Traditionen, und der Aberglauben hat seinen festen Platz im Alltag. Es ist das letzte Jahr, in dem türkische Staatsbürger ohne Visum in Österreich einreisen können und das letzte Jahr, in dem von Istanbul der legendäre „Gastarbeiterzug“ bis München und weiter nach Dortmund fährt.

Vor diesem Hintergrund spielt die Geschichte, die zweimal nach Istanbul führt - und von dort zurück: Zurück nach Ortaca, einer bäuerlichen Kleinstadt im Südwesten der Türkei und zurück nach Österreich, wo sie eigentlich beginnt ...

Ein gedankenloser Abflug und erste Zweifel

Es war viertel nach drei Uhr morgens. Das Flughafentaxi hielt vor dem Haus. Ich stieg ein und setzte Clea auf meinen Schoß. Während der Fahrer meinen Koffer verstaute, sah ich zum Wohnzimmerfenster hinauf. Ich sah, wie Woifal sich weit herauslehnte und zum Abschied winkte. Ich winkte zurück und sah ihn immer noch hinter uns herwinken, als das Auto anfuhr und langsam die Straße hinauf rollte.

Auf unserem Weg durch die Stadt wurden weitere Fahrgäste abgeholt, und während Clea allmählich wieder einschlief, riss mich das Reden der Mitreisenden und das Einladen des Gepäcks bei jedem Halt immer wieder unsanft aus meinem Halbschlaf. Nach etlichen Zwischenstopps ging es auf die Autobahn, wo das gleichmäßig monotone Fahren endlich auch mich in tiefen Schlaf sinken ließ.

Als wir um halb sechs am Flughafen ankamen, war Clea gleich hellwach und sah neugierig und erwartungsvoll um sich. Die Reihe der Wartenden vor dem Check-in Schalter nach Dalaman war nun, Anfang Oktober, relativ kurz. Ich stellte mich dahinter an und gab den Koffer auf. Danach bemühte ich mich, Clea die noch viel zu lange Zeit bis zum Abflug einigermaßen zu vertreiben. Ich ging mit ihr in der Halle herum, zeigte ihr die verschiedenen Dinge in den Schaufenstern und versuchte, den Gang durch die Passkontrolle möglichst lange hinauszuzögern.

Durch eine Panorama-Glaswand konnte man auf den Flugplatz sehen. Fasziniert beobachtete Clea das Geschehen auf der Landebahn. Eben war ein Flugzeug gelandet. Ich ließ sie zusehen, wie das Gepäck ausgeladen wurde und wenig später der mit Koffer und Taschen beladene Gepäckwagen über den Flugplatz rollte, wie die Passagiere ausstiegen und Richtung Flughafengebäude gingen und wie ein Tankwagen über das Rollfeld fuhr. Von einem anderen Flugzeug wurde soeben die Gangway weggefahren. Es schien sich bereit zu machen zum Abflug.

„Hapag Lloyd“ stand auf seinem Rumpf geschrieben …

Hapag Lloyd? Erschrocken sah ich auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor sieben. Das musste unser Flugzeug sein! In wenigen Minuten würde es abfliegen! Ich hatte die Zeit übersehen!

Hilfesuchend sah ich mich um. Da entdeckte ich einen Flughafenmitarbeiter! Verzweifelt ging ich auf ihn zu und erklärte ihm, dass wir mit diesem Flugzeug mitfliegen müssten! Im Laufschritt begleitete er uns zur Passkontrolle und hinaus auf den Flugplatz. Er veranlasste, dass die Gangway wieder herbeigebracht wurde, und buchstäblich in letzter Minute stiegen wir ein. Erleichtert setzte ich mich mit Clea auf unsere Plätze. Die deutsche Crew erklärte die Sicherheitsvorkehrungen, während sich das Flugzeug langsam über die Landebahn bewegte, schneller und immer schneller wurde und abhob.

In diesem Moment spürte ich einen heftigen Schmerz der Trennung. Ich sah Woifal noch einmal vor mir, wie er sich weit aus dem Fenster gebeugt und uns hinterher gewunken hatte, und eine riesengroße Sehnsucht schloss sich wie ein Ring um mein Herz und schnürte meine Kehle zu. Ich hatte Sehnsucht nach zu Hause, Sehnsucht, mit Woifal am Frühstückstisch zu sitzen und Kaffee zu trinken, Sehnsucht nach einem ganz gewöhnlichen Morgen wie jedem anderen.

Wie ein heftiger Schlag traf mich die Erkenntnis, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte.

Die Familien im Flugzeug mit ihrem Reden und Lachen und Glücklichsein drangen in mein Bewusstsein, und die Erinnerung an unseren letzten gemeinsamen Urlaub, an unsere kleine Familie, war mit einem Mal so deutlich, dass sich meine Augen immer wieder mit Tränen füllten. Ich weinte und konnte nicht mehr aufhören, zu weinen.

„Was habe ich nur getan!“, dachte ich verzweifelt. „Was soll ich tun - wie kann ich das alles wieder ungeschehen machen!“

Schließlich fasste ich einen Entschluss: Ich würde bei der Ankunft eine Stewardess fragen, ob ich wieder mit zurückfliegen könnte.

Ja, das würde ich tun!

Ich versuchte, mich mit diesem Gedanken zu trösten, mich damit zu beruhigen, versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen, aß vom Schinken mit Ei, den die Stewardess zum Frühstück servierte und versuchte, meiner Tränen Herr zu werden, die wieder und wieder die Wangen herunterliefen.

Nach eineinhalb Stunden gab es eine Zwischenlandung in Izmir. Davon hatte ich nichts gewusst. Verwundert folgte ich den Anweisungen, gab Acht, im richtigen Gate zu warten und rechtzeitig wieder einzusteigen. Die letzte Stunde bis Dalaman schlief Clea tief und fest. Und schließlich setzte das Flugzeug zur Landung an.

Wir waren da.

Die Leute nahmen ihr Handgepäck aus der Ablage und bewegten sich zum Ausgang, wo die Stewardessen standen und sich mit künstlichem Lächeln von den vorbeidrängenden Passagieren verabschiedeten. Ich stand auf. Wen sollte ich fragen? Wem konnte ich mich anvertrauen? Und während ich mich von den Leuten Richtung Ausgang schieben ließ, sagte ich mir: „Ich bleibe diese zwei Wochen. Sie werden vergehen. Und dann fliege ich nach Hause, und alles ist wieder gut.“

Ich verließ mit Clea am Arm das Flughafengebäude. Einige Taxis standen davor und warteten auf Kundschaft. Die meisten der Fluggäste waren Touristen, die auf die Busse der Hotels zugingen.

Die Taxifahrer standen neben ihren Fahrzeugen, unterhielten sich bei einer Zigarette und boten den Vorübergehenden ihre Dienste an. Bei einem der Fahrer stand Yusuf. Er sah mich, kam auf mich zu und gab mir die Hand. In diesem Moment war Clea aufgewacht.

Sie sah Yusuf an und sagte: „Bin zwei Jahre!“

Das war sie schon seit Juni, dass es ihr gerade jetzt einfiel, belustigte Yusuf.

„Hello“, antwortete er freundlich lachend, während er die Tür eines Taxis öffnete.

Und mit einer Geste zum Taxifahrer sagte er: „Mein Freund Veli.“

Der Taxifahrer nickte zum Gruß. Es war derselbe, mit dem wir auch schon im August mitgefahren waren. Wir stiegen ein. Dann fuhren wir die kurvige Straße bergauf und bergab zur kleinen Hafenstadt Fethiye, wo etwas außerhalb, an einem Badestrand namens Caliṣ, die Pension von Yusufs Freund Kemal war.

„Birgül Pansiyon“ empfing uns das blau bemalte, leicht angerostete Schild neben der Zufahrt. Wir waren angekommen.

Die drei Zimmer der kleinen Pension waren nun leer. Kemal trat aus seinem Haus am Ende des Gartens und kam uns entgegen. Er begrüßte uns in seiner freundlichen, ruhigen Art. Es war unschwer zu erkennen, dass es seine Frau Hayriye war, die das Sagen hatte. Sie war im Gegensatz zu ihm resolut und geschäftig und gab auch äußerlich durch ihr kurz geschnittenes Haar zu erkennen, dass sie modern und emanzipiert war.

Wir nahmen auf der mit Wein umwachsenen Terrasse Platz. Ein großer Maulbeerbaum spendete Schatten. Hayriye brachte Tee. Birgül, die jüngste Tochter, freute sich, als sie Clea sah. Als wir im August hier gewesen waren, hatten sie miteinander gespielt, und auch jetzt waren sie sofort wieder ein Herz und eine Seele.

Yusuf unterhielt sich angeregt mit Hayriye und Kemal. Ich versuchte, etwas von der Unterhaltung zu verstehen und herauszufinden, was Yusuf über meine Ankunft allein mit Clea dachte. Doch das war schwer festzustellen. Ein Wortschwall löste den nächsten ab, und meine dürftigen Türkischkenntnisse, die ich vor meiner Abreise aus einem Buch mit dem Titel „Türkisch lernen in 30 Stunden“ mühsam erworben hatte, reichten dazu bei weitem nicht aus.

Nachdem wir unseren Tee getrunken hatten und die Wissbegier der Pensionsbesitzer vorläufig gestillt zu sein schien, brachten wir mein Gepäck in Yusufs Zimmer. Yusuf bewohnte gleich neben der Birgül Pension ein Zimmer in der Emre Pension.

Viele der Pensionen hier wären illegal, auf gemeindeeigenem Grund, errichtet worden, erzählte Yusuf, während er seine Sachen im Zimmer verstaute. Mit den Touristen, für die die Taxifahrer eine kleine Prämie erhielten, würden die Pensionsbesitzer versuchen, ihr Gehalt aufzubessern. In der Türkei wären die Einkommen sehr niedrig und der Tourismus eine Chance, dazuzuverdienen. Auch für ihn wären die Touristen eine kleine Einkommensquelle. Für die Mithilfe bei der Gästebetreuung würde er von Kemal ein bisschen Geld bekommen.

Bevor wir schlafen gingen, spazierten wir die Straße, die am Strand entlang führte, ein Stück hinauf und wieder hinunter. Die kleinen Hotels, die die Straße säumten, wirkten jetzt, in der Nachsaison, schon verlassen, und auch in den Lokalen waren kaum mehr Gäste.

Wir gingen auf ein Getränk in den Garten der Yüςel Pension und setzten uns zu ein paar deutschen Touristen. Einer der deutschen Gäste zeigte auf Clea und fragte mich, wo denn der Vater sei.

Ich antwortete: „Zu Hause. In Österreich.“

„Manchmal muss man raus. Die Sau rauslassen“, meinte er.

Es klang wie eine Frage. Ich aber sagte nicht viel dazu, sondern nickte nur.

Dass mich der Glaube, Yusuf hätte sich in mich verliebt und ich mich in ihn, Hals über Kopf einen Flug buchen und hierherkommen ließ, verschwieg ich lieber.

Am nächsten Tag hielt ein Taxi vor der Birgül Pension. Es war wieder Veli, der Taxifahrer. Er brachte Gäste: Ein junges Paar aus Deutschland. Während Yusuf sie willkommen hieß, blieb ich mit Clea im Zimmer und wartete.

„Die zwei deutschen Touristen wollen ein paar Tage bleiben“, teilte mir Yusuf mit, als er wieder zurückkam. „Ich muss mich ein bisschen um sie kümmern, damit sie möglichst lange bleiben. Du weißt ja - Kemal und seine Frau sprechen kein Englisch.“

So gingen wir am nächsten Tag alle gemeinsam an den Strand, wo Yusuf ein paar Liegen für uns aufstellte. Er stellte sie so auf, dass er, wenn auch in einigem Abstand, neben der deutschen Touristin lag. Während er sich sonnte, sah er immer wieder freundlich lächelnd zu ihr hinüber und beachtete mich nicht mehr.

Ich war irritiert und fühlte mich plötzlich schrecklich überflüssig. Ganz leise tauchte auch die Frage in mir auf, was ich mir denn eigentlich von meiner überstürzten Reise in die Türkei erwartet hatte ...

Nach einiger Zeit schlug Yusuf vor, in der Strandbar eine Runde Backgammon zu spielen. Ich war erleichtert. Damit würde Yusufs komisches Verhalten ein Ende haben, dachte ich. Doch ich wurde enttäuscht. Yusuf teilte die Backgammonpartien so ein, dass er gegen die Touristin spielte. Dabei schien er sich blendend mit ihr zu amüsieren und nur noch Augen für sie zu haben. Ich beobachtete den Freund der Deutschen, wunderte mich, dass ihn das alles nicht zu stören schien und wartete nur noch auf das Ende dieses ernüchternden Tages.

Am späten Nachmittag war es endlich soweit. Wir kehrten zur Pension zurück. Yusuf verabschiedete sich von den zwei Deutschen mit einem freundlichen Händedruck, hielt ihre Hand dabei natürlich länger als die ihres Freundes – und fragte plötzlich, ob wir nicht abends alle gemeinsam ausgehen sollten.

So folgte die Fortestzung von dem, was nachmittags begonnen hatte. Yusuf unterhielt sich wieder außerordentlich gut mit der Deutschen, bewunderte immer wieder ihr hübsches Lächeln und ließ mich links liegen. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Zugleich fragte ich mich, warum nur ich so durcheinander war – der Freund der Deutschen schien kein Problem mit Yusufs Verhalten zu haben. Was war los mit mir? War ich einfach nur grundlos eifersüchtig?

Tausend Fragen gingen durch meinen Kopf, während wir wieder zur Pension zurückspazierten. Da hörte ich plötzlich, wie die deutsche Touristin leise zu ihrem Freund sagte, dass es besser wäre abzureisen, denn „das sei nicht gut für sie beide.“

Am nächsten Tag waren die zwei Deutschen tatsächlich fort. Als wir zu Kemal frühstücken gingen, erfuhren wir, dass sie bereits ganz früh am Morgen abgereist waren.

Die Zweifel jedoch, die seit dem gestrigen Tag in mir nagten, ließen sich nicht mehr so einfach beiseite schieben. Obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte, begann ich mich immer mehr zu fragen, ob ich nicht womöglich nur meinen eigenen Illusionen hinterher gereist war ...

Als mich Yusuf aber abends fragte, ob ich mit nach Fethiye käme, um seine Arbeitskollegen zu besuchen, zerstreuten sich meine Zweifel wieder. Mehr noch, ich fühlte mich geschmeichelt und in der Annahme bestätigt, dass ich ihm doch etwas bedeuten musste. Welchen Grund hätte er sonst, mich mitzunehmen?

„Du kannst deine Tochter ruhig hier lassen, Hayriye passt schon auf sie auf“, meinte Yusuf mit einem Blick auf Clea, die gerade mit Birgül spielte.

Kurz zögerte ich, doch Hayriye nickte mir aufmunternd zu. So wischte ich meine Bedenken beiseite und ging mit Yusuf zur Dolmuṣstation1. Dort stand bereits ein Kleinbus. Wir stiegen ein und setzten uns auf zwei freie Plätze.

„Wann fahren wir?“, fragte ich Yusuf, nachdem wir einige Zeit gewartet hatten und nichts darauf hindeutete, dass der Bus in absehbarer Zeit losfahren würde.

„Ein Dolmuṣ fährt, sobald er voll ist!“, gab Yusuf lachend zur Antwort. „Daher der Name: Dolmuṣ bedeutet „voll“. Ein Dolmuṣ hat auch keinen festen Fahrplan. Man kann überall an der Strecke ein- und aussteigen. Es genügt, am Straßenrand stehen zu bleiben und die Hand zu heben.“

Nachdem noch weitere Fahrgäste dazugekommen und endlich alle Plätze besetzt waren, fuhr der Dolmuṣ los. Die Straße führte hinter den Hotels vorbei und dann weiter an der Küste entlang, wo man bereits die Bucht von Fethiye sehen konnte. Kurz vor Fethiye stiegen wir aus. Wir überquerten die Straße und betraten das Firmengelände der staatlichen Straßenbaufirma „Karayollari“, in der Yusuf als Mechaniker beschäftigt war. In den Garagen standen einige orangefarbene, veraltete Straßenbaumaschinen. Daneben befanden sich die Werkstatt und das kleine, eingeschossige Firmengebäude, in dem ein Büro und eine Kantine untergebracht waren.

Kemal arbeitete im Büro. Als er uns sah, unterbrach er seine Arbeit und ging mit uns in den Garten der Firma, wo wir im Schatten der Bäume Tee tranken. Auch die anderen Arbeitskollegen kamen herbei, begrüßten Yusuf erfreut und setzten sich zu uns.

Yusuf erzählte, dass er vorhätte, mit mir nach Österreich zu gehen.

Ich war perplex. Gestern noch hatte ich alles in Frage gestellt, und heute schon plante Yusuf eine gemeinsame Zukunft? Eine gemeinsame Zukunft mit mir? Bevor wir uns überhaupt richtig kannten?

Auch die Kollegen schienen überrascht von Yusufs Vorhaben zu sein. Sie überhäuften ihn mit Fragen und waren besorgt darüber, dass er eine gute und sichere Arbeit in einem staatlichen Betrieb aufs Spiel setzen wollte. Was würde er tun, wenn er im Ausland Probleme hätte und zurückkommen müsste? In Österreich würde er völlig auf sich allein gestellt sein, er würde weder die Sprache verstehen, noch die Gesetze kennen und dort auch keine Familie und keine Freunde haben …

Lange Zeit wurde diskutiert, wobei Yusuf ihre Argumente immer wieder zu entkräften und ihre aufgebrachten Gemüter zu beschwichtigen schien.

Schließlich stand Yusuf auf. Es war Zeit geworden, zurückzukehren. Wir gingen zur Straße und warteten auf den Dolmuṣ. Als sich ein Bus näherte, hob Yusuf die Hand. Der Dolmuṣ hielt. Wir stiegen ein und fuhren zurück nach Caliṣ.

Auf den Stufen zu unserem Zimmer saß Clea und weinte. Natürlich hatte sie mich, kurz nachdem ich weg war, gesucht, und Hayriye hatte sich nicht mit ihr verständigen und ihr nicht helfen können. Ich war wütend auf mich und bereute es, sie hier gelassen zu haben.

1 „Dolmuṣ“ ist der türkische Begriff für ein „Sammeltaxi“, das auf festgelegten Strecken verkehrt und erst fährt, wenn es voll ist.

Eine Märchenwelt und eine folgenschwere Entscheidung

Trotz Yusufs Entschlusses, seine Arbeit zu kündigen und mit mir nach Österreich zu kommen, hatte mich in den letzten Tagen immer wieder die Frage beschäftigt, ob ich mich, was Yusufs Gefühle für mich betraf, nicht womöglich getäuscht hätte, ob ich nicht alles überbewertet hätte … Und dabei war auch immer wieder der Verdacht in mir aufgekommen, dass das, was ich im August für Verliebtheit gehalten hatte, möglicherweise pure Berechnung gewesen wäre und Yusufs vermeintliches Interesse an mir in Wirklichkeit nur der Prämie der Pensionsbesitzer gegolten hätte ...

Als Yusuf aber eines Morgens verkündete, dass wir zu seinen Eltern fahren würden, verwarf ich mein Misstrauen endgültig. Den Eltern vorgestellt zu werden - das konnte nur bedeuten, dass Yusuf es ehrlich mit mir meinte!

In freudiger Aufregung versuchte ich mir auszumalen, wer seine Eltern wären und wie sie lebten. Da Yusuf eine, für türkische Verhältnisse, gute Arbeit und Schulbildung hatte, müsse er der Mittelschicht angehören, überlegte ich. Ich stellte mir vor, dass seine Eltern in einer Wohnung in Ortaca lebten und vielleicht irgendein kleines Geschäft hätten.

Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg nach Fethiye, wo wir in einen Dolmuṣ nach Ortaca umstiegen. Kaum hatten wir die letzten freien Plätze eingenommen, fuhr der Bus los, und ich beobachtete wieder einmal belustigt die Art und Weise, wie in einem Dolmuṣ für die Fahrt bezahlt wurde: Yusuf gab das Fahrgeld seinem Vordermann, der es wiederum dem vor ihm sitzenden Fahrgast weiterreichte, sodass das Geld von Sitzreihe zu Sitzreihe wanderte, bis es beim Fahrer angekommen war. Mit dem Wechselgeld geschah dasselbe in umgekehrter Reihenfolge. Ich fragte mich, weshalb man nicht gleich beim Einsteigen bezahlte und war fasziniert von der Tatsache, dass das Rückgeld immer beim richtigen Fahrgast ankam, selbst wenn mehrere zugleich bezahlten. Auch schien es für die Dolmuṣfahrer kein Problem zu sein, zur selben Zeit Rückgeld zu zählen, Gas zu geben und das Geld weiterzureichen. Es blieb sogar noch Zeit, sich eine Zigarette anzuzünden und die Musikkassette zu wechseln.

Türkische Arabeskmusik 2 begleitete unsere Fahrt. Schwermütig und melancholisch wechselten Violinen mit Sazklängen 3 zur melodischen Stimme einer Sängerin. Verwundert betrachtete ich die verschiedenen Amulette und Schriftzüge, die den Innenraum des Dolmuṣ schmückten. Vom Rückspiegel baumelte eine blaue Glasperle. Über der mit einer dunkelroten Quastenborte geschmückten Windschutzscheibe prangte in geschwungenen Buchstaben das Wort „Maṣallah“, und das Armaturenbrett war mit arabischen Schriftzeichen verziert.

„Was bedeutet das alles?“, fragte ich Yusuf schließlich.

„Das soll vor Unfällen schützen. Dabei ist das arabische Schriftzeichen „Bismillah“ besonders wichtig. Es kommt aus dem Koran und bewirkt den Schutz Gottes.“

Unser Dolmuṣfahrer schien der Kraft dieser Symbole fest zu vertrauen, denn in rasanter Fahrt ging es Kurve um Kurve bergauf und bergab, bis wir den Ort Dalaman erreichten.

Wir fuhren durch das kleine Ortszentrum und bogen dann nach rechts auf die Schnellstraße. Nachdem wir eine Papierfabrik hinter uns gelassen hatten, die durchdringenden Gestank verbreitete, erschien einige Kilometer weiter die Ortstafel von Ortaca am Straßenrand.

Der Bus bog links ab und fuhr in den Busbahnhof ein, einem großen Platz, der am Rande von einem flachen, langen Gebäude begrenzt war, in dem die Büros der Busagenturen, ein Barbier und einige kleine Imbissläden untergebracht waren. Wir stiegen aus und setzten uns in den schattigen Garten einer Lokanta4.

Im August hatte uns Yusuf bei einem Ausflug nach Dalyan bis hierher begleitet. Damals war die Gaststätte noch ein kleines, baufälliges Gebäude mit alten Holzstühlen und Holztischen gewesen. In der Zwischenzeit war sie modernisiert und der Garten mit Plastikmöbel ausgestattet worden.

„Ortaca ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, auch für den Tourismus. Deshalb wurde das Restaurant in den letzten Monaten erneuert“, teilte mir Yusuf mit.

Nach der langen Fahrt musste ich auf die Toilette. Ich stand auf und ging zum Eingang des Restaurants.

„Wohin gehst du?“, hörte ich Yusuf mir nachrufen.

„Auf die Toilette!“

„Die Toilette ist dort“, klärte er mich auf und zeigte in die andere Richtung. „In der Türkei gibt es in Gaststätten keine Toiletten. Das ist nur in den Urlaubsorten so. Für die Touristen.“

„Aber wo geht man denn aufs Klo?“, fragte ich erstaunt.

„Man geht auf öffentliche Toiletten.“

Die öffentliche Toilette war ganz hinten, am Ende des großen Platzes. Als ich eintrat, stellte ich erschrocken fest, dass es keine Sitztoiletten gab, sondern nur Hockklos - und auch kein Klopapier. Stattdessen gab es unten an der Wand einen Wasserhahn mit einem kurzen Schlauch daran und einen kleinen, abgenützten Plastikbecher dazu.

Mir wurde bewusst, dass wir in einem islamischen Land waren und es hier üblich war, sich mit Wasser zu reinigen. Doch wie ich das anstellen sollte, war mir ein Rätsel - so beschloss ich, auf die Reinigung zu verzichten.

Nachdem wir unseren Tee getrunken hatten, gingen wir zu den Taxis, wo Yusuf den Fahrer eines alten, roten Renaults kannte. In dieses klapprige Gefährt stiegen wir ein - und los ging die abenteuerliche Fahrt. Mit Vollgas brausten wir die schmale Landstraße entlang, wobei wir in jedes der unzähligen Schlaglöcher hart hinein krachten und die Karosserie in den Kurven fast den Boden zu berühren schien.

Links und rechts von uns breiteten sich weite, weiße Baumwollfelder aus, und kleine, eingeschossige Bauernhäuser, deren Terrassen mit Wein oder farbenfrohen Winden umwachsen waren, säumten die Straße.

Während der Fahrt erklärte mir Yusuf, wie ich grüßen müsse: „Man wird zu dir „hoṣ geldin“ sagen, das heißt so viel wie „herzlich willkommen“. Wenn man in der Türkei jemanden besucht, ist das so üblich. Darauf musst du mit „hoṣ bulduk“ antworten.“

Nach einigen Kilometern blieben wir am Straßenrand stehen. Offenbar hatten wir unser Ziel erreicht. Mit der Erklärung, dass wir zuerst eine Tante besuchen würden, ging Yusuf mir voraus über einen kleinen Steg, der über einen Bach führte. Dann folgten wir einem Weg zwischen Baumwollfeldern, der vor einem Haus am Fuße eines steinigen Berges endete. Weiter rechts war noch ein kleines Häuschen und danach, etwas abseits, ein Gebäude aus Holz, das wie eine Scheune aussah. Darauf gingen wir zu. Die Tür stand offen. Heraus kam eine dicke Frau in geblümten Pluderhosen und einer wieder andersfarbigen geblümten Bluse. Ihr weißes Kopftuch hatte sie tief in die Stirn gezogen und um das Kinn gebunden. Auch die Wangen waren bedeckt, sodass man nur Mund, Nase und Augen sah. Überschwänglich und lachend begrüßte sie zuerst Yusuf, der ihre Hand küsste, und danach mich mit einem herzlichen „hoṣ geldin“.

Ich antwortete mit „hoṣ bulduk“, so wie ich es vorhin gelernt hatte. Die Tante bat uns in ihr Haus. Die Tochter der Tante, ein etwa zehnjähriges Mädchen namens Meryem, kam uns entgegen. Auch sie küsste Yusuf zur Begrüßung die Hand. Das wirkte auf mich sehr ungewöhnlich, fast ein bisschen befremdend, vor allem deshalb, weil die Hand auch noch kurz an die Stirn gedrückt wurde. Doch Yusuf erklärte mir, dass das in der Türkei ganz normal wäre und den höflichen Umgangsformen entspräche. Die jüngeren Personen würden damit den Älteren Respekt und Achtung entgegenbringen.

Mit ihren kurzen Locken, der Stupsnase und der Pluderhose erinnerte mich Meryem an das Werbelogo von Meinl Kaffee. Sie und die Tante hatten, wie auch Yusuf, dunkle Hautfarbe. Die Vorfahren großmütterlicherseits würden ursprünglich aus Somalia stammen, klärte mich Yusuf später einmal auf, sie wären zur Zeit des Osmanischen Reiches zuerst nach Ägypten und später in die Türkei gekommen. Da man damals Menschen aus Afrika zur Feldarbeit in die Ägäis Region gebracht hätte, gäbe es in diesem Teil der Türkei Menschen mit dunkler Hautfarbe.

Als wir eintraten, sah ich mich erstaunt um. Der Raum war mit Flickenteppichen ausgelegt. Zum Sitzen gab es mit Baumwolle gefüllte, aus buntem Stoff genähte Unterlagen und Sitzkissen. Neben der rußgeschwärzten Feuerstelle lagen ein paar Pfannen und Schüsseln aus Aluminium.

Wir setzten uns auf die Sitzkissen am Boden. Die Tante forderte ihre Tochter auf, Tee zu kochen, während sie ein kleines, silbernes Tablett mit Teegläsern bereitstellte. Das Mädchen zündete einen tragbaren Gaskocher an und stellte eine Teekanne, die aus einer größeren Kanne mit einer kleineren obenauf bestand, aufs Feuer. In die untere Kanne kam Wasser, in die obere die Teeblätter. Als das Wasser kochte, wurde damit der Tee in der oberen Kanne aufgegossen. Das heiße Wasser in der unteren Kanne hielt den Tee in der oberen Kanne warm und diente auch dazu, den Tee, je nach gewünschter Stärke, zu verdünnen. Während wir den Tee aus den kleinen Teegläschen tranken, stellte die Tante viele Fragen, die Yusuf ausführlich zu beantworten schien. Nach einiger Zeit stand Yusuf auf und bat uns, hier zu warten, er würde gleich wiederkommen. Dann verschwand er hinaus.

Da saßen wir nun, Clea und ich. Etwas abseits saß die Tante mit ihrer Tochter und musterte uns. Immer wieder tuschelten sie kichernd miteinander, während sie uns mit ihren Blicken untersuchten. Plötzlich kam das Mädchen zu mir herüber, gab meine Haare zur Seite und inspizierte meine Ohren. Offenbar sah sie im Auftrag der Tante nach, ob ich Ohrringe trug. Nachdem die Tante festgestellt hatte, dass ich keine Ohrringe hatte, konnte sich das Mädchen wieder setzen, und es wurde weitergetuschelt und -gekichert. Wenig später schickte die Tante ihre Tochter noch einmal zu mir. Diesmal untersuchte die Tochter meine Hände nach Ringen. Dabei entdeckte sie meinen Ring am rechten Ringfinger, einen filigranen Goldring von meiner Mutter, und hob meine Hand hoch, sodass ihn auch die Tante sehen konnte. Die Tante schien nicht sonderlich beeindruckt, und die Inspektion schien vorläufig beendet zu sein.

Endlich - nach ungefähr einer halben Stunde kam Yusuf wieder. Er forderte Clea und mich auf, mitzukommen, nun würden wir zu seinen Eltern gehen. Aufgeregt folgte ich ihm den Feldweg zurück, den wir gekommen waren. Gleich an der anderen Straßenseite stand das Haus, in dem Yusufs Eltern wohnten. Vom Feld nebenan kam ein Bauer in gestreiften Pluderhosen auf uns zu.

„Mein Vater“, sagte Yusuf.

Yusufs Vater reichte mir die Hand.

„Hoṣ geldin“, sagte er zum Gruß, während er mich ernst und forschend ansah. In seinem Blick lagen Herzenswärme und Güte. Er hatte fast schwarze Hautfarbe und mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, wirkte aber älter, gezeichnet von harter Arbeit und Entbehrungen.

Gemeinsam gingen wir die Einfahrt zum Bauernhof hinein. Am Vorplatz zwischen dem Haus und dem kleinen Stall war ein großes Tuch aufgebreitet, auf dem Maiskolben zum Trocknen in der Sonne lagen. Rechts neben dem Haus gab es einen Garten mit Mandarinen- und Zitronenbäumen, der zur Straße hin mit einer Reihe hoher Pappeln begrenzt war. Am Rande des Vorplatzes war ein Pumpbrunnen, und dahinter, im Schatten von Bäumen, stand ein Holztisch mit einigen klapprigen, schiefen Stühlen. Yusuf forderte mich auf, dort Platz zu nehmen und ging Richtung Stall. Wenig später kam er mit einer älteren Frau, einem Mädchen und einer jüngeren Frau zurück. Es waren Yusufs Mutter, seine siebenjährige Schwester Gülay und seine Schwägerin. Genauso wie vorhin die Tante trugen auch Yusufs Mutter, seine kleine Schwester und die Schwägerin buntgeblümte Pluderhosen. Yusufs Mutter hatte ihre Haare zu langen, braunen Zöpfen geflochten, die unter dem Kopftuch hervorschauten. Sie begrüßte mich mit einem halbherzigen Lächeln, während die junge Schwägerin mich voller Neugier musterte. Gülay, ein kleines, schmächtiges Mädchen mit schwarzen Augen und dunklem Lockenkopf, sah mich ebenfalls aufmerksam an.

Nachdem Clea und ich ausgiebig begutachtet worden waren, verschwand die Schwägerin ins Haus, um kurz darauf mit einem runden, silberfarbenen Tablett wiederzukommen. Auf dem Tablett waren verschiedene Speisen in Aluminiumschüsseln, Weißbrot und selbstgebackenes Bauernbrot in Fladenform.

Es war bereits Nachmittag, und beim Anblick des Essens merkte ich, dass ich schon großen Hunger hatte. Neugierig kostete ich aus allen Schüsseln. Es gab eine scharfe Suppe, in der einige rote Pfefferoni schwammen, Joghurt, das auf der Zunge prickelte, Huhn in einer Sauce, die intensiv nach Knoblauch schmeckte und Quitten in süßem, rotem Sirup. Alles schmeckte würzig und intensiv, scharf, süß und sauer.

Als wir gegessen hatten, stand Yusuf auf. „Komm und nimm deine Tochter mit!“, forderte er mich auf. „Jetzt zeige ich dir das Haus!“

Wir gingen die Stufen zur Terrasse hinauf, die mit Blumen in weiß übermalten, angerosteten Sonnenblumenöldosen geschmückt war. Vor der Eingangstür lagen einige Plastikpantoffel. Da man das Haus nicht mit Schuhen betrat, stellte auch ich meine Sandalen dazu. Dann traten wir ein und befanden uns in einem türkis ausgemalten und mit einem Kelim ausgelegten Wohnraum. In der oberen Ecke des Raumes standen zwei selbstgezimmerte, einfache Holzgestelle mit buntgeblümten Auflagen. An der Wand daneben lag eine lange Sitzunterlage am Boden. Neben der Eingangstür gab es eine winzig kleine Vitrine mit einem Fernseher, der eine türkisfarbene Mattscheibe hatte. Über der Vitrine hingen ein paar Kalenderbilder von Gebirgslandschaften und ein Bild von einem LKW, der über die Bosporus-Brücke von Istanbul fuhr.

Durch einen kleinen Vorraum kam man in ein zweites Wohnzimmer, das mit einem Sofa und zwei Polstersesseln aus rotem Samt eingerichtet war. An der Wand waren mit Vorhängen verhängte Holzregale und ein Kleiderschrank. Die Küche nebenan war ein kleiner Raum mit einem offenen Kamin, der zum Kochen diente. Auf einem mit bestickten Borten geschmückten Holzregal war das Geschirr verstaut, das aus einigen Töpfen, Aluminiumschüsseln in unterschiedlichen Größen, sowie Tassen und Gläsern bestand. Ein weiterer Raum diente als Abstellraum und beherbergte neben allen möglichen Gebrauchsgegenständen auch den Kühlschrank.

„Jetzt zeige ich dir noch die Toilette. Sie ist draußen“, sagte Yusuf und führte mich hinter das Haus, zu einem kleinen Anbau aus unverputzten Ziegeln. Als er die morsche Holztür, die schief im Rahmen hing, geöffnet hatte, glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen: In der Mitte des winzigen Raumes war ein im Boden eingelassenes bräunlich-graues Waschbetonbecken, ein Hockklo einfachster Bauweise, in dem sich ein Häufchen Exkremente befand, das nicht abfließen konnte. Es gab keine Spülung und auch kein fließendes Wasser zur Reinigung wie auf der öffentlichen Toilette in Ortaca. Stattdessen stand ein Eimer Wasser mit einem Plastikbecher in der Ecke des Raumes und schien diesen Zweck zu erfüllen.

Wir setzten unseren Rundgang fort und kamen an einer Feuerstelle vorbei, über der ein großer, schwarzer Kessel hing. Ein Stück weiter war ein kleiner Holzschuppen, auf dem Girlanden von roten Pfefferoni zum Trocknen aufgehängt waren, und ein gemauerter Backofen stand, ein bisschen schief, in der Wiese neben dem Haus.

Nachdem wir das Haus fertig umrundet hatten, erreichten wir wieder den Stall. An der Längsseite des Stalls waren zwei Räume angebaut. Einer davon war der Wohnraum der Eltern und der zweite ein Vorratsraum mit einem offenen Kamin, wo auch gekocht wurde.

Am Ende des Gebäudes, an der Außenwand zum Vorratsraum, lagen im Schatten eines Feigenbaumes zwei Kühe.

Ich staunte, wie einfach dieses Leben hier war! Diese ersten Eindrücke waren fast wie eine Reise in ein anderes Jahrhundert gewesen und ein unglaublicher Kontrast zu der touristischen Türkei, die ich bisher kennengelernt hatte. Ich fühlte mich wie in einem Traum, wie in einer anderen Zeit - wie in einer Märchenwelt ...

Am Abend richtete die Schwägerin, zu der Yusuf „Gelin“, das türkische Wort für Schwiegertochter sagte, unseren Schlafplatz her. Wir schliefen in dem kleineren Wohnzimmer mit den Polstermöbeln. Gelin holte von den Regalen hinter den Vorhängen buntgeblümte, mit Baumwolle gefüllte Unterlagen hervor und rollte sie am Boden aus. Darauf legte sie einen schmalen, schön bestickten Polster, der so lange war, dass er gleich über zwei Unterlagen reichte, und einen kleineren für Clea. Dazu kamen noch die Steppdecken, natürlich auch buntgeblümt.

Später einmal erfuhr ich, dass es für Ehepaare Tradition war, als Zeichen der Zusammengehörigkeit ein Leben lang auf so einem Polster zu schlafen und dass es dazu auch einen Wunschspruch für ein langes gemeinsames Leben gab: Bir yastıkta kocayın – Möget ihr auf einem Kissen alt werden.

Am nächsten Morgen weckte Clea uns schon sehr früh, viel zu früh, um aufzustehen.

„Ach, lass uns noch ein wenig schlafen“, bat ich Clea, die sogleich hellwach war und munter zu plaudern begann.

„Komm mit“, sagte Yusuf, während er Clea an der Hand nahm und mit ihr hinausging. Draußen hörte ich ihn nach der „Gelin“ rufen. Wenig später kam Yusuf zurück.

„Gelin bringt Clea zu meinen Eltern“, sagte er. „Sie sind schon lange wach. Mein Vater steht jeden Tag um fünf Uhr morgens auf und kocht Tee. Während wir noch ein bisschen schlafen, kann deine Tochter mit meinen Eltern Tee trinken. “

Erleichtert drehte ich mich auf die andere Seite und fiel wieder in tiefen Schlaf.

Als ich aufwachte, war ich allein. Die Sonne strahlte bereits vom Himmel, und irgendwo in der Nähe des Hauses meckerte eine Ziege.

Während ich überlegte, wo ich mich waschen und meine Zähne putzen sollte, hörte ich jemanden kommen. Es war Yusuf. Er trug einen Eimer Wasser herein.

„Möchtest du duschen?“, fragte er, während er die Tür zu einer winzigen, kahlen Zelle öffnete, in deren Mitte er den Wassereimer abstellte. Danach ging er hinaus und ließ mich damit allein.

Ich blickte auf den Wassereimer, in dem ein Plastikbecher schwamm und wusste nicht, was ich damit tun sollte.

„Wie wäscht man sich hier? Es gibt ja nicht einmal einen Abfluss“, dachte ich ratlos und sah mich in dem kahlen Raum um.

Schließlich benetzte ich meine Hände mit Wasser und begann zaghaft mein Gesicht zu waschen, dann den Hals und Fleckchen für Fleckchen meinen ganzen Körper, während ich mich bemühte, nicht auf den Boden zu spritzen.

Als ich mit meiner „Dusche“ fertig war und gerade hinausgehen wollte, kam Yusuf zurück, um den Eimer zu holen.

Wie angewurzelt blieb er davor stehen und sah auf den Eimer, der noch genauso voll Wasser wie vorher war.

Erstaunt fragte er: „Hast du nicht geduscht?“

Und etwas später, als Yusuf zum Duschen in die Zelle verschwunden war, nach einiger Zeit mit dem leeren Eimer wieder herauskam und das Wasser durch ein Loch in der Wand nach draußen rann und mit dem Seifenschaum irgendwo im Garten versickerte, war mir klar, wie die Dusche funktionierte.

Als wir in den Wohnraum kamen, brachte Gelin das Frühstück. Sie breitete ein Tuch am Boden aus und stellte ein Tablett mit Essen darauf. Yusuf setzte sich im Türkensitz davor und zeigte Clea und mir, wie man sitzen müsse: „Man kniet nicht vor dem Essen, und man stellt auch die Beine nicht auf - entweder man sitzt so wie ich, oder man schlägt die Beine ein und sitzt seitlich. Das Tuch legt man etwas über die Knie, um nicht auf den Boden zu patzen oder zu bröseln.“

Es gab wieder die scharfe Suppe, die süße Quittenmarmelade, Schafkäse, Oliven, gesalzene Tomatenspalten, Joghurt und Brot. Dazu tranken wir türkischen Tee. Yusuf erklärte Clea und mir, dass man immer auf der eigenen Seite der Schüssel die Speisen mit dem Brot aufnehmen müsse, wir könnten aber auch einen Löffel nehmen. Doch Clea und ich bevorzugten, nach der Art der Bauern zu essen und die Speisen mit dem Brot aufzutunken.

Nach dem Frühstück verließ Yusuf das Haus und verschwand irgendwo in Richtung Stallgebäude. Clea ging hinterher.

Ich setzte mich auf die Sitzbank und sah Gelin zu, wie sie mit einem ganz kurzen Besen in gebückter Haltung den Boden fegte und die Polster und Sitzunterlagen ausschüttelte. Als sie damit fertig war, ging auch sie hinaus.

Durch die offene Türe sah ich auf den Vorplatz. Hin und wieder hörte ich das Meckern der Ziegen, sah Gelin mit den Wassereimern zum Brunnen gehen, hörte, wie sie Wasser vom Brunnen pumpte, sah sie die vollen Eimer vorbeischleppen und damit über den Platz gehen, bis sie wieder aus meinem Blickfeld verschwunden war.

Das Rattern eines Traktors erklang in der Ferne und kam näher. Ich ging vor die Tür. Es war Yusuf, der die Einfahrt hereinfuhr und am Vorplatz hielt. Er winkte mich zu sich.

„Wir fahren nach Ortaca. Setz dich hierher, auf den Kotflügel!“, forderte er mich auf und zeigte mir, wo ich meine Füße abstützen sollte. Dann hob er Clea, die mit Gülay ebenfalls herbeigekommen war, zu sich auf den Traktor, und schon ging es die kurvige Landstraße entlang. Yusuf fuhr schnell, und ich hatte, besonders in den Kurven, Mühe, mich festzuhalten. Clea saß bei Yusuf hinter dem Lenkrad und genoss die Fahrt. Ihre Haare flatterten im Wind, und ihre Augen leuchteten.

Nachdem Yusuf den Traktor beim Busbahnhof geparkt hatte, besuchten wir einen Freund von ihm in einem der Büros der Busagenturen.

„Aydin Turizm“ stand in großen, weißen Buchstaben auf der gläsernen Eingangstür. Wir traten ein. Der kleine Raum war fast leer. Außer einem metallenen Schreibtisch mit einem Telefon und einer türkischen Fahne auf einem kleinen Ständer gab es so gut wie keine Einrichtungsgegenstände. Nur das Bild von Atatürk, das über dem Schreibtisch prangte, verlieh dem kleinen Geschäftsraum zumindest andeutungsweise ein offizielles Aussehen.

Während Yusuf sich mit seinem Freund unterhielt, versuchte ich zu verstehen, was gesprochen wurde und schnappte die Wörter „arkadaṣim“, meine Freundin, und „Avusturya“, Österreich, auf.

Der irritierte Blick, mit dem Yusufs Freund Clea ansah und die darauffolgende Reaktion ließen ahnen, dass Yusufs Vorhaben, mit mir nach Österreich zu gehen, Gegenstand der Unterhaltung war und Yusuf mit dem Einwand konfrontiert wurde, dass Cleas Vater bestimmt nicht mit Yusufs Ankunft in Österreich einverstanden sein und womöglich Schwierigkeiten machen würde. Yusuf ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hielt, wie immer, dagegen, dass er mir vertrauen würde, denn schließlich sei ich doch seinetwegen jetzt hier in der Türkei.

Nachdem wir das Büro verlassen hatten, machte Yusuf den Vorschlag, türkische Pizza essen zu gehen. Er kenne einen guten „Pide Salonu“ in der Nähe.

Der „Pide Salonu“ war ein kleines Lokal mit einigen Tischchen und einem Pizzaofen mit offenem Feuer. Mit einem großen Holzschieber wurden die länglichen, mit würzigem, faschiertem Lammfleisch belegten Pizzen in den Ofen geschoben. Knusprig heiß kamen sie wenig später wieder heraus, wurden mit Butterflocken belegt, die auf der warmen Pizza gleich zerschmolzen, und mit kleinen, scharfen, grünen Pfefferoni serviert. Dazu gab es kühlen Ayran, ein salziges Joghurtgetränk.

Nach dem Essen kauften wir Tee, Zucker und eine Flasche Raki5. Dann fuhren wir wieder nach Hause und brachten Großvaters Traktor zurück.

Die Großeltern bewohnten das erste der drei Häuser beim Berg. Im kleineren Haus daneben wohnte Onkel Mehmet, ein Bruder von Yusufs Vater.

„Komm, lass uns die Leute hier kurz besuchen!“, sagte Yusuf, nachdem er den Traktor abgestellt hatte.

Ich folgte Yusuf ins Haus des Großvaters und fand mich in einem Zimmer voller Menschen wieder, die auf Sitzpolstern am Boden saßen, Tee tranken und sich angeregt unterhielten.

Yusuf sah meinen verwunderten Blick und erklärte mir, dass nicht alle hier wohnten, sondern die meisten von ihnen zur Baumwollernte gekommen wären. Dann stellte er mir Onkel Mehmet mit seiner Frau vor. Onkel Mehmet war ein kleiner, schmächtiger Mann mit dunkler Hautfarbe und grauen, gelockten Haaren, seine Frau verhärmt und abgearbeitet, mit einem sorgenvollen Gesicht und schwarzen, teilweise abgefaulten Zähnen. Sie hatten sechs Kinder. Das Jüngste war noch ein Baby und hatte den bedeutungsvollen Namen Songül - letzte Rose - der Älteste war bereits verheiratet.

Nachdem wir eine Weile geblieben und mit ihnen Tee getrunken hatten, gingen wir über den Feldweg zu Yusufs Eltern zurück.

Zum ersten Mal betrat ich den Raum, den sie bewohnten. Die schiefe Holztür, die man zum Verschließen mit einer Schlaufe an einen Nagel im Türrahmen einhängte, stand offen. Das Fenster hatte keine Scheibe, sondern war nur eine viereckige Öffnung in der unverputzten Mauer aus Ziegelsteinen. An den Wänden hingen, an Nägeln aufgehängt, einige Kleidungsstücke. Auf einer Holzablage hinter einem Vorhang war Wäsche verstaut. Der unebene Boden war mit einem abgetretenen, grünschwarzgemusterten Kelim ausgelegt. Am Ende des Raumes, neben dem offenen Kamin, gab es ein paar Sitzpolster und eine Sitzunterlage. An der Längsseite und an der Breitseite unterhalb des „Fensters“ standen zwei Holzgestelle mit bunten, aus Stoffresten genähten Steppdecken und Polstern.

Einige Frauen saßen am Boden um einen Berg Baumwolle herum. Sie zupften die Baumwolle aus den Kapseln und warfen die leeren Kapseln in einen Korb. Wenn der Korb voll war, wurde er von Zeit zu Zeit ins Feuer geleert, das im Kamin brannte. Yusufs Vater kochte Tee. Er saß neben dem Kamin. Als er uns sah, stand er auf.

„Hoṣ geldiniz“, sagte er und bat uns herein.

Er bot mir seinen Platz beim Kamin an und brachte mir ein Glas Tee. Ich trank den heißen, bitter schmeckenden, starken Tee. Die Hitze des Feuers brannte auf meinem Oberschenkel. Clea setzte sich zu den Frauen und sah neugierig zu. Kurz darauf hatte auch sie eine Baumwollkapsel in der Hand und zupfte die weiche Watte heraus. Die Frauen lachten und nahmen Clea gleich in ihre Mitte, und Clea half begeistert bei ihrer Arbeit mit.

Später gingen wir in das Haus, das Gelin bewohnte und sahen mit den Frauen am Boden sitzend gemeinsam fern.

„Wer sind diese Frauen?“, wollte ich von Yusuf wissen.

„Das sind alles Verwandte meiner Schwägerin aus Fethiye“, sagte Yusuf. „Auch sie sind zur Baumwollernte hier.“

Nachdem Yusufs Mutter, die ein wenig mit uns ferngesehen hatte, in ihr Haus hinübergegangen war und sich schlafen gelegt hatte, öffnete Yusuf die Flasche Raki.

„Jetzt können wir trinken. In der Türkei trinken Kinder nicht neben ihren Eltern. Das wäre respektlos. Egal, wie alt sie sind. Das gleiche gilt auch fürs Rauchen“, erklärte mir Yusuf und fuhr dann fort: „Es gibt drei wichtige Werte, wonach wir leben. Der erste, den du gerade kennengelernt hast, heißt „saygi“. Das bedeutet, Achtung vor älteren Personen zu haben, in ihrer Anwesenheit nicht zu trinken, nicht zu rauchen und sie nicht mit ihrem Vornamen anzusprechen. Gülay sagt „abi“ zu mir. Es wäre respektlos, wenn sie mich Yusuf nennen würde. Das könnte sie nur, wenn ich jünger wäre als sie. Zu ihrer älteren Schwester muss sie „abla“ sagen.

Der zweite unserer Werte ist „namus“. Namus bedeutet Ehre. Man tut nichts, womit man die Ehre der Familie verletzt, denn dadurch würde die Familie auch ihr Ansehen verlieren. Womit bereits der dritte unserer Werte, „ṣeref“, gemeint ist. Bei allem was man tut, achtet man auf das Ansehen der Familie.“

Yusuf leerte den Raki in zwei Gläser. Ich verdünnte meinen mit Wasser, wobei sich der Raki weiß färbte. „Aslan sütü“, Löwenmilch, wurde er dann genannt. Yusuf gab eine Musikkassette in den Recorder. Die orientalischen Klänge der Arabesk erfüllten den Raum.

Ich fragte Yusuf, warum er bei so vielen hübschen Mädchen keine Freundin habe.

„Das sind doch alles Verwandte!“, rief er lachend aus. „Und außerdem möchte ich noch nicht heiraten!“

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Meine Eltern waren auch der Meinung, es wäre höchste Zeit für mich, zu heiraten. Letztes Jahr fuhren wir die ganze Umgebung ab, um alle Töchter, die verheiratet werden sollten, zu begutachten. Es waren hübsche Mädchen dabei. Aber mir ist klar geworden, dass ich nur dann heiraten möchte, wenn ich jemanden finde, den ich liebe. So habe ich meinem Bruder den Vortritt gelassen. Er hat vor kurzem geheiratet und das Haus bekommen. Mein Vater hat eine große Hochzeit und viele Schulden gemacht. Jetzt ist mein Bruder bei der Armee. Er muss den Wehrdienst absolvieren. Der dauert in der Türkei 18 Monate. Solange muss seine Frau auf ihn warten.“

„Hast du nie eine Freundin gehabt?“, fragte ich dann.

Yusuf lachte.

„Das ist bei uns anders als bei euch“, sagte er. „Wir haben vor der Hochzeit keine Freundin und probieren nicht einmal die eine und dann die nächste aus. Ich habe zwar ein Mädchen kennengelernt ... Das war in Mugla, während meiner Ausbildung zum Kfz-Mechaniker. Aber dass wir vor der Hochzeit Kontakt zueinander gehabt hätten, wäre nicht möglich gewesen. Sie kam nur zu mir nach Hause, wenn ich weg war und räumte dann mein Zimmer auf.“

„Wie hieß sie?“, fragte ich.

„Adalet.“

Er hatte ein Foto von ihr und zeigte es mir.

„Du siehst ihr ähnlich“, meinte er dann.

„Und was ist jetzt mit ihr?“, fragte ich.

Yusuf wurde wütend.

„Sie ist mit jemandem gesehen worden! Sie hat sich zwar herausgeredet, aber ich habe ihr kein Wort geglaubt! Für mich war es zu Ende.“

Als ich am nächsten Tag aufwachte, waren bereits alle am Feld. Yusuf brachte mir wieder einen Eimer Wasser zum Duschen. Nachdem ich geduscht hatte - diesmal richtig, indem ich mich mit dem Plastikbecher von oben bis unten mit Wasser begossen hatte - setzte ich mich in den Wohnraum und wartete auf das Frühstück. Ich gab eine Kassette in den Recorder. Bülent Ersoy sang „Sordunmu“, eine Arabesk, die sehr orientalisch klang. Von meinem Platz aus konnte ich den Brunnen und einen Teil des Gartens sehen. Der warme Wind strich durch die Bäume. Ich hörte das Knattern eines Mopeds, das kurz verstummte und dann erneut zu hören war, bis es in der Ferne verklang. Gleich darauf kam Yusuf herein und brachte ein rundes Hefegebäck mit viel Sesam obenauf, ein sogenanntes „simit“.

„Der „simitςi6“ ist gerade vorbeigefahren“, sagte er. „Hier, iss!“

Ich kostete das frische, flaumige Gebäck und ging dann mit Yusuf, der auch für Gülay und Clea ein „simit“ gekauft hatte, ins Haus der Eltern hinüber.

Clea und Gülay saßen am Boden und löffelten Kekse, die sie in Tee aufgeweicht hatten, aus ihren Gläsern. Yusuf zündete den Gaskocher an und stellte frischen Tee auf. Es roch nach der verbrannten Asche des gestrigen Feuers. Ich setzte mich auf eines der Sitzkissen am Boden und ließ meine Blicke durch den Raum schweifen.

„Hier also wohnen Yusufs Eltern mit Gülay!“, dachte ich beinahe fassungslos. „In diesem ärmlichen Raum, der nicht einmal ein Fenster und eine richtige Türe hat!“

Es war kaum vorstellbar für mich, dass zwei Flugstunden entfernt von Österreich und unweit der Touristenzentren, die die Armut geschickt verbargen, eine Familie unter so einfachen Verhältnissen lebte. Und doch war es gerade dieses einfache Leben, das mich faszinierte und immer mehr in seinen Bann zog ...

Nachdem wir unseren Tee getrunken hatten, ging Yusuf hinaus. Ich blieb noch eine Weile bei den Kindern. Gülay wusch draußen vor dem Haus die Teegläser ab, indem sie aus dem Wassereimer mit einem Becher Wasser schöpfte, in jedes der Teegläser etwas Wasser schüttete, diese dann mit den Fingern sauber rieb und anschließend ausspülte. Die gewaschenen Gläser stürzte sie auf das silberne Tablett. Clea sah ihr dabei zu. Ich war beeindruckt, wie früh man sehr jungen Kindern schon Pflichten auferlegte und wie gewissenhaft Gülay ihren Pflichten nachkam. Es schien für Gülay auch selbstverständlich zu sein, auf Clea aufzupassen, und beruhigt stellte ich fest, dass ich die Kinder bedenkenlos allein lassen konnte.

Die Verwandten von Gelin waren heute das letzte Mal hier gewesen. Die Baumwolle war geerntet, und Gelins Vater war mit dem Traktor gekommen, um sie wieder mit nach Fethiye zu nehmen. Am Abend, als alle beisammensaßen, kam Yusufs Vater, um sie für ihre Arbeit zu entlohnen. Er steckte jedem von ihnen ein Briefchen zu.

Nach dem Abendessen schlug Yusuf vor, eine türkische Hochzeit zu besuchen. Nicht weit von hier, gleich im Nachbarort, fände eine statt.

Als wir die Landstraße entlang gingen, liefen immer wieder Hunde von den Bauernhäusern links und rechts der Straße hinter uns her und verfolgten uns knurrend und bellend. Doch zum Glück gab es dafür eine einfache Abhilfe, die die Hunde gut zu kennen schienen: Yusuf brauchte sich nur zu bücken, um einen Stein aufzuheben, schon kehrten die Hunde um oder blieben stehen und ließen uns in Ruhe.

Allmählich hörten wir beim Näherkommen Musik. Wir kamen zu einer Wiese, wo getanzt wurde. Mir fiel auf, dass nur Frauen mit Frauen tanzten. Die Männer waren etwas abseits. Yusuf ging zu den Männern, unter denen auch