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Die Heldin der Geschichte heißt Lilli Espenlaub. Sie ist ein zwölfjähriges Mädchen, dessen Eltern sich gerade getrennt haben. Seither hat sie Probleme in der Schule. Ein herausragendes Merkmal von Lilli ist es, dass sie – wenn es ihr schlecht geht – wie besessen Geige übt. Dann kann sie alles andere vergessen. Lilli spielt, ohne dass ihre Mutter davon weiß, Geige auf der Straße, um Geld für ein ungewöhnliches Weihnachtsgeschenk zu verdienen: Sie möchte ihrer Mutter eine Geschirrspülmaschine schenken. Dabei lernt sie den Obdachlosen Johann kennen, der sie mit seltsamen Andeutungen in den Bann einer unglaublichen Geschichte zieht. Unter der Stadt gibt es unterirdische Gänge aus der Zeit der mittelalterlichen Stadtbefestigung. Diese haben sich wieder mit Leben gefüllt. Ein Aufstand der märchenhaften Erdbewohner, der Zwerge, Kobolde und Wassergeister steht bevor. Aber auch über der Erde sind unheimliche Veränderungen im Gange: Es gibt keine Spatzen mehr, dafür beginnen immer mehr Krähen und Elstern die Stadt zu bevölkern. Da Lilli nicht nur ein musisch begabtes, sondern auch ein sehr neugieriges Mädchen ist, stößt sie auf ein Geheimnis, das sie in große Gefahr bringt. Sie erfährt von den skrupellosen Machenschaften des Telefonunternehmens Telecash. Das Unternehmen erprobt in der Stadt eine neue Mobilfunkantenne für dreidimensionales Handyfernsehen. Die Strahlen dieser Antenne haben unter anderem die Spatzen vertrieben und verhindern, dass sich Zwerge und anderen Märchengestalten wieder unsichtbar machen können. In dem Vorstandvorsitzenden von Telecash, Dr. Eusebius Stein, findet Lilli einen genialen, machtbesessenen Gegenspieler. Aber auch den Aufstand der verzweifelt entschlossenen Märchenwesen gilt es zu verhindern. Lilli entdeckt einen geheimen Zugang zur unterirdischen Welt der Zwerge. Abends in ihrem Zimmer im Bett liest sie regelmäßig im Märchenbuch ihrer Mutter und stellt fest, dass sich die Handlung des Märchens „Schneewittchen“ jedes Mal verändert. Geheimagenten verfolgen Lilli. – Johann wird entführt. – Lillis Geige wird gestohlen. - Kurz vor dem dramatischen Höhepunkt befreit Lilli ihren Gegenspieler Dr. Eusebius Stein aus den Händen der Zwerge und erfährt von einer„bösen Königin“ als der wahren Initiatorin der gefährlichen Situation. Sie erhält ihre Geige wieder und leitet damit eine Wende ein. Doch wird sie auch den Zwergenaufstand verhindern können?
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Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2014
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
„Wenn du nicht gleich von hier verschwindest, dann …“ „Was dann?“, fiel das Mädchen mit der Geige dem seltsamen alten Kauz ins Wort, der sich drohend vor ihr aufgebaut hatte. Er war gerade mal einen Kopf größer, aber mindestens fünfmal so alt wie sie.
Lilli Espenlaub betrachtete den etwas verwahrlost wirkenden Mann genau. Er war bleich und die rudernden Bewegungen seiner Arme wirkten unbeholfen. Unter dem wirren schwarzen Haar, das seine Augenbrauen und Ohren halb verdeckte, bemerkte sie zwei unruhige, aber aufmerksame Augen und einen struppigen Schnurrbart, der sie an ein Walross erinnerte. Eigentlich sah dieses Walross eher ängstlich aus als gefährlich, fand Lilli. Weswegen sie vorerst nicht daran dachte, ihren Platz vor dem Eingang des Einkaufszentrums in der Reutlinger Altstadt zu räumen.
Die Stelle eignete sich hervorragend, um Geld zu verdienen. Denn die Leute, die durch den Ausgang des Kaufhauses zurück auf die Wilhelmstraße quollen, hatten meistens ihre Geldbeutel noch griffbereit.
„Wenn du nicht gleich von hier verschwindest, dann…, dann… holen dich die Zwerge“, zeterte das Männlein.
Lilli musste lachen. Etwas Besseres fiel dem Walross nicht ein?
„Das ist gut“, sagte sie, „dann brauche ich nicht mehr in die Schule zu gehen und führe ein lustiges Leben in den Bergen.“
„Quatsch Berge!“ knurrte der Alte und biss sich gleich darauf auf die Lippe. Lilli bemerkte, dass er unter seinem zu großen Mantel zitterte. „Warum sollte ich weggehen? Ich muss Geld verdienen“, sagte sie und wollte weiter auf ihrer Geige spielen. Doch der Alte ließ nicht locker. „Liebes Kind“, sagte er freundlicher, wobei er unruhig von einem Bein auf das andere hüpfte, „merkst du denn nicht, was hier los ist? Du solltest jetzt besser nach Hause gehen.“
Seit sich ihre Eltern vor ein paar Monaten getrennt hatten, wohnte Lilli in einem großen Reihenhaus am Stadtrand. Und dort ging es Lilli „so lala“, wie sie selbst sagte, weil das wenigstens lustig klang. „Lala“ bedeutete auch: Sie hatte plötzlich Probleme in der Schule. Vor allem in Mathe befanden sich ihre Noten im Sturzflug, was sehr unangenehm war, wenn man im Grunde mit allem rechnen musste.
Glücklicherweise hatte Lillis Mutter viel Verständnis für ihre Tochter. „Ich werde dir einen Nachhilfelehrer besorgen“, hatte sie versprochen, als Lilli ihre zweite Fünf nach Hause brachte. Und bereits ein paar Tage später stellte sich der Mathematikstudent Konrad bei ihr vor und übernahm die schwierige Aufgabe.
Lilli hatte sich in den Kopf gesetzt, ihrer Mutter eine Geschirrspülmaschine zu Weihnachten zu schenken. Deshalb stand sie jetzt in den Pfingstferien mit der Geige in der Hand, auf der Straße und ärgerte sich mit einem alten Stadtstreicher herum.
„Warum meinst du wohl, dass ich dich hier verjagen will?“, fragte der. Lilli zuckte mit ihren Schultern.
„Wahrscheinlich wollen Sie hier betteln.“
Da lachte der alte Mann, dass sich sein Mantel schüttelte.
„Du denkst wohl, wir armen Leute denken immer nur ans Geld. – Wenn wir das täten, wären wir ganz sicher nicht arm, das kannst du mir glauben. – Ich heiße übrigens Johann.“
Nun gab Lilli auf. Sie sammelte die Münzen aus ihrem Geigenkasten und packte ihr Instrument ein.
„Lilli – Lilli Espenlaub“ stellte auch sie sich vor.
„Angenehm“, sagte der Alte.
„Und warum wollten Sie mich nun wirklich von hier vertreiben?“, fragte sie.
„Weil es anfängt zu rumoren.“
Lilli verstand nur „Bahnhof“.
„Nun, ich weiß es nicht genau“, flüsterte Johann und sein Blick huschte unruhig nach links und rechts. „Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass etwas Gewaltiges im Gange ist.“
Lilli hatte ihren Geigenkasten unter den Arm geklemmt und hätte sich am liebsten schnell von Johann verabschiedet.
„Du hast nicht zufällig die Geschichte von den beiden Mädchen gehört, die vor ein paar Monaten verschwunden sind?“
Natürlich hatte Lilli davon gehört. Die zwei vermissten Kinder waren lange Zeit Stadtgespräch Nummer eins.
„Am Tag, als es geschah, haben die beiden genau an dieser Stelle Flöte gespielt.“
Jetzt endlich hatte er es geschafft, Lilli eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen. Johann erzählte unbeirrt weiter:
„Die meisten Menschen merken es nicht, weil sie nicht draußen schlafen. Aber ich schlafe draußen und manchmal, in den Nächten unter meiner Brücke bemerke ich Dinge, die –“.
„Ich muss jetzt zu meinem Bus gehen“, unterbrach Lilli.
„Ich begleite dich ein Stück“, sagte er. Lilli verdrehte die Augen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Aber Johann blieb einfach an ihrer Seite. Als die beiden in den Omnibusbahnhof einbogen, verdüsterte sich Johanns Gesicht. „Ist dir schon aufgefallen, dass es keine Spatzen mehr gibt?“
Nein, das war Lilli bisher noch nicht aufgefallen. Aber sie nahm sich vor, darauf zu achten.
Ein paar Minuten später hielt ihr Bus an der Haltestelle. Ein nachdenkliches Mädchen mit einem Geigenkasten unter dem Arm löste eine Fahrkarte, ging dann ganz nach hinten und setzte sich auf die letzte Bank. Durch das Fenster sah sie den schnauzbärtigen alten Mann in seinem viel zu großen Mantel. Dann fuhr der Bus ab und Lilli versuchte, an etwas anderes zu denken.
Der Weg zurück zu seinem Schlafplatz führte Johann an einer Straße entlang, die einen alten Park in der Mitte durchtrennte. Darüber schwangen sich zwei schmale Brücken, unter der zweiten bewahrte er seine Habseligkeiten auf: Einen Schlafsack, einen kleinen Gaskocher und einen Rucksack mit all seinen Kleidern.
Seit Jahren lebte Johann nur noch im Freien. In geschlossenen Räumen bekam er Angst und hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Seit ein paar Wochen allerdings fühlte er sich auch hier draußen nicht mehr sicher. Immer öfter beobachtete er Männer und Frauen im Park, die ganz sicher nicht da waren, um die schöne Natur zu genießen. Einige von ihnen hatten kleine metallene Geräte bei sich und schienen irgendetwas zu messen, andere – Johann nannte sie „Geheimagenten“ – waren anscheinend nur hier, um das sonderbare Treiben der anderen zu beobachten.
Johann hatte seine Brücke schon vor Augen, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Erschrocken zuckte er zusammen.
„Verdammt, was müsst ihr hier herumschleichen?“ kläffte er die beiden Fremden an, denen er nun gegenüber stand. Es waren eindeutig Typen der Sorte „Agent“. Der Kleinere von ihnen, mit einem altmodisch zurechtgestutzten Kinnbart und einem eleganten weißen Mantel, hatte an einem Kabel einen kleinen Kopfhörer im Ohr. Der größere, ein sportlicher Riese, mit einem Blick, als würde er seine Augen jeden Abend vor dem Einschlafen in die Tiefkühltruhe legen, hob mit einer ruckartigen Bewegung den rechten Zeigefinger und presste ihn gegen seine schmalen Lippen.
„Psst!“, machte er. „Es gibt überhaupt keinen Grund, hier rumzuschreien.“
„Was wollt ihr von mir?“, fragte Johann, während seine Arme aufgeregt in der Luft herumfuhren, als müsste er ein unsichtbares Orchester dirigieren.
„Wir wollen nur, dass du dich nicht selbst in Schwierigkeiten bringst“, antwortete der Große, wobei sein kalter Blick messerscharf an Johanns Gesicht vorbei ins Leere ging.
„Was hast du mit dem Mädchen vor dem Einkaufszentrum gesprochen?“, wollte der Kleinere wissen.
„Aha, ihr verfolgt mich also. Habt ihr nicht zufällig irgendetwas Sinnvolleres zu tun?“ Johann wollte sich schon umdrehen, um seinen Weg fortzusetzen, als die beiden Fremden gleichzeitig einen Schritt auf ihn zumachten. Der Größere, der Johann um mehr als einen Kopf überragte, packte ihn am Mantelkragen und drückte ihn so fest zu, dass Johann einen Augenblick nach Luft japste.
„Also, hör mal genau zu, du Mistkäfer!“, flüsterte der Riese. „Wir wollen nur, dass das Leben in dieser Stadt weiterhin friedlich und ruhig seinen gewohnten Gang geht.“
„Und wenn ein kleines Mädchen in der Fußgängerzone Geige spielt“, fügte der Kleinere mit zuckersüßer Stimme hinzu, „dann finden wir das sehr schön. - Hast du verstanden?“
Johann sagte gar nichts mehr. Er wusste, dass er keine Chance hatte. Also nickte er. Schließlich war er ja nicht schwerhörig.
Da lockerte sich der Griff an seinem Kragen und die Kerle, als hätten sie einst gemeinsam den Ballettunterricht besucht, tänzelten im Gleichschritt wieder ein paar Schritte von ihm fort.
„Was für ein herrlicher Frühlingstag“, sagte der Größere noch und hob dabei schnuppernd seine Nase zum Himmel. Sein Partner ergänzte: „Und wenn sich in Zukunft jeder nur noch um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, wird es auch ein wunderschöner Sommer werden.“ Ihr finsterer und durchdringender Blick zum Abschied passte nicht zu seinem „wunderschönen Sommer“.
Während Johann eilig und beunruhigt seinen Weg fortsetzte, schaute er noch zwei- oder dreimal über die Schulter zurück. Er sah, dass die Beiden zielstrebig zum Ausgang des Parks marschierten. Dort wartete ein tiefblauer Wagen mit verdunkelten Scheiben. Sie stiegen ein und fuhren davon.
Als Johann seinen Lagerplatz erreichte, bemerkte er sofort, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Die drei großen Steine, die ihm als Windschutz gedient hatten, waren den Abhang hinuntergestoßen. Seine Kleider lagen über den ganzen Platz verstreut. Und nicht einmal vor seinem alten, schäbigen Schlafsack hatten die unbekannten Übeltäter Halt gemacht. Der Bezug war der Länge nach aufgeschlitzt. Tränen der Wut schossen Johann in die Augen.
Zuerst kamen ihm natürlich die beiden Fieslinge von eben in den Sinn. Würden sie mit ihren schicken Klamotten unter eine Brücke krabbeln, um einen Sack voller Lumpen zu zerwühlen?
Johanns Blick blieb zwischen einer seiner geflickten Hosen und einem alten Hemd hängen. Dort glitzerte ein kleiner, silberner Griff. Mühsam krabbelte er auf allen Vieren dorthin und staunte nicht schlecht.
Es handelte sich um ein sehr kleines, wie für Kinderhände gemachtes Schwert aus reinem Silber.
Auf der ungewöhnlich kunstvoll gearbeiteten Klinge waren feinste Verzierungen angebracht, die eine Schlange zeigten, die sich durch einen Rosenbusch wand.
Wer würde so eine winzige, aber kostbare Waffe anfertigen lassen? Johann hatte eine düstere Ahnung.
Er machte sich daran, seine Habseligkeiten wieder aufzuräumen.
Für das silberne Schwert musste er ein gutes Versteck finden. Am steilen Abhang unterhalb seines Schlafplatzes, unter dem frisch angewehten Herbstlaub, hatte eine Wühlmaus den Boden in eine Kraterlandschaft verwandelt. In die lockere Erde zwischen den Mauselöchern grub er eine kleine Schatzhöhle.
Mittlerweile war es im Park dunkel geworden. Nur der leichte Schein einer Laterne von der Straße fiel noch auf seinen Lagerplatz.
Johann fröstelte es. Obwohl es noch nicht spät war, schlüpfte er deshalb mitsamt seinen Kleidern in den kaputten Schlafsack. So eingepackt, kauerte er sitzend unter der Brücke und blinzelte gedankenverloren in die Dunkelheit.
Er dachte an seine neue Bekanntschaft vom Nachmittag, Lilli Espenlaub. Ob es dumm von ihm war, das Mädchen mit der Geige zu beunruhigen? Er konnte ja nicht einmal genau sagen, ob seine Sorgen begründet waren. Johann hatte nur das sichere Gefühl, dass irgendetwas in Reutlingen – oder besser gesagt unter der Stadt Reutlingen - nicht mehr stimmte. Seit kurzem hörte er, wenn er in seinem Schlafsack auf der Erde lag, Geräusche.
Johann wusste, dass es unter der Stadt alte Gänge gab, die Teil einer mittelalterlichen Festungsanlage waren. Heute gab es nur noch ganz wenige Eingänge zu dem verzweigten Tunnelsystem. Einen davon kannte er persönlich.
Der Tunnel diente einst als Fluchtmöglichkeit unter der Stadtmauer hindurch. Und den gab es noch immer. Er endete in einem alten Bergwerkstollen hoch über der Echaz, dem kleinen Flüsschen, das sich seinen Weg an der Altstadt vorbei bahnte. Der Eingang befand sich keine fünfhundert Meter von hier und war mit einer schweren Eisentür verschlossen. Johann kannte einen Trick, wie sie sich öffnen ließ. In den kältesten Winternächten flüchtete er sich mit seinem Schlafsack dort hinein.
Johanns Blick blieb an einer besonders weit entfernten Parklaterne hängen. Ihre Glühbirne schien zu flackern. Aber da stockte ihm fast das Blut in den Adern. Das, was er irrtümlich für eine defekte Parklaterne gehalten hatte, bewegte sich mit einem Mal ganz langsam auf ihn zu. Und nicht nur das: Nach und nach tauchten immer mehr, ganz ähnlich flackernde Lichter am Rande des Parks auf, die sich schließlich zu einem gewaltigen Fackelzug vereinten und langsam in seine Richtung zogen.
Bald konnte Johann ein vielstimmiges Wispern und Flüstern unterscheiden. ‚Ich muss abhauen!’ schoss es ihm durch den Kopf. Aber er war unfähig sich zu bewegen. ‚Das Schwert’ fiel ihm ein, ‚wenn sie nun das Schwert suchen?’ Immer näher kam der Zug. Schon hörte er das Trappeln hunderter kleiner Füße auf dem Boden. Johann schickte ein verzweifeltes Stoßgebet zum Himmel. Dann konnte er bereits die ersten grimmigen Gesichter im unruhigen Schein der Fackeln erkennen. So gut es ging, duckte er sich in den Schatten.
Lilli stieg aus dem Bus. Sie wusste, dass ihre Mutter jetzt noch nicht Zuhause sein würde, denn sie arbeitete halbtags in einem Kindergarten.
Vor dem Haus, neben den großen Mülleimern, traf Lilli auf Karin Knöll, ihre Freundin aus dem ersten Stock. Karin war gerade dabei, auf ihrem Mountainbike Kunststücke einzustudieren.
„Na, endlich kommt mal jemand“, sagte Karin grinsend und strich sich eine grün gefärbte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Hallo Lilli!“
„Hallo Karin!“, antwortete Lilli.
„Warst du Geige spielen?“, wollte Karin wissen.
„Wie kommst du denn darauf?“, entgegnete Lilli und beide mussten lachen. Sie verabredeten sich für später an ihrem geheimen Treffpunkt in der Tiefgarage.
In der Wohnung roch es noch immer ungemütlich nach neuem Teppich. Das Mädchen rümpfte die Nase, ging in ihr Zimmer, verstaute die Geige im Regal und stellte das Radio an. Gerade liefen Nachrichten.
„Wie ein Pressesprecher der Firma Telecash bekannt gab, plant das Telefonunternehmen drei weitere Mobilfunkantennen am Standort Reutlingen. Auf Nachfrage erklärte Unternehmensvorstand Doktor Eusebius Stein heute Morgen, mit den neuen Anlagen seien keinerlei gesundheitliche Risiken für die Bevölkerung verbunden.“
Lilli schaltete das langweilige Gerede wieder aus, warf sich aufs Bett, hörte Musik und dachte noch einmal an die seltsame Begegnung von heute Nachmittag.
Ob dieser Johann wohl ganz richtig im Kopf war? Lilli fiel der Satz mit den Zwergen ein, die sie holen würden. Und da sie sich nicht mehr genau daran erinnerte, wie das mit den Zwergen in den Märchen eigentlich war, holte sich das dicke Märchenbuch ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer-Regal.
Im Inhaltsverzeichnis suchte sie nach „Schneewittchen“. Dann begann sie die uralte Geschichte mit den „Zwergen hinter den sieben Bergen“, zu lesen.
Das schöne Schneewittchen, die neidische Stiefmutter, das Spieglein an der Wand, schnell erinnerte sie sich wieder an alles. Als sie endlich zu der Stelle kam, in welcher die sieben Zwerge aus den Bergen vom Erzhacken zurückkehrten, achtete sie aufmerksam auf jedes Wort:
„Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen? - Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat von meinem Brötchen genommen?“
Und so weiter. Die Zwerge bemerkten, dass jemand in ihrem Häuschen gewesen war, aber böse waren sie deswegen nicht. Im Gegenteil: Als sie das schlafende Schneewittchen in einem ihrer Bettchen fanden, riefen sie:
„'Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott! Was ist das Kind so schön!' und hatten so große Freude, dass sie es nicht aufweckten, sondern im Bettchen schlafen ließen.“
Das klang ja nun nicht gerade gefährlich, fand Lilli. Sie hörte das Aufschließen der Wohnungstür und wie ihre Mutter, mit einem müden Seufzer, im Flur aus den Straßenschuhen schlüpfte.
„Hallo Mama!“ Eine kurze Umarmung, ein Kuss zur Begrüßung, Frau Espenlaub lächelte ihre Tochter an.
„Hast du schon etwas gegessen?“
„Ich habe keinen Hunger“, antwortete Lilli. „Ich möchte noch ein bisschen mit Karin draußen spielen.“
Die Mutter hatte nichts dagegen. Schließlich waren Ferien. Außerdem war Mama Espenlaub froh darüber, dass ihre Tochter schon eine Freundin im neuen Haus gefunden hatte.
„Aber spätestens um sieben bist du wieder da!“, rief sie noch, als Lilli bereits aus der Wohnung huschte.
Mit dem Fahrstuhl holte Lilli ihre Freundin im ersten Stock ab. Dann stiegen sie wieder in den Kasten und drückten auf den Knopf, mit der Aufschrift „U2“.
„U2“ bedeutete, zweites Untergeschoss und dort befand sich die Tiefgarage des Hauses. Die beiden Mädchen liebten diesen Ort. Hier hatten sie wirklich ihre Ruhe. Lilli und Karin hatten sich sogar eine Art Lager, hinter einem abgestellten Anhänger, eingerichtet. Es bestand aus zwei alten Obstkisten als Sitzgelegenheit und einer leeren Waschmitteltrommel, die sie als Tisch benutzten.
„Was macht deine Geschirrspülmaschine?“, wollte Karin wissen, als sie es sich auf ihren Obstkisten bequem gemacht hatten.
„Ich schätze, mir fehlen noch hundert Euro“, antwortete Lilli. Und dann erzählte sie Karin von der seltsamen Begegnung an diesem Nachmittag. „Mein Gott, was gibt es für Spinner!“, meinte Karin. Sie kramte eine Packung Kaugummis aus ihrer Hosentasche und streckte sie Lilli entgegen.
„Danke“, sagte Lilli und nahm sich einen Streifen.
Dann wechselten sie das Thema. Karin schwärmte für einen Jungen aus der Nachbarschaft und für den Schauspieler Leonardo di Caprio und für einen jungen Popsänger, den sie unglaublich süß fand. Das war ein wenig viel für Lilli, die sich noch nicht sonderlich für Jungen interessierte. Trotzdem tat sie ihrer Freundin den Gefallen und hörte ihr mit großer Anteilnahme zu.
Dabei beobachtete sie einen kleinen Vogel. Zuerst saß er auf einem der Wasserrohre, die unter der Decke verliefen, dann flatterte er auf das Dach eines Geländewagens.
Karin war inzwischen bei ihrem Lieblingsthema „Küssen“ angelangt, als Lilli sie abrupt unterbrach.
„Moment mal“, sagte sie und zeigte dabei auf den Vogel, „- siehst du auch, was ich da sehe?“
„Meinst du den Jeep oder den Spatz?“, wollte Karin wissen.
„Aber natürlich, das ist ein Spatz“, rief Lilli aufgeregt. „Dann hat der Alte wirklich nur Unfug geredet.“
„Sag’ ich doch: Spinner“, bemerkte ihre Freundin.
Als störte ihn die allgemeine Aufmerksamkeit, flatterte der Vogel in diesem Moment vom Dach des Wagens weg, drehte eine kleine hastige Runde und verschwand dann durch das Lüftungsrohre der Zentralheizung.
Lilli ließ das Rohr nicht mehr aus den Augen, doch der Vogel blieb darin verschwunden. Obwohl es noch lange nicht sieben war, drängte sie bald darauf zum Aufbruch. Sie konnte sich keinen Reim auf das machen, was sie da eben gesehen hatte und musste in Ruhe darüber nachdenken.
Schon wollten die beiden Mädchen wieder in den Aufzug steigen, als Lilli „Augenblick mal“, rief und schnell hinüber zu den Lüftungsrohren spurtete.
„Na, kannst du was sehen?“, wollte Karin wissen, als Lilli vor der dunklen Öffnung stand.
„Nein“, antwortete Lilli wahrheitsgemäß, denn in der Röhre war es stockdunkel. Aber hören konnte sie etwas. Außer dem Rauschen der beiden Ventilatoren vernahm sie aus dem Lüftungsrohr ein vielstimmiges Zwitschern und Piepsen, das tief aus der Erde zu kommen schien. Mit Knien, die plötzlich weich wie Pudding waren, wankte sie zurück zum Aufzug. Karin bemerkte nicht, dass sich etwas an ihrer Freundin verändert hatte.
Die Beiden fuhren wieder nach oben. Im ersten Stock verabschiedete sich Lilli von Karin, im dritten stieg sie selber aus und schon vor der Wohnungstür roch sie, dass ihre Mutter eine Pizza in den Backofen geschoben hatte.
„Mama, wann hast du zuletzt einen Spatzen gesehen?“, fragte sie ihre Mutter als sie wenig später zusammen in der Küche beim Abendessen saßen.
Frau Espenlaub wunderte sich. „Seit wann interessierst du dich für Vögel?“ Dann aber ließ sie ihre Gabel sinken, dachte einen Moment lang nach, schüttelte verwundert ihren Kopf und antwortete: „Komisch, das muss schon ewig her sein.“
Johanns Herz pochte so laut, dass er Angst hatte, sie würden es hören. ‚Es sind ja nur Zwerge’, sagte er sich wieder und wieder, um sich Mut zu machen. ‚Harmlose Märchengestalten mit lustigen Zipfelmützen.’ Aber dummerweise war das, was er hier mit eigenen Augen sehen konnte, nun wirklich kein harmloses Märchen.
Der unheimliche Fackelzug war kurz vor seiner Brücke zum Stillstand gekommen, als sich einer der kleinen Burschen auf eine Parkbank schwang und mit heiserer Stimme um die Aufmerksamkeit der anderen bat. Er trug tatsächlich eine rote Zwergenmütze, unter der seine dicke Nase und zwei kleine Äuglein im Schein der Fackeln blitzten.
„Meine lieben Zwerginnen und Zwerge, verehrte Kobolde und Wassergeister! Wir haben uns heute hier versammelt, weil wir vor einer der schwersten Entscheidungen seit Zwergengedenken stehen.“ Die sonderbare Gesellschaft antwortete mit Nicken und Wispern.
„Vor einigen Wochen ist das Schlimmste eingetreten, was unseren sagenhaften Völkern widerfahren kann: Die Zauberkraft unserer Kleidung ist erloschen. Unsere Nebelmützen machen uns nicht mehr unsichtbar, unsere Umhänge und Mäntel schützen uns nicht mehr vor den neugierigen Blicken der Menschen.“
„Mir hat ein Angler beim Baden zugeschaut“, rief eine empörte Nixe. „Mir haben sie den Kammerjäger auf den Leib gehetzt“, krakelte ein kleiner Poltergeist, aus der Familie der Kobolde.
„Und mir“, brummte ein besonders dicker Zwerg, der eine grüne Kappe trug, „hat sogar jemand mein Schwert gestohlen.“
„Ich glaube, jeder von uns, hat in den letzten Tagen und Wochen schlimme Erfahrungen mit den Menschen gemacht“, fuhr der Redner auf der Parkbank in seiner Ansprache fort. „Und wir wissen auch, dass das Unglück hier, in dieser Stadt seinen Anfang nahm. - Erst haben sie unsere Gänge zerstört, dann kamen diese verhexten Strahlen, die uns auch noch unsere Zauberkraft nahmen.“
Außer dem leisen Knistern der Fackeln war jetzt nichts mehr zu hören. Johann hielt die Luft an, um nicht auf sich aufmerksam zu machen.
„Wie ihr wisst, hat es einige Tiere ebenso schlimm erwischt wie uns: Die Füchse und Spatzen mit ihrem empfindlichen Gehör, die schon lange von einem grässlichen Brummton gequält werden. Wir Reutlinger Zwerge, die wir unter unserem Hausberg, der Achalm, hausen, haben ihnen erlaubt, unter die Erde zu fliehen. Aber nun kommen auch noch die Marder, Iltisse und Dachse. Es wird zu eng in unseren Höhlen, wenn das so weiter geht.“
Ein Kobold, der es nicht mehr aushielt, rief: „Wir müssen kämpfen, Brüder und Schwestern! Wozu haben wir denn unsere Schwerter?“ Ein zustimmendes Raunen ging durch die Menge und ein paar finstere Zwerge aus dem Gebirge zogen zum Zeichen ihrer Bereitschaft sofort ihre Klingen.
„Langsam, Freunde!“, rief der Zwerg auf der Bank, „denkt daran, dass wir uns nicht mehr unsichtbar machen können. – Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir sehr schlau und vorsichtig vorgehen.“ Die Gebirgszwerge brummten mürrisch, ließen dann aber ihre Schwerter wieder sinken.
„Um die Lage zu erkunden, haben wir heute mit Einbruch der Dunkelheit einen Späher losgeschickt, einen Spatz der sich freiwillig für diese Aufgabe bereit erklärt hat. – Vor einer Stunde ist er in die Höhle der Vögel zurückgekehrt.“
„Na, sag’ schon, was hat der Piepmatz herausgefunden?“, wollte ein ungeduldiger Kobold wissen und hüpfte dabei auf einem Bein.
„Wir wissen nun, woher die Strahlen kommen, die uns unsere Zauberkraft nehmen.“
„Nun, mach es nicht so spannend!“, krakelte eine Gruppe einfacher Dorfzwerge. Der Redner ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er machte eine kunstvolle Pause, um der Bedeutung seiner Worte noch mehr Gewicht zu verleihen. Dann räusperte er sich und sagte: „Auf dem Dach des neuen Einkaufszentrums, dessen Fundament unsere Gänge durchschnitten hat, befindet sich eine große Antenne und genau von dort scheint die Gefahr auszugehen.“
Eine Antenne? Ein paar junge Teichnixen, die zum ersten Mal in der Stadt waren, kicherten ratlos, weil sie sich überhaupt nichts darunter vorstellen konnten. Auch allen anderen Zwergen, Kobolden und Wassergeistern wäre ein Riese oder ein feuerspuckender Drache wesentlich lieber gewesen.
„Wenn ich noch mein Schwert hätte“, rief der dicke Zwerg mit der grünen Mütze, „dann würde ich diese, diese … Annette -“
„Antenne“, verbesserte ihn der Zwerg auf der Parkbank.
„- Dann würde ich diese Antenne zum Duell herausfordern.“
„Du kannst keine Antenne zum Duell herausfordern“, widersprach ein besonders alter Zwerg, dessen langer weißer Bart bis hinunter zu den Knien reichte. „Antennen sind Zauberstäbe der Menschen. Sie machen damit Telefon und Fernsehen und anderen Hokuspokus.“
„Und ich dachte, so was gibt es nur im Märchen“, knurrte der Zwerg mit der grünen Mütze.
„Leider nein“, mischte sich nun der Bursche auf der Parkbank wieder ein. „Vieles, was wir aus unseren Märchen über die Menschen wissen, ist leider wahr.“
„Wir werden doch wohl mit einem einzigen Zauberstab fertig werden“, rief ein Kobold, der eine Axt bei sich trug. – „Hau ruck!“ Er ließ das gefährliche Werkzeug so bedrohlich durch die Luft zischen, dass sich ein paar Zwerge, die in der Nähe standen, nur durch einen geistesgegenwärtigen Sprung in Sicherheit bringen konnten.
„He, du nichtsnutziger Sohn eines Rumpelstilzchens!“, brüllte einer von ihnen.
„Dir hat wohl eine Eule auf den Kopf gepupst!“
Einen Moment lang sah es ganz danach aus, als wollte sich der so beleidigte Kobold auf den Zwerg stürzen.
„Dir kann bald keine Eule mehr auf den Kopf pupsen, weil du keinen mehr hast!“, schrie er ganz außer sich. Es bedurfte der vereinten Kräfte von fünf anderen Märchengestalten, um ihn festzuhalten.
„Beruhigt euch – beruhigt euch doch“, der Zwerg auf der Parkbank hatte beide Arme beschwichtigend in die Luft gehoben. „Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, hat niemand etwas davon.“
„Wie kommt man zu dieser Antenne?“, wollte der Alte mit dem langen Bart wissen.
„Genau das ist das Problem. Da es sich um eine ganz besondere Antenne handelt, wird sie auch ganz besonders bewacht.“
„Und wir können uns nicht mehr unsichtbar machen“, murmelte der alte Zwerg.
„Du liebe Güte“, einer aus der Gruppe der Gebirgszwerge verdrehte ärgerlich seine Augen, „nun stellt euch mal nicht an wie Schneewittchen. – Ihr habt wohl vergessen, dass wir furchtlose Bergleute sind.“ Sein Blick fiel zufällig auf eine Gruppe von Kobolden und Wassergeistern. Noch einmal verdrehte er seine Augen und ergänzte: „Zumindest wir Zwerge.“
„Dein Ton gefällt mir nicht“, blubberte es aus dem Mund eines Wassermanns, der den abfälligen Blick sehr wohl bemerkt hatte. „Wenn ich ein Gartenzwerg wäre, würde ich nicht so große Töne spucken.“
„Den Gartenzwerg nimmst du zurück!“, schrie der kleine Kerl aus dem Gebirge, dem die Zornesröte ins Gesicht geschossen war. Und die meisten anderen Zwerge murmelten ebenfalls wüste Drohungen.
Johann war froh, dass die sonderbare Gesellschaft so mit sich selbst beschäftigt war.
Der Redner auf der Parkbank sorgte erneut für Ruhe unter den erhitzten Gemütern und nach einiger Zeit einigte sich die Versammlung darauf, nicht überstürzt zuzuschlagen. Johann fiel ein großer Stein vom Herzen, als der Fackelzug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und direkt vor seinem Versteck die Richtung wechselte. Wieder hörte er das Trappeln hunderter kleiner Füße, das diesmal immer leiser wurde. Es war ihm klar, welche Richtung sie nun eingeschlagen hatten: Der seltsame Zug bewegte sich genau auf den uralten Bergwergstollen zu.
Noch einmal bekam er einen riesigen Schreck, als er bemerkte, dass ein besonders dicker Zwerg mit einer grünen Mütze, der sich etwas von den anderen abgesetzt hatte, die Büsche durchstreifte.
‚Das verdammte Schwert’, dachte sich Johann und bereute es sehr, dass er es nicht einfach weit weggeworfen hatte. Dann aber schien der Dicke aufzugeben und rannte mit seiner Fackel hinter den anderen her, die gerade zwischen der Hecke eines Gartens am Ende des Parks verschwanden.
Am nächsten Morgen fuhr Lilli mit ihrem Fahrrad in die Stadtbibliothek. Dort gab es Bücher über Reutlingen und seine Geschichte.
Neugierig blätterte sie in ein paar der Bände. Aber nirgendwo entdeckte sie etwas, das mit unterirdischen Gängen zu tun hatte. Gerade als sie schon enttäuscht wieder aufgeben wollte, fiel ihr ein kleines Bändchen mit dem Titel: „Aus der Vorzeit Reutlingens und seiner Umgebung“ in die Hände. Es war ein sehr altes Buch, das sich schon rein äußerlich deutlich von allen anderen unterschied.
Obwohl die Sprache kompliziert und altmodisch war, merkte Lilli schnell, dass sie hier zwar nichts über Tunnel, aber dafür umso mehr über Zwerge und andere Märchengestalten erfahren konnte. Lilli kam es vor, als hätte sie einen Schatz entdeckt. Mit ihrer Entdeckung in der Hand machte sie noch einen Abstecher in die Musikabteilung.
Ein alter Mann, der ihr ziemlich bekannt vorkam, war in einem der roten Sessel, in denen man sich CDs anhören konnte, unter seinem Kopfhörer eingeschlafen und schien nun im Schlaf gemütlich einen Stapel Holz zu zersägen. Sein Walrossbart hob und senkte sich dabei über dem halb geöffneten Mund. Johann sah bleich und müde aus. Er hatte denselben großen Mantel wie am vergangenen Tag an.
Kurzentschlossen suchte sich Lilli ebenfalls eine silberne Scheibe aus dem Regal, ließ sie von der Frau, die das Stockwerk beaufsichtigte, einlegen und setzte sich auf den Sessel, direkt neben Johann. Sie wollte herausfinden, was er nun wirklich über die verschwundenen Spatzen und die geheimen Gänge wusste. Auch wollte sie ihm unbedingt von ihren eigenartigen Beobachtungen in der Tiefgarage erzählen. Sie drehte den Sound am Kopfhörer ganz leise und blätterte in der „Vorzeit Reutlingens und seiner Umgebung“.
Vieles von dem, was da über den alten Götterglaube der frühen Reutlinger stand, war anstrengend zu lesen. Andere Stellen dagegen kamen Lilli richtig komisch vor und brachten sie beinahe zum Lachen. Lilli las von Erdmännchen und Erdweibchen, über Hexen und eine Sagengestalt namens Ursel, die in früheren Zeiten die Bauern der Umgebung besuchte. Wer sich gut mit ihr stellte, dem spann sie in den Nächten wortlos den Flachs. Aber wehe dem, der sie nicht in seinem Haus willkommen hieß; der hatte von nun an kein Glück mehr im Leben.
Lilli fand das Buch unheimlich, spannend und verwirrend zugleich. Vielleicht gab es damals ja wirklich noch Zwerge. Ja, vielleicht – Lilli wagte kaum daran zu denken – hatten sogar ein paar von ihnen die Jahrhunderte überlebt…
In diesem Moment wich das Schnarchen neben ihr einem tiefen Seufzer, der nach ein paar Sekunden in ein lautes Gähnen überging. Johann streckte erst seine Arme, dann rieb er sich die verquollenen Augen.
„Guten Morgen!“, sagte Lilli leise. Johann zuckte zusammen.
„In drei Teufels Namen“, brummelte er noch halb benommen, „warum könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?“
„Ich bin es nur, Lilli Espenlaub – das Mädchen mit der Geige“, sagte Lilli schnell. Johann wandte seinen Kopf in ihre Richtung und nach dem er sie von oben bis unten gemustert hatte, wich sein finsterer Gesichtsausdruck ganz langsam einem freundlichen Lächeln.
„Habe viel mitgemacht in der letzten Nacht“, brummte er verlegen, „keine Minute lang habe ich die Augen zugekriegt.“
„Und ich habe gestern Abend einen Spatzen gesehen.“ Lilli konnte es nicht länger für sich behalten.
„Verdammt, sprich leiser!“, fuhr Johann sie an. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich sofort wieder. Aber wieder überraschte sie der Alte. Noch bevor sie ihr Erlebnis in der Tiefgarage genauer beschreiben konnte, fiel er ihr ins Wort und sagte:
„Dann hast du vielleicht sogar bemerkt, wie er unter der Erde verschwunden ist.“ Johann bemühte sich wieder ein freundlicheres Gesicht zu machen.
„Woher wissen Sie das?“, fragte Lilli verblüfft. Aber Johann schüttelte nachdenklich seinen Kopf.
„Also, Zufälle gibt es. Das glaubt einem keiner.“
„Der Spatz ist durch das Lüftungsrohr der Zentralheizung geflogen“, sagte sie schnell. „Und ich habe viele Vogelstimmen aus dem Boden gehört.“
Johann schien sich über keines von Lillis Worten zu wundern.
„Ich weiß nicht ob ich dir von gestern Nacht erzählen darf“, meinte er zögerlich. Im gleichen Moment entdeckte er das alte Buch, das noch immer auf ihrem Schoß lag. „Aber wie ich sehe, hast du längst selbst mit Nachforschungen begonnen.“
Lilli war sehr gespannt auf seine Geschichte.
„Was soll mir schon passieren?“
„Du könntest einfach verschwinden“, flüsterte Johann. „Hast du die beiden Flötenkinder vergessen?“
„Ich bin ein Geigenkind“, erwiderte Lilli trotzig, „und das ist schließlich etwas ganz anderes.“
„Meinst du?“ Johann zuckte mit den Schultern.
„Also gut“; sagte er und begann zögerlich seine Erlebnisse vom vergangenen Abend zu erzählen. Die unheimliche Begegnung mit den beiden Geheimagenten, das silberne Schwert, die Parklaterne, die in Wirklichkeit eine Fackel war und schließlich die Versammlung der Märchengestalten.
Lilli, die ein immer gruseligeres Gefühl beschlich, stellte hin und wieder eine Zwischenfrage.
„Sie meinen der Spatz in unserer Tiefgarage war der Kundschafter der Zwerge?“
„Er muss es gewesen sein!“
Als Johann zu der Stelle mit der Antenne kam, murmelte Lilli gedankenverloren: „Telecash“.
„Was hast du gesagt?“
„Telecash – so heißt die Firma, die in Reutlingen Antennen aufstellt. Ich habe es gestern im Radio gehört.“
„Sieh mal einer an“, Johann nickte anerkennend, „dann weißt du sogar mehr als die Zwerge.“ Doch kaum hatte er es gesagt, erschrak Johann über seine Worte.
„Es ist überhaupt nicht gut, dass du so viel weißt“, zischte er. „Glaubst du, solche Leute lassen sich gerne in die Karten gucken?“
„Na, immerhin kam es im Radio“, meinte Lilli.