Zweimal Sommer zum Verlieben - Aimee Friedman - E-Book

Zweimal Sommer zum Verlieben E-Book

Aimee Friedman

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Beschreibung

Provence oder New York - zwei Sommer, eine Liebe

Ein schicksalhafter Telefonanruf entscheidet über zwei Versionen eines Sommers. In der einen Version reist die 15-jährige Summer Everett nach Frankreich, davon träumt sie schon lange: Straßencafés, gut aussehende Jungs und Kunstmuseen. In der anderen Version bleibt sie zu Hause, doch ihr gewohntes Leben wird plötzlich völlig auf den Kopf gestellt. In beiden Sommern verliebt sie sich und entdeckt neue Seiten an sich. Doch es gibt da noch ein dunkles Familiengeheimnis, das sie so oder so einholt. Und es ist an der Zeit, sich ihm zu stellen.

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Aimee Friedman

Aus dem Amerikanischen

von Catrin Frischer

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1. Auflage 2016

© 2016 by Aimee Friedman

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung von SCHOLASTIC INC.,

557 Broadway, New York, NY 10012 USA.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Two Summers.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe by

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Catrin Frischer

Lektorat: Christina Neiske

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

Umschlagillustration: © Gettyimages/AleksandarNakic;

Shutterstock/oneinchpunch

MI • Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19737-7V001

www.cbj-verlag.de

Für meine Familie – die beste in jedem Universum

Im unendlichen Raum müssen selbst die unwahrscheinlichsten Ereignisse irgendwann geschehen … Dort gibt es Menschen mit deinem Aussehen, Namen und deinen Erinnerungen, die jede nur erdenkliche Lebensentscheidung von dir durchexerzieren.

Max Tegmark

Ich verliere mich in Möglichkeiten.

Emily Dickinson

Prolog

Montag, 3. Juli, 19:37 Uhr

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiund…

Ich starre auf die Zeitanzeige meines Handys und zähle stumm die Sekunden, aus 19:37 wird langsam 19:38. Mein Herz schlägt im selben Rhythmus, scheint mir.

Zweiunddreißig, dreiunddreißig …

»Summer, lass das«, befiehlt mir meine beste Freundin, Ruby Singh. Ich gucke zu ihr rüber. Ihr Blick ist auf die Straße gerichtet, aber sie errät trotzdem, was ich mache. »Das bringt uns auch nicht schneller ans Ziel«, sagt sie.

»Weiß ich doch«, behaupte ich mit glühenden Wangen. Ich rutsche auf dem Beifahrersitz herum und lasse das Telefon von einer verschwitzten Hand in die andere wandern.

Fünfundvierzig, sechsundvierzig, siebenund …

Die Sache ist die, ich wünschte, ich hätte Kontrolle über die Zeit und könnte sie ganz nach Belieben schneller oder langsamer laufen lassen. Minuten und Stunden sind für mich irgendwas Flatterhaftes, nicht Greifbares. Den größten Teil meines zweiten Oberstufenjahres (das erst letzte Woche zu Ende ging) bin ich mit hängender Zunge zu spät zur Schule gekommen. Aber wenn ich mal am Samstagabend zu einer Party eingeladen war, was echt selten vorkam, bin ich immer peinlich früh aufgetaucht. Ich krieg’s einfach nicht gebacken.

An diesem schwülen Sommerabend bin ich schon wieder kurz davor, den Kampf zu verlieren. Ich reiße mich vom Display meines Handys los und riskiere einen Blick auf die Straße vor uns, die noch immer total verstopft ist. Die roten Rücklichter glimmen wie Glühwürmchen.

»Ich verpasse meinen Flug«, murmele ich, und Angst macht sich in meinem Bauch breit.

Ich bin ja selbst schuld. Schließlich war ich diejenige, die den Koffer zwei Mal packen und endlos über jedes Kleidungsstück schwafeln musste. Und ich war diejenige gewesen, die mit meiner Mutter einen riesigen Streit angezettelt hatte, als wir gerade aus dem Haus gehen wollten, sodass ich unter Tränen Ruby anrufen und sie bitten musste, mich zum Flughafen zu fahren.

»Tust du nicht«, sagt Ruby energisch und wechselt die Spur. Dabei rutschen die geknüpften Freundschaftsarmbänder an ihren Handgelenken hoch und runter. »Nicht, solange ich das in der Hand habe. Und ich meine es ernst, steck das Handy weg. Ist der Akku nicht gleich leer?«

»Ja«, gestehe ich seufzend ein. Ich fummele an meinen eigenen geknüpften Armbändern herum – die beiden, die Ruby für mich gemacht hat, trage ich immer – und gucke dann schnell noch mal auf mein Handy.

Achtundfünfzig … neunundfünfzig …

Ehe die Minute voll ist, lasse ich das Telefon in die pralle Tasche vom Whitney Museum vor meinen Füßen fallen. Ich hätte das Handy nicht mitnehmen sollen, in Europa kann ich damit sowieso nichts anfangen. Aber es fehlt mir jetzt schon wie ein Körperteil, das amputiert worden ist. Ob Mom mir wohl eine Nachricht schickt und sich entschuldigt? Oder wartet sie vielleicht darauf, dass ich zuerst schreibe? Diesen Gedanken schiebe ich beiseite.

Das Auto ruckelt ein Stück vor. Verstohlen werfe ich einen traurigen Blick auf die kaputte Uhr an Rubys Armaturenbrett, die ewig blinkend 12 Uhr anzeigt. Um mich abzulenken, wühle ich in meiner Tasche herum und vergewissere mich, dass ich alles Nötige dabeihabe: Kaugummi und Zeitschriften fürs Flugzeug. Den dicken Hochglanzreiseführer. Einen Ausdruck von Dads E-Mail mit seiner Adresse und den Telefonnummern. Meine tolle neue Kamera. Meinen Pass.

Ich hole das dunkelblaue Büchlein hervor und spüre ein aufgeregtes Kribbeln, als ich die frischen, ungestempelten Seiten durchblättere. Ich war noch nie im Ausland. Als ich zu der Seite mit meinem Foto komme, runzele ich die Stirn. Mein aschblondes Haar ist wellig, mein Lächeln schief und das eine graublaue Auge ist ein ganz klein wenig größer als das andere. Mit sieben habe ich zum ersten Mal ein Picasso-Gemälde gesehen, eine Frau mit umgekrempelten Gesichtszügen – mit der hatte ich mich irgendwie verwandt gefühlt. Ich sei irre, hatte Ruby gesagt, als ich diesen Gedanken mit ihr geteilt hatte.

»Irre!«, sagt Ruby jetzt mit ungläubiger Stimme. »Hab ich tatsächlich schon wieder recht gehabt?«

Blinzelnd schaue ich auf und stelle fest, dass wir schnell vorankommen. FLUGHAFEN verheißt das Ausfahrtschild vor der Windschutzscheibe. Erleichterung überschwemmt mich wie eine warme Welle und ich quietsche begeistert. Das mache ich nur selten, aber diese Situation verlangt geradezu danach.

»Du hast einfach immer recht«, stelle ich fest. Meine beste Freundin wirft mir ein Lächeln zu. Donner grollt über uns, als sie auf die Ausfahrt zusteuert, und wir zucken beide ein bisschen zusammen.

Eigentlich ist nicht überraschend, dass ein Gewitter aufzieht, die Luft ist schon den ganzen Tag schwer und feucht – Mückenwetter. Ich liebe den Sommer, und das nicht nur, weil ich Summer heiße. Ich mag es, wenn frisch gemähtes Gras meine nackten Fußsohlen kitzelt. Und ich mag leichte Baumwollkleider. Wassereis mit Gefrierbrand. Und den rauchigen Duft vom Grill, wenn es dunkel wird. So ein magisches Gefühl, als ob nichts unmöglich wäre, spannt sich wie eine Brücke zwischen Juni und August. Als ob einfach alles passieren könnte.

Bislang hat dieser Sommer mehr Magie – ja, sogar mehr Mögliches – verheißen als sonst. Aber jetzt, als sich dicke Wolken über uns zusammenziehen, beschleichen mich düstere Vorahnungen.

»Und wenn das nun ein böses Omen ist?«, frage ich Ruby und zwirbele meine Haare nervös zu einem unordentlichen Knoten.

Die ersten Rollbahnen kommen in Sicht und Ruby in ihren Plateausandalen gibt Gas. »Du und deine Omen«, sagt sie abfällig.

Ein weiteres Donnerkrachen lässt mich erschauern. Ich weiß, es ist albern, an Zeichen und Vorboten zu glauben. Aber für unentschlossene Menschen wie mich ist Aberglaube manchmal ganz hilfreich – so sind wir aus dem Schneider, die Entscheidung wird uns abgenommen.

Ruby fährt vor dem wuseligen Terminal D vor, doch ich verspüre nicht die erwartete Vorfreude. Mit unsicheren Fingern löse ich den Sicherheitsgurt. Die ersten Regentropfen klatschen auf die Windschutzscheibe.

»Und wenn nun …«, beginne ich. Plötzlich ist meine Kehle trocken und mein Kopf voller Zweifel.

»Das sind deine drei Lieblingswörter«, sagt Ruby und nimmt ihren mittlerweile wässrigen Eiskaffee aus dem Getränkehalter. Sie war gerade mitten in ihrer Schicht im Café, als ich sie vorhin angerufen habe. Sie musste eine Ausrede für den Geschäftsführer erfinden, damit sie abhauen konnte, aber vorher hat sie noch Getränke für uns beide zusammengerührt. Meinen Eiskaffee hab ich schon unter Tränen geschlürft, als wir losgefahren sind.

»Und wenn nun wahr ist, was meine Mom gesagt hat?« Ich denke daran, wie meine Mutter und ich uns in der Küche angegangen sind – an die Schärfe ihrer Worte und die Wut- und Sorgenfurchen auf ihrer Stirn. Unbehaglich rutsche ich auf meinem Sitz herum und lausche dem nahen Dröhnen der startenden und landenden Flugzeuge. »Vielleicht ist das hier ein Fehler …«

»Okay. Nein.« Ruby schüttelt den Kopf, ihr seidiges schwarzes Haar wischt dabei über ihre gebräunten Schultern. »Das ist kein Fehler. Es ist dein Schicksal.« Ruby reißt ihre stark geschminkten Augen auf und guckt mich so eindringlich an, dass ich das Gefühl bekomme, sie stößt mich gleich aus dem Auto. »Denk nicht an deine Mutter. Das wird der beste Sommer, den du je erlebt hast, Summer.« Sie kichert und ich muss einfach lächeln. Ich spüre, wie ich mich entspanne. »Du findest einen hinreißenden französischen Freund«, sie zieht die Augenbrauen hoch, »und Hugh Tyson verblasst in der Erinnerung.«

Ich lache, heiß kriecht mir die Röte über den Nacken. Natürlich muss Ruby ausgerechnet jetzt auf meinen hoffnungslosen Langzeitschwarm anspielen. Ich denke an Hugh, seine graugrünen Augen, die leichte Bräune seiner Haut. Seine Brillanz, die ihn wahrscheinlich als Jahrgangsbesten abschließen lassen wird. Und daran, dass ihm nicht mal bewusst ist, dass es mich gibt.

»Der Aufenthalt in einem anderen Land wird mich nicht schlagartig für die männliche Bevölkerung wahrnehmbar machen«, merke ich an.

Ruby seufzt. Meine beste Freundin – mit ihrem überbordenden Selbstbewusstsein und der kurvenreichen Figur – kennt die Bedeutung des Wortes »unerwidert« nicht. Sie hatte schon drei So-gut-wie-Freunde (an dieser Stelle muss erwähnt werden: das sind drei mehr, als ich je gehabt habe), und letzte Woche hat sie mir verkündet, sie habe vor, sich diesen Sommer »in echt« zu verlieben. Ich bin klug genug, mir selbst nicht so unrealistische Ziele zu setzen.

Trotzdem verspüre ich einen zaghaften Hoffnungsschimmer. Das reicht, um meine Mom-Sorgen vorläufig zu zerstreuen. Ich stopfe meinen Pass wieder in die Tasche zurück, die ich mir über die Schulter hänge.

»Aber danke.« Ich lehne mich über den Schalthebel und ziehe sie heftig an mich. Ihr vertrautes blumiges Parfum steigt mir in die Nase. »Hab dich lieb mal zwei.«

»Hab dich lieb mal zwei«, sagt Ruby auch. Diesen Satz haben wir damals in der ersten Klasse erfunden, da haben wir uns nämlich kennengelernt. Ich habe noch ein paar andere gute Freundinnen, aber nur Ruby ist beinahe wie eine Schwester für mich. Plötzlich bekommt die Vorstellung, ohne sie zu diesem Abenteuer aufzubrechen, etwas Beängstigendes. Wie soll ich das alles bloß allein überleben?

»Geh«, sagt Ruby und macht sich von mir frei. Sie nickt Richtung Terminal. »Sims mir, wenn du – oh, das wirst du da nicht können.«

»Ich rufe an«, verspreche ich. »Und maile. Und gucke auf Instagram. Bedenklich oft.«

Ich höre Ruby lachen, als ich die Autotür aufmache und ins Bordsteingetümmel trete. Privatwagen und Taxis halten hier, die Türen stehen offen wie Mäuler, während Leute mit Gepäck hantieren und sich Abschiedsgrüße zurufen. Kalter Regen trommelt mir auf Beine und Füße, und ich bereue, nur Shorts und Flipflops zu T-Shirt und Kapuzenjacke angezogen zu haben. Ich ziehe den Reißverschluss der Jacke hoch, renne zum Kofferraum und hieve meinen Koffer raus, um ihn zu den Glasschiebetüren des Terminals zu zerren.

Dann bleibe ich stehen und werfe schnell einen Blick zurück. Ich verspüre den Drang, nach der Kamera zu greifen und ein Foto von Rubys Auto im Regen zu machen. Mein letzter Eindruck vor der Abreise. Aber da fährt Ruby schon los, die Scheibenwischer klacken. Und ich weiß auch ohne auf die Uhr zu gucken, dass ich mich beeilen muss. Also hole ich tief Luft und betrete den neongrellen Flughafen.

Geh, hat Ruby gesagt. Ich kriege einen Adrenalinschub und schlängele mich um die Scharen von Reisenden herum, fremde Sprachen schwirren durch die Luft. Ich schaffe es tatsächlich, meine Bordkarte abzuholen und den Koffer aufzugeben, und bin ganz stolz und aufgeregt und erstaunt über meine Kompetenz. Ich bin erst ein Mal allein geflogen, nach Florida zu meinen Großeltern, übers Wochenende. Alle anderen Reisen habe ich mit Mom gemacht.

Mom. Meine Kehle schnürt sich zu und ich stolpere über einen Rollkoffer.

Ruby hat gesagt, ich soll nicht an Mom denken. Aber als ich auf die Sicherheitskontrolle zuspurte, kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich stelle sie mir in unserem stillen Haus vor, wie sie ihre Hornbrille gerade rückt und in den Regen guckt. Ob sie sich wohl wünscht, ich würde nicht bei so schlechtem Wetter fliegen? Ob sie sich wohl wünscht, wir hätten uns nicht im Streit getrennt? Oder ich wäre gar nicht abgereist?

Wieder denke ich daran, wie ich mit meinem Gepäck in die Küche gekommen bin, strahlend und auf den letzten Drücker. Ich war bereit. Mom hatte am Küchentresen gelehnt, mit gesenktem Blick und ziemlich blass. Sie hatte noch nicht mal Schuhe an. Mein Magen zog sich zusammen. Mir war klar, dass Mom nicht viel von dieser Reise hielt. Sie benahm sich total komisch, seit Dad mich eingeladen hatte. Ich hätte also so tun sollen, als würde ich dieses komische Verhalten nicht bemerken. Ich hätte einfach aus der Tür und zum Auto gehen sollen. Aber wie bei einer vernarbten Wunde, von der man die Finger nicht lassen kann, hab ich sie gefragt, was los war.

»Ich …« Sie hustete. »Nun ja, ehrlich gesagt, Summer, ich weiß nicht recht, ob du fahren solltest.« Ich spürte, wie mir das Blut in den Adern gefror. »Ich bin mir nicht sicher – ob du richtig … darauf vorbereitet bist.« Sie hustete wieder. »Ich befürchte, dass du … hängen gelassen wirst. Du weißt ja, wie er ist.«

In meinem Inneren wurde der Hebel umgelegt, von eiskalt auf kochend heiß. »Er« war mein Vater: Moms Todfeind. Ihre Wut auf ihn machte mich wütend. Ja, sie hatten sich scheiden lassen, als ich elf war – ein klarer Schnitt, wie mit dem Fleischerbeil. Dad war nach Europa gegangen, während Mom und ich in unserer langweiligen Heimatstadt Hudsonville im Bundesstaat New York geblieben waren. Und ja, seitdem war Dad eine Art geisterhafte Präsenz, er schickte nur gelegentlich eine E-Mail oder skypte ganz selten mal. Ein Mal war er nach Hudsonville zurückgekommen und hatte mich zu einem schnellen Mittagessen ausgeführt (»Wie läuft’s in der Schule? Du bist so groß geworden. Nun muss ich mich aber beeilen, Schatz«), ehe er wieder abgedüst war.

Aber ich mache meinem Vater seine Unzuverlässigkeit nicht zum Vorwurf, er ist schließlich Künstler. Ein berühmter Künstler. Nicht so berühmt, dass der Security-Typ ihn kennen würde, der mich gerade durch den Metalldetektor winkt. Aber doch so berühmt, dass seine großen, schönen, farbenfrohen Gemälde in Museen und Galerien hängen. Und so berühmt, dass er manchmal in der Zeitung erwähnt wird. Ich weiß noch, wie stolz ich war, als ich letztes Jahr seinen Namen, Ned Everett, im Kulturteil der New York Times entdeckt habe, neben einem Foto von ihm, auf dem er richtig gut aussah in seinen farbbespritzten Sachen.

Das Bild, das Dad als Künstler berühmt gemacht hat, war übrigens ein Porträt von mir, das er gemalt hat, als ich elf Jahre alt war: ein blondes kleines Mädchen mit großen Augen in einem Mohnfeld, das er sich zusammengeträumt hat. Ich habe dieses Bild noch nie persönlich gesehen, es hängt in einer Galerie in Südfrankreich.

Und zufällig bin ich gerade auf dem Weg dorthin.

Mein Herz schlägt Purzelbäume vor Aufregung, als ich die Kontrollen eilig hinter mir lasse. Ich reise nach Frankreich! Nicht nur, um mir »mein Gemälde« anzuschauen, wie ich es insgeheim nenne, sondern um endlich meinen Vater zu besuchen und tatsächlich Zeit mit ihm zu verbringen. Meine Tasche schlägt an meine Hüfte, als ich auf mein Gate zulaufe, und ich denke an die alles verändernde E-Mail, die er mir im April geschickt hat.

Mein Schatz, stand da, ich kann gar nicht glauben, dass du diesen Sommer sechzehn wirst (wo bleibt die Zeit nur?). Komm her und feiere mit mir! Wie du weißt, verbringe ich den größten Teil desJahres in Paris, aber im Sommer bin ich in Südfrankreich, in der wunderschönen Provence. Ich habe ein großes Ferienhaus in einer kopfsteingepflasterten Straße, in dem befreundete Künstler sich die Klinke in die Hand geben. Wir können in der Sonne sitzen, Croissants essen und Neuigkeiten austauschen. Was hältst du davon?

Ungläubig und total aus dem Häuschen hatte ich auf den Monitor gestarrt. Aber dieses eine Mal in meinem Leben war ich nicht zaghaft gewesen, ich hatte nicht lange rumüberlegt. Mein Blick war in meinem Zimmer herumgewandert – über das irgendwie ständig gleiche Einerlei von Postern und Büchern – und zum Fenster raus auf die Reihe identischer Bungalows auf der anderen Straßenseite. Ich konnte entkommen. Ich konnte den Sommer – meine Jahreszeit – an einem Ort mit Kopfsteinpflaster und Croissants verbringen. Ich war mir so sicher, dass mir davon ganz schwindelig war.

Mom war natürlich nicht so leicht zu überzeugen gewesen. Zuerst hatte sie rundheraus Nein gesagt, die Vorstellung schien ihr regelrecht Angst zu machen (ich war sofort in Tränen ausgebrochen – obwohl ich eigentlich nicht viel heule, offenbar nur, wenn es um diese Reise geht). Darauf folgten Telefonate mit gedämpften Stimmen zwischen meinen Eltern – soviel ich weiß, redeten sie zum ersten Mal seit Jahren wieder miteinander –, und ich bekam mit, wie Mom sagte, ich sei noch nicht so weit, was mir einen Stich versetzte. Einige meiner Mitschüler hatten schon Touren durch Europa und Südamerika unternommen. Ruby war schon zwei Mal mit ihrer Familie in Indien gewesen. Klar, ich war schüchtern und führte ein ruhiges, behütetes Vorstadtleben. Aber Mom konnte mich doch nicht für immer in dieser Seifenblase festhalten – oder doch?

Nachdem noch eine Woche weiter am Telefon geflüstert worden war und ich mir die Fingernägel abgekaut hatte, erklärte Mom sich einverstanden, mich fahren zu lassen – aber nur, weil Dad zugestimmt hatte, mich gewissermaßen als Assistentin zu beschäftigen. »Wenn du da nicht irgendeinen Job hast, hängst du nur rum und weißt nichts mit deiner Zeit anzufangen«, hatte Mom in einem Unheil verkündenden Ton erklärt.

Es stimmte schon, seit ich dreizehn war, hatte ich jeden Sommer gearbeitet, Knie verpflastert beim Ferienlager des YMCA, Popcorn verkauft im Multiplexkino im Einkaufszentrum, und im letzten Jahr hatte ich in unserem Buchladen Between The Lines Taschenbücher in die Regale geräumt. Nun würde ich die Skizzen in Dads Atelier ordnen und online neue Pinsel für ihn bestellen. Und das klang doch ganz so, als ob ich es ohne Weiteres hinkriegen könnte. Solange ich nicht selbst etwas Künstlerisches machen musste. Ich kann nämlich nicht mal Strichmännchen zeichnen.

Verschwitzt und aus der Puste erreiche ich mein Gate. Mein Flug, Delta 022 direkt zum Flughafen Marseille, ist zum Boarding aufgerufen. Während ich verschnaufe, gucke ich aus der breiten Fensterfront auf das Rollfeld. Da steht das Flugzeug, weiß und schlank und mit Regentropfen gesprenkelt. Erleichterung und Übermut prickeln in mir. Ich hab es geschafft!

Ich stelle mich in die lange Schlange, hinter eine Mutter und ihre kleine Tochter, die sich auf Französisch unterhalten. In der Schule hab ich Spanisch (Moms Idee), aber seit April google ich französische Vokabeln. Die Mutter sagt irgendwas über den Regen – la pluie – und die Tochter kichert. Ich schlucke heftig.

Ich bin ein Einzelkind, und meine Mutter und ich stehen uns sehr nahe, das ist ja oft so, wenn man zu zweit ist. Abends machen wir es uns gern mal mit Netflix auf dem Sofa gemütlich oder wir sitzen mit einem großen Becher Eis auf der Veranda und betrachten die Sterne. Mom erzählt mir dann von den Theorien, mit denen sie ihre Studenten am Hudsonville College vertraut macht. Einmal hat sie mir erzählt, dass manche Philosophen und Wissenschaftler der Meinung sind, es müsse Leben auf anderen Planeten geben – es gibt nämlich so viele Galaxien, dass es anders gar nicht möglich sein kann. Da kam mir der Gedanke, dass es für mich, wenn es auf der Erde keine Jungs gab, die mich mochten, vielleicht bei einem Jungen aus einer anderen Galaxie noch Hoffnung geben könnte. Im Grunde wünschte ich mir einen außerirdischen Freund. Wahnsinn.

Aber die liebste von Moms Theorien war mir die von den Paralleluniversen: die Vorstellung, dass irgendwo da draußen in Raum oder Zeit unendliche Versionen von uns selbst existieren. Und jede Version lebt jede mögliche Folge unserer diversen Entscheidungen aus. So eine Art kosmisches »Wähle dein eigenes Abenteuer«. Diese Vorstellung verfolgt mich, sodass mir Schauer über den Rücken laufen und der Nachthimmel mir noch riesiger vorkommt.

Diesen Sommer wird Mom ganz allein mit ihren Theorien auf der Veranda sitzen, nur unser mürrischer Kater Ro wird ihr Gesellschaft leisten. Na gut, meine Tante, Moms Zwillingsschwester, könnte gelegentlich vorbeischauen, aber normalerweise ist sie abends immer unterwegs, zu Konzerten oder ins Theater. Vielleicht hatte Moms Zögern wegen meiner Reise ja weniger mit Dad oder mir zu tun und mehr mit der Aussicht auf diese einsamen Abende.

Die Reue pulsiert in mir wie ein zweites Herz. Während ich in der Schlange aufrücke, wühle ich in meiner Umhängetasche nach dem Handy. Ich bin immer noch sauer auf Mom, aber ich sollte ihr eine Nachricht schreiben oder sie anrufen, ehe ich ins Flugzeug steige. Wenn ich an unseren letzten Wortwechsel in der Küche denke, wird mir ganz anders.

»Du willst bloß nicht, dass ich glücklich bin!«, hatte ich gebrüllt. »Ich bin so weit! Ich bin fast sechzehn!« Und vielleicht hab ich auch kindisch mit dem Fuß aufgestampft. »Warum hasst du Dad eigentlich so sehr? Er bezahlt doch, dass ich da hinfahre. Kannst du nicht mal ein bisschen nachsichtig sein?« Heiße Tränen standen mir in den Augen.

Mom hatte mich nicht getröstet. Mit blassen Lippen hatte sie geblafft: »Ich weiß, dass dein Vater dich mit diesem wahnsinnigen Angebot überwältigt hat. Aber du solltest dir klarmachen …« Sie hustete wieder. »Dass es anders sein könnte, als du erwartest. Nicht alles ist so, wie es scheint.«

Dass sie so vage war, hatte mich nur noch mehr frustriert. Ganz so, als würde es an einer Stelle am Rücken jucken, die nicht zu erreichen war. Meine Tränenschleusen hatten sich geöffnet, und ich hatte ihr vorgeworfen, sie sei ungerecht. Sie hatte gesagt, sie sei nur so, weil sie sich Sorgen mache – eine Entschuldigung, die Eltern gern anbringen, wenn sie ungerecht sind. Ich war aus der Küche gerannt, und als Ruby schließlich kam und mich abholte, habe ich das Haus verlassen, ohne mich von Mom zu verabschieden.

Jetzt sehe ich auf meinem Handy, dass zwei verpasste Anrufe und eine SMS von Mom angezeigt werden. Ich empfinde eine Mischung aus Schuldgefühlen und Triumph, vermutlich hat sie sich als Erste entschuldigt. Aber in ihrer Nachricht steht nur: Gib mir Bescheid, wenn du am Flughafen bist, okay? Kühl und emotionslos.

Mit der freien Hand zwirbele ich die Armbänder an meinem Handgelenk. Was soll ich antworten? Der Akku wird immer schwächer, wahrscheinlich ist er gleich leer. Vielleicht sollte ich einfach im gleichen Ton zurückschreiben: Bin da, steige jetzt ein. Ruby würde das bestimmt empfehlen. Aber eigentlich will ich sagen: Ich wünschte, wir hätten uns nicht gestritten, Mom, und bitte sag mir, es ist in Ordnung, dass ich nach Frankreich fahre, denn ehrlich gesagt, habe ich ein bisschen Angst. Okay?

Ehe ich irgendwas schreiben kann, merke ich, dass die französische Mutter und ihre Tochter in der Schlange ein ganzes Stück aufgerückt sind, und ich beeile mich, die Lücke zwischen uns zu schließen. In diesem Moment sehe ich einen gewaltigen Blitz am Himmel über dem Rollfeld zucken. Ich schnappe nach Luft, wie ein Pfeil schießt die Angst durch mich hindurch. Um mich herum schnappen alle anderen genauso nach Luft. Omen, Omen, Omen, denke ich.

Hast du das gesehen?, schreibe ich Mom mit zitternden Fingern.

Nein, was denn?, schreibt sie sofort zurück. Ob sie das Telefon wohl die ganze Zeit in der Hand gehalten und gewartet hat? Was soll das denn?

Hudsonville ist über zehn Meilen vom Flughafen entfernt, es könnte also sein, dass das Gewitter da noch gar nicht angekommen ist. Die Leute am Gate murmeln alle irgendwas und gucken aus dem Fenster. Es knistert in den Lautsprechern, und die Airline-Angestellte verkündet ruhig, dass alle Passagiere einsteigen sollen, die Wetterverhältnisse würden die Flugsicherheit nicht beeinträchtigen. Mein Magen krampft sich zusammen und ich umklammere das Handy. Ich will Mom nicht beunruhigen, indem ich schildere, was ich beobachtet habe. Und wenn die Verhältnisse wirklich gefährlich wären, würde die Fluggesellschaft den Flug doch wohl streichen, oder? Damit beruhige ich mich.

Was weiß ich denn? Ich bin ja noch nicht mal sechzehn.

Ich versuche Ruby zu imitieren – die unerschütterliche, reife Ruby –, recke das Kinn und gehe weiter. Die Schlange bewegt sich jetzt schneller.

Nichts, schreibe ich an Mom. Meine Finger sind ein bisschen ruhiger. Bin da, steige jetzt ein.

Sicheren Flug!, schreibt Mom sofort. Ruf mich gleich an, wenn du landest.

Ich studiere ihre Worte eingehend. Wünscht sie mir einen »sicheren« Flug, weil sie von dem Blitz weiß? Oder interpretiere ich da zu viel hinein, weil ich nach einem Grund suche … Wofür? Nicht ins Flugzeug zu steigen? Das ist verrückt. Auch ohne Moms Billigung, selbst mit meinen anhaltenden Zweifeln und der Nervosität, selbst mit dem Gewitter will ich diese Reise unbedingt machen. Ich werde fliegen.

Die französische Mutter rückt vor, sie nimmt ihre Tochter auf den Arm. Ich sehe, wie sie dem Angestellten die Bordkarten reicht und durch die offene Tür zum Flugzeug geht. Das kleine Mädchen beäugt mich vorsichtig über die Schulter ihrer Mutter hinweg.

Jetzt bin ich dran.

Aufregung durchzuckt mich, als ich mit gezückter Bordkarte einen Schritt vor mache, das Telefon halte ich immer noch in der anderen Hand. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Dann summt mein Handy. Ein Anruf.

Ich halte inne und schaue aufs Handy. Das muss Mom sein. Oder Ruby.

Aber nein. Auf dem Display steht: Unbekannt.

Ich zögere.

Wer kann das sein? Hat sich jemand verwählt? Ruft Mom von einem anderen Anschluss an?

Soll ich rangehen? Oder es ignorieren?

Eine Entscheidung ist gefordert. Und ich kann mich nie entscheiden.

Summ, summ, summ, summ.

Ein behäbiger Mann mit einem Koffer schnaubt laut und geht um mich herum. Er lässt seine Bordkarte scannen und geht durch die offene Tür. Noch mehr Leute ziehen an mir vorbei. Ich bleibe reglos stehen, wie ein Pfahl, den man in einen Fluss gerammt hat.

Summ, summ, summ, summ.

»Dies ist der letzte Aufruf für Flug 022!«, spricht die Airline-Angestellte in das Mikro auf ihrem Tisch, aber sie guckt mich dabei an. Sie ist zu stark geschminkt und trägt ein enges dunkelblaues Kostüm und Schuhe mit megahohen Absätzen. »Ich wiederhole, der letzte Aufruf.«

Mein Handy summt weiter, ich sollte es stumm schalten. Es ignorieren. Der Akku ist fast leer und laut Flugplan starten wir in zwei Minuten.

Andererseits …

Was wäre wenn? Was, wenn das hier wichtig ist? Was, wenn mein Leben eine ganz andere Richtung nehmen würde, wenn ich diesen Anruf annehme?

Die Boardingfrau guckt mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mein Handy summt. Mein Herz rast. Draußen kracht der Donner.

Und ich …

TEIL EINS

Kopfsteinpflaster und Croissants

Montag, 3. Juli, 21:43 Uhr

Ich gehe nicht ran.

Mit einem Knopfdruck lasse ich das Summen verstummen und stecke das Handy in die Jackentasche. Dann trete ich vor und halte der Angestellten die Bordkarte hin. Sie lächelt mit verkniffenen Lippen. Als ich durch die Tür gehe, werfe ich einen Blick über die Schulter. Es ist keiner mehr am Gate, ich bin der letzte Fluggast.

Ich laufe durch den mit Teppich ausgelegten Korridor, meine Flipflops klatschen. Die Wände sind mit Anzeigen von FedEx vollgekleistert. THE WORLD ON TIME, steht da, immer wieder.

Ein Schritt, dann bin ich im Flugzeug. In der Kabine riecht es nach abgestandenem Kaffee, französische und englische Unterhaltungen überlagern sich. Das Bordpersonal guckt mich sauer an, eine schmuddelige junge Zuspätkommerin. Alle sitzen schon oder versuchen noch angestrengt, Handgepäck in den Fächern über den Sitzen zu verstauen. Ich bin froh, dass ich nur meine bewährte Umhängetasche dabeihabe, die ich auf dem Weg zu meinem Platz fest an mich drücke.

Oh, Mist. Ich hab den Platz zwischen dem dicken Mann, der vorhin um mich rum gegangen ist, und der französischen Mutter mit der Tochter. Mir fällt auf, dass die braunen Haare der Mutter zu einem exakten Bob geschnitten sind – wie die meiner Mutter. Und die Tochter ist dunkelblond wie ich. Nur hat die Tochter zwei sehr niedliche ordentliche Zöpfe, während meine Haare ziemlich unelegant aus dem Knoten quellen.

Ich versuche es mir auf meinem Platz bequem zu machen, lege die Beine übereinander und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke auf, während die Flugbegleiter mit den Sicherheitshinweisen anfangen. Dann dringt aus meiner Jackentasche der klagende Laut, der signalisiert, dass mein Handy verreckt ist.

Ich hole es hervor und schaue auf das leere Display. Die Neugier nagt an mir, und ich überlege, wer mich wohl eben angerufen haben mag. Selbst wenn der geheimnisvolle Anrufer eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hätte, könnte ich mir die erst anhören, wenn ich im August wieder nach Amerika komme.

Das Flugzeug fährt über die Rollbahn, erst langsam, dann immer schneller. Wenn ich den Hals recke, kann ich aus dem Fenster aufs Rollfeld schauen. Das Gewitter hat sich verzogen, die Nacht ist ruhig, der Mondschein glitzert auf den Pfützen. Komisch, wie schnell dieser Wechsel war.

»Flugbegleiter und Crew«, sagt der Kapitän durch. »Bitte bereit machen zum Start.«

Ich lehne mich zurück. Der dicke Mann neben mir stößt an meinen Ellenbogen, das kleine französische Mädchen fängt an laut zu jammern, ein Vorbote dessen, was noch kommen wird. Ist mir aber egal. Das Flugzeug befindet sich jetzt im Steigflug. Ich lasse alles hinter mir, den langweiligen Staat New York, Moms seltsames Verhalten in letzter Zeit. Mein sinnloses Schmachten nach Hugh Tyson. Meine wehmütige Beobachterrolle, wenn Ruby mühelos mit Jungs flirtet. Und vor allem meinen Wunsch, Dad besser kennenzulernen.

Die Maschinen röhren. Das Flugzeug scheint schneller zu sein als die Zeit. Als wir abheben, beflügelt das auch meine Hoffnung. Ich erinnere mich an das, was Ruby im Auto gesagt hat, und ich lächele, weil ich mir plötzlich ganz sicher bin. Das hier ist tatsächlich mein Schicksal – und das wird der beste Sommer, den ich je erlebt habe.

Dienstag, 4. Juli, 11:32 Uhr

Schlimmer kann es nicht kommen.

Ich stehe mit dem Koffer in der Hand am Gepäckband vom Flughafen Marseille, die Gurte der Umhängetasche schneiden in meine Schulter. Mein Mund ist staubtrocken, ich hab einen steifen Nacken von dem langen, schlaflosen Flug – und meine Verzweiflung wächst mit jeder Sekunde.

Dad ist nicht hier.

In unserem letzten E-Mail-Wechsel hat er gesagt, er würde mich am Flughafen abholen. Sobald ich aus dem Flugzeug gestiegen bin, habe ich nach seinen aschblonden Haaren und seiner großen Gestalt Ausschau gehalten. Vielleicht würde er ja als Gag sogar ein Schild mit »Bonjour, Summer!« hochhalten und ich würde lachen und ihn umarmen. Aber weit und breit kein Schild und von Dad keine Spur.

Um mich herum kreischen Leute vor Freude und rennen auf ihre Lieben zu, um sie zu umarmen. Wie betäubt beobachte ich die französische Mutter und ihre Tochter, die zu einem Mann laufen, der die Arme um sie schlingt. Ich gucke weg und umklammere den Koffergriff fester. Angst und Verärgerung tanzen Tango in meinem Bauch. Hat Dad etwa vergessen, wann mein Flug landet? Hat er mich vergessen … Punkt?

Denk nicht an das, was Mom gesagt hat. Denk nicht an das, was Mom gesagt hat.

Die Menge lichtet sich. Die Zeit vergeht. Verzweifelt lange ich in meine Umhängetasche, schiebe mein nutzloses Handy aus dem Weg und greife nach dem Ausdruck von Dads E-Mail mit seiner Adresse und den Telefonnummern. Soll ich ihn anrufen? Gibt es hier irgendwo Telefonzellen? Wie funktionieren die überhaupt? Ich bin schon ganz erschöpft davon, so viel allein gemacht zu haben, so mutig und tüchtig gewesen zu sein am Flughafen zu Hause. In diesem Spiel habe ich das höchste Level erlangt und alle neuen Leben verbraucht.

Ruby, murmele ich wie ein Mantra und kämpfe gegen den stärker werdenden Drang zu weinen an. Ich erinnere mich daran, wie sie und ich in den Winterferien mit dem Zug nach New York City gefahren sind, das zwei Stunden südlich von Hudsonville liegt. Als wir aus dem Bahnhof in das Gewirr aus Verkehr, Lärm und vorüberhastenden Menschen hinausgekommen sind, hätte ich mich am liebsten zusammengerollt und versteckt. Aber Ruby hatte eine behandschuhte Hand hochgehalten und gewinkt – und wie durch Zauberei hatte ein Taxi vor uns gehalten.

Ich atme tief und zittrig ein. Vielleicht steckt doch irgendwo noch ein Rest Tüchtigkeit in mir. Langsam gehe ich zum Ausgang und schleife den Koffer und meine Unsicherheit hinter mir her. Ich bin mir nicht sicher, ob ich auch nur annähernd das Richtige tue.

Als ich hinaustrete in den kühlen Morgen mit dem blauen Himmel, gucke ich nach links und rechts, immer noch auf der Suche nach Dad. Der Platz mit den Taxis, Gepäckwagen und abgehetzten Reisenden hat mit dem zu Hause geradezu unheimliche Ähnlichkeit. Zaudernd winke ich in den langsam dahinfließenden Verkehr, denn irgendwie erwarte ich immer noch, dass Dad sich irgendwo manifestiert und mich rettet. Stattdessen hält ein verbeultes silbernes Taxi mit quietschenden Bremsen vor mir. Hab ich tatsächlich ein Taxi gerufen?

Der grauhaarige Fahrer, dem eine Zigarette von den Lippen hängt, hilft mir, meinen Koffer in den Kofferraum zu wuchten. Fassungslos setze ich mich auf den Rücksitz und wir ordnen uns wieder in die Fahrspur ein.

»Alors«, sagt der Fahrer, der sich mit der einen Hand die Zigarette anzündet und mit der anderen lenkt, »wo wollen Sie hin, Mademoiselle?«

Ich bin ebenso überrascht wie erleichtert, dass er gemerkt hat, dass ich Amerikanerin bin. »Oh«, antworte ich und falte den E-Mail-Ausdruck auseinander. »Rue du Pain 13«, lese ich vor. Mein Magen zieht sich zusammen. Wenn das kein böses Omen ist. Straße des Schmerzes?

Der Fahrer schmunzelt und weicht einem Typen auf einem Moped aus. »Peng wird das ausgesprochen«, sagt er mit heftigem Akzent. »In Frankreich heißt das Brot.«

»Oh«, murmele ich, wie peinlich. Klar.

»Aber welche Stadt?«, fragt der Fahrer, während er auf eine Schnellstraße schlingert. »In der Provence haben wir viele Städte. Avignon, Aix-en-Provence, Cassis …«

»Ach ja. Hm. Die heißt … Les Deux Chemins«, lese ich wieder laut vor. Bestimmt entstelle ich die Aussprache. Mal wieder.

»Très bien«, sagt der Fahrer und stößt dabei Rauch aus. »C’est une belle ville. Schöne Stadt. Sie werden sehen.«

Aber alles, was ich sehe, während wir in halsbrecherischer Geschwindigkeit die Autobahn entlangfahren, sind Straßenschilder und flaches Land, das man auch irgendwo in Amerika finden könnte. Ich spähe in die vorbeifahrenden Autos, als ob ich Dad auf der anderen Straßenseite entdecken könnte, auf dem Weg zum Flughafen, wo er mich abholen will. Dann gebe ich auf. Im Taxi ist es warm, deshalb ziehe ich die Jacke aus und stopfe sie in meine Umhängetasche.

Als ich wieder aufschaue, hat sich die Landschaft dramatisch verändert.

Grün-braune Berge erheben sich ringsherum, und majestätische Bäume in einem dunklen Smaragdgrün, wie Pinien, aber mit wilden, zackigen Konturen ragen in den Himmel. Zypressen, denke ich, und mir fällt das berühmte Gemälde von Van Gogh ein. Wir fahren an einem Feld voller sich im Wind wiegender Sonnenblumen vorbei, noch ein zum Leben erwachtes Gemälde.

Ich lächele zum ersten Mal, seit ich gelandet bin, und spüre, wie der Stress wegen Dad und Mom und allem anderen langsam nachlässt. Was ist das nur für ein fantastischer Ort! Ich öffne mein Fenster und lasse die frische Luft hereinwehen. Süß und erdig duftet sie, wie Zitronen. Und Oliven. Lavendel vielleicht auch? Ja, Lavendel. Ich entdecke einen Hügel, über den sich eine lila Decke breitet.

Ich hole meine neue Nikon DSLR aus der Tasche und schraube vorsichtig die schwarze Kappe von der Linse, ich bin noch dabei zu lernen, wie man diese professionelle Kamera benutzt. Meine Tante Lydia, die Fotografin ist, hat sie mir letzte Woche geschenkt – gegen Moms Einwände. Sie hat gesagt, sie habe ausreichend Kameras zu Verfügung, die Nikon sei ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk. »Ich sehe doch, dass du immer Fotos mit deinem Handy machst«, hatte Tante Lydia gesagt und an meinem Pferdeschwanz gezupft. »Das ist ja gut und schön, aber ich dachte, für deine erste Auslandsreise wäre etwas Besonderes bestimmt nicht verkehrt.«

Jetzt, als ich durch den Sucher schaue, überkommt mich eine Welle von Dankbarkeit. Hoch über einem Weinberg liegt ein kleines rosa Bauernhaus. Ich schaffe es, den Zoom einzustellen, und mein Herz hüpft, als ich die dicken grünen Trauben erkennen kann, die in der Sonne glänzen. Ich mache ein Foto, obwohl das vermutlich verwackelt, das Taxi fährt ziemlich schnell. Der Wind weht herein und löst meinen Haarknoten auf. Die Haare wehen mir in Mund und Augen. Aber ich mache weiter Fotos, von strohgedeckten roten Häusern, zerklüfteten Felswänden und Feldern, die aussehen wie ein Meer von Lavendel.

Wenn ich früher an Frankreich dachte, habe ich mir immer Paris vorgestellt. Den Eiffelturm, die romantischen Brücken. Die Provence ist auf ganz andere Weise bezaubernd. Es kommt einem ganz unmöglich vor, dass diese sonnendurchflutete Landschaft auf demselben Planeten, im selben Universum existiert wie Hudsonville im Staate New York.

»Et voilà, wir sind in Les Deux Chemins«, sagt der Fahrer und biegt nach einer Haarnadelkurve auf eine breite Straße. Ich nehme die Kamera runter und halte mich am Türgriff fest, damit ich nicht umkippe. »Das ist die … wie sagt man bei euch?«, fragt er. »Die Einkaufsstraße?«

»Ja, oui, stimmt«, antworte ich lachend und richte mich wieder auf.

Der Fahrer nickt erfreut. »Sie heißt Boulevard du Temps.«

Platanen säumen den Boulevard, deren Äste sich treffen und einen Baldachin aus dichtem Blattwerk bilden, die niedrigen Häuser mit den abgerundeten Ecken sind in allen erdenklichen hellen Ockertönen gefärbt. Wir fahren an einem Café vorbei, vor dem die Leute Kaffee aus winzigen weißen Tassen nippen, an einem Laden mit farbenfrohen Kleidern im Schaufenster und an einer reich verzierten Kathedrale aus Stein, deren Glocken das Mittagsläuten anstimmen. Überall sprühen Springbrunnen im hohen Bogen Wasser. Mir stockt der Atem. Ich glaube, bis jetzt war mir die Bedeutung des Wortes »bezaubernd« noch gar nicht recht bewusst.

Ein Stück voraus, neben einem Springbrunnen mit in Stein gehauenen Putten, stehen ein Junge und ein Mädchen in meinem Alter eng zusammen und küssen sich. Es scheint ihnen gar nichts auszumachen, dass alle sie sehen können. Ich werde rot und denke an Hugh Tyson bei mir zu Hause. Nicht, dass ich Hugh je geküsst hätte. Oder irgendeinen anderen Jungen.

Ich beobachte das Paar noch immer aus dem Rückfenster, als der Fahrer von der Avenue in eine schmale Straße abbiegt. Dann hält er mit einem Ruck an.

Wir stehen vor einem großen, pfirsichfarbenen Haus mit hübschen grünen Fensterläden. Ich blinzele und sehe, dass über der schweren Holztür die Nummer 13 eingeschnitzt ist. Mein Puls geht schneller. Irgendwie, so unwahrscheinlich es auch ist, bin ich bei Dads Haus angekommen.

Ich fummele in meiner Brieftasche nach den Euros, die ich mir auf Moms Geheiß letzte Woche von der Bank geholt habe, und bezahle den Fahrer. Er hilft mir, meinen Koffer aus dem Kofferraum zu holen, ich murmele »Merci« und er lässt mich allein auf dem Kopfsteinpflaster zurück.

Ein köstlicher Duft liegt in der Luft – nach frischem Brot. Ich drehe mich um und entdecke eine kleine, altmodische Bäckerei auf der anderen Straßenseite. Auf das Fenster ist das Wort BOULANGERIE gepinselt worden, dahinter liegen gebräunte runde Laibe und lange Baguettes. Aha. Rue du Pain. Straße des Brotes.

Mein Magen knurrt, als ich auf Dads Haustür zugehe. Ich könnte mir jetzt pain holen. Aber eigentlich bin ich zum Essen zu nervös.

Ich streiche mir die Haare aus den Augen, hole tief Luft und klopfe an die Tür.

Stille.

Ich schaue am Haus empor, Efeu rankt sich an den Wänden hoch. Die Fenster sehen dunkel aus. Ist keiner da? Oh Gott. Wo ist Dad bloß?

Denk nicht an das, was Mom gesagt hat. Denk nicht an das, was …

Eine blitzartige Bewegung. Oben im ersten Stock flattert eine Spitzengardine zur Seite und ein blasses Gesicht schaut zu mir runter. Den Bruchteil einer Sekunde später fällt die Gardine wieder zurück an ihren Platz.

Ich fröstele. Wer war das denn?

Ich erinnere mich, dass Dad in seiner ersten E-Mail geschrieben hatte, dass Künstlerfreunde ständig bei ihm ein und aus gehen würden. Toll. Mir ist jetzt allerdings gar nicht danach, andere Leute kennenzulernen. Das ist auch sonst nicht meine Lieblingsbeschäftigung.

Ich überlege, ob ich noch mal klopfen soll oder nicht, da geht die Tür auf.

Eine Frau in Moms Alter steht da und guckt mich verwirrt an. Sie hat rötliche Haare, die sie zurückgebunden hat, und strahlend blaue Augen – und sie trägt ein gestreiftes Hemd und enge schwarze Hosen. In einer Hand hält sie einen trockenen Pinsel. Offensichtlich eine befreundete Künstlerin.

»Äh, hi«, quieke ich. »Bonjour.« Ich spüre, wie meine unvermeidliche Schüchternheit in mir hochkriecht. »Ich bin, äh, die Tochter von Ned Everett. Ich bin …«

»Summer«, sagt die Frau. Sie nimmt mich genauer unter die Lupe, ihre Augen werden ganz groß. »Du bist Summer.« Mit ihrem französischen Akzent klingt mein Name wie Some-air.

Ich nicke, erleichtert, dass man mich kennt. »Ist mein Vater da?«, frage ich und mache einen zaghaften Schritt nach vorn. »Er sollte mich am Flughafen abholen …«

Die Frau runzelt die Stirn und kneift die Augen zu, wobei sie sich die Schläfen mit den Fingerspitzen massiert. Ich frage mich, ob sie vielleicht nicht so gut Englisch versteht.

»Pardon«, sagt sie eine ganze Weile später und sieht mich wieder an. »Dein Vater hat dich nicht erreicht? Er hat es dir nicht gesagt?«

Ich erstarre. »Was soll er mir gesagt haben?« Schlimmste Befürchtungen befallen mich.

Die Frau seufzt und schüttelt den Kopf. »Ich fürchte, dein Vater ist in Berlin«, erklärt sie, immer noch stirnrunzelnd. »Er musste ganz plötzlich abreisen, zu einer Ausstellungseröffnung in einem Museum.«

Moment mal. Was? Mir schwirrt der Kopf. Berlin? Dad ist nicht mal im Land? Und ich bin ganz allein, hier, in Frankreich? Panik steigt in mir auf, mein Mund wird trocken.

»Wissen Sie … wissen Sie, wann er wiederkommt?«, platze ich heraus. In meinen Ohren klinge ich piepsig und verängstigt.

»Nächste Woche vielleicht?« Die Künstlerfrau macht eine ratlose Geste. »Ich bin mir nicht sicher«, sagt sie entschuldigend.

Benommen schaue ich sie an. Auf der anderen Straßenseite geht die Tür der Bäckerei mit Glöckchengebimmel auf. Warum hat Dad mir nicht gesagt, dass er in Berlin sein würde? Wie kann er mich nur in diese Lage bringen? Was soll ich denn jetzt machen?

Dieses Mal kann ich Moms Worte nicht ausblenden. Sie schießen mir in den Kopf und wiederholen sich ständig, als ob die Wiederholungstaste klemmt. Ich befürchte, dass du hängen gelassen wirst. Du weißt ja, wie er ist. Ich befürchte, dass du hängen gelassen wirst. Du weißt ja …

»Bitte, komm rein«, sagt die Künstlerfrau, und ich blinzele. Sie sieht mich teilnahmsvoll an, Schock und Enttäuschung sind mir wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben. »Du bist müde von der Reise, non?«, sagt sie und macht die Tür weit auf. »Und vielleicht würdest du deinen Vater gern anrufen?«

Keine Ahnung, was ich gern würde. Ein Teil von mir würde gern zum Flughafen zurückfahren und dann wieder über den Atlantik fliegen – alles zurückspulen. Ein anderer Teil von mir würde gern auf dem Boden zusammensacken und heulen wie das kleine französische Mädchen im Flugzeug.

Doch ich mache weder das eine noch das andere. Wie festgekleistert bleibe ich auf der Türschwelle stehen, meine Gedanken wirbeln durcheinander. Ich muss natürlich Mom anrufen und ihr sagen, dass ich angekommen bin. Aber das heißt, ich muss ihr auch sagen, dass sie recht hatte.

»Ich kann dir eine chocolat chaud – heiße Schokolade machen«, sagt die Frau und ich schaue sie an. »Dein Vater sagt, das magst du, n’est-ce pas?«

Ich spüre, wie ich lockerer werde. Das ist genau, was ich möchte, wird mir klar. Heiße Schokolade trinken. Um den Rest kümmere ich mich später.

Dad erinnert sich daran, dass ich heißen Kakao liebe, und hat sich die Mühe gemacht, das einer seiner Künstlerfreundinnen zu erzählen! Diese Tatsache gibt mir so viel Schwung, dass ich ins Haus stolpere. Was für eine Erleichterung, den schweren Koffer und die Umhängetasche im dunklen Flur absetzen zu können. An einem Haken an der Wand hängen identische, altmodische Schlüssel und in der Ecke steht ein Eimer voller Pinsel. Die Frau lässt ihren Pinsel in den Eimer fallen. Obwohl sie eine todschicke, wildfremde Künstlerin ist, hat sie mich ein bisschen beruhigen können.

»Danke, äh, Madame …?« Ich weiß nicht, wie ich sie ansprechen soll.

Die Frau lächelt und zeigt etwas schiefe Zähne. »Ich bin Vivienne LaCour. Bitte, sag Vivienne zu mir.«

»Okay.« Ich nestele an meinen Armbändern. »Es ist schön, Sie kennen …«, setze ich an, und Vivienne erwischt mich völlig unvorbereitet, als sie einen Schritt nach vorn macht und mich auf jede Wange küsst.

Okay. In meinem Reiseführer habe ich gelesen, dass Franzosen sich so begrüßen und verabschieden. Unbeholfen stehe ich da und beschließe, dass mir diese Sitte zuwider ist.

Vivienne tritt zurück und betrachtet mich noch mal, ihre Miene ist eine Mischung aus Neugier und Mitgefühl. Was sie wohl von mir hält? Ob ich wohl anders bin, als man sich die Tochter des großen Ned Everett vorstellt? Dann klatscht sie in die Hände, dreht sich um und führt mich in die große, helle Küche.

»S’il te plait, nimm Platz«, sagt sie.

Ich sinke auf einen Stuhl an dem alten Eichentisch. Die Küche ist rustikal, Messingtöpfe und Pfannen hängen an Haken und die Fenster gehen auf einen großen Garten hinaus. Von meinem Platz aus kann ich eine rote Scheune und einen glitzernden blauen Pool sehen. Meine Laune wird gleich besser. Dads Ferienhaus ist noch schöner, als ich erwartet hatte. Vielleicht kann ich hier ja eine Woche allein durchstehen. Vielleicht.

»Wohnen Sie hier im Haus?«, frage ich Vivienne, die gerade einen Topf auf den Herd stellt. Sie nickt und gießt Milch in den Topf. »Und sind noch andere Leute hier?« Hoffentlich bin ich nicht unhöflich. Ich fühle mich noch immer benebelt und desorientiert und möchte gern wissen, woran ich bin.

»Zurzeit nur noch meine Tochter«, antwortet Vivienne und rührt in der Milch.

»Sie haben eine Tochter?« Das überrascht mich. Vivienne wirkt irgendwie viel zu hip für eine Mutter.

»Oui.« Sie schaut auf, an mir vorbei – und zieht die Augenbrauen hoch. »Ah. Da ist sie ja.«

Ich drehe mich schnell um und bin ganz verschreckt beim Anblick des Mädchens, das in der Küche steht. Wie konnte sie so lautlos reinkommen? Sie scheint ungefähr in meinem Alter zu sein, vielleicht ein kleines bisschen jünger – und sie ist wunderschön mit langen goldenen Locken und etwas schräg stehenden blauen Augen. Das weiße Spitzennachthemd unterstreicht ihr ätherisches Erscheinungsbild. Plötzlich bin ich mir sicher, dass sie aus dem Fenster zu mir runter gespäht hat.

Vivienne räuspert sich. »Summer, das ist Eloise. Eloise, das ist Summer.«

Eloise mustert mich so eindringlich, dass ich mir vorkomme wie ein unter einem Glas gefangener Käfer. Sie blinzelt nicht, sie lächelt nicht. Theoretisch sollte es mich freuen, dass eine Gleichaltrige hier ist, jemand, mit dem ich mich potenziell anfreunden könnte. Aber von Eloise kommt nicht ein Funken Freundlichkeit. Nicht der geringste.

Schließlich schießt ihr eisblauer Blick rüber zu Vivienne und eine Maschinengewehrsalve Französisch rattert aus ihrem Mund.

»Pourquoi est-elle ici? J’ai pensé que …«

»Pas maintenant.« Viviennes Ton ist streng. »Sois polie. Dis bonjour.«

Ich sitze still da, höre ganz genau hin und wünschte, ich würde außer bonjour noch irgendwas verstehen.

Eloise verschränkt die Arme über der Brust und schaut gebieterisch auf mich herab. »Hallo«, sagt sie in dem genervten Ton einer Schülerin, die gezwungen wird, die Hausaufgabe laut vorzulesen. Ich muss mir keine Sorgen machen, dass sie mich in nächster Zeit auf die Wangen küsst, da bin ich mir ziemlich sicher.

»Hallo, du«, nuschele ich, meine Zunge fühlt sich taub an. Ich erinnere mich, dass ich als kleines Mädchen das Buch Eloise so gern gemocht habe. Da ging es um ein quirliges kleines Mädchen, das im Hotel Plaza in Manhattan wohnte. Jetzt verblassen sämtliche positiven Assoziationen mit diesem Namen rasend schnell.

»Bist du wirklich aus New York?«, verlangt Eloise zu wissen. Ihr Englisch ist makellos, ein Akzent kaum wahrnehmbar. Ich kriege mit, dass sie mich stumm bewertet, sie registriert meine unordentlichen Kräuselhaare (verstohlen versuche ich sie zu glätten) und den O-Saft-Fleck auf meinem weißen T-Shirt (Turbulenzen im Flugzeug, hab gekleckert).

»Nicht aus New York City«, stelle ich klar, und es ärgert mich, dass meine Wangen rot anlaufen. »Aus dem Bundesstaat, nördlich der Stadt.« Ich nestele an meinen Armbändern. Über Hudsonville würde Eloise bestimmt ihre kecke Nase rümpfen.

Ehrlich gesagt, wo ich jetzt an Hudsonville denke, fällt mir auch ein, an wen Eloise mich erinnert: an meine Klassenkameradin Skye Oliveira. Die Bezeichnung »Zicke« wäre zu freundlich für Skye. Sie und ihr Rudel makelloser Freundinnen pirschen in Designerboots durch die Schulflure, immer auf der Jagd nach frischer Beute. Offenbar lässt das Phänomen Skye sich auf Frankreich übertragen.

Vivienne kommt an den Tisch und reicht mir einen großen Becher – eigentlich ist es eher eine Suppenschüssel –, der bis zum Rand mit der dicksten heißen Schokolade gefüllt ist, die ich je gesehen habe. Lecker. Ich danke ihr, nehme einen Schluck und genieße die süße, köstliche Wärme.

»Wow«, sagt Eloise gehässig. »Königliche Behandlung für dich, Summer.« Ich schaue sie über den Rand meiner Becherschüssel an und wünschte, ich hätte den Mut, ihr den Inhalt über den Kopf zu gießen. Ruby würde so was tun, meine beste Freundin lässt sich von Skye und ihresgleichen nicht unterkriegen. »Mir macht maman nie chocolat chaud«, fügt Eloise hinzu und lehnt sich an den Türstock.

»Ich kann dir jetzt welche machen, Eloise«, sagt Vivienne in einem angespannten Ton. Sie stellt feine Teller mit Blümchenmuster auf den Tisch, einen Korb mit goldenen Croissants und Gläser mit Marmelade. Ich bin dankbar, mein Hunger ist wieder da, mit voller Kraft. »Komm, iss was mit uns.«

Bitte, iss nichts mit uns, bitte, iss nichts mit uns.

»Keine Zeit, Maman«, zickt Eloise und wirft die prinzessinnenhaften Haare nach hinten. Sofort fühle ich mich erleichtert. »Ich muss mich für den Kurs fertig machen.« Sie guckt mich mit einem selbstgefälligen Blick an, so, als sollte ich eifersüchtig auf diesen Kurs sein. Ich beachte sie nicht und trinke meinen Kakao weiter.

»Dann hättest du nicht so lange schlafen sollen.« Vivienne setzt sich mit ihrer eigenen Becherschüssel Kakao neben mich. »Gehst du heute Abend wieder aus?«

»Wahrscheinlich, mit Colette und den anderen«, erwidert Eloise träge und betrachtet ihre Fingernägel, die kurz und blassrosa lackiert sind – mit kleinen schwarzen Herzen in der Mitte.

Diese Colette muss entzückend sein. Ich stelle mir ein Double von Eloise vor und unterdrücke ein Schaudern, während ich nach einem Teller greife.

»D’accord«, sagt Vivienne. Sie nippt an ihrem Kakao. »Ich gehe ohnehin mit Monsieur Pascal essen.« Einen Moment ist sie still, dann nimmt sie ein Croissant und schneidet es mit einem Brotmesser mittendurch. Sie guckt mich flüchtig an und wirkt nachdenklich, dann schaut sie wieder zu ihrer Tochter. So langsam kriege ich ein richtig schlechtes Gefühl. »Ah, Eloise?«, sagt Vivienne so pseudo-entspannt.

Nein. Nein. Neihein.

»Oui, Maman?«, antwortet Eloise zögernd und total argwöhnisch.

Zu Recht.

»Vielleicht«, fährt Vivienne fort, während sie emsig Marmelade auf ihre Croissanthälfte streicht, »würdest du heute Abend ja gern Summer mit zu deiner Verabredung nehmen?«

Bingo.

Mein Magen schlägt Purzelbäume.

Ich kapier ja, dass Vivienne gern helfen möchte, weil ich hier gestrandet bin, ohne Vater, ohne Plan. Aber die Vorstellung, mit Eloise und ihrem miesen Gefolge Zeit zu verbringen, ist ungefähr so reizvoll wie die, mich mit dem Brotmesser zu erdolchen. Ich riskiere einen Blick zu Eloise, die ihre Mutter hasserfüllt anstarrt. Wenigstens darin sind wir uns einig.

»Das ist nicht nötig«, sage ich, zu laut. Ich schnappe mir ein noch warmes Croissant aus dem Brotkorb. »Ich mach mir nicht so viel aus … Ausgehen. Und – äh – ich bin ziemlich erledigt. Ihr wisst schon, vom Jetlag.« Als ich das sage, beginnt sich die Erschöpfung in mir breitzumachen.

»Na gut, dann warten wir einfach ab, wie du dich später fühlst«, sagt Vivienne zu mir, dann guckt sie wieder Eloise an. »Ihr geht doch ins Café des Roses auf dem Boulevard du Temps, non? Um welche Zeit?«, fragt sie ihre Tochter. Ich erinnere mich, dass der Taxifahrer den Boulevard du Temps die Einkaufsstraße genannt hat, obwohl ich es für das Beste halte, diese irrelevante Tatsache im Moment nicht kundzutun.

Eloises Gesicht läuft rot an. »So gegen neun«, presst sie durch die Zähne, als ob das Sprechen ihr Qualen bereiten würde. Sie funkelt Vivienne noch mal an, dreht sich um und stapft aus der Küche. Ich denke an meinen Streit mit Mom in unserer Küche, der so viele Stunden und einen Ozean weit weg ist.

»Ich muss mich für meine Tochter entschuldigen«, sagt Vivienne leise. Sie nimmt einen kleinen Bissen von ihrer Croissanthälfte. »Sie ist zurzeit … etwas gestresst.«

Stress? Was für ein Stress denn? Ist ihr die Haarspülung ausgegangen? Hat ein Junge sie nicht angelächelt?

Statt zu antworten, folge ich Viviennes Beispiel – ich schneide mein Croissant in zwei (ungleiche) Hälften und streiche Erdbeermarmelade auf beide Seiten. Die Marmelade ist süß und fruchtig, gespickt mit kleinen Kernen, und das Croissant ist perfekt, butterig und locker. Zumindest die kulinarische Seite meines Tages ist ein Erfolg.

»Eloise macht diesen Sommer einen Malkurs fürs Lycée – die Highschool«, fährt Vivienne fort und rührt mit einem Löffel in ihrem Kakao. Ich weiß nicht, ob das die Erklärung für Eloises Stress sein soll oder ob sie nur die Stille überbrücken will.

Ich nicke kauend. Ein kleines neidisches Kribbeln spüre ich jedoch, ich wollte schon immer mal einen coolen Sommerkurs machen. Aber meine stets praktisch veranlagte Mutter hat mich immer dazu ermuntert, mir einen Job zu suchen.

Apropos Job. »Oh«, ich schlucke, »ich sollte so eine Art Sommerassistentin für meinen Dad sein? Sie wissen doch sicher, wo sein Atelier ist?«

Vivienne nickt, sie wirkt zerstreut. Sie steht auf und geht zum Fenster. »Das da ist das Atelier.« Sie zeigt auf die rote Scheune, ihre Ringe funkeln im Sonnenlicht. Sie zieht eine Schachtel Zigaretten aus der hinteren Hosentasche und hakt das Fenster auf.

Ich will raus und mir dieses Scheunenatelier ansehen, aber mein Kopf ist so schwer. Es hagelt alles auf mich ein, die anstrengende Reise, Dads Abwesenheit, meine atemberaubende, aber fremde neue Umgebung. Wahrscheinlich ist es vierundzwanzig Stunden her, seit ich das letzte Mal geschlafen habe – oder noch länger? Ich kann jetzt nicht nachrechnen.

Ich will Vivienne fragen, wo das Telefon ist, damit ich Mom anrufen kann – und Dad, doch meine Frage geht in einem mächtigen Gähnen unter.

»Eh, bien, du musst dich ausruhen, non?« Vivienne dreht sich mit einer Zigarette zwischen den Fingern zu mir um. »Oben ist ein leeres Gästezimmer, neben la salle de bain, dem Bad.«

Ich frage mich, ob Dad ein Zimmer extra für mich vorgesehen hatte. Ist aber egal. Ich brauche nur ein Bett, in das ich fallen kann. Ich stehe auf, stelle mein Geschirr in die Spüle, bedanke mich bei Vivienne und hoffe, dass sie mir hilft, meinen Koffer nach oben zu tragen. Aber sie scheint in Gedanken zu sein, guckt aus dem Fenster und zündet sich ihre Zigarette an. Es stört mich, dass hier anscheinend alle rauchen. Mom würde das nicht gefallen.

Wie in Trance hole ich mein Gepäck aus dem Eingangsbereich. Gegenüber der Küche ist eine Wendeltreppe, die ich vorsichtig hochsteige, den Koffer lasse ich hinter mir herrumpeln. Die alten, ausgetretenen Stufen ächzen und stöhnen, und ich muss an Gespenster denken.

Oben ist dann klar, dass der Raum gleich links das Bad ist, die Tür ist zu und die Dusche läuft. Aber hinter dem Wasserrauschen höre ich noch ein anderes Geräusch: Jemand weint. Ein Mädchen.

Eloise? Warum weint Eloise? Ich empfinde einen Mix aus Besorgnis und Neugier und frage mich, ob hinter diesem Mädchen vielleicht doch mehr steckt, als es den Anschein hat.

Die Tür neben dem Bad steht weit offen, also gehe ich hinein, lasse mein Gepäck fallen und runzele die Stirn. Das muss das Gästezimmer sein. Es ist winzig, nur ein Doppelbett und eine wacklige Kommode. Die Wände sind kahl, bis auf einen Spiegel mit Sprung und ein großes Bild von einer Standuhr, die am blauen Himmel schwebt. Seltsam.

Wenigstens gibt es ein schmales Fenster, das zum Garten hinaus geht und Tupfen von Sonnenlicht und Blütenduft hereinlässt.

Einen Deckenventilator gibt es auch, ich bringe ihn mit einem Ruck an der Kordel in Gang. Die Rotorblätter drehen sich träge, ohne die abgestandene Luft groß aufzumischen.