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Gänsehautmomente, Gefühlschaos, Zirkusluft und die erste große Liebe
Geld weg, Haus weg, Zukunft weg – von einem Tag auf den anderen steht die 15-jährige Lena vor dem Nichts. Als wäre das nicht genug, taucht ausgerechnet jetzt der neue Mitschüler Maik auf und stürzt ihr Herz endgültig ins Chaos. Da ist es gut, eine tiefenentspannte Freundin wie Natti an der Seite zu haben, und auch das flippige Zirkusmädchen Jo wird in Lenas Leben eine größere Rolle spielen, als sie anfangs vermutet.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Autorin Tara Riedman
Zweites Leben, zweites Glück
Impressum
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Epilog
Und heute fällt der erste Schnee
Schnee sei Dank
10 STORIES of life
Mit Lina und Leo durch den Advent
Über die Autorin
Menschen liegen Tara Riedman am Herzen. Bereits in jungen Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für den asiatischen Kampfsport und den damit verbundenen Lehren der inneren Stärke. Sie ist überzeugt, dass in jedem etwas Großes schlummert, deshalb unterstützt sie Frauen und Mädchen im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung und des Selbstschutzes.
Darüber hinaus ist Tara Riedman als freie Online-Redakteurin, Texterin und Buchautorin tätig. Zuvor verbrachte sie einige Jahre im Projektmanagement eines Großunternehmens, doch glücklich war sie dort nicht. 2014 kehrte sie der Konzernwelt endgültig den Rücken und arbeitet seitdem in ihrem Wunschberuf. Sie ist der Erkenntnis gefolgt, dass in jeder Veränderung eine Chance steckt, selbst wenn der Sprung über den eigenen Schatten manchmal ordentlich Anlauf braucht. Viele Menschen sehnen sich nach Freude und Lebenssinn. Den Suchenden spricht sie Mut zu. Mut, ihren persönlichen Weg zu finden – und ihn dann auch wirklich zu gehen.
Tara Riedman wurde im Herbst 1974 geboren und lebt gemeinsam mit ihrer Familie im schönen Rheinland.
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Jugendroman
von Tara Riedman
Impressum
5. Auflage
© 2021 Tara Riedman
Tara Riedman
c/o MedienTeam Verlag GmbH & Co. KG
Hitdorfer Straße 35
40764 Langenfeld
Umschlaggestaltung: Tara Riedman
Bildmaterial: colourbox / pixabay
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Alle handelnden Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
1
Niemand hat nur ein Leben, davon bin ich fest überzeugt. Es gibt Einschnitte, die alles verändern. Entweder treffen sie dich wie ein Blitzschlag oder sie schleichen sich lautlos an und nisten sich unbemerkt immer tiefer bei dir ein. Doch egal, wie es passiert: Danach ist nichts mehr so, wie es vorher einmal war. Alles, was du bis dahin kanntest, hat plötzlich keine Gültigkeit mehr. Es ist dein Tag null – der Start in ein völlig neues Leben. Das kann gut oder schlecht sein. Mein erster Tag null begann mit meiner Geburt, auf die ich logischerweise wenig Einfluss hatte. Aber am 30. Januar letzten Jahres war ich schon 14 und hätte langsam eine Art Mitspracherecht darüber haben sollen, wie meine Zukunft aussieht. Vielleicht wäre ich an diesem Tag besser mit dem Hintern im Bett geblieben. Keine Ahnung, ob das etwas geändert hätte. Zumindest hätte ich meine Eltern nicht belauschen können und vielleicht wäre dann doch alles anders gekommen. Jetzt denkst du vielleicht, es war so ein Morgen, an dem du mit dem falschen Bein zuerst aufstehst, und deshalb alles schiefläuft, was schieflaufen kann. Nicht, dass mir solche Tage fremd wären – ich kenne sie sogar um einiges besser, als mir lieb ist, das kannst du mir glauben. Aber dieser war schlimmer. Viel schlimmer. Es war nämlich der Tag, an dem alles kaputt gegangen ist, was mir bis dahin wichtig gewesen war. Bis heute wünsche ich mir in jeder verdammten Minute, ich könnte ihn einfach aus dem Kalender streichen und so tun, als hätte es ihn nie gegeben. Ja, klar. Natürlich weiß ich selbst, dass das nicht funktioniert. Und wahrscheinlich hätte in meinem Fall sowieso die ganze Stadt – oder sicherheitshalber die komplette Welt – lahmgelegt werden müssen, um mit dieser Theorie auch nur im Ansatz erfolgreich zu sein. Eigentlich ging das Drama auch schon viel früher los, nur ist es uns zu dem Zeitpunkt eben um die Ohren geflogen. Meine Mum meint, dass es ohnehin irgendwann so weit gekommen wäre. Wenn nicht heute, dann eben morgen. Und dass weder ich noch meine Schwester Nike schuld daran seien, sondern ausschließlich mein Vater. Einmal Lügner, immer Lügner, hat sie gesagt. Aber ist das wirklich so? Stehen wir nicht alle immer wieder aufs Neue vor der Wahl, welchen Weg wir einschlagen?
***
Ich liege auf dem Bett und fahre mit dem Finger über den Aufkleber an meiner Wand. Er ist achteckig, rot mit weißem Rand und in der Mitte steht in großen Buchstaben »Lena« geschrieben – das bin ich. Der Sticker sieht aus wie ein Stoppschild und gehört damit eigentlich eher an die Außenseite meiner Zimmertür, damit jeder direkt Bescheid weiß, wie es hier läuft. Seufzend ziehe ich mir die Decke bis zum Hals hoch, rolle nach links und starre auf die hellgrün gestrichene Wandfläche. Grün ist meine Lieblingsfarbe. Ich erinnere mich, dass ich zu meinem sechsten Geburtstag ein neues Fahrrad bekommen habe. Meine Mum war ein paar Wochen vorher mit mir in einem riesengroßen Laden gewesen, wo ich mich auf gefühlte dreihundert Räder geschwungen habe, bis die richtige Farbe, Form und Größe gefunden war. All meine Freundinnen fuhren zu der Zeit in Pink, Rosa oder zur Not auch in Lila durch die Siedlung. Keine Frage, meins musste grün sein. Grün ist anders und ich mag anders. Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich heute noch Mums ungläubigen Gesichtsausdruck vor mir. Sie hat die gleichen graublauen Augen wie ich. Oder besser gesagt: Ich habe die gleichen graublauen Augen wie sie. So herum passt es wohl besser, schließlich war sie zuerst da. Mit leuchtendem Blick hat sie mich angeschaut und gestrahlt wie die Sonne am heißesten Tag des Jahres. Ich vermisse dieses Lachen. So habe ich sie schon ewig nicht mehr gesehen. »Mein kleines Mädchen«, hat sie gesagt und zufrieden genickt. »Du hast einen wirklich guten Geschmack.«
Es ist kurz vor halb sieben. Mein Wecker hat noch nicht geklingelt, also kann ich mir beim Anziehen Zeit lassen. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben und mich nicht von der Stelle bewegen. Nie mehr. Was wartet da draußen schon auf mich? Wir wohnen jetzt seit über einem Jahr in dieser Bude. Das ist weder an mir noch an meiner hellgrünen Wand spurlos vorbeigegangen. Mittlerweile hat sie dreckige Flecke – sieht ein bisschen wie schimmeliger Käse aus. Früher hatte ich öfter das zweifelhafte Vergnügen, verdorbene Lebensmittel im Kühlschrank zu finden. Ich weiß also ziemlich gut, wie so etwas aussieht. Heute ist dagegen nicht mehr viel zum Verderben da. Damals ließen die Türen sich kaum schließen, wenn Mum vom Einkaufen kam – jetzt herrscht gähnende Leere. Wir kaufen halt nur das Nötigste. Selbst nach der ganzen Zeit fühlt sich das alles immer noch unwirklich an. Da gehe ich abends mit einem Leben ins Bett, das keine Ähnlichkeit mehr mit dem vom Morgen hat. Es ist einfach da und ruft: »Hallo, hier bin ich! Und jetzt sieh zu, wie du mit mir klarkommst.« Es taucht ebenso ungefragt auf wie ein neuer Pickel beim morgendlichen Blick in den Spiegel. Will jemand wissen, ob ich das möchte? Natürlich nicht! Ich bin 15 – habe ich denn gar keine Rechte?
Von den Veränderungen der letzten Monate ist übrigens nicht nur unser Kühlschrank betroffen. Alles in der neuen Wohnung ist mit totaler Leere infiziert. Daran werde ich mich auch in hundert Jahren nicht gewöhnen – genauso wenig wie an den Inhalt meines Kleiderschranks. In dem Fall liegt das Problem allerdings ganz woanders. Es ist nämlich keinesfalls so, dass nicht genug drin wäre. Doch leider gehen mir die Ärmel meiner Shirts nur noch bis zur Mitte des Unterarms und die meisten langen Hosen sind mit viel gutem Willen höchstens noch im Sommer als Dreiviertel-Version zu tragen. Mit dem Nachkaufen ist das so eine Sache, denn dafür braucht man bekanntlich Geld. Geld, das wir nicht mehr haben. Geld, das mein Vater in einem Anflug von Größenwahn verzockt hat. Womit wir wieder bei dem Tag angekommen sind, der mich mein bis dahin schönes und weitgehend sorgenfreies Leben kosten sollte.
***
Vor genau 484 Tagen, 10 Stunden und 45 Minuten ging ich die Treppe vom ersten Stock unseres Einfamilienhauses hinunter ins Wohnzimmer, die leere Wasserflasche in der einen Hand und mein blaues Mathebuch in der anderen. Es war schon spät und ich hatte die Hausaufgaben immer noch nicht fertig. Den ganzen Nachmittag war ich bei meinem Pflegepferd Polly auf dem Krügerhof gewesen und hatte darüber wieder einmal die Zeit vergessen. Eigentlich war Polly nur ein Teilzeit-Pflegepferd, das ich mir mit Mia und Katja teilte. Für einen Tag in der Woche hatte ich die kleine braune Stute aber ganz für mich allein. Wenn das Wetter mitspielte, machte ich einen Ausritt in den Hapelrather Wald, der ungefähr zweihundert Meter hinter dem Stall beginnt. Jedes Mal, wenn Pollys Hufe den erdigen Boden betraten und die friedliche Stille des Waldes sich um uns legte, lösten sich alle schlechten Gedanken in Luft auf. Im Sommer, wenn die Sonne vom Himmel brannte, war es im Schutz der Bäume angenehm kühl, im Winter machten sie die Kälte erträglicher. Doch auch die schönste Zeit endet irgendwann und spätestens zu Hause hatte die Wirklichkeit mich gnadenlos eingeholt: Ein Blick zu meinem Schreibtisch und den darauf liegenden Heften genügte meist. So war es auch an diesem Tag. Also eigentlich ein Mittwoch wie jeder andere – dachte ich bis dahin. Ich gab mir mit den Matheaufgaben alle Mühe, trotzdem hakte es an einer Stelle und ich wollte Dad um Hilfe bitten. Auf dem Weg nach unten hörte ich, wie meine Eltern sich in der Küche unterhielten. Es war nicht mehr als ein Flüstern durch die geschlossene Tür, doch Mum klang trotz des bemüht leisen Tons aufgebracht. Ich blieb stehen und versuchte, etwas von den Wortfetzen aufzuschnappen, war aber zu weit weg. Vorsichtig setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf die Holzstufen, die leider die dumme Angewohnheit hatten, an einigen Stellen fürchterlich zu knarren. Wenn ich unbemerkt hinunterkommen wollte, musste ich die Füße an ganz bestimmten Punkten aufsetzen. Gut, dass ich den Weg in den letzten Jahren fast zur Perfektion gebracht hatte. Bis heute ist mir nicht ganz klar, warum ich die Tür nicht einfach aufgemacht habe und reingegangen bin. Stattdessen schlich ich wie eine Diebin in unserem eigenen Haus herum. Es muss tatsächlich so etwas wie einen sechsten Sinn geben, denn in dem Augenblick, als ich auf der Treppe stand, ahnte ich schon, dass irgendetwas nicht stimmte. Nachdem ich nah genug herangekommen war, hörte ich Mum hinter der Glastür. Ihre Stimmlage brachte meine Nackenhaare in einer Millisekunde dazu, sich kerzengerade aufzurichten. Mein Anblick in diesem Moment kam dem einer Katze, der man aus Versehen auf den Schwanz getreten ist, wohl am nächsten.
»Wie konntest du uns das nur antun, Thomas?«, zischte Mum. »Kannst du mir bitte sagen, wie es jetzt weitergehen soll? Fangen wir wieder von vorne an? Auf dem gleichen Stand wie vor 20 Jahren?«
Ich hörte sie tief durchatmen, bevor ihre Lautstärke sich hochschraubte und sie ihn anschrie: »Verdammt, jetzt mach endlich den Mund auf und sag mir, wie schlimm es wirklich ist!«
Dad räusperte sich. »Ich fürchte, wir werden das Haus nicht halten können«, stieß er schließlich hervor.
Dem Geräusch nach zu urteilen, ließ Mum sich daraufhin stöhnend auf einen Küchenstuhl fallen.
»Das kann nicht dein Ernst sein! Hast du bei deiner ganzen Zockerei zwischendurch auch mal an die Kinder gedacht? Hast du dir auch nur für eine Minute vorgestellt, was passiert, wenn es nicht so läuft, wie geplant?«
»Sandra, was hätte ich denn machen sollen?«, antwortete Dad in nicht weniger gereiztem Ton. »Und was heißt überhaupt Zockerei? Du tust so, als hätte ich das alles nur für mich getan, weil ich den Hals nicht vollkriegen kann. Nachdem mein Job weg war, hätten wir den Hauskredit nicht mehr lange bedienen können. So hatten wir wenigstens die kleine Chance, es mit dem Börsengewinn zu behalten.«
»Gewinn. Ich verstehe immer Gewinn. Alles verloren hast du. Und was du hättest tun sollen? Vielleicht mit mir reden. Wie wär es damit gewesen? Auch, wenn in den letzten Jahren nicht immer alles rund zwischen uns gelaufen ist, dachte ich, dass wir so wichtige Dinge besprechen würden. Und zwar bevor du unser ganzes Geld zum Fenster herausschmeißt. Das betrifft nicht nur dich, Thomas, sondern uns alle. Herrgott, wie soll ich dir jemals wieder vertrauen?«
Daraufhin sagte Dad gar nichts mehr. Mum auch nicht. Die Stille war unerträglich, sie tat mir beinahe körperlich weh. Übelkeit breitete sich in meinem Magen aus und fraß sich Stück für Stück durch mich hindurch. Mein Puls raste und trotz der kühlen Luft schwitzte ich fürchterlich. In meinem Kopf herrschte ein völliges Durcheinander, kein klarer Gedanke drang mehr zu mir durch. Das Mathebuch rutschte mir im Zeitlupentempo aus der Hand und landete mit einem lauten Knall auf dem Fußboden. Fassungslos starrte ich es an, wie es dort hilflos und allein im Flur lag – genau so, wie ich mich in dem Augenblick fühlte. Sollte ich mich beim Lauschen erwischen lassen oder lieber schnell den Rückzug in mein Zimmer antreten? Die Entscheidung wurde mir abgenommen. Die Küchentür flog auf und meine Eltern standen vor mir, offensichtlich schwer erschüttert darüber, dass ich nun über alles Bescheid wusste. Als dann noch weitere unschöne Dinge herauskamen, die unter anderem etwas mit Dad und einer anderen Frau zu tun hatten, war endgültig alles vorbei. Mum flippte total aus, so hatte ich sie wirklich noch nie erlebt. Danach ging alles recht schnell. Wild entschlossen packte sie mich, meine Schwester und ein paar Klamotten ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen los ins Münsterland zu Oma Ruth – die Mum meiner Mum. Ich drehte mich um und schaute durch die Heckscheibe. Unser schönes Haus und die bunten Hortensien im Vorgarten wurden immer kleiner, bis wir schließlich um die Ecke bogen und sie ganz verschwanden. Plötzlich war ich mir sicher, dass ich sie in dieser Blütenpracht niemals wiedersehen würde.
***
Meine Oma wohnt in einer kleinen Gartenwohnung auf dem platten Land. Eine schöne Wohnung für Oma allein, aber mit vier Personen platzte sie leider schon bei unserer Ankunft aus allen Nähten. Abgesehen davon, dass wir Großmutters gut gemeinten Lebensweisheiten so zusammengepfercht gar nicht mehr entkommen konnten. Sprüche wie: »Es sind die Augenblicke, die zählen, nicht die Dinge« oder »Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen« oder »Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht« und was weiß ich noch alles. Mehr davon konnte ich mir beim besten Willen nicht merken. Das war auch nicht weiter schlimm, denn ich verstand ja nicht einmal genau, was sie uns damit sagen wollte. Zu allem Überfluss mussten wir alle gemeinsam mit Matratzen auf dem Boden schlafen – außer Oma, sie hatte natürlich ihr Bett. Dass so keine Dauerlösung aussehen konnte, war schnell klar. Wir brauchten eine neue Bleibe. Als wir an dem Abend in Omas Hofeinfahrt eingebogen waren, roch es nach Pferdemist. Das erinnerte mich einerseits vertraut an den Krügerhof und meine schöne heile Welt. Andererseits warf der Geruch auch die weniger angenehme Frage auf, inwieweit mein Leben sich nun wohl verändern würde. Kein Geld mehr zu haben, hörte sich erst mal nicht wirklich gut an. Was genau das aber bedeutete, hätte ich mir in meinen übelsten Albträumen nicht schwärzer ausmalen können. Es war, als hätte ich die Tür zu einer riesigen Halle geöffnet, und darin war nichts als Leere, Staub und Einsamkeit. Ich musste so viel aufgeben, was mir wichtig war, und sogenannte Freunde verhielten sich plötzlich, als wäre ich mit einem pinken Raumschiff vom Mars gelandet. Warum, werde ich wohl nie verstehen. Schließlich war ich genau dieselbe Lena wie vorher – nur eben ohne Kohle.
2
Der Wecker klingelt mich aus meinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit – in mein Bett und vor die dreckige grüne Wand. Ich kann mich nicht entscheiden, was schlimmer ist. Mir fallen die Farbreste im Keller ein, die von der Renovierung im letzten Jahr übrig sind. Ich erinnere mich gut daran, dass Mum die schlaue Idee hatte, etwas von der Farbe für spätere Ausbesserungen aufzuheben. Damals war ich schwer beeindruckt, dass sie in ihrem Gefühlschaos dafür überhaupt noch einen Blick hatte. Nachher hole ich den Eimer rauf und bearbeite die Schandflecke. Wenn nicht ich, wer dann? Nachdem Mum anfangs sehr tough und beinahe unmenschlich stark war, hat sie mittlerweile den Großteil dieser Kraft verloren. Monatelang bemüht sie sich nun schon um einen ordentlich bezahlten Job. Büroarbeit – das was sie früher eben so gemacht hat, bevor wir Kinder kamen. Aber mit jeder Absage steckt sie den Kopf ein Stückchen tiefer in den Sand und zieht sich weiter zurück. Es kommt für sie nicht infrage, beim Sozialamt um Unterstützung zu bitten. Jede Andeutung in die Richtung macht sie nur noch trauriger. Also bleibt ihr keine andere Wahl, als uns mit Aushilfsjobs über Wasser zu halten. Den ganzen Tag lang ist sie unterwegs und abends natürlich fix und fertig. Dadurch hat sie weder den Kopf noch die Augen und Ohren für meine Probleme. Eigentlich sehen wir uns nur noch an den Wochenenden, wenn ich nicht gerade zu meinem Vater muss. Das zieht mich zwar ordentlich runter und ich fühle mich oft alleingelassen, trotzdem mag ich ihr das nicht sagen. Sie hat genug Probleme und ich komme schon zurecht. Früher haben wir immer zusammen gefrühstückt – damals, in unserem ersten Leben. Jetzt ist sie längst unterwegs, wenn ich aufstehe.
Meine Schwester hat es gut. Nike ist fünf Jahre älter als ich und kaum hatte sie ihr Ausbildungszeugnis zur Schneiderin in der Tasche, ist sie ausgezogen. Jetzt geht sie nach der Arbeit zur Abendschule und macht ihr Abi nach, dann will sie sogar studieren. Das ist schon ziemlich cool. Und ich? Was ist mit mir? Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keine Ahnung, wie es nach der Schule weitergehen soll.
Seit zwei Monaten wohnt Nike in einem kleinen Apartment in der Nachbarstadt. Trotz des Altersunterschieds verstehen wir uns ziemlich gut und ich würde sie gern öfter besuchen. Allerdings ist es mit dem Fahrrad ein verdammt weiter Weg: Mindestens eine Stunde, wenn es gut läuft. Und Bus und Bahn kosten – na, was wohl – Geld. Bleibt also nur das gute alte Telefon übrig.