Zwillingssaga 1 - Salomé Joell - E-Book

Zwillingssaga 1 E-Book

Salomé Joell

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Beschreibung

Tyrannei – Schmerz – Erniedrigung – Verachtung – Hoffnungslosigkeit. Jeden Abend hört Prinzessin Méileen die Schmerzensschreie der Dienerinnen Prinz Kargons neben ihrem Gemach. Eben dies ist das Leben, welches sie nach ihrer beider Vermählung und unter seiner Herrschaft erwartet. Selbst in ihre Träume verfolgt sie der erbarmungslose Prinz, bis ihr dort von einem geheimnisvollen Unbekannten geholfen wird. Durch ihn kommt sie mit einer Welt voller Magie und Übersinnlichem in Berührung, denn die alte Legende der Luftzwillinge könnte von ihr sprechen. Wird Méileen es schaffen, ihre bevorstehende Hochzeit zu verhindern? Wem kann sie vertrauen und wohin führt sie die magische Kraft, die – unbemerkt von allen – in ihr schlummert?

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Seitenzahl: 507

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Widmung

Prolog

Teil 1: Tyrannei

1

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3

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Teil 2: Flucht ins Ungewisse

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Teil 3: Magie

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Namensverzeichnis

Danksagung

Stopp, geh noch nicht!

Salomé Joell
Die Zwillingssaga
Töchter der Lüfte
Eisermann Verlag

Die Zwillingssaga 1 – Töchter der Lüfte E-Book-Ausgabe  06/2018 Copyright ©2018 by Eisermann Verlag, Bremen Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns Satz: André Piotrowski Lektorat: Bettina Dworatzek Korrektur: Marie Weißdorn http://www.Eisermann-Verlag.de ISBN: 978-3-96173-108-4

Widmung

Ich widme dieses Buch einer Freundin, ohne die ich niemals zum Schreiben gefunden hätte. Andrea, ich danke dir von ganzem Herzen!

Prolog

Langsam öffnete Leandro die Augen.

Es fiel ihm immer schwerer, sich nicht einzumischen. Er wusste nicht, wie ihm das weiter gelingen sollte.

Die kühle Nachtluft strich über sein erhitztes Gesicht, eine Grille zirpte neben seinem Kopf und in der Ferne konnte er das Heulen der Wildhunde hören.

Er lag in seinem Schlafsack und spürte durch den dünnen Stoff die Feuchtigkeit, die sich vom Waldboden her zu ihm ausbreitete. Langsam setzte er sich auf und blickte in die Dunkelheit der Nacht. Das Rascheln der Bäume im Wind und die Tiere um ihn herum jagten ihm keinen Schrecken ein, er wusste sich zu verteidigen. Dennoch war er ungern allein unterwegs. Das Gefühl der Einsamkeit wuchs mit jedem Tag.

Er hatte sein Nachtlager auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald aufgeschlagen. Das letzte Dorf hatte er vor zwei Tagen verlassen – ohne Erfolg. Leandro würde noch einen halben Tag weiterziehen müssen, bevor er das nächste Dorf erreichte, und konnte nur hoffen, dass er damit seinem Ziel näher kam.

Er sehnte sich nach dem Tag, an dem die Aufgabe endlich erledigt sein würde und er zurück nach Hause gehen konnte. Er musste eine große Strecke zurücklegen, doch der Heimweg war bekanntlich kürzer. Seine Gedanken schweiften wieder zu den Ereignissen der letzten Nacht und er schloss die Augen, um sie von sich zu schieben.

Schon oft hatten ihn die Albträume anderer gequält, doch diese hier waren schlimmer. Ihre Angst war größer, war realer. Er wusste nicht, ob sie auch nur ein paar Stunden friedlichen Schlaf fand. Bereits zu Hause, in seinem Cottage, war es ihm schwergefallen, sie von sich zu schieben. Doch seit er unterwegs war, konnte er sich ihrer kaum noch entziehen.

Er kannte die Gefahr seiner Begabung. Viele, die sie besaßen, verfielen irgendwann dem Wahnsinn, wenn sie diese verschiedenen Welten nicht mehr unterscheiden konnten. Es hatte ihn viele Jahre der Übung gekostet, fremde Träume von seinen eigenen zu unterscheiden und die nötige Beherrschung zu entwickeln, sich nicht in diese einzumischen. Er erinnerte sich an die Stunden mit seiner Lehrerin und die Kontrollübungen. Doch seit er in die Traumwelt dieser Frau sah, war es ihm fast unmöglich, sich zu kontrollieren, und er wusste nicht, ob es richtig war, einen Menschen leiden zu lassen, wenn er helfen konnte.

Er hatte langsam die Befürchtung, dass er sich ihr näherte und es ihm deshalb immer schwerer fiel, sich von ihrer Welt fernzuhalten.

Ein Rascheln in seiner Nähe zog seine Aufmerksamkeit auf sich, doch als er sich umblickte, erkannte er bloß eine Waldmaus, die nach Essensresten suchte. Er warf ihr ein paar Krümel seines Brotes zu und beobachtete, wie sie diese rasch mit sich nahm. Kurz darauf kam die Maus wieder, diesmal in Begleitung. Als die Mäuse alles eingesammelt hatten, blickten sie ihn erwartungsvoll an, als hofften sie auf mehr. Er warf ihnen noch etwas zu, dann schloss er wieder die Augen und horchte auf seine Umgebung, um die letzten Reste der Angst, die sie empfunden hatte, die fast zu seiner geworden war, zu vertreiben. Dabei atmete er dreimal tief durch und leerte seinen Geist. Es war eine Übung, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Als er die Augen wieder öffnete, konzentrierte er sich bewusst auf seine Aufgabe.

Wie weit es noch war, bevor der Auftrag erfüllt sein würde und er endlich wieder umkehren und nach Hause gehen konnte, wusste er nicht. Er konnte nur hoffen, dass sein Weg ihn nicht noch näher zu ihr führen würde.

Das Resultat seiner kurzen Übung war dahin, sie war wieder voll und ganz in seinen Gedanken. Zu oft hatte er ihr schon zugeflüstert, sie beruhigt und daran erinnert, dass es nur ein Traum war. Und er wusste nicht, wie lange er noch dem Drang widerstehen konnte, sich ihr zu offenbaren.

Teil 1: Tyrannei

1

Méileen schreckte hoch und blickte sich panisch um. Ihr Herz raste, ihr Atem ging schnell und flach. Um sie herum war alles dunkel, doch sie erkannte die Umrisse ihres Zimmers. Den weißen Stoff, der den Himmel ihres Bettes überspannte, die hölzerne Kommode an der Wand, das Fenster, durch das der Mond ihr Zimmer erhellte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff. Dann zog sie ihre Beine an sich und umschlang sie, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ.

Die salzigen Perlen vermischten sich mit ihrem Angstschweiß und landeten auf dem schon durchnässten Kopfkissen. Obwohl die Decke warm und weich war, zitterte sie am ganzen Körper. Ihre Träume wurden immer schlimmer, und auch wenn sie ihren Ursprung kannte, konnte sie nichts gegen sie tun. Ein Gefühl von Machtlosigkeit breitete sich in ihr aus und es war, als würde sie in ihren Traum zurückversetzt. Das Gefühl, zu rennen und nicht voranzukommen. Zu fallen, ohne dass man irgendwo aufschlägt. Der Drang, entkommen zu müssen und doch zu spüren, dass der Verfolger sich nähert.

Méileen erinnerte sich daran, dass sie als Kind eine Zeit lang unter Albträumen gelitten hatte. Vom Rennen, vom Verfolgtwerden und vom Fallen. Doch nur selten war sie währenddessen aufgewacht, denn bevor es zu schlimm wurde, veränderte sich die Szene. Aus Anspannung wurde ein wundervolles Erlebnis. Es gab einen Moment, in dem sie wusste, dass sie träumte, aber noch nicht wach war. Diesen Moment hatte sie als Kind genutzt, um sich auf ihren Körper zu konzentrieren. Sie hatte die Arme ausgebreitet und sich fallen lassen. Es war kein Sturz in die unendliche Tiefe. Es war ein Loslassen. Den Dingen entsagen, die einen zu sehr belasten und dann in die Lüfte davonfliegen. Das war so wundervoll, dass es die bedrückenden Träume im Vorfeld wert war, denn es gab nichts Schöneres, als auf diese Weise allem zu entfliehen und an nichts mehr zu denken.

Doch die Angstträume gingen vorbei und damit auch die Gabe des Fliegens. Jetzt wünschte sie sich, sie hätten nie aufgehört. Dann könnte sie immer noch auf diese Weise alles hinter sich lassen. An das Gefühl, wenn sie abgehoben war, konnte sie sich noch so gut erinnern, doch hier und jetzt gelang es ihr nicht mehr.

Die schrecklichen Laute und das Wehklagen einer der armen Frauen, die die Nacht im Zimmer nebenan verbringen mussten, hatten sie wie jeden Abend beim Einschlafen begleitet. So wunderte es sie nicht, dass sie wieder einmal von Albträumen heimgesucht wurde.

Durch die offenen Läden kam ein leichter Luftzug, der den Duft des warmen Frühlings mit sich brachte. Es roch nach den ersten Blumen, nach frischem Gras und dem jungen Grün der Bäume. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem immer noch erhitzten Körper aus, doch es war ein angenehmes Gefühl. Der Frühlingsduft beruhigte ihren Geist und die Tränen ließen nach und trockneten auf ihrem Gesicht. Sie hasste es, weinen zu müssen, doch in ihrem Zimmer, in ihrer geliebten Einsamkeit, erlaubte sie sich diese Schwäche. Méileen war schon immer gern allein gewesen, hatte ihren Gedanken nachgehangen und vor sich hin geträumt. Das würde sie nicht mehr lange können, doch diesen Gedanken schob sie sofort von sich.

Noch war sie frei, wenn man das hier frei nennen konnte. Obwohl sie in ihrem Bett lag, fühlte sie sich unbehaglich, rastlos und eingesperrt. Dies verstärkte sich, als sie an den Menschen dachte, der im Zimmer neben ihrem schlief. Sie kam sich vor wie ein Tier im Käfig. Der Luftzug war verebbt und hatte sie allein zurückgelassen.

Um der inneren Unruhe zu entkommen, stand sie langsam auf, zog die Decke um sich, verließ ihr Schlafgemach und ging in das Vorzimmer. Der Holzboden gab unter ihren nackten Füßen keine Geräusche von sich. Da die Tür wie immer offen stand, konnte sie sich lautlos in ihren Gemächern bewegen. Hier gab es einen kleinen Balkon, auf den sie nun zusteuerte. Er war verschlossen, damit es in ihren Zimmern nicht zog. Leise öffnete sie die massiven, aus dunklem Holz gefertigten Läden und trat hinaus in die angenehm kühle Nacht. Sie genoss die Kälte des Steines unter ihren Füßen und den sanften Wind, der über ihr Gesicht und durch ihr offenes Haar strich.

Obwohl es hier draußen kühler war, wurde ihr wärmer und das Gefühl von Freiheit machte sich in ihr breit. Sie sog die frische Nachtluft tief ein und schloss die Augen. Wie gerne würde sie fliegen. Die Arme ausstrecken, sich in den Himmel erheben und alles hinter sich lassen. Méileen atmete ein weiteres Mal tief durch, dann öffnete sie die Augen und blickte auf die Stadt hinab, die sich hinter dem Garten und den Mauern erstreckte.

Die Stille der Nacht ließ sie friedlich erscheinen. Nur vereinzelte Lichter waren zu sehen, und Méileen stellte sich vor, wie die Menschen ruhig und glücklich in ihren Betten lagen und schliefen, bevor sie bei Sonnenaufgang aufstanden, um wieder ihrer Arbeit nachzugehen. Kinder schliefen in den Betten ihrer Eltern, behütet von ihrer Wärme, beschützt durch ihre Körper. Ehepaare lagen eng beieinander, genossen die Nähe des anderen und teilten vielleicht sogar die Träume. Alt und Jung, sie alle lebten dort unten. Und wenn sie auch bestimmt viele Sorgen hatten, so glaubte Méileen, dass es ihnen gut ging.

Aren, die Hauptstadt von Andora, war recht groß und erstreckte sich bis zu den Schlossmauern. Die Häuser waren vorwiegend stabil gebaut und zumeist zwei Stockwerke hoch. Es herrschte genug Platz für die Bewohner und viele kleine Gasthäuser boten Platz für Wanderer, Händler und alle anderen Menschen, deren Weg sie hierherführte. Vor Jahren wurde ein Abwassersystem unterhalb der Stadt gegraben, wodurch der Geruch nach Exkrementen und Müll nicht so stark war wie in anderen Städten. Außerdem gab es viele Brunnen, und wem es der Weg wert war, der konnte an einem nahe gelegenen Fluss frisches Wasser holen. Die Menschen hatten genug Geld, um gut leben zu können, denn König Argus verlangte nur das, was sie auch abgeben konnten, ohne Hunger leiden zu müssen.

Doch bald würde sich auch Aren verändern, zumindest befürchtete Méileen das. Der König war zwar kein liebevoller Vater, doch ein guter und gütiger König, den die Menschen liebten. Er hörte sich ihre Sorgen und Ängste an, kümmerte sich um genug Essen und Ordnung in seinem Reich und regierte gerecht. Nie hatte Andora einen besseren König gehabt.

Sie konnte verstehen, dass ihr Vater sie hasste und machte ihm deswegen keine Vorwürfe. Sie hasste sich ja selbst für das, was sie getan hatte. Doch dass er ihr nicht glauben wollte und dass er mit seiner Entscheidung wohl seinen eigenen Untergang besiegelt hatte, machte sie wahnsinnig. Wenn dem König doch nur klar wäre, dass Andora bald nicht mehr das sein würde, was es jetzt war.

Langsam ließ sie sich auf dem Boden nieder. Die Nacht war klar und die Sterne am Himmel strahlten um die Wette. Wenn sie doch nur ewig andauern könnte, dann stünde ihr dieses fürchterliche Leben nicht bevor. In drei Wochen würde sie sechzehn und gleich an diesem Tag verheiratet werden. Die Vorbereitungen waren im vollen Gange, die Diener fast rund um die Uhr beschäftigt und alle freuten sich auf dieses wundervolle Ereignis.

Alle, außer ihr.

Der Gedanke an die Hochzeit jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Méileen zog die Decke enger um sich und atmete tief durch, um die Kontrolle zu bewahren. Ihr zukünftiger Mann bewohnte schon jetzt das Zimmer neben ihrem, was auch ihre fürchterlichen Albträume verursachte. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie einen bösartigeren Menschen kennengelernt. Doch er vermochte es, sich zu verstellen und außer ihr, seinen Wachen und seinen Frauen, die er aus dem Reich seiner Familie mit hierhergebracht hatte, kannte niemand sein wahres Gesicht. Und das, obwohl er bereits seit einem Monat hier im Schloss lebte.

Sie atmete noch einmal tief durch, genoss die frische Brise, die sie umwehte.

Das beklemmende Gefühl, das ihr Albtraum hinterlassen hatte, ließ langsam nach. Wenigstens war sie diesmal schnell aufgewacht, wenn sie schon nicht davonfliegen konnte. In anderen Nächten hielten die Träume über mehrere Stunden an und sie konnte ihnen nicht entkommen. Doch in letzter Zeit war ihr, als wäre da jemand, der ihr zuflüsterte, dass sie nur träumte und schnell aufwachen sollte. Nur aus diesem Grund schaffte sie es, schneller aufzuwachen und in die Realität zurückzufinden. Es vermittelte ihr Geborgenheit, es gab ihr Sicherheit.

Méileen tastete nach dem Amulett ihrer Mutter, welches sie stets um den Hals trug, und drückte es fest an ihr Herz. Sie spürte die Kälte des Metalls und die Wärme des Steins, als dieser sich in ihre Haut grub. Wie immer wurde ihr Herz schwer. Das Amulett war das Einzige, was Méileen von ihrer Mutter geblieben war und somit nicht nur teuer, sondern auch das Wichtigste für sie auf der Welt. Es spendete ihr Trost, wenn das sonst keiner vermochte, auch wenn es sie an den Verlust erinnerte.

Méileen befühlte mit den Daumen das Muster, das es umrandete. Es waren die Ranken einer Blume, die sich filigran durch das silberne Metall zogen. In der Mitte des blattförmigen Amuletts ruhte ein roter Stein. Er sah aus wie ein kleiner Blutstropfen. Sie drehte das Amulett um und fuhr mit dem Zeigefinger über die Gravur auf der Rückseite, wie sie es immer tat, wenn ihre Gedanken zu ihrer Mutter schweiften. Es war zu dunkel, um die Inschrift lesen zu können, doch sie wusste auch so, was dort stand. Es war ein Spruch, den sie sich immer wieder vor Augen hielt:

Blicke tief in das Innere und du wirst die Wahrheit erkennen.

Nach diesem Spruch versuchte sie zu leben. Sie versuchte, immer tief in das Innere der Menschen zu blicken, um die Wahrheit über sie zu erkennen. Bei manchen fiel es ihr leicht und sie wusste sofort, ob sie diesen Menschen vertrauen konnte, doch oft gelang es ihr auch nicht. Ob ihre Mutter das gekonnt hatte? Bei allen Menschen?

Sie sah wieder hoch zu den Sternen und suchte nach dem Hellsten unter ihnen, der Mutter aller Sterne. Sie fand ihn schnell. Gleich wenn dort tausende von Sternen funkelten, nur einer war heller als alle anderen. Dort wachten alle Mütter über ihre Kinder und dort musste auch ihre sein. Dennoch hoffte sie, dass ihre Mutter nicht mit ansehen musste, was Méileen bald bevorstand. Bei diesem Gedanken zog sich wieder alles in ihr zusammen. Sie legte ihren Kopf auf ihre angezogenen Knie und schloss die Augen. Hier draußen war sie zumeist von Träumen verschont. Hier würde sie noch ein paar Stunden ruhigen Schlaf finden.

Und während sie dem Wind und den Geräuschen der Nacht lauschte, fand sie die Ruhe in Gedanken über die Person, die wohl ihre Mutter gewesen war.

Méileen spürte feste Hände, die sie grob wachrüttelten. Durch die geschlossenen Lider hindurch konnte sie das helle Licht der Sonne erahnen, die sie angenehm wärmte. Die kalte, feuchte Luft der Nacht war der milden Frühlingsluft gewichen, die sie so sehr liebte. Es roch nach frischem Gras, nach Wärme und nach Sonne. Auch ohne die Augen zu öffnen, wusste sie, wer an ihr rüttelte, doch sie war noch nicht bereit, aus ihrem erholsamen Schlaf hinauszugleiten. Die wohlige, angenehme Geborgenheit der ruhigen Träume war zu verführerisch. Sie erstreckte sich bis in ihre Fingerspitzen und hinterließ dort ein angenehmes Kribbeln. Méileen versuchte, den Traum festzuhalten, ihn zu sich zu holen und an sich zu pressen, damit sie ihn nicht vergaß. Sie überlegte, ob sie vielleicht sogar geflogen war. Doch die Erinnerung rann ihr durch die Finger und sie konnte sie nicht halten. Die wenigen Stunden ohne schlimme Träume waren ihr zu wertvoll, und so klammerte sie sich an das letzte angenehme Gefühl, das der Schlaf mit sich gebracht hatte, bis sie das Schütteln und das Gezeter nicht länger ignorieren konnte.

»Méileen, wacht endlich auf! In einer halben Stunde kommt die Schneiderin und Ihr habt noch nicht gebadet und gegessen. Wenn Ihr nicht rechtzeitig fertig seid, wird man mir wieder die Schuld geben.«

Sich ihrem Schicksal ergebend, öffnete Méileen langsam die Augen. In der Ferne konnte sie die Singvögel hören, die aus dem Süden zurückgekehrt waren, und freute sich schon jetzt darauf, das Nest unter ihrem Balkon zu beobachten. Jedes Jahr sah sie den Vogeleltern dabei zu, wie sie sorgfältig das Nest bauten, dann die Eier ausbrüteten und zum Schluss unermüdlich ihrem Nachwuchs Würmer und andere Insekten in den Rachen steckten.

Dann blickte sie zu Mell auf, der die Wut ins Gesicht geschrieben stand. Méileen zuckte zusammen, doch Mell würde es nicht wagen, sie anzurühren. Nicht mehr, seit Méileen bewusst geworden war, dass sie als Prinzessin das Sagen hatte und nicht ihre Dienerin. Und doch konnte sie sehen, dass Mell nichts lieber tun würde, als ihr eine Tracht Prügel zu versetzen.

Mell war ihr an ihrem zwölften Geburtstag zur Seite gestellt worden. Ab diesem Alter galt man nicht länger als schutzbedürftig. Viele Frauen wurden mit zwölf sogar schon verheiratet, und so hatte ihr Vater entschieden, dass sie ihre Amme nicht länger brauchte, und Mell zu ihrer persönlichen Dienerin gemacht. Der Abschied von ihrer Amme war fürchterlich gewesen, sie war die Einzige im ganzen Schloss, von der sie sich geliebt gefühlt hatte. Und Mell war kein Ersatz, ganz im Gegenteil.

Sie konnte sich noch gut an diesen Tag erinnern.

Es war ein schöner Frühlingstag gewesen. Ihre Amme hatte sie am Morgen auf dem Balkon vorgefunden, sie freundlich geweckt und sie fest an ihre Brust gedrückt. Sie konnte sich noch heute an die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut erinnern. Trilliana, die Köchin, hatte ihr einen Kuchen gebacken und sie hatten draußen auf der Wiese gespeist. Mit den Stallburschen hatte sie Fangen und Verstecken gespielt, und danach war sie in den Stall geführt worden, um sich ihr Pferd noch einmal anzusehen. Sternenglanz war einige Stunden zuvor zur Welt gekommen, und man hatte sie mitten in der Nacht rufen lassen, damit sie ihn gleich bewundern konnte.

Erst am Nachmittag fiel Méileen auf, dass ihre Amme ruhig und traurig wirkte. Sie war eigentlich ein lebenslustiger und fröhlicher Mensch, so ganz anders als an diesem Nachmittag.

»Warum bist du so traurig?«, fragte Méileen ihre Amme und musste mit ansehen, wie dieser Tränen in die Augen stiegen, während sie sie in eine warme Umarmung zog. Diese Frau roch immer so gut nach Seife, Kaffee und frischen Brötchen.

»Méileen, du bist jetzt nicht länger ein kleines Kind. Du bist zwölf Jahre alt und brauchst mich nicht mehr. Heute ist mein letzter Tag als deine Amme. Heute Abend, wenn deine neue Dienerin kommt, werde ich das Schloss verlassen.«

Méileen begann fürchterlich zu weinen und klammerte sich an ihr fest. Ihr Herz fühlte sich so an, als wollte es aus ihrer Brust fliehen, um mit ihrer Amme mitzugehen. Sie wollte sie nicht verlieren, sie war alles für sie.

Doch es hatte alles nichts geholfen. Selbst dass sie ihren Vater angefleht hatte, die Frau bei ihr zu lassen, die ihr wie eine Mutter gewesen war, hatte nichts genutzt. Ihre Amme war am Abend gegangen und Méileen hatte sie nie wieder gesehen. Stattdessen war Mell an ihre Seite getreten, zu der sie keine besonders gute Beziehung hatte, denn die Dienerin war launisch und hasste ihre Arbeit.

Méileen stand auf, blickte auf die Stadt hinab und fühlte sich noch für einen letzten Moment wohl in ihrer Haut, bevor Mell sie hart am Arm packte, in ihr Zimmer zog und auf einen Stuhl setzte. Dieser war hart und kalt und ohne eine Decke oder die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrer Haut fröstelte Méileen. Ohne Vorwarnung fing ihre Dienerin an, Méileens Haar kräftig zu bürsten, sodass ihr der Kopf in den Nacken gerissen wurde und sie vor Schmerz aufschrie. Sie hasste es, wenn Mell ihr Haar so bearbeitete, und wäre sie keine Prinzessin, würde sie es viel lieber offen tragen als immer fest an ihren Kopf geflochten.

Der grobe Umgang mit ihr war Mells Art, Méileen zu bestrafen, wenn sie sich wieder einmal nicht ihrem Stand gemäß verhielt. Da sie fast jede Nacht auf dem Balkon schlief, tat sie das wohl nie. Man könnte meinen, es wäre ein Einfaches für Méileen, sich eine neue Dienerin zu suchen. Doch ihr Vater hatte auch in diesem Punkt kein Einsehen mit ihr.

»Wenn Ihr nicht immer auf dem Balkon schlafen würdet, wäre Euer Haar leichter zu kämmen. Das kalte Tauwetter macht es spröde und kraus, am liebsten würde ich die Knoten einfach herausschneiden! Das Baden und das Frühstück können wir heute auch vergessen. Ich werde Euch gerade gewaschen und Eure Unterröcke angezogen haben, bevor die Schneiderin hier ist. Wenn Ihr Glück habt, wird sie bis zum Mittagessen fertig sein, ansonsten müsst Ihr eben bis zum Abendessen warten. Das würde Euch recht geschehen.«

Méileen antwortete nicht auf Mells Gezeter. Jedes Wort würde Mell nur noch wütender machen, also ertrug sie die Gewalt, die sie ihr beim Bürsten antat, und betrachtete sich im Spiegel.

Sie konnte zusehen, wie sie durch den Schlafmangel und die schlechten Träume immer blasser und dünner wurde. Dunkle Schatten schimmerten durch die helle, fast bleiche Haut unter ihren Augen hindurch. Auch ihr sonst so glänzend rotes Haar fiel ihr strohig über die Schultern. Ihre Amme hatte sie dafür immer bewundert und Méileen das Gefühl gegeben, dass sie etwas Besonderes war. Sie meinte, die rote Farbe sei etwas Seltenes, und daher war sie der festen Überzeugung, dass rothaarige Menschen eine besondere Aufgabe in ihrem Leben hätten. Mell dagegen fand es offensichtlich nur hässlich und beklagte sich über die Locken, die Méileen widerspenstig um den Kopf standen.

Mell dagegen war eine wunderschöne Frau. Sie hatte langes kastanienbraunes Haar, das sie immer leicht am Kopf entlang geflochten trug. Durch ihre sonnengebräunte Haut wirkte sie gesund und frisch. Ihre braunen Augen, die Méileen nur allzu oft wütend anfunkelten, strahlten lebendig, wenn Mell mit anderen sprach. Ihre Gesichtszüge waren kantig, was ihr ein spezielles Etwas verlieh. Wer sie einmal gesehen hatte, vergaß sie so schnell nicht. Selbst ihre Kleidung ließ Mell elegant wirken, wenngleich sie einfach und praktisch geschnitten war.

Wenn Mell mit ihr fertig war, würde man nicht mehr viel von der Méileen erkennen, die sie jetzt noch im Spiegel sah. Ihr Haar würde kunstvoll auf dem Kopf geflochten und mit vielen Bändern verdeckt sein. Mell gab sich immer die größte Mühe, damit man so wenig Rot wie möglich sehen konnte.

Und wieder wünschte sich Méileen, dass sie es offen tragen könnte, wie es ihr am besten gefiel. Sie liebte die luftige Frische, wenn der Wind ihr Haar hochhob und damit spielte, und die damit einhergehende Leichtigkeit. Doch das ziemte sich für eine Prinzessin nicht, und so musste sie sich jeden Tag unter Masken verstecken, die ihr wahres Ich verbargen. Die tiefen Schatten unter ihren Augen würde Mell ihr wegschminken, so wie sie immer ihr Haar versteckte. Die Augenbrauen und Wimpern würden geschwärzt und ein wenig Rouge auf den Wangen würden ihr ein frisches und gesundes Aussehen geben. Alles Fassade.

Früher fand Méileen sich schön, doch so ausgemergelt, wie sie heute war, sah sie nur noch krank und unscheinbar aus. Wie würde ihr Vater wohl reagieren, wenn sie sich einmal vor ihn stellen würde? So ganz ohne Maske? Wäre es möglich, dass er ihre Hochzeit überdachte? Wieder einmal fühlte sich Méileen frustriert und ohnmächtig. Nein, das würde er nicht.

Nach dem endlosen Haareflechten hatte Méileen Kopfschmerzen und so rieb sie sich die Schläfen mit den Fingerspitzen, während sie darauf wartete, dass Mell das Waschwasser brachte. Es würde sich den ganzen Tag keine einzige Strähne lösen. Am Abend würden die Kopfschmerzen fast unerträglich sein, das wusste sie aus Erfahrung.

Ihre Dienerin zerrte sie grob vom Stuhl, schnürte ihr Nachtgewand auf und zog es ihr über den Kopf. Dann wusch sie sie mit frischem, kaltem Wasser. Méileen hätte sich gerne selbst gewaschen, doch als Prinzessin durfte sie so etwas nicht. In kleinen Tropfen lief das Wasser ihren Körper entlang, hinterließ eine nasse Spur zwischen ihren Brüsten und eine Gänsehaut auf ihrem Körper. Auf dem Boden sammelte sich eine kleine Pfütze. Der Anblick erinnerte sie an ihren Traum. Er hatte mit Wasser zu tun gehabt, auch wenn sie sich nicht näher daran erinnern konnte. Wenn doch auch die schlechten Träume so schnell verwehen könnten, wie es die schönen taten.

Während Mell ihren Körper mit einem Schwamm abschrubbte und sie dabei wie eine Puppe herumschob, ließ Méileen ihre Gedanken schweifen. Ein letztes Mal versuchte sie, das schöne Gefühl einzufangen, das die Nacht auf dem Balkon mit sich gebracht hatte, dann gab sie auf. Es war verloren.

Nachdem Mell mit ihrer Arbeit zufrieden war und Méileen am ganzen Körper vor Kälte zitterte, begann die Dienerin, sie abzutrocknen und Schicht für Schicht einzukleiden. Korsage, Unterhose und Unterröcke wurden über ihren Körper gestülpt und schon jetzt hatte sie das Gefühl zu ersticken. Sie erkannte, dass es ihre Unterkleider für die Hochzeit waren, welche die Schneiderin zuerst gefertigt hatte. Sie hatte gehofft, sie könnte ihre gewöhnlichen Unterkleider tragen, dann müsste sie sich nach dem Termin mit der Schneiderin nicht noch einmal komplett umziehen. So hatte sie wirklich keine Hoffnung mehr auf das Mittagessen.

Méileens Korsage wurde so eng geschnürt, dass sie kaum noch Luft bekam, und ihr wurde langsam schlecht vor Hunger. Kleine Punkte tanzten vor ihren Augen und sie hielt sich an ihrem Frisiertisch fest, um nicht umzufallen. Das würde ein langer Vormittag werden. Gerade als Mell fertig war, klopfte es.

Mell, ganz die gute Dienerin, eilte zur Tür und öffnete der Schneiderin und deren Gehilfin. Die beiden traten ein und verbeugten sich tief vor der Prinzessin, bevor sie sich wieder erhoben.

»Guten Morgen, Prinzessin Méileen. Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Nacht. Euer Kleid ist fast fertig. Ihr werdet umwerfend darin aussehen, wenn ich fertig damit bin. Heute müssen wir nur noch ein paar Feinheiten abstecken, damit es Euch bei Eurer Hochzeit wie angegossen passt, es wird nicht allzu lange dauern.«

Méileen wusste aus Erfahrung, dass nicht allzu lange bedeutete, dass sie hier einige Stunden auf einem Podest stehen würde, während die beiden Frauen an ihr herumbastelten. Sie unterdrückte ihren Hunger und konnte nur hoffen, dass sie vor Luftmangel und Hunger nicht irgendwann in Ohnmacht fiel. Die Punkte vor ihren Augen waren zum Glück verschwunden. Doch ganz die gute Prinzessin, schenkte sie den Frauen ein warmes Lächeln und wünschte auch ihnen einen guten Morgen, bevor sie sich das fast fertige Kleid anziehen ließ.

Es war ganz aus weißer Seide und mit Spitze versehen. Der Ausschnitt des Kleides zeigte ihres Erachtens nach zu viel von ihrem kleinen Busen, doch sie hatte die Frauen nicht überreden können, das Dekolletee etwas bedeckter zu gestalten. Der Stoff lag eng an ihrem Oberkörper an und betonte ihre schmale Figur, wobei der Rock ausladend und massig bis zum Boden reichte. Die Ärmel des Kleides fielen ihr in einem langen Schlauch bis über die Hände, Perlen besetzten den Rand. Bestickt war der gesamte Stoff mit Rosen aus silbernem Garn. Die Schultern waren frei, und mit dem tiefen Ausschnitt fühlte Méileen sich fast nackt. Das Medaillon ihrer Mutter lag ihr über der Brust, es hing an einer feinen Kette aus Silber.

Mell hatte darauf bestanden, dass Méileen ein anderes Schmuckstück zur Hochzeit trug, doch in diesem Punkt hatte sie nicht klein beigegeben. Sie würde dieses Medaillon nicht ablegen. Überhaupt legte sie es bloß zum Baden ab und auch nur, weil sie Angst hatte, dass die Seife es beschädigte.

Méileen betrachtete sich im Spiegel, während die Schneiderin um sie herumsprang. Wüsste sie nicht, dass dieses Kleid für ihre Hochzeit mit Prinz Kargon war, fände sie es schön. So jedoch konnte sie es nicht leiden.

2

Nachdem die Schneiderin am Nachmittag endlich Méileens Gemächer verlassen hatte, nicht ohne noch einmal zu beteuern, dass sie in ihrem Hochzeitskleid einfach hinreißend aussehen würde, war ihr schwindelig vor Hunger. Daher schickte sie ihre Dienerin mit einem unbedeutenden Auftrag hinter den Frauen her und machte sich unbemerkt in die Küche auf.

Auf dem Weg durch die Gänge wurde sie sich wieder einmal Prinz Kargons Anwesenheit bewusst. Mittlerweile schienen ebenso viele seiner Wachen im Schloss zu arbeiten wie Königliche. Sie standen gemeinsam mit den ihren vor den Türen oder liefen durch die Gänge, um ihrer Arbeit nachzugehen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Méileen, wofür der Prinz so viele Männer brauchte und was nach der Hochzeit passieren würde.

In der Küche arbeitete Trilliana, die Küchenchefin, die Méileen sicher etwas zu essen geben würde. Die Küche war einer der schönsten Räume im Palast, wie Méileen fand, und auch jetzt blickte sie sich wieder einmal fasziniert um.

Drei Frauen standen um einen großen Arbeitstisch und schnitten Gemüse, während eine weitere einen Teig mit den Händen bearbeitete. An der einen Seite der Wand befanden sich mehrere Öfen, in denen wundervoll duftende Brote buken. An der Wand gegenüber flackerten einige Feuer, auf denen Kessel mit dem Essen für heute Abend standen. Der Raum war erfüllt mit dem Duft nach frischen Gewürzen, warmem Brot und einem saftigen Braten, der neben den Töpfen über dem Feuer hing. Die Frauen redeten munter miteinander oder summten zufrieden vor sich hin. Nur selten hatte jemand in der Küche schlechte Laune, dafür sorgte Trilliana.

Weitere Frauen waren damit beschäftigt, Geschirr zu spülen und sich um die Kessel und den Braten zu kümmern. Auf der Suche nach Trilliana raffte Méileen ihre Röcke und ging an den schnatternden Frauen vorbei. Dank jahrelanger Übung und vielen Stunden hier unten, gelang es ihr, sich ohne ein Missgeschick bis zu der Speisekammer vorzuarbeiten, in der sie die Küchenchefin vermutete.

»Hallo Trilliana, ist das nicht ein wunderschöner Tag heute?«

Trilliana, die wohl gerade in die Suche nach ein paar Lebensmitteln vertieft gewesen war, erschrak und drehte sich schnell um, bevor sie in eine tiefe Verbeugung sank.

Sie war schon in die Jahre gekommen, hatte weißes schütteres Haar, welches sie unter einer Haube versteckte, sodass nur wenige Strähnen darunter hervorlugten, und blaue Augen, die Méileen immer intelligent und liebenswert anstrahlten. Die Falten, die ihre Augen und Lippen umspielten, rührten vom Lachen her und machten ihr Gesicht noch freundlicher. Obwohl man ihr das Alter ansah, war sie immer noch gut auf den Beinen, auch wenn sie im Laufe der Zeit immer rundlicher wurde. Als die Frau sich erhob, musterte sie die Prinzessin mit kritischem Blick.

»Kind, Ihr werdet immer dünner. Ihr seht so aus, als hättet Ihr heute noch keinen Krümel zu euch genommen. Hat Euch mein Frühstück denn nicht geschmeckt?«

Méileen, die davon ausging, dass Mell ihr Frühstück selbst gegessen hatte, bevor sie sie geweckt hatte, unterdrückte einen wüsten Kommentar und lächelte der alten Frau freundlich zu.

»Ich hatte leider keine Zeit zum Essen, da die Schneiderin den ganzen Tag da war. Hättet Ihr vielleicht ein Stück Brot für mich? Bis zum Abendessen ist es noch so lange hin.« Sie konnte sehen, dass sich die Köchin auf die schmalen Lippen biss, um sich eine Erwiderung zu verkneifen. Dann führte sie sie aus der Speisekammer hinaus zu einer Nische in der Küche, in der ein kleiner Tisch und zwei Stühle standen.

»Wartet hier, Prinzessin, ich bringe Euch gleich etwas.« Damit verschwand sie mit flinken Schritten.

Méileen setzte sich auf einen Stuhl und beobachtete das wilde Treiben um sich herum. Sie liebte es, hier zu sitzen und die Menschen bei der Arbeit zu beobachten. Alle hatten etwas zu tun, und es sah so aus, als wären sie glücklich.

Sie lauschte auf das Knistern der Feuer und das Klappern der Messer, die so schnell auf das Gemüse niedergingen, dass sie den Handbewegungen kaum folgen konnte. Das Gefühl von Frieden machte sich in ihr breit, und seit dem Aufwachen fühlte sie sich das erste Mal wohl. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Trilliana mit drei süßen Brötchen und einer Schüssel warmer Honigmilch zu ihr zurückkam.

»Esst doch bitte hier, Prinzessin, damit ich sicher sein kann, dass Ihr auch wirklich etwas zu Euch nehmt. Wenn Ihr dann noch Hunger habt, bringe ich Euch noch mehr.«

»Danke schön, Trilliana, ich esse gerne hier. Doch ich glaube nicht, dass ich noch Hunger haben werde, wenn das alles erst einmal in meinem Magen ist. Ihr könnt ruhigen Herzens wieder an Eure Arbeit gehen, ich möchte Euch nicht davon abhalten.«

Méileen brach ein Stück von dem Brötchen ab und tauchte es in die warme Honigmilch, bevor sie es sich in den Mund steckte.

Der süße Geschmack breitete sich angenehm in ihrem Mund aus und erinnerte sie an ihre Kindheit. Ein wohliges Gefühl stieg in ihr auf. Trilliana, die sie noch kurz musterte, schien befriedigt und machte sich wieder auf den Weg in die Speisekammer, aus der sie kurz darauf mit mehreren Schüsseln, gefüllt mit Kartoffeln, wieder herauskam und sich zu den anderen Frauen gesellte.

Das Schälen der Kartoffeln war eigentlich eine Aufgabe für Küchenhilfen, doch Trilliana hatte Méileen einmal erklärt, dass es wichtig war, solche Dinge auch immer wieder selbst zu erledigen. So sahen die Küchenhilfen, dass nicht nur sie müßige Arbeiten verrichten mussten. Das förderte die Arbeitsmoral und alle waren glücklicher. Außerdem hatte Trilliana ihr verraten, dass sie solche Arbeiten ganz gerne erledigte. Es erinnerte sie an die Zeit, als sie noch jung und selbst nur eine Küchenhilfe gewesen war. Wie lange mochte das wohl her sein?

Méileen dagegen aß gemütlich weiter und sah zufrieden dem frohen Treiben zu, während sie einem Gespräch lauschte. Anscheinend gab es einen Wachmann, der drei Frauen schöne Augen machte, und diese ließen sich über ihn aus, empört darüber, dass er zwei von ihnen heiraten wollte. Er sah wohl gut aus und schien auch nicht mittellos zu sein. Doch obwohl sich die Mägde über ihn ärgerten, konnte Méileen heraushören, dass jede von ihnen diesen Mann gernhatte und hoffte, dass er sie heiraten würde. Zwei andere Köchinnen unterhielten sich über einen Wachmann von Prinz Kargon. Auch dieser sah wohl gut aus, machte aber keiner der Frauen schöne Augen, da er eine Geliebte zu Hause zurückgelassen hatte und nur auf eine Gelegenheit wartete, sie zu sich zu holen.

Méileen lächelte in sich hinein. Anscheinend gab es doch noch anständige Männer. Nachdem sie zwei Brötchen aufgegessen hatte, versteckte sie das dritte in einer Tasche ihres Rockes und trank die restliche Milch leer, bevor sie sich von der Köchin verabschiedete. Sie wollte noch vor dem Abendessen zum Stall, um Sternenglanz wenigstens kurz zu sehen.

Der Stall war nicht weit vom Schloss entfernt. Gustav, der Stallmeister, hielt ihn gut in Schuss, sorgte für Sauberkeit und die Pferdeknechte gehorchten ihm aufs Wort. Sie hatten keine Angst vor ihm, sondern einen gesunden Respekt, denn der Mann kannte sich so gut mit Pferden aus wie sonst keiner in Aren.

Dennoch sah man am dunklen Holz der Wände, dass das Gebäude schon viele Jahre hier stand. Es war vom Wetter gezeichnet und müsste nach dem langen Winter an einigen Stellen ausgebessert werden. Vor dem Stall befanden sich mehrere Pfosten, an denen man die Pferde anbinden konnte, doch im Moment standen sie verlassen da.

Auch als sie hineinging, traf Méileen niemanden an. Die Knechte waren gerade mit den Pferden auf der Weide beschäftigt und Gustav war um diese Zeit immer ausreiten. Ihr Vater hatte nicht genug Zeit, sich selbst um sein Pferd zu kümmern, so war es Gustavs Aufgabe, für die Bewegung des Tieres zu sorgen.

Méileen beachtete die wenigen Pferde in den Boxen kaum und steuerte direkt ihren braunen Hengst an, während ihr der bekannte Geruch von Heu und Pferd in die Nase stieg. Der Stall war, ebenso wie die geschäftige Küche, wie eine Oase für sie. Schon als Kind hatte sie, wann immer man es ihr gestattete, beim Ausmisten und Striegeln geholfen.

Sternenglanz war ein wunderschönes und gutherziges Tier, das sie noch nie abgeworfen hatte, wenngleich er außer ihr nur wenige andere Reiter duldete. Hier zu Lande ritt ein jeder, und so hatte auch sie schon im Kindesalter auf Pferden gesessen. Seit sie Sternenglanz hatte, versuchte sie täglich wenigstens kurz auszureiten. Sie wollte niemand anderen darum bitten, wie es ihr Vater tun musste. Dennoch hatten sich in den vergangenen Monaten nicht allzu viele Möglichkeiten ergeben, einen richtigen Ausritt zu unternehmen. Die Vorbereitungen ihrer Hochzeit waren schon seit einem Jahr im Gang, somit wurde sie immer häufiger im Schloss aufgehalten, sodass sie weniger Freizeit hatte. Nie hätte sie gedacht, dass eine solche Festlichkeit so viele Vorbereitungen benötigte und sie selbst so in Anspruch nehmen würde.

Sternenglanz kam wiehernd zu seiner Stalltür, um sie zu begrüßen. Sie streckte ihm ihre Hand mit einem Apfel entgegen, den sie aus der Küche stibitzt hatte. Das Pferd schnappte sich den Apfel und ließ sich den Kopf streicheln, während es Méileen aus klugen Augen musterte. Sie liebte es, wie sich seine Nüstern anfühlten. Warm und weich.

»Hallo, mein Großer. Heute wird es leider wieder nichts mit dem Ausreiten, es war zu viel zu tun. Doch ich leiste dir ein paar Minuten Gesellschaft, bevor ich wieder ins Schloss muss, um mit meinem Vater und Prinz Kargon zu Abend zu essen.« Sie nahm sich das Halfter vom Nagel neben der Tür, öffnete die Box und legte es Sternenglanz an. Dann führte sie das Pferd nach draußen.

Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihr Pferd den ganzen Tag eingesperrt war, sie wollte ihn nur ein paar Minuten herumführen, bevor sie sich auf den Rückweg machte. Hier gab es sowieso nicht viele Möglichkeiten zu reiten, und allein durfte sie sich nicht vom Schlossgelände entfernen. Sie würde wohl doch einen der Stallburschen beauftragen müssen, Sternenglanz täglich auszureiten, damit er die nötige Bewegung bekam.

Draußen genossen die beiden die nachmittäglichen Sonnenstrahlen und den frischen Frühlingswind. Méileen konnte die Gärtner sehen, die geschäftig im Garten zugange waren, der sich einmal um das Schloss zog und bis an die hohe Mauer reichte, die sie von der Außenwelt isolierte. Bäume säumten die gepflegten Wege, die Büsche auf den Wiesen waren akkurat zurechtgeschnitten und ein kleiner Brunnen, der Méileen immer einen Schauer über den Rücken laufen ließ, stand nicht weit davon entfernt. Der Brunnen war nur Zierde, er war schon lange vor ihrer Geburt ausgetrocknet und immer, wenn Méileen ihm zu nah kam, wurde ihr unwohl.

Hinter dem Schloss jedoch wuchsen wilde Blumen, das Gras stand höher und die Bäume waren nicht so gepflegt. Auch wenn es hier vorne nicht an Insekten und Schmetterlingen mangelte, im hinteren Garten konnte man ihr Treiben noch besser beobachten. An schönen Tagen, wenn sie einmal nicht allzu viel zu tun hatte, legte sie sich gerne in das hohe Gras und beobachtete die Bienen bei ihrer Arbeit. Oder sie versuchte, die Schmetterlinge zu zählen, die in all ihrer Pracht über die Wiese flatterten. Doch so einen Tag hatte es lange nicht mehr gegeben.

Nur selten verliefen sich Menschen hinter das Schloss. Méileen liebte diese unangetastete Natur mehr als die vorschriftsmäßig gestalteten Gärten, obwohl sich dort die Gräber der verstorbenen Monarchen befanden. Auch das ihrer Mutter …

Plötzlich hatte sie den Drang, sich in Bewegung zu setzten. Sie hatte den ganzen Tag stillstehen müssen, nun forderte ihr Körper Abwechslung. Ohne lange darüber nachzudenken, stieg sie auf den Stein, der ihr immer als Podest diente, raffte ihre Röcke und schwang sich auf Sternenglanz’ Rücken. Auch wenn sie wusste, dass es sich für eine Prinzessin nicht ziemte, ohne Damensattel zu reiten – und schon gar nicht ganz ohne Sattel –, konnte sie sich nicht mehr halten und trieb ihren Hengst zu einem schnellen Galopp an der Schlossmauer an.

Sternenglanz genoss die Bewegung genauso wie Méileen. Die beiden ritten um das Schloss herum, sprangen über Gräben und umgefallene Bäume, die hinter dem wuchtigen Gebäude noch nicht beseitigt worden waren, und ignorierten die irritierten Blicke der Gärtner. Méileens Herz raste vor Freude. Der frische Wind pfiff ihr ums Gesicht und sie konnte für einige Augenblicke alles um sich herum vergessen. Sogar ein paar Strähnen ihrer sorgsam geflochtenen und festgesteckten Haare lösten sich und wehten im Wind. Diese kurzen Momente der Einsamkeit waren alles, was sie brauchte, um glücklich zu sein, alles, was sie brauchte, um zu überleben. Sie konnte nur hoffen, dass sie auch nach ihrer Hochzeit noch die Freiheit besitzen würde, auszureiten, wann immer ihr der Sinn danach stand. So ritt sie weiter, genoss das Spiel von Sternenglanz’ kräftigen Muskeln unter ihren Schenkeln und lenkte ihn fast nur mit ihren Beinen. Gustav war ein wirklich guter Reitlehrer gewesen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder in die Gegenwart zurückfand, sie hatte sich beim Reiten völlig verloren. Jetzt, da sie den Stand der Sonne sah, wurde ihr schlecht. Sie hatte viel zu viel Zeit hier draußen verbracht. Sie wusste nicht, wie oft sie ums Schloss geritten war, doch es war längst Zeit zum Abendessen und so trabte sie zielstrebig wieder auf den Stall zu.

Méileen schwang sich von Sternenglanz und führte ihn in seine Box. Dort nahm sie etwas Stroh und begann, ihn damit trocken zu reiben. Der Hengst stand still und ließ sich die Prozedur zufrieden gefallen, während er etwas Heu fraß. Sie ließ es sich nie nehmen, diese Arbeit selbst zu verrichten, nachdem sie ausgeritten waren. Selbst jetzt nicht, obwohl sie zu spät dran war.

Wenn sie Glück hatte, würden die Männer schon mit dem Essen fertig sein und sie musste die Gegenwart Prinz Kargons nicht ertragen.

Sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht mitbekam, wie sich ihr jemand von hinten näherte. Erst als ihr Handgelenk unsanft gepackt und sie herumgerissen wurde, blieb ihr Herz für einen kurzen Moment stehen. Als sie sah, wer vor ihr stand, wurde sie bleich. Durch den Druck auf ihr Handgelenk wurden ihre Finger taub und die Welt um sie herum begann sich zu drehen.

Prinz Kargon sah sie aus schmalen Augen an. Méileen hatte das Gefühl, dass er sie am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte, doch sie wusste, dass er sich das nicht trauen würde. Zumindest nicht, solange sie nicht verheiratet waren.

»Prinzessin, Euer Vater und ich haben auf Euch gewartet. Ich war so freundlich, ihm zu sagen, dass ich Euch suchen und zum Essen bringen werde. Wenn Ihr mir also folgen würdet, bevor wir noch länger hungern müssen …«

Méileen, die sich wieder unter Kontrolle hatte, entriss ihm ihr Handgelenk, drehte sich zu Sternenglanz und rieb noch die letzte Stelle an seinem Fell trocken, während sie bewusst beiläufig antwortete. Sie hatte zwar riesige Angst vor dem Prinzen, doch diese würde sie sich niemals anmerken lassen. »Ich bin sofort fertig, doch ich vertraue mein Pferd niemandem an, außer dem Stallmeister persönlich. Da er gerade ausgeritten ist, müsst Ihr noch eine Minute auf meine Gegenwart beim Essen verzichten. Ihr könnt ja schon einmal vorlaufen, ich hole Euch gleich ein.«

Prinz Kargons Augen glitzerten gefährlich, doch er hielt sich bedeckt und wartete wortlos. Dann räusperte er sich. »Ich denke, Euer Pferd ist jetzt trocken genug.«

Méileen hatte alle Hoffnung verloren, allein zurückgehen zu können. Langsam nahm sie Sternenglanz das Halfter ab und strich ihm noch einmal über die Flanke, bevor sie seine Box verließ und das Halfter ordentlich zurück an den rostigen Nagel hängte.

Prinz Kargon wirkte zunehmend ärgerlicher über ihr Verhalten. Schließlich packte er sie und drückte sie mit dem ganzen Körper gegen die Wand, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Pure Angst flammte in ihr auf. Eben noch war sie sicher gewesen, dass er sie hier und jetzt nicht schlagen würde, nun verflog diese Sicherheit. Es war niemand hier, und wenn er es geschickt anstellen würde, würde niemand außer Mell etwas davon sehen.

Und Mell würde ihm bestimmt keine Vorwürfe machen.

Sie zwang sich, ihm fest in die funkelnden Augen zu sehen, und hoffte, dass er ihre Angst nicht spüren konnte.

»Wartet nur, bis Ihr meine Frau seid, dann werde ich Euch schon Respekt lehren. Ich hätte eigentlich gedacht, dass es reicht, das Zimmer neben Eurem zu beziehen, um Euch gefügig zu machen. Doch ich kann auch anders. Ich habe Eure Beschämungen satt. Verhaltet Euch wie meine zukünftige Frau und erweist mir den nötigen Respekt! Und wenn ich wünsche, dass wir gemeinsam speisen, dann seid auch pünktlich im Speisesaal.«

Méileen schluckte bei der offenen Drohung, versuchte jedoch, sich immer noch nichts von ihrer Angst anmerken zu lassen. Noch waren sie nicht verheiratet.

»Ihr meint wohl eher, Ihr wollt mich Angst lehren, denn Respekt muss man sich verdienen. Ihr verbreitet nur Angst und Schrecken, und wenn ich Glück habe, begreift mein Vater das noch rechtzeitig. Wenn Ihr mich nun bitte loslassen würdet, mein Vater erwartet mich.«

Prinz Kargons braune Augen wurden dunkel und sahen noch gefährlicher aus als zuvor. Sein Körper drückte sich fester gegen ihren, während er ihr geflochtenes Haar in eine Hand nahm und ihren Kopf in den Nacken riss, damit sie seinem Blick nicht ausweichen konnte.

Der Schmerz half ihr, sich auf den Beinen zu halten, und sie konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken, indem sie die Zähne zusammenbiss.

»Ich freue mich schon sehr auf unsere Hochzeitsnacht. Eine widerspenstige Frau wie Euch hatte ich schon lange nicht mehr. Mal sehen, wie lange ich brauche, Euch dieses Verhalten auszutreiben.« Seine Augen wurden dunkler und sein Mund war zu einem so bösartigen Grinsen verzogen, dass sein Gesicht fast entstellt wirkte. »Ich denke ja, dass eine Nacht genügen wird. Aber vielleicht sollte ich mir bereits vor der Hochzeitsnacht nehmen, was sowieso mir gehört … Euer Vater wäre bestimmt glücklich über eine gehorsamere Tochter.«

Méileens Herz schlug ihr bis zum Hals, und es kostete sie alle Kraft, die sie aufbringen konnte, um nicht zusammenzubrechen. »Das würdet Ihr nicht wagen. Ich würde es allen erzählen, und selbst wenn sie mir nicht glauben würden, dass Ihr es wart, wäre ich wertlos. Somit würden alle Eure Heirat mit mir infrage stellen. Und Ihr wollt bestimmt nicht auf das Königreich verzichten.«

Prinz Kargon antwortete nicht darauf, sondern zog noch fester an ihren Haaren, sodass Méileen vor Schmerz aufschreien wollte. In dem Moment drückte er seinen Mund auf ihren, um sie still zu halten.

Er schmeckte bitter, und sein widerlicher Geruch stieg ihr in die Nase, während er seine Zunge in ihren Mund drückte, um diesen grob und brutal zu erkunden. Doch das Ganze dauerte nur einen Moment, und sie schmeckte Galle, als er sich von ihr löste und sie selbstzufrieden anblickte.

»Ihr seid eine kluge Frau, doch freut Euch nicht zu früh. Drei Wochen vergehen schneller, als Euch lieb ist, und dann kann mir niemand mehr was. Ich werde meine Freude an Euch haben.« Damit ließ er von ihr ab, packte sie grob am Arm und zog sie mit sich. Méileen stolperte ihm hinterher und hätte sich am liebsten übergeben. Pure Angst durchflutete sie, in dem Wissen, dass er recht hatte. Ihre Hochzeitsnacht würde die schlimmste Nacht ihres Lebens werden.

Vor dem Speisesaal lockerte Prinz Kargon seinen Griff und führte Méileen galant durch die Tür, als hätte er sich die ganze Zeit liebevoll um sie gekümmert. Ein angenehmer Duft nach Braten und Kartoffeln stieg ihr in die Nase, und obwohl ihr schlecht war, lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

»Eure Majestät, ich habe sie im Stall bei ihrem Pferd gefunden. Dort hat sie die Zeit vergessen. Doch wer könnte ihr das übel nehmen, da wir doch ein Volk sind, das die Pferde so liebt?« Dann wandte er sich Méileen zu, führte sie zum reich gedeckten Tisch und rückte ihr den Stuhl zurecht, damit sie darauf Platz nehmen konnte. Es waren noch drei weitere Männer anwesend. Araal, der Hauptmann der Wachen, Nargan, der Vertraute und Berater des Königs, und Rem, Prinz Kargons oberster Wachmann.

Nachdem Méileen sich gesetzt hatte, schob Prinz Kargon ihren Stuhl näher an den Tisch und ließ sich ihr gegenüber nieder, um sie im Blick behalten zu können. Sie senkte den Kopf, ganz so, wie es ihre Erziehung gebot.

»Guten Abend, Vater. Es tut mir leid, dass ich die Zeit vergessen habe. Ich werde darauf achten, dass das nicht noch einmal passiert.«

Der König beachtete sie kaum und brummte nur etwas Unverständliches vor sich hin, bevor er sich eine Portion auf seinen Teller lud und zu essen begann. Prinz Kargon und die anderen Männer taten es ihm gleich. Dann verfielen sie in ein Gespräch über das Königreich und darüber, welche Aufgaben der Prinz übernehmen würde, wenn er erst Méileen geheiratet hatte.

Prinz Kargon passte rein äußerlich zu den anwesenden Männern, die alle ihrem Stand gemessen gekleidet waren und eine entsprechende Wirkung ausstrahlten. Er war gut gekleidet, hatte kurzes braunes Haar und ausdrucksvolle braune Augen. Sein kantiges, ausgeprägtes Kinn verlieh seinem Gesicht etwas Interessantes, was durch seine dunkle Haut noch unterstrichen wurde.

Als Méileen ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte er auf sie einen durchaus attraktiven und charmanten Eindruck gemacht. Mittlerweile wusste sie jedoch, dass sein Erscheinungsbild nur Fassade war. So charmant er auch wirkte, er konnte genauso grausam sein.

Während sie noch einmal durch die Runde der Männer blickte, um die Stimmung einzufangen, traf ihr Blick den von Kargon. Die Erinnerung daran, wie er sie gegen die Stallwand gedrückt und ihr diesen bitteren Kuss aufgezwungen hatte, stieg in ihr hoch, und all ihr Appetit verpuffte. Der Höflichkeit wegen nahm sie sich dennoch etwas auf den Teller, schaffte es jedoch kaum, drei Bissen herunterzuschlucken, ohne dass es ihr den Magen umdrehte.

Immer wieder spürte sie die befriedigten Blicke des Prinzen auf ihr ruhen, sodass sie sich zusammenreißen musste, ihrem Vater nicht hier und jetzt zu sagen, dass sie diesen Mann unmöglich heiraten konnte. Dass er sich mit ihm den Tod ins Haus geholt hatte. Es quälte sie, doch sie musste sich eingestehen, dass es ohnehin nichts bringen würde. All das hatte sie ihm schon gesagt, doch er glaubte ihr nicht. So war sie dazu verdammt, ihr Schicksal zu ertragen, wie man es ihr zugedachte. Sie war eben nur eine Frau.

Während sich die Männer darüber unterhielten, wie Runara und Andora am besten Handel betreiben könnten, zog sich die nächste Stunde endlos in die Länge. Andora, das Königreich, in dem Méileen lebte, war ihr Zuhause und sie liebte es. Bisher hatte sie sich für alles interessiert, was ihr Vater an Veränderungen angestrebt hatte. Doch gerade war sie nicht dazu in der Lage, den Männern zu folgen. Stattdessen träumte sie sich auf Sternenglanz’ Rücken und wünschte, sie könnte die Welt bereisen.

Andora lag in der Mitte von Estaria. Es war ein wohlhabendes Reich mit vielen Wäldern, reichen Dörfern, weiten Feldern und zwei großen Flüssen, die das Land nährten. Darum lagen Bremé, Chosta und Loré, wobei Chosta das kleinste Königreich von ihnen war. Direkt hinter Chosta erstreckte sich Runara, aus dem Prinz Kargon stammte und das von seinem Vater König Darkon regiert wurde. Bisher hatte Méileens Vater nie viel mit König Darkon und dessen Land zu tun gehabt. Doch da Méileen im heiratsfähigen Alter war und Prinz Kargon zum Mann nehmen sollte, hatte sich das geändert. Weiter entfernt gab es noch das Königreich Isil, doch da ihr Vater zu diesem Land keine Verbindungen hatte, wusste sie darüber nur wenig. Vielleicht wollte sie genau dieses Reich gerne einmal bereisen. Der Drang, in die Welt zu ziehen und sie kennenzulernen, war immens. Méileen wusste nicht, ob es daran lag, dass sie Kargon heiraten sollte, oder ob dieses Gefühl schon vorher in ihr gewachsen war. Doch es war da und wuchs mit jedem Tag.

Noch immer sprachen die Männer miteinander und als ihr Name fiel, kehrte Méileen in die Gegenwart zurück und richtete ihre Konzentration auf das Gespräch. Sie hatte ihr Essen kaum angerührt und war dankbar, dass die Diener kamen, um es abzuräumen, als Araal erneut ihren Namen aussprach.

»Wir sollten die Wachen um Méileen verdoppeln. Die Hochzeit rückt immer näher und wir können nicht ausschließen, dass es einen Anschlag auf sie geben wird.«

Der Wachmann ihres Vaters war mittleren Alters. Seine Statur verriet, dass er täglich mit dem Schwert trainierte und Méileen wusste, dass viele Frauen um seine Gunst warben. Allein durch seine Ausstrahlung erwiesen die Männer ihm Respekt, während er immer gerecht zu ihnen war.

Nargan, der Vertraute ihres Vaters, gab ein brummendes Geräusch von sich, das Méileen nicht deuten konnte. Am liebsten hätte sie selbst zu diesem Vorschlag Stellung bezogen, doch sie wusste, dass sie besser wartete, bis alle Argumente vorgebracht waren. »Meinst du nicht, dass sie hier in Sicherheit ist? Im Schloss sind so viele Soldaten, ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand wagt, ihr auch nur zu nahe zu kommen. Anders sieht es natürlich aus, sollte sie das Schloss verlassen.«

Ein warmes Gefühl stieg in Méileen auf und sie war dem alten Mann dankbar. Solange sie denken konnte, war er der Vertraute des Königs und so hatte sie zusehen können, wie sein Haar grau geworden war. Dennoch strahlten seine Augen noch immer eine Intelligenz aus, die nur wenigen vorbehalten war, während sich mit den Jahren das Wissen von hohem Alter hinzugemischt hatte.

»Das können wir nicht wissen!«, mischte sich Rem barsch ein und Méileen zuckte zusammen. Er hatte seine Hände auf dem Tisch abgestützt und beugte sich bedrohlich darüber. Wie Kargon strahlte der oberste Wachmann des Prinzen etwas aus, das sie ängstigte. Rem wirkte arrogant und blickte den Menschen nur selten in die Augen. Mehr als einmal war Méileen aufgefallen, dass seine Soldaten ihm mehr mit Angst als mit Respekt begegneten. Er hatte kurzes hellbraunes Haar, ein kantiges Gesicht und ein zu großes Kinn. Eine lange Narbe prangte auf seiner Wange. »Niemand kann sagen, wo unsere Feinde überall lauern. Selbst die Dienerin der Prinzessin könnte einen Anschlag auf sie planen.«

»Aber, aber«, gab Araal von sich. »Ich bin dafür, ihr mehr Wachen zur Seite zu stellen, doch wir wollen mal nicht den Teufel an die Wand malen. Mell ist eine gute Dienerin, die seit Jahren an Méileens Seite ist. Es bringt nichts, jeden zu verdächtigen.«

Fast hätte Méileen laut aufgelacht. Zwar dachte sie keine Sekunde lang, dass Mell ein Attentat gegen sie planen könnte, doch eine gute Dienerin war sie auch nicht.

»Ich bin dennoch der Meinung, dass wir ihre Sicherheit erhöhen sollten«, gab Rem mit kalter Stimme von sich. »Ich bin mir sicher, dass das in Prinz Kargons Interesse wäre.«

Sein Blick huschte zu Kargon und Méileen glaubte einen Moment, so etwas wie Genugtuung in seinem Blick zu erkennen. »Ich hatte schon seit einer Weile darüber nachgedacht, ihr Wachen zur Seite zu stellen. Ihre Sicherheit geht mir über alles.«

Kaltes Grauen machte sich in Méileen breit. Allein der Gedanke, von seinen Männern umgeben zu sein, ängstigte sie. Méileen senkte den Kopf und hoffte, dass man es ihr nicht anmerkte. Doch wie nicht anders zu erwarten, stimmte ihr Vater Kargon zu.

»Dann soll es so sein. Stellt ihr Wachen zur Seite, die sie schützen.«

Einen Moment schloss Méileen die Augen. Sie hätte doch früher etwas sagen sollen. Nun, da ihr Vater gesprochen hatte, konnte sie nichts mehr erwidern. Sein Wort war Gesetz und sie hatte nicht das Recht, seine Autorität vor den Männern zu untergraben. Also lauschte sie weiter den Gesprächen, bis auch der Nachtisch abgeräumt war. Am liebsten wäre sie sofort aufgesprungen und in ihr Zimmer gegangen. Aber niemand hielt es für nötig, sie zu entlassen, und so musste sie die nächsten Stunden brav sitzen bleiben und den Männern Gesellschaft leisten.

Es war bereits dunkel, als sie erleichtert mitanhörte, wie die Männer aufstanden und einander eine gute Nacht wünschten.

Endlich durfte sie sich von ihnen abwenden, würde sich in ihr Zimmer zurückziehen und ihren Tränen freien Lauf lassen können. Die Erinnerung an die Begegnung mit Kargon und den bitteren Geschmack, den der ungewollte Kuss hinterlassen hatte, machten ihr mehr zu schaffen, als ihr lieb war.

Prinz Kargon kam um den Tisch herum und streckte ihr seine Hand entgegen. »Wenn ich bitten darf, meine Liebe.«

Verstört blickte sie ihn an. Bisher hatte er sie nach dem Essen stets in Ruhe gelassen. Widerwillig und mit einem Gefühl der aufkeimenden Angst nahm sie seine Hand und ließ sich aufhelfen.

»Vielen Dank, Prinz Kargon. Doch ich möchte zu Bett gehen. Es ist spät und ich benötige meinen Schlaf.«

Kargon grinste sie hämisch an. »Aber natürlich, meine Liebe, ich werde Euch zu Euren Gemächern begleiten.«

Méileen, die es jetzt wirklich mit der Angst zu tun bekam, wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und entschied sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Der Prinz geleitete sie aus dem Speisesaal und führte sie den Gang entlang in Richtung ihrer Gemächer.

Obwohl sie hier aufgewachsen war und ihr alle Gänge vertraut waren, fühlte sie sich in seiner Gegenwart wie eine Fremde in ihrem eigenen Zuhause. Er musste nichts sagen. Seine bloße Anwesenheit sprach Bände. Sie konnte nur hoffen, dass er sie an ihrer Zimmertür allein ließ.

3

Es war bereits mitten in der Nacht und Raleene hörte die Frauen um sich herum ruhig atmen. Sie schienen tief zu schlafen, doch sie wusste, dass sie in Wirklichkeit wach lagen und voller Angst warteten. Raleene drehte sich in ihrem kleinen Bett um und blickte in den dunklen Raum hinein.

Sie teilte sich das Zimmer mit drei weiteren Frauen: Mira, Corela und Helen. Abgesehen von ihren Betten und vier Kommoden war das Zimmer leer. Nur die wenigen Habseligkeiten, die sie mit hierhergebracht hatten, gaben etwas Wärme.

Im Zimmer neben ihrem befanden sich noch vier weitere Frauen, die wahrscheinlich ebenso voller Angst warteten. Wie hatte sie nur in solch eine ausweglose Situation geraten können? Wie hatte sie blindlings mit in dieses Schloss reisen können, ohne zu wissen, was sie hier erwartete?

Sie war eine einfache Bauersfrau gewesen, die jeden Tag ihrer Arbeit nachgegangen war, und sie hatte es geliebt. Eines Tages waren Soldaten in ihr Dorf gekommen und hatten nach ledigen Frauen gesucht, die als Dienerinnen Prinz Kargon nach Andora begleiten sollten. Da sie die Welt sehen wollte – einmal etwas anderes als ihr kleines Dorf –, hatte sie sich gemeldet, wie so viele andere Frauen auch. Von den vielen Freiwilligen wurde sie ausgewählt und war voller Vorfreude aufgebrochen, um dem Prinzen und seiner zukünftigen Frau zu dienen. Es war eine große Ehre, den zukünftigen Herrschern Andoras zu dienen. Sie hatte sich nicht nur auf die Arbeit in Andora gefreut, sondern auch auf den Weg dorthin. Und auf die Soldaten, unter denen sie sich einen Mann erhofft hatte, der sie vielleicht irgendwann ehelichen würde. An Heirat war nun nicht mehr zu denken.

Sobald sie im Schloss angekommen waren, hatte man ihr und den anderen Frauen zwei Zimmer im hinteren Teil des Gebäudes zugeteilt und eine Wache vor ihren Türen postiert, damit sie ihre Gemächer nicht verlassen konnten. Fast eine Woche war vergangen, ohne dass sie erfuhren, was sie erwartete, was ihre neue Aufgabe sein würde.

Langsam waren die Frauen unruhig und ängstlich geworden. Sie hatten begonnen zu spekulieren, warum sie hier eingeschlossen waren und warum ihnen niemand sagte, was sie zu tun hatten. Dann war Prinz Kargon in seinen prächtigen Gewändern zu ihnen gekommen und hatte sie alle mit seinen braunen Augen angeblickt.

Raleene konnte sich noch gut erinnern. Sie alle hatten in einer Reihe gestanden und den Prinzen für sein Aussehen und seine Anmut bewundert. Er hatte nicht viel zu ihnen gesagt. Er wollte lediglich ihre Namen wissen. Dann hatte er auf Mira gedeutet und ihr befohlen, mit ihm zu kommen.

Auch damals war es mitten in der Nacht gewesen und die Frauen hatten überlegt, was Mira wohl für eine Aufgabe bekommen hatte und ob sie auch bald ihre Gemächer verlassen durften, um ihrer neuen Arbeit nachzugehen. Schon da hatte Raleene ein unangenehmes Gefühl beschlichen.