Zweiter Angriff - Christian Gruböck - E-Book

Zweiter Angriff E-Book

Christian Gruböck

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Beschreibung

Michael Konter, der Held aus „Unbekannte Zone“, will die schrecklichen Ereignisse jener Tage endlich vergessen und zieht sich in seine Geburtsstadt Wien zurück. Doch schon bald stört ein mysteriöser Leichenfund die vermeintliche Ruhe. Konter wird als Spezialist für Übernatürliches in die Ermittlungen eingebunden. Er stößt mit seinen Theorien jedoch auf taube Ohren, bis eine unheimliche Selbstmordwelle die Welt in Panik versetzt. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Und so bildet sich um Konter ein kleines Team, das die Zusammenhänge um die mysteriösen Todesfälle mit ungewöhnlichen Mitteln untersucht. Doch die Rätsel scheinen vorerst unlösbar. Gab es etwa einen geheimen Befehl zum Massen-Suizid? Doch von wem sollte dieser kommen und zu welchem Zweck? Ist das erst der Anfang einer unfassbaren Bedrohung, die die Grenzen des bisher Vorstellbaren überschreitet? Was, wenn unser Planet gar nicht wirklich uns gehört …

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Impressum

1. KAPITEL

Wien 2015

Der Leichnam

Warten

Das Wunder

Konter

Berger

Besprechung am nächsten Tag

2. KAPITEL

Die Wohnung

Das Treffen – einen Tag später

Wollner und Konter allein

Unternehmen Röntgen

Spaziergang

Der Proband

Zugriff

Einvernahme

3. KAPITEL

Rick Morris

Das Telefonat

Das Gehirn

Schock

Eine andere Welt

Theorie

4. KAPITEL

Die Nachricht

Obduktion

Drei Tage später

Die Anderen

Die Zeitung

International

London

Wien – einen Tag später

München

5. KAPITEL

Vertrauen

Der Letzte

Kammerspiele

Liebe

Konters Wohnung

Der Befund

William und Mary

Mitternacht

Das Manöver

New York

6. KAPITEL

Aufruf

Rommer

Wollner

Forester

Die Jäger

Der Leuchtturm

Das Wiedersehen

Schlagzeilen

Schloss Schönbrunn

Das Killerkommando

Im Bunker

7. KAPITEL

Chaos

Showdown

Draussen

Konter

Berger

Himmel

Rommer

Forester

Am nächsten Tag in der Rossauer Kaserne

Vier Monate später

8. KAPITEL

Foresters Heimat

Jahrestag

Tiefgang

Angriff

Der Bluff

ZWEITER ANGRIFF

Christian Gruböck

Impressum

 

 

 

eISBN: 978-3-902900-90-6

E-Book-Ausgabe: 2015

2014 echomedia buchverlag ges.m.b.h.

Media Quarter Marx 3.2

A-1030 Wien, Maria-Jacobi-Gasse 1

Alle Rechte vorbehalten

 

Produktion: Ilse Helmreich

Layout: Brigitte Lang

Coverfoto: iStockphoto/eyenigelen

Lektorat: Christine Wiesenhofer

E-Book-Produktion: Drusala, s.r.o., Frýdek-Místek

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.echomedia-buch.at

1. Kapitel

Viele glauben nichts,

aber fürchten alles.

Christian Friedrich Hebbel

WIEN 2015

Alles dunkel – nie wieder Sonnenlicht!

Wir sterben – ohne Ausnahme – elendiglich, und langsam frisst uns diese endlose Dunkelheit auf!

Das Buch! Ich muss es schützen, denn sie werden es eines Tages brauchen, müssen es lesen – vielleicht kann meine Botschaft ja einige Leben retten.

Das werden die nie zulassen! Ich werde sterben wie alle anderen Menschen! Keiner auf der ganzen Welt wird es überleben!

Wenn ich das Buch an einen sicheren Ort bringen könnte?

Ich muss es versuchen und …

 

Michael Konter wachte auf. Die letzten Worte hatte er so laut herausgeschrien, dass er jetzt einen fürchterlichen Schmerz verspürte – einen Krampf im Kiefer. Wie ein Verrückter massierte er sich den Unterkiefer und drückte dabei beide Daumen tief in sein Fleisch. Der Schmerz ließ nicht nach, im Gegenteil, er wurde unerträglich und schien trotz seiner ­Bemühungen nicht aufhören zu wollen. Tränen schossen ihm aus den Augen. Er schob sich das kleine Holzstück, das er für solche Fälle neben dem Bett liegen hatte, in den durch den weiterhin anhaltenden Krampf ungewollt geöffneten Mund und versuchte mit aller Kraft zuzubeißen, den Mund zu schließen.

Unmöglich!

Schweißgebadet saß er mit dem Holzstück im Mund aufrecht in seinem Bett, und die Tränen liefen über seine Wangen. Die Bilder aus dem Traum waren noch immer da – nicht einmal dieser fürchterliche Schmerz vermochte sie zu löschen.

 

Langsam ließ der Krampf nun nach, und er begann, genüsslich an dem kleinen Hölzchen zu kauen, als wäre es feinster Kaviar. Einige Minuten blieb er so sitzen und massierte sich zusätzlich das Kinn. Nur nicht zu früh aufhören, sonst kommt der Krampf zurück.

Allerdings hatte es auch sein Gutes, dass er so unliebsam geweckt worden war: Er musste diesen schrecklichen und immer wiederkehrenden Traum nicht länger ertragen.

Wie oft hatte er ihn schon geträumt? Hundertmal? Öfter?

Und wie konnte man überhaupt so realistisch träumen – die Nachrichten im Fernsehen – die Folgen der ewigen Dunkelheit auf der gesamten Erde – alles bis ins kleinste Detail? So, als hätte er es tatsächlich erlebt.

Aus jetzt! Er wollte sich nicht unnötig weiter quälen und ging ins Badezimmer. Zeit für die Wirklichkeit: Er war in seine Geburtsstadt Wien zurückgekehrt, und ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihm diesen Umstand. Das Riesenrad war noch da – und das Wichtigste: Die Sonne strahlte vom Himmel! Der Anblick des gelben Balles beruhigte ihn. Langsam verabschiedeten sich die letzten Spuren des Traums und entließen ihn in das reale Leben. Wie hatte sein Großvater immer gesagt: Kein Nachteil ohne Vorteil!

Selbst diesem Albtraum war also ein positiver Aspekt abzugewinnen. Im Traum war sein Buch nämlich bereits fertig! Die Realität sah da leider etwas anders aus.

Konter hatte sich mittlerweile einer Katzenwäsche unterzogen und war im Bademantel in sein Büro gewandert, wo er auf den zugeklappten Laptop blickte. Wie ein Feind stand das Ding auf seinem Schreibtisch. Es waren knapp zwanzig Seiten abgespeichert, die er sowieso wieder löschen wollte. Er kam einfach nicht weiter.

Wenn man bereits das Absurde erlebt hat, wie sollte man da noch ein spannendes Buch schreiben? Die Erinnerungen an das Erlebte würden ihn wohl nie zur Ruhe kommen lassen. Fünf Jahre war es her, als die Zonen auf der Erde auftauchten und der Menschheit ihre Hilflosigkeit vorführten. Wir konnten es damals noch verhindern, aber wie lange würde es wohl dauern, bis …?

Jetzt nur nicht wieder zu grübeln beginnen und den Träumen neue Nahrung geben. Er machte sich seinen Frühstückskaffee. Dazu einen Toast mit Schinken und die Morgenzeitung, die wie immer vor der Wohnungstür lag. Gewohnheiten konnten einem oft sehr dienlich sein, um wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden.

Sei doch glücklich, alter Junge, sagte Konter zu sich selbst. Du bist doch der große Held gewesen! Dein Team hat die Welt gerettet! Grünberg hat man in Frankfurt sogar eine Statue gebaut – fast so groß wie der Eiffelturm. Wir haben es doch geschafft!

Viel hatte sich dadurch jedoch nicht zum Besseren verändert. Irgendwie enttäuschte das Konter heute noch, der sich doch ein Umdenken, ein Zusammenhalten der Staaten und ein Ende der sinnlosen Streitigkeiten und Kriege erwartet hatte. Schließlich hatte man gemeinsam einen großen Sieg errungen und die unbezahlbare Freiheit erhalten.

Aber der Mensch wird sich wohl durch keinen Umstand ändern. Konter ärgerte sich, dass er schon wieder zu grübeln begonnen hatte und versuchte, sich nun in die Zeitung zu vertiefen.

Den Kiefer massierte er sich noch immer.

Als Held relativ unerkannt zu leben – und das mitten in Wien –, das hat doch was, dachte er, als sein Blick auf einen Bericht über einen frechen Fotografen fiel. Dieser war in eine Privatvilla eingedrungen, um einen berühmten Schauspieler in seinem Swimmingpool zu fotografieren, nackt versteht sich! Sie hatten ihn zwar an Ort und Stelle verhaftet, aber die Bilder konnte er noch an seine Zeitung mailen.

Dafür kann man sich schon ein paar Tage einsperren lassen, Hauptsache, die Kassa klingelt, dachte Konter.

Den Sportteil! Heute wollte er nur den Sport lesen und sich nicht mehr länger mit seinen quälenden Gedanken herum­ärgern.

Er hatte gerade die Fußballergebnisse aufgeschlagen, als das Telefon summte.

 

Auf seinem Mobiltelefon leuchtete das Wort „Anonym“ auf dem Display. Seine Nummer hatten nicht viele Personen, und die wenigen waren eingespeichert. Eigenartig, vermutlich verwählt. Er meldete sich trotzdem: „Ja bitte!“

„Spreche ich mit Herrn Michael Konter?“

„Ja, wer spricht dort?“

„Entschuldigung, Chefinspektor Anton Berger vom Landeskriminalamt Wien am Apparat. Es war sehr schwierig, Ihre Nummer zu bekommen, und daher war ich jetzt ein wenig überrascht, dass es doch noch funktioniert hat. Sie leben wieder in Wien, hat man mir gesagt. Stimmt das?“

„Wer gibt denn so bereitwillig Auskunft über meinen Verbleib? Wenn ich eine Gegenfrage stellen darf.“

„Niemand. Es war nicht leicht zu erfahren, und ich habe mich persönlich ausweisen müssen, um diese Auskunft samt der Telefonnummer zu bekommen. Eine genaue Adresse von Ihnen habe ich allerdings bis dato nicht, und wenn Sie kein Interesse haben, ist dieses Gespräch sofort wieder vergessen und gelöscht. Das habe ich hoch und heilig versprechen müssen.“

„Keine Interesse woran?“ Konters Neugier war geweckt, und wer seine Nummer weitergegeben hatte, interessierte ihn nur noch beiläufig.

„Sie sind doch der Spezialist für unerklärliche Ereignisse, der die entscheidende Rolle beim Kampf gegen die Zonen gespielt hat, oder?“

„Ja, wenn Sie so wollen, aber …“

„Ich will gleich zur Sache kommen. Für den Ernstfall haben Sie der Polizei und den Geheimdiensten Ihre Unterstützung zugesagt. Stimmt das?“

„Ja.“

„Ich würde diese Hilfe gerne in Anspruch nehmen.“

„Ist etwa schon wieder eine Zone entstanden? Wo? Wie groß?“

„Nein, nein, so schlimm ist es bei Weitem nicht. Wir haben lediglich einen sehr dubiosen Leichenfund – hier in Wien. Also nicht sehr weit für Sie und …“

„Sie haben da etwas missverstanden, lieber Herr Berger. Ich bin nicht an normalen Straftaten interessiert und auch nicht darauf spezialisiert. Rufen Sie mich wieder an, wenn es sich um ein Phänomen handelt, das Sie sich auf realer Basis nicht erklären können. Darüber können wir gerne reden. Es tut mir leid und …“

„Nicht auflegen! Ich rufe Sie ja wegen einer solchen Sache an. Die Leiche – es handelt sich wie es aussieht nicht einmal um ein Verbrechen, sondern um einen Unfall – ist bereits in der Gerichtsmedizin. Es geht um den Zustand des Körpers – der ist nicht normal, wenn unsere Informationen stimmen, und ich dachte, Sie könnten …“

„Was heißt nicht normal?“

„Nicht zu hundert Prozent menschlich, keine Ahnung, wie ich es sonst ausdrücken soll, daher habe ich Sie ja …“

„Nicht am Telefon! Ich bin dabei! Holen Sie mich ab – wann können Sie hier sein?“

„Sie ändern aber schnell Ihre Meinung. Ich fahre gleich los, wenn Sie mir das Ziel sagen.“

Konter gab seine Adresse bekannt und hüpfte in die Kleidung des Vortages, die noch auf dem Boden verstreut lag.

Seinen Albtraum und die Schmerzen im Kiefer hatte er vergessen.

 

Sie fuhren Richtung Gerichtsmedizin und musterten sich gegenseitig. Trotz der etwas mitgenommenen Erscheinung Konters, der unrasiert, unausgeschlafen und in einem zerknitterten Anzug im Wagen saß, wirkte er neben dem Polizisten wie ein Dressman.

Berger war ein kleiner, untersetzter Mann, der offensichtlich wenig zu lachen hatte, dachte Konter, der selten solche schwarzen Ringe unter den Augen gesehen hatte. Richtige Furchen! Berger konzentrierte sich auf den immer stärker werdenden Morgenverkehr und rauchte eine Zigarette nach der anderen, ohne Anstalten zu machen, das Fenster zu öffnen.

Sie hatten sich die Hand geschüttelt, und Berger gab zu verstehen, dass er im Wagen noch nichts erklären wollte. Seitdem war kein einziges Wort mehr gefallen. Komische Situation, dachte Konter und öffnete das Beifahrerfenster, um Luft zu bekommen. Vermutlich hatte man Berger seine Teilnahme an der Untersuchung aufdiktiert, und dieser Mann hielt sehr wenig von Menschen wie ihn – die an Übersinn­liches glaubten. So war es schließlich meistens. Religionen ja, aber auf keinen Fall andere Erklärungen. Er hatte sich damit schon längst abgefunden.

„Wir sind da. Die Leiche ist kein schöner Anblick – aus dem zweiten Stock auf den Betonparkplatz geknallt. Der Tote ist daher ziemlich lädiert. Er dürfte nach ersten Erhebungen beim Fensterputzen ausgerutscht sein. Es gibt Zeugen. Aber Sie wird der Grund des Todes wohl weniger interessieren.“ Berger stieg aus und zündete sich die nächste Zigarette an. Er blies den Rauch genüsslich aus Mund und Nase, als er fortsetzte zu erklären: „Ein dreißigjähriger Mann, der allein gelebt hat, Filialleiter in einem Supermarkt, keine Vorstrafen – alles unauffällig. Er war allein zu Hause, und die Wohnung war von innen versperrt. Tragischer Unfall für die Akten, wenn da nicht eine Kleinigkeit wäre.“

„Würden Sie mir netterweise diese Kleinigkeit endlich mitteilen?“ Konter wurde ungeduldig.

„Die Leiche ist nicht komplett.“ Berger lehnte sich an den Dienstwagen, einen blauen VW Golf, und versuchte, nachdenklich zu wirken.

Konter folgte seinem Beispiel und lehnte sich neben ihn an den Wagen. Ohne eine weitere Information würde er sicher nicht in das Leichenschauhaus gehen. Soviel war klar.

„Was ist hier Ihrer Meinung nach nicht normal?“ Konter versuchte es mit einer einfachen und direkten Frage.

Zu seiner Überraschung bekam er eine klare Antwort: „Dem Toten fehlen der Magen und die Leber.“

„Wollen Sie mich verarschen?“ Nun war Konters Toleranz beendet.

„Nein, überhaupt nicht. Wir können außerdem jede Manipulation ausschließen. Unser Mann fiel gesund und munter aus dem zweiten Stock und starb an seinen Sturzverletzungen. Andere Verletzungen – wie etwa eine Schnittverletzung, die eine Entfernung der Organe schließlich hinterlassen hätte müssen – weist er nicht auf. Perverse Schweine, die an einer Leiche herumschnipseln, gibt es ja genug, und da habe ich schon sehr viel erlebt, aber der tote Mann da drinnen, Josef Trauner ist übrigens sein Name, hatte so wie es aussieht sein Leben ohne Magen und Leber zugebracht – wie auch immer.“

Konter blickte den Inspektor wie das achte Weltwunder an.

„Ich dachte, solche Sachen sind Ihr Spezialgebiet, und Sie werden mir das Ganze erklären können, nicht umgekehrt“, setzte Berger nach.

„Gehen wir rein.“

 

 

DER LEICHNAM

Berger hielt dem Gerichtsmediziner seine Marke regelrecht unter die Nase, da dieser gerade an einem Metalltisch an ­einer Leiche hantierte und ihn sonst gar nicht bemerkt hätte.

„Die Krankenschwester hat uns hereingelassen. Wir kommen wegen Josef Trauner – dem Fenstersturz. Das ist ein Kollege von mir.“ Berger deutete auf Konter und zwinkerte ihm kurz zu.

Konter nickte zustimmend.

„Ja, das ist schon eine komische Sache. Wollen Sie ihn sehen?“, erkundigte sich der Arzt, der es nicht der Mühe wert fand, sich vorzustellen, aber das hatte Berger ja auch nicht gemacht, wenn man voraussetzte, dass man die kleine Schrift auf dem Dienstausweis kaum in ein paar Sekunden lesen konnte.

„Ja, natürlich und Ihren Fachkommentar hätten wir auch gerne dazu.“ Berger versuchte zu schmunzeln, aber es misslang ihm kläglich.

„Folgen Sie mir, meine Herren.“ Der Arzt zog sich die Maske vom Gesicht und öffnete die Tür zum Flur, aus dem sie gerade gekommen waren. „Es ist der nächste Raum – kein schöner Anblick, aber ihr seid ja einiges gewöhnt.“

 

Josef Trauner muss ein gut aussehender Mann gewesen sein, dachte Konter, als sie ihn auf der herausgezogenen Metalllade betrachteten. Der hintere Teil der Leiche war nach Information des Arztes schlimm zugerichtet. Die Frontansicht hatte jedoch relativ wenig gelitten – daher konnte man den selt­samen Umstand noch erkennen.

„Dieser Mann stellt ein kleines medizinisches Wunder dar. Ich vermute allerdings, dass sich das noch auf natürliche Weise aufklären wird. Wie man einen Magen und eine Leber entfernen kann, ohne eine Narbe zu hinterlassen, ist mir zwar unerklärlich, aber das ist ja Ihr Problem.“

Der Arzt deckte den Leichnam komplett ab, und die restliche Vorderseite wurde sichtbar – zwar teilweise dunkelblau bis schwarz verfärbt und steinhart, aber von den Spuren des Aufpralls verschont. Eine Verletzung oder Narbe hätte man durchaus auch als Laie erkennen können. Es war aber keine da.

„Wie Sie sehen, unversehrter Bauchbereich. Hinten hat es ihn komplett zerfetzt – ich nehme an, dass Sie sich den Anblick ersparen wollen. Klarer Fall – natürlich sofort gestorben – Versagen aller Organe nach dem Aufprall. Wir haben trotzdem ein Röntgen gemacht und festgestellt, dass ihm Magen und Leber fehlen. Dieser Mann hatte keinerlei Operationen in diesem Bereich. Zusätzlich muss ich aufgrund meiner Erfahrung sagen, dass man diese Organe nicht einfach so entfernt. Über den Rücken ist es unmöglich, falls Sie diesen Gedanken haben sollten – da ist das Rückgrat im Weg. Also können Sie einen Organraub ausschließen. Es ist mir unerklärlich, wie diesem Mann die Organe entfernt wurden – es gibt keine Spuren, die in jedem Fall vorhanden sein müssten.“

„Danke, Herr Doktor, aber da der Tote unmittelbar nach dem Unfall gefunden wurde, können wir ein Manipulieren an der Leiche nach dem Sturz sowieso ausschließen. Wie lange kann man denn ohne Magen und Leber überleben?“ Berger betrachtete weiterhin den Leichnam.

„Das ist leicht zu beantworten. Gar nicht. Der Magen ist noch zu verkraften, aber die Leber ist ein lebenswichtiges Organ. Dieser Mann dürfte bis zu seinem schrecklichen Sturz recht gut gelebt haben, also wie ich schon sagte: ein kleines Wunder.“

„Wann schneiden Sie ihn auf?“ Berger wendete sich ab und nahm seine Zigarettenschachtel heraus.

„Morgen Vormittag. Ich wollte Ihnen vorher zeigen, dass dieser Körper keinerlei Verletzungen oder Narben im Bauchbereich aufweist und habe Sie deswegen gleich informiert. Heutzutage braucht man für alles eine Absicherung. Sonst heißt es noch, ich habe die Organe entfernt und auf dem Schwarzmarkt verkauft.“

„Sie sehen zu viele Kriminalfilme, Herr Doktor. Wo kann ich hier rauchen?“

„Draußen auf dem Flur“, antwortete der Arzt und wollte die Lade schließen.

„Moment noch!“ Konter beugte sich über den Kopf des Verstorbenen. „Sonst ist alles unauffällig bei dem Leichnam?“

„Bis auf die zerfetzte Hinterseite und den Umstand, dass Magen und Leber fehlen, ja, alles unauffällig. Genaueres erfahren Sie morgen.“

Nun machte auch Konter einen Schritt zurück, und der Arzt ließ die Lade wieder einrasten.

„Ihren Namen benötige ich noch“, ergänzte Berger beim Rausgehen. „Fürs Protokoll.“

„Doktor Ernst Himmel – hier ist meine Karte.“ Der Arzt reichte sie Berger.

„Passender Name für Ihren Job“, kam prompt der unpassende Scherz von Berger, und Himmel überhörte ihn diplomatisch. Konter folgte schweigend nach draußen.

Berger hatte wieder seine Lieblingsstellung – angelehnt an den Dienstwagen – eingenommen und blies andächtig den Rauch der Zigarette aus dem Mund. „Was meinen Sie? Schon eine komische Sache, oder?“

„Wir sollten auf das Ergebnis der Autopsie warten. Das Leben stellt oft alle unserer Fantasien in den Schatten, und daher bin ich vorsichtig, mich hier auf ein Wunder zu fixieren.“

„Sie meinen, der Typ verkauft Magen und Leber, lässt sie sich in der eigenen Wohnung ohne Spuren zu hinterlassen entfernen, räumt anschließend auf, sperrt ab und springt aus dem Fenster?“ Berger schüttelte den Kopf.

„Warten wir auf morgen. Wir wissen definitiv gar nichts – es gibt auch fehlerhafte Röntgenbilder. Bringen Sie mich noch zurück?“

„Wohin Sie wollen.“

„Nach Hause bitte.“

Es wurde wieder eine Fahrt ohne Worte. Vor dem Aussteigen tauschten sie ihre Daten aus und Berger versprach, sich zu melden, sobald es ein Ergebnis gab.

 

 

WARTEN

Konter saß am Schreibtisch und las zum zehnten Mal die zwanzig Seiten – seine Einleitung –, und er fand sie zum zehnten Mal zum Kotzen. Es belastete ihn diesmal nicht so sehr, da er mit seinen Gedanken ganz woanders war – nämlich bei einem gewissen Josef Trauner, der ohne lebenswichtige Organe gelebt hatte und jetzt im Leichenschauhaus lag.

Wenn Trauner an Krebs erkrankt war und nur noch ein Viertel des Magens besaß? Dieses Viertel wurde dann beim Röntgen schlampigerweise nicht aufgenommen – das Gleiche passierte bei der Leber. Die Narben der erfolgten Eingriffe wurden kosmetisch behandelt, weil Josef sehr penibel war und einen Schönheitschirurgen zum Freund hatte – und schon wäre wieder alles in Ordnung. Keine Utopie im Spiel.

Irgendwie wollte Konter aber nicht an diese Lösung glauben. Seine Intuition sprach eine eigene, sehr bestimmende Sprache, die sich selten irrte, und die flüsterte ihm ins Ohr:

Da tut sich etwas.

 

Konter schob den Laptop zur Seite, schreiben würde er heute sowieso nicht mehr. Er griff zu seinem Mobiltelefon und rief seinen Freund an. Wolfgang Hutter war erstens sein einziger Freund in dieser Stadt und zweitens praktischer Arzt mit einem großen Horizont – immer offen für seine Ideen.

Als Wolfgang sich meldete, legte Konter schon los: „Du musst mir ein paar Fragen beantworten, selbst wenn es dir komisch vorkommt“, begann er das Gespräch.

„Ich begrüße dich auch recht freundlich.“ Hutter lachte. Sie sahen sich zwar sehr selten, aber ihre Seelen mussten irgendwie verwandt sein. Die Chemie passte! Er kannte seinen Freund und wunderte sich schon lange nicht mehr über dessen direkte Art. „Schieß los.“

„Kann man ohne Magen und ohne Leber geboren werden und überleben? Kann man die Organe entfernen, ohne dass es bemerkt wird – ich meine im Speziellen die Narben? Wie lange lebt man ohne diese Organe?“

„Ohne Magen ist medizinisch einiges möglich – ohne Leber sieht es allerdings schlecht aus. Man kann auf Dauer nur mit einer Ersatzleber weiterleben. Mit der erkrankten Leber ist lediglich ein Verlängern der Lebensdauer medizinisch machbar, bis eine Spenderleber gefunden ist, aber da sprechen wir von Monaten. Dann ist es aus. Keine Leber zu besitzen, ist unmöglich. Die Bauchspeicheldrüse und die Galle sind direkt mit ihr verbunden. Diese Organe – um es verständlich auszudrücken – arbeiten alle zusammen, bevor unserer Nahrungsreste in den Dünndarm weitergeleitet werden. Ich will dir keinen medizinischen Vortrag halten, aber wofür …“

„Nein, das brauchst du auch nicht, das Wichtigste hast du mir schon gesagt. Es kann also kein Mensch ohne diese Organe existieren – er müsste zumindest einen Ersatz besitzen. Richtig?“

„Ja genau, aber warum willst du das wissen? Jetzt hast du mich neugierig gemacht!“

„Es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen, und wahrscheinlich ist das morgen schon hinfällig, aber eines noch: Könnte man diese Organe entfernen, ohne dass man auf der Körpervorderseite Spuren wahrnimmt?“

„Deine Anliegen und Gedankengänge waren mir schon immer ein Rätsel, aber heute übertriffst du dich. Die Leber ist die größte Drüse im menschlichen Körper – direkt unter der Lunge. Ohne die Körpervorderseite – wie du zu sagen pflegst – zu verletzen, ist es mit Sicherheit nicht machbar.“

„Kann man irgendwie ohne Magen und Leber eine Zeit überbrücken?“

„Du lässt nicht locker. Nein! Außer du hast einen Menschen gefunden, der nichts essen muss, um am Leben zu bleiben.“

„Danke, das wollte ich wissen. Wir treffen uns nächste Woche – ich melde mich, und dann erzähle ich dir die ganze Story – ich hoffe, bis dahin hat sich alles aufgeklärt. Danke für die Auskunft. Tschau mein Freund.“

Konter legte auf.

 

 

DAS WUNDER

Das Telefon weckte Konter, der ziemlich spät schlafen gegangen war.

„Bitte“, murmelte er verschlafen in sein Handy.

„Berger spricht, unser Arzt dürfte ein Fleißiger sein und eine Nachtschicht eingelegt haben – er hat schon ein Ergebnis. Das will er uns persönlich unterbreiten – muss doch was dran sein an der Sache. Ich hole Sie in einer halben Stunde ab, wenn’s recht ist.“

„Recht ist es mir zwar nicht, aber ich bin natürlich dabei“, stöhnte Konter. Er blickte auf die Armbanduhr: Acht Uhr morgens! Dieser Arzt nahm sein Geschäft anscheinend sehr ernst.

 

Als er die Haustür öffnete, erblickte er schon den blauen VW. Konter hatte nur einen Wunsch, und Berger hielt sich daran: Er rauchte während der Fahrt keine einzige Zigarette. Gesprochen wurde trotzdem nicht. Konter musste an das Schild in den Wagen der Wiener Linien denken: Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen.

Nach der Ankunft steckte sich Berger sofort einen Glimmstängel in den Mund. „Die Zeit haben wir noch“, kommentierte er seine Handlung und lehnte sich an den Wagen.

„Wissen Sie schon etwas?“ Konter wäre am liebsten gleich reingestürmt, aber das haben Raucher eben so an sich – sie nehmen sich sogar in den unpassenden Situationen ein Time-out, um ihre Lunge zu schädigen.

„Ich weiß nicht mehr als Sie. Wir erfahren alles vom Doktor live. Der macht das ziemlich spannend.“ Berger erlöste Konter und warf die halb gerauchte Zigarette weg. „Hören wir uns sein Ergebnis an!“

 

Diesmal fand die Unterredung nicht neben dem Leichnam, sondern in Himmels Büro statt.

Er begrüßte die beiden und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. „Wollen Sie ein Glas Wasser?“

Beide verneinten.

„Dann kommen wir zur Sache: Die Vermutungen sind zur Tatsache geworden. Josef Trauner starb definitiv an seinen Sturzverletzungen – sein Körper weist keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung auf. Keine Spuren von operativen Eingriffen. Außer einem Bänderriss am linken Bein dürfte er ohne Probleme über die Runden gekommen sein. Wie er allerdings dreißig Jahre alt werden konnte, ist mir ein Rätsel. Sein Magen und seine Leber wurden nämlich nicht entfernt – er hat nie welche besessen! Die Anschlussstellen zu den anderen Organen sind nicht vorhanden, wenn ich es einmal laienhaft ausdrücken darf. In diesem Körper gab es diese Organe niemals.“

„Soll das jetzt heißen, dass es ein Roboter war, oder wie hat er sonst gelebt?“, sprudelte es aus Berger heraus.

„Ich habe so etwas noch nie gesehen, und glauben Sie mir, ich kenne mich in meinem Fach sehr gut aus. Bis jetzt habe ich niemanden eingeweiht, da diese Information natürlich ein Fressen für die Medien wäre. Wir haben in Lade Nummer vierundzwanzig ein Wunder liegen.“ Himmel lehnte sich zurück und betrachtete den Chefinspektor, als wollte er sagen: Was machst du jetzt?

Berger zündete sich eine Zigarette an. „Darf ich?“

„Sie haben ja schon, ausnahmsweise.“ Himmel kippte das Fenster.

„Sonst ist alles menschlich?“ Konter stellte sich zum Fenster.

„Hundert Prozent.“

„Was ist, wenn er kein Essen zu sich genommen hat und stattdessen Tabletten – ich meine eine Art Astronautennahrung. Vom Babyalter bis heute keine herkömmlichen Nahrungsmittel, wie wir sie kennen. Würden sich dann eventuell die Organe, die man nicht benötigt, zurückbilden?“, wollte Konter in Erfahrung bringen und begann, auf und ab zu gehen.

Berger und Himmel beobachteten ihn, und es dauerte, bis der Arzt antwortete.

„Sie haben sehr abgehobene Fantasien für einen Polizisten. Jegliche Nahrung muss verdaut werden, Astronautennahrung ist da keine Ausnahme. Und die Idee, dass sich die Organe zurückentwickeln, die nicht gebraucht werden, ist unrealistisch. Dazu reichen dreißig Jahre Lebensdauer nicht aus. Da wären wir bei unserer berühmten Evolutionstheorie und sprechen von Zeitspannen von tausenden, wenn nicht Millionen Jahren!“ Himmel blickte Berger verwundert an. „Ihr Kollege ist ein kleiner Fantast.“

„Das ist kein Kollege – ich habe Sie angeschwindelt – das ist Michael Konter, ein Spezialist auf diesem Gebiet. Dieses Gespräch bleibt natürlich so wie alle bis jetzt in Erfahrung gebrachten Fakten in diesem Raum“, stellte Berger klar.

„Michael Konter – der Weltretter?“

„Konter genügt.“

„Jetzt ist mir alles klar – für Sie ist das ein neuer Angriff der Außerirdischen. Hoffentlich sind Sie nicht zu enttäuscht, wenn ich Ihnen sage, dass es sich hier eher um ein medizinisches Wunder handelt als um ein Alien.“ Himmel war offensichtlich kein Fan von Konters Theorien. Einer mehr.

„Ich habe nur laut nachgedacht und finde, dass wir nichts ausschließen sollten. Oder haben Sie schon eine passende Erklärung parat?“, entgegnete Konter.

„Nein, aber ich bin überzeugt, dass wir eine finden – weil es nämlich eine geben muss!“

Zwei Typen, die überhaupt nicht auf seiner Welle waren und eine Leiche aus der Zukunft! Konter wäre am liebsten wieder nach Hause gegangen – der Gedanke an den dort wartenden Laptop ließ ihn jedoch bleiben. Er setzte sich. „Bitte Ihre Theorie, Herr Doktor, ich bin ganz Ohr.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich schon eine habe“, stammelte Himmel kleinlaut.

„So kommen wir nicht weiter“, ergriff Berger das Wort. „Dieser Fall bleibt vorerst unter Verschluss. Ich werde meine Untersuchungen auf die Familie und das Umfeld des Toten konzentrieren. Wollen Sie uns helfen?“

Himmel nickte. „Natürlich bin ich mit im Boot.“

„Dann würde ich Sie bitten, ähnliche Fälle – falls es welche gibt – ausfindig zu machen. Egal wo auf diesem Erdball!“

Himmel nickte zustimmend.

„Ihnen brauche ich ja keine Tipps zu geben. Das ist schließlich Ihr Metier.“ Berger blickte auf Konter.

„Wie lange haben wir Zeit?“, fragte dieser.

„Wenn die Angehörigen mitspielen – bis zum Begräbnis. Dann ist unser Beweis sozusagen vernichtet.“

„Der Beweis wofür?“, wollte Himmel wissen.

„Dass der Tote kein Mensch war!“ Konter stand auf und schüttelte dem Arzt die Hand. „Wir sehen uns.“

„Ich bringe Sie wieder zurück“, bot sich Berger an.

„Nein, ich gehe zu Fuß, danke.“

Berger und Himmel blieben noch eine Weile.

 

 

KONTER

Die frische Luft und der Spaziergang brachten ihn wieder auf Touren. Die Strecke wäre er am liebsten gelaufen – ohne Sportschuhe war es jedoch undenkbar. Ein schneller Marsch würde es wohl auch tun. Abschalten und nochmals in Ruhe alles durchgehen.

 

Wenn er den Club einbeziehen würde, hätten sie im Handumdrehen die erforderlichen Informationen. Der verdammte Stolz! – Horst Weninger war noch immer der Boss des Vereins, und mit dem wollte er schließlich nie wieder etwas zu tun haben. Die Entscheidung war endgültig.

Wollner war eine Option – ob er wohl noch dabei war? Seine Telefonnummer müsste er noch haben. Komisch, dass man von einem sogenannten Jugendfreund, der einem so lange Weggefährte war, nichts mehr wusste. Sie hatten nie gestritten, und trotzdem war die Verbindung abgerissen – war es doch nur das gemeinsame Clubdenken, dass sie verbunden hatte? Das Leben geht eben seltsame Wege. Verschwiegen würde Wollner sicher damit umgehen und Weninger raushalten, wenn er ihn darum bat.

Waren das jetzt seine Sorgen?

Wie klein wir alle sind in unserem Denken! Im Kino kann uns die Utopie nicht weit genug gehen, und man diskutiert danach noch über den Inhalt des Films, als hätte sich tatsächlich gerade alles abgespielt. Die Wunder unserer Tierwelt akzeptiert man ebenfalls ohne Einwände – alles eine klare Sache. Geht es aber um die Akzeptanz eines Lebens außerhalb unseres Sonnensystems, wird man still und lächelt. Das ist zu viel des Guten. Wir wollen uns ja nicht lächerlich machen. Konters Gedanken kreisten, doch er verurteilte diese Denkweise seit jeher, und sie ärgerte ihn immer wieder. Die Menschen waren in diesem Punkt alle narzisstisch veranlagt und wollten außer ihrer eigenen Spezies nichts gelten lassen. Tiere stellten keine Gefahr dar, da sie sowieso nicht denken konnten, aber eine übergeordnete Intelligenz würde man nie und nimmer tolerieren, und daher war es besser, deren Existenz gar nicht erst zu anzunehmen.

Wir bekämpfen uns ja schon selber wegen ein paar Hek­tar Land oder einer anderen geistigen Haltung, egal ob politischer oder religiöser Natur. Der Horizont der Menschheit ist nicht größer als die unserer Zeichentrickfilmfiguren – alles im Rahmen des Erfinders. Haben wir überhaupt einen Erfinder? Gott? Wer hat eigentlich Gott erfunden?

War es ein Schriftsteller mit viel Fantasie, der einen guten Typen vermarktet hat? Einer, der tolle Tricks auf Lager hatte. Geht doch alles ziemlich einfach: Tabletten, die Wasser rot einfärbten und ein bisschen Überzeugungskraft, und schon glaubt man, es sei Wein aus Wasser geworden.

Der fantasievolle Schriftsteller begleitete nun diesen Zauberer auf Schritt und Tritt und machte eine gute Geschichte daraus. Dann verbreitete er die Story. So entstand Jesus! Das gefiel den Mächtigen nicht, und man kreuzigte den neuen Star. Dadurch wurde er unsterblich – vor allem in unseren Aufzeichnungen und in einem speziellen Buch – der Bibel! Unser Schriftsteller ist vermutlich unerkannt und ohne Ruhm irgendwo verhungert – wen kümmert es? So läuft es doch bis heute. Die Medien haben die Macht, und niemand stemmt sich dagegen. Alles auslöschen – unser gesamtes erlogenes System. Neu anfangen und ehrliches Denken und Handeln zulassen – die Liebe und die vielen Wege, glücklich zu werden, endlich zu leben! Das wäre die echte Option. Ja, das hätte einen Sinn!

Hoffentlich erlebe ich es noch, wenn sie kommen. Ich will sie kennenlernen, mit ihnen sprechen. Dann hätte doch noch alles einen Zweck, dem wir dienen. Bitte, lass uns nicht so sinnlos krepieren. – Lieber Gott, es gibt dich zwar nicht, aber lass es nicht zu!

Konter war erschöpft, nicht wegen des Marsches, sondern wegen der Gedankenflut, die ihn überfallen hatte.

 

Er war zu Hause angekommen – durchgeschwitzt und aufgeregt, als hätte er gerade seine Rolle als Hauptdarsteller bei einer Premiere mit tausenden Zusehern hinter sich gebracht.

Was soll sich denn noch ändern? Nichts wird passieren. Warum sollte es ausgerechnet beginnen, wenn ich im Spiel bin – in Wien, meiner Stadt? So einen Zufall gibt es nicht – das ist ein medizinischer Irrtum, und morgen ist alles wieder vergessen.

Er legte seine Lieblings-CD von Georg Danzer ein und stieg unter die Dusche.

 

 

BERGER

Der Akt Josef Trauner lag vor ihm. An und für sich wäre es nichts Besonderes, dass dieser Mann keine Angehörigen hatte, aber in diesem speziellen Fall verschlimmerte es doch die Situation.

Berger ging den Akt nochmals durch – seine Leute hatten gute Arbeit geleistet, daran gab es nichts zu rütteln. Das Resultat gefiel ihm leider nicht: Eltern verstorben, keine Geschwister, keine weiteren Verwandten, seit drei Jahren in Wien als Hauptmieter gemeldet, unbefristeter Mietvertrag, zugezogen aus Niederösterreich, die dortige Wohnung aufgegeben – das war alles stinknormal, und genau das störte ihn irgendwie. Überhaupt kein Ansatzpunkt, keine Kontaktperson, kein Freund.

In Wiener Neustadt, wo er vorher wohnte, arbeitete er in einem Supermarkt als Verkäufer und setzte seine Karriere, wenn man so will, hier in Wien bei der gleichen Firma fort – als Filialleiter. Immer pünktlich und nie krank, aber mit keinem Kollegen befreundet, und auf der Weihnachtsfeier seiner Firma glänzte er durch Abwesenheit. Keine Erzählungen über sein Privatleben.

Der Hausmeister, die Nachbarn, seine Arbeitskollegen, sein Chef, sogar sein Friseur – immer die gleiche Aussage: Privat hat er nichts von sich erzählt.

Warum Berger diese Fakten genügten, um diese Anweisung zu geben, konnte er sich selbst nicht erklären, aber nun war es eben passiert. Reisepass und Führerschein von Trauner waren zur Überprüfung geschickt worden, aber nicht zur üblichen, sondern zu den speziellen Profis, die im Normalfall erst bei grobem Verdacht auf ein Verbrechen eingeschaltet wurden. Das blöde Reden über sein Vorgehen musste er halt ertragen. Die Kommentare der Kollegen waren ihm im Laufe der Jahre sowieso egal geworden. Er wollte keine Fehler machen – und schon gar nicht vor dieser Kultfigur Michael Konter.

Das Ergebnis müsste jede Sekunde zur Tür hereinflattern, und er war angespannt.

Oskar Schlemmer, ein alter Hase, brachte die Nachricht persönlich: „Das ist ein simpler Fenstersturz ohne Fremdverschulden, oder?“, begrüßte er seinen Freund und Kollegen.

„Ja, ich hatte meine Gründe, glaube mir. Tut mir leid, dass ihr da umsonst tätig werden musstet“, entschuldigte sich Berger.

„Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich dachte nur, dass es irgendwie nicht ins Bild passt. Der Junge war doch unbescholten?“

„Wie ein weißes Blatt.“

„Das sind nämlich Spitzenfälschungen – so was habe ich schon lange nicht mehr in der Hand gehabt. Fast hätten wir sie als echt gefressen.“

„Bitte? Fälschungen? Was ist gefälscht?“

„Du wunderst dich? Das musst du doch erwartet haben, wenn du uns persönlich beauftragst.“

„Ich hatte meine Gründe und wollte mich absichern, aber ehrlich gesagt habe ich es nicht erwartet.“

„Du wirst schon wissen, was du machst, und schließlich war es die richtige Entscheidung. Es sind Totalfälschungen, Reisepass und Führerschein – wie gesagt, perfekte Arbeit. Muss ein hohes Tier in der Unterwelt gewesen sein – diese Qualität kostet Unsummen!“

„Trauner war in keiner Unterwelt – diesbezüglich gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte!“, platzte es aus Berger heraus.

„Warum dann die Sonderbehandlung?“

„Ich darf nichts darüber sagen, tut mir leid.“

„Passt schon. Ich bin nicht neugierig. Brauchst du noch was, oder genügt dir mein Bericht? – Ich habe die Details zur Fälschung alle angeführt.“