Zwillingsschmerz - Ana Dee - E-Book

Zwillingsschmerz E-Book

Ana Dee

4,6

Beschreibung

- Dieses Buch war nominiert für den Indie Autor Preis 2018 - BAND 1 Seit dem Verschwinden ihrer dreijährigen Zwillingstochter Marie ist für Marlene eine Welt zusammengebrochen. Die Ehe scheitert und auch Zwilling Mia leidet unter der Situation. Doch Marlene kann ihre verschollen geglaubte Tochter einfach nicht aufgeben. Um mit dieser schrecklichen Tragödie endlich abschließen zu können, will sie ein letztes Mal Nachforschungen anstellen. Sie heuert den Privatdetektiv Thomas Fields an und gemeinsam begeben sie sich auf die Suche, die sie nach Rügen führt. Marlene kommt den mysteriösen Vorfällen von damals tatsächlich näher, als erwartet, und bringt damit alle in Gefahr. Wird sie Marie je wieder in ihre Arme schließen können?

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Zwillingsschmerz

Ana Dee

Inhalt

Anmerkung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Danksagung

Weitere Bücher der Autorin

Anmerkung

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse.

Prolog

Schlagartig wurde sie wach. Ein feuchter Film aus Schweiß bedeckte ihre Haut und sie hörte die durchdringenden Schreie aus dem Nebenzimmer.

„Gebt sie mir zurück, ihr verdammten Schweine, dass könnt ihr nicht mit mir machen!“

Lisa - der Name kreiste hinter ihrer Stirn. Heute war also der Tag, an dem sie das Liebste verlor, weil sie es ihr weggenommen hatten. Augenblicklich verkrampfte sie sich und rang nach Luft. Stand ihr das auch bevor?

Es waren noch Monate bis dahin und ihr würde schon etwas einfallen.

Würde es das wirklich? Seit Jahren versuchte sie, dieser Situation zu entkommen. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie die Sonne am Himmel aussah, wie es sich anfühlte, von den wärmenden Strahlen berührt zu werden.

Die plötzliche Sehnsucht nach Freiheit war so überwältigend, dass sie sich auf die Unterlippe biss. Sie schmeckte das Blut und leckte es sich von den Lippen.

Solange du blutest, lebst du, also steh auf und kämpfe dich hier raus!

Kapitel 1

Die durchscheinenden Vorhänge bauschten sich auf, als eine sanfte Brise durch das Fenster ins Innere des Zimmers strich. Marlene wälzte sich stöhnend auf dem Laken.

„Marie, Liebes, komm zurück ...“, murmelte sie im Schlaf und rollte sich auf die andere Seite. Versunken im Traum streckte sie ihre zitternde Hand nach der Dreijährigen aus, doch das kleine Mädchen mit den Engelslocken und der glockenhellen Stimme löste sich allmählich in nichts auf.

„Mariiieeee!“

Marlenes verzweifelter Schrei hallte durch das Haus und sie fuhr erschrocken hoch.

„Mama? Alles in Ordnung?“ Mia stand in der Tür und musterte ihre Mutter besorgt. „Hattest du wieder einen dieser Träume?“

Beschämt senkte Marlene ihren Blick und flüsterte: „Ich kann einfach nicht aus meiner Haut. Marie sucht mich jede Nacht heim und mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass sie angeblich nicht mehr am Leben ist.“

„Du weißt doch Mama, dass wir da anderer Meinung sind.“

„Aber sicher. Komm her meine Maus und lass dich umarmen.“

Marlene drückte ihre Tochter fest an sich und trotz der Trauer durchflutete sie ein Glücksgefühl. Sie hütete Mia wie einen kostbaren Schatz, obwohl sie wusste, dass dieses Verhalten für das Mädchen manchmal zur Belastung wurde.

Mia löste sich behutsam aus der Umklammerung ihrer Mutter und umrundete das Bett. Wie selbstverständlich lupfte sie die Decke und nahm auf der leeren Seite des großen Doppelbettes Platz. Dann kuschelte sie sich eng an ihre Mutter, so wie sie es schon seit Jahren tat.

Marlene fuhr sanft durch Mias blonde Locken und hörte erst auf, als sie die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Tochter vernahm. Voller Bitterkeit erinnerte sie sich an die zurückliegenden Jahre, an die Scheidung von Frank und ihr persönliches Trauma.

Ihm war es irgendwann zu viel geworden, ihre Besessenheit von Marie und die Suche nach ihrer gemeinsamen Tochter. Sie konnte und wollte nicht akzeptieren, dass Marie nicht mehr am Leben sein sollte. Fünf Jahre war Frank noch an ihrer Seite geblieben, bis er sich getrennt und eine neue Familie gegründet hatte. Er war ein attraktiver Mann, damals wie heute, und Juliane, seine Neue, hatte ihm noch ein Mädchen geschenkt.

Marlene hatte ihm einmal an den Kopf geworfen, dass er Marie einfach ersetzen wollte. Natürlich war dem nicht so, es hätte genauso gut ein Junge werden können. Aber sie fühlte sich im Stich gelassen, auch wenn er sich nach der Trennung ausgesprochen großzügig verhalten hatte. Das Haus durfte sie behalten und ebenso den Wagen, aus dem inzwischen eine alte, rostige Kiste geworden war.

Vor dem morgigen Tag graute ihr besonders, denn sie würde Frank mit seiner Familie notgedrungen ertragen müssen. Mia wurde siebzehn und sie wollten diesen Geburtstag gebührend feiern. Erst im Kreise der Familie und anschließend hatte Mia geplant, mit ihren Freundinnen tanzen zu gehen.

Marlene stöhnte leise. Mias Geburtstag war der schönste und schlimmste Tag zugleich. Am liebsten würde sie sich verkriechen, auswandern, einfach nicht da sein. Aber das ließ sich nicht vermeiden und schon Mia zuliebe musste sie durchhalten.

Für sie waren es Höllenqualen, nur einem Mädchen Geschenke zu überreichen, dabei hatte sie an diesem Tag zwei Kinder zur Welt gebracht – die Zwillinge Mia und Marie. So wie jedes Jahr würde ein herzliches Lächeln ihre Lippen umspielen, während in ihrem Innersten ein erbitterter Kampf tobte.

Vorsichtig drehte sie sich auf die andere Seite, um Mia nicht zu wecken, und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Mit Wehmut erinnerte sie sich an den Tag, an dem das Unheil seinen Lauf genommen hatte ...

„So, ihr Hübschen, dreimal Zuckerwatte für die süßesten M&M’s.“

Frank reichte seiner Frau und seinen beiden Töchtern die Nascherei. Marie, die ungeduldigere der beiden Zwillinge, griff mit ihren kleinen Patschehändchen sofort in die fluffige rosafarbene Zuckerwatte und stopfte sich eine große Portion in den Mund.

Marlene rollte mit den Augen und wischte mit einem Taschentuch Maries Wangen sauber. „Unsere kleine Naschkatze lernt es wohl nie“, seufzte sie mit einem Lächeln.

„Von wem sie das wohl hat?“ Frank strahlte sie an und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Was willst du mir damit sagen?“ Gespielt entrüstet knuffte sie ihn in die Seite, bevor sie Hand in Hand über den Kirmesplatz schlenderten.

Die Zwillinge in ihren geblümten Kleidchen steuerten das nächste Fahrgeschäft an und klatschten begeistert in die Hände, während ihre Zöpfe fröhlich auf und ab wippten. Frank spendierte ihnen drei Fahrten und vergnügt jauchzend winkten Mia und Marie ihren Eltern zu.

Die Liebe und die Harmonie standen der kleinen Familie ins Gesicht geschrieben. Die Sonne strahlte vom Himmel und machte das Glück perfekt.

„Marlene, ich hole mir dort drüben am Stand eine Bratwurst, dieser ganze Süßkram ist nichts für mich.“

„Ja, mach nur, ich kümmere mich derweil um unsere Mäuse.“

Frank gesellte sich zu der kleinen Menschentraube vor dem Imbissstand, während Marlene mit Mia und Marie die bunten Buden bestaunte. An einem Verkaufsstand für Schmuck blieb sie stehen und betrachtete die Auslagen. Ihr Blick blieb an einem Paar silberner Ohrstecker hängen, die würde sie sich auf dem Rückweg gönnen.

„Mia, Marie, weiter geht’s.“ Ihre suchende Hand griff ins Leere. „Mia, wo ist Marie?“

„Luftballon!“ Mia deutete auf einen Mann, der im Clownkostüm bunte Ballons verkaufte.

„Oh nein.“

Marlene rannte los und zerrte die weinende Mia hinter sich her. Sie drängte sich durch die Menschenmenge und rief verzweifelt den Namen ihrer Tochter. Dann stand sie endlich vor dem Mann im Clownkostüm.

„Entschuldigen Sie bitte, haben Sie meine Tochter gesehen?“, fragte sie völlig außer Atem. Ihre Worte hatten einen flehenden Ton angenommen.

„Wie sieht sie denn aus?“

Marlene wehte eine leichte Alkoholfahne entgegen. „Das ist ihre Zwillingsschwester.“ Sie zeigte mit einer fahrigen Handbewegung auf Mia. „Sie trug das gleiche Kleidchen, die gleiche Frisur ...“ Nur mit Mühe konnte sie ein Schluchzen unterdrücken.

„Neee, die ist hier nicht entlanggekommen.“ Er wandte sich ab und kümmerte sich weiter um den Verkauf seiner Luftballons.

„Aber meine Tochter behauptet, dass Marie zu Ihnen gelaufen ist“, beharrte sie.

„Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich habe Ihren Knirps nicht gesehen und damit basta.“

Ein Arm legte sich um Marlene. „He, wo wart ihr denn? Ist etwas passiert?“ Franks Blick irrte suchend umher.

„Marie, sie ist einfach so verschwunden.“ Marlenes Stimme überschlug sich regelrecht.

„Ich verstehe kein Wort, bitte hilf mir auf die Sprünge.“ Frank musterte sie eindringlich.

„Ich war nur für einen winzigen Moment unaufmerksam und plötzlich war Marie wie vom Erdboden verschluckt. Mia meinte, sie wäre zu dem Stand mit den Luftballons gelaufen.“ Marlene konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

„So, mein Freundchen“, Frank warf die Bratwurst in einen Papierkorb und umklammerte den Unterarm des Mannes mit einem festen Griff. „Jetzt erzählst du mir bitte haargenau, wo ich meine Tochter finden kann.“

Die Antwort fiel anders aus, als erwartet, denn nur einen Atemzug später taumelte Frank zurück. Die Faust des Mannes hatte sein Kinn getroffen.

„Jetzt reicht es!“

Frank war außer sich und stürzte sich auf ihn. In wildem Gerangel wälzten sich die Männer auf dem Boden und wirbelten jede Menge Staub auf.

„Schluss jetzt!“ Ein Ordnungshüter mischte sich ein und zerrte die Männer auseinander. „Worum geht es eigentlich?“

Frank klopfte seine Hose sauber. „Unsere Tochter ist verschwunden, genau an dieser Stelle.“

„Stimmt das?“

Der stämmige Mann von der Security drehte sich zu dem Mann im Clownkostüm, doch der zuckte nur mit seinen Schultern.

„Hier kommen am Tag zig Leute vorbei, da kann ich nicht auf jeden einzelnen Besucher achten.“

„Bitte, was wird denn nun?“

Marlene hatte das Gefühl, allmählich durchzudrehen. Das Blut rauschte in den Ohren und ihr Puls raste.

„Wie konnte das überhaupt passieren?“, stellte der Securitymitarbeiter die Gegenfrage.

„Ich weiß es nicht ... plötzlich war meine Tochter verschwunden, einfach so.“ Marlene war erneut den Tränen nahe. Ihr schlimmster Albtraum schien sich zu verselbstständigen.

„Wie sieht das Mädchen aus?“

„Genauso wie unsere zweite Tochter, sie sind Zwillinge.“

Der stämmige Typ hielt sich das Funkgerät an die Lippen und forderte seine Mannschaft sofort dazu auf, das gesamte Gelände nach Marie zu durchkämmen.

„Wenn Ihre Tochter nicht auftaucht, müssen Sie die Polizei verständigen.“

Marlenes Herzschlag setzte für eine Schrecksekunde aus. Sie hatte von Anfang an gespürt, dass irgendetwas nicht stimmte. Sicher, die Mädchen waren oft quirlig und hatten ihren eigenen Kopf, aber noch nie war eine von ihnen fortgelaufen. Mia und Marie waren eineiige Zwillinge und hingen meist wie Kletten aneinander.

Frank fand als Erster die Sprache wieder. „Wir sollten Marie suchen und nicht länger unsere Zeit vertrödeln.“

Er nahm Mia auf den Arm und eilte voraus, während Marlene ihm wie in Trance folgte. Sie liefen den Weg, den sie bisher genommen hatten, mehrmals auf und ab, bevor sie sich hinter den Ständen umschauten.

Nach einer Stunde schweißtreibender Suche gaben sie auf und informierten die Polizei. Marlene zitterte und schlang fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper, als sie am Straßenrand auf die Beamten warteten.

Irgendjemandem hätte das kleine Mädchen doch auffallen müssen, aber es gab nicht die geringste Spur. Marlene konnte förmlich spüren, wie Marie um Hilfe schrie, sich nach ihrer Mutter und ihrer Schwester sehnte. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein netter älterer Herr, der Marie ein Kätzchen versprach, wenn sie ihm folgte. Schluchzend warf sie sich in Franks Arme.

„Schhhh ... alles wird gut mein Schatz. Die Jungs in Uniform werden sie finden“, versuchte er sie zu beruhigen.

Mit verquollenen Augen schaute sie zu ihm auf. „Das glaubst du doch selbst nicht. Ich habe kein gutes Gefühl, Marie ist etwas Schreckliches zugestoßen.“

Sie löste sich beinahe trotzig aus seiner Umarmung und atmete auf, als zwei Streifenwagen neben ihnen hielten. Die Befragung ging rasch vonstatten und am Ende schoss einer der Beamten noch ein Foto von Mia.

„Wir durchsuchen jetzt das gesamte Areal. Es wäre das Beste, wenn Sie nach Hause fahren und abwarten, schon ihrer kleinen Tochter zuliebe.“ Er nickte in Mias Richtung, die sich verstört an Frank klammerte.

„Ich kann hier nicht weg“, flüsterte Marlene mit tonloser Stimme. „Marie braucht mich, dass kann ich deutlich spüren.“

„Bitte Marlene, wir machen uns doch nur verrückt. Die Männer werden schließlich wissen, was zu tun ist. Stell dir vor, sie finden Marie und wir sind nicht zu Hause?“

„Du machst es dir wie immer leicht.“ Ihre Stimme klang schrill und vorwurfsvoll.

„Das ist nicht wahr und das weißt du auch“, erwiderte Frank entrüstet. „Oder kannst du mir sagen, wie lange Mia noch durchhält?“

Marlene gab sich geschlagen. Widerwillig trottete sie ihm zum Wagen hinterher, ständig nach Marie Ausschau haltend, ob sie das Mädchen nicht doch noch irgendwo entdeckte. Frank hielt ihr die Autotür auf und sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Noch immer zitterte sie unkontrolliert, als sie sich anschnallte und die eingegangenen Nachrichten auf ihrem Smartphone kontrollierte.

Frank steuerte den Wagen schweigsam zurück. Er wusste genau, dass jedes tröstende Wort an Marlene abprallen würde. So aufgelöst hatte er sie noch nie erlebt. Aber auch er musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass er die Wahrheit ebenso wenig akzeptieren wollte.

Nachdem sie das schmucke Einfamilienhaus erreicht hatten, ließ er den Wagen achtlos in der Einfahrt stehen und begleitete Marlene und Mia ins Haus.

„Was hältst du davon, wenn ich uns einen Kaffee aufsetze?“ Frank schaute sie fragend an.

„Gute Idee“, antwortete Marlene abwesend.

Sie griff nach Mias Hand und lief die Stufen hinauf ins Kinderzimmer. Ungestüm drückte sie die Klinke herunter und ein traumhaftes Märchenland aus Rosa öffnete sich ihr. Doch in ihrem jetzigen Zustand hatte Marlene keinen Blick dafür.

Sie zerrte das geblümte Kleid über Mias goldgelocktes Köpfchen und schleuderte es in eine Ecke. Es war für sie unerträglich, diesen Anblick weiterhin vor Augen zu haben. Stattdessen zog sie Mia ein leichtes Shirt und eine kurze Hose über und lief mit ihr wieder nach unten.

„Darf ich ein Eis haben?“, fragte Mia und schaute sie mit ihren großen blauen Augen bittend an.

Marlene war in dieser Beziehung recht streng und achtete sehr auf eine gesunde Ernährung, doch heute drückte sie Mia wortlos das Eis in die Hand. Dann setzte sie sich zu Frank an den Küchentisch und nippte am Kaffee.

„Wie wird es jetzt weitergehen?“, murmelte sie verzweifelt.

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, gestand ihr Frank mit trauriger Miene.

Inzwischen hatte eine großangelegte Suche stattgefunden, doch Marie blieb weiterhin verschwunden und die Fahndung wurde ausgeweitet. Nach einer schlaflosen Nacht saßen sich Frank und Marlene erneut gegenüber. In ihren Gesichtern spiegelte sich das blanke Entsetzen und mit jeder anbrechenden Stunde wuchs die Hoffnungslosigkeit.

Frank waren die beruhigenden Worte ausgegangen und inzwischen bereute er zutiefst, nicht auf Marlene gehört zu haben. Vielleicht hätten Sie Marie gefunden, wenn sie dageblieben wären? Doch er wollte seinen Fehler vor Marlene nicht eingestehen und kümmerte sich stattdessen aufopferungsvoll um Mia und den Haushalt.

Marlene hingegen fühlte sich wie in einem Vakuum, sie war zu nichts mehr fähig. Die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht und sie wirkte kränklich. Teilnahmslos saß sie am Tisch und hing ihren Gedanken nach. Frank machte sich große Sorgen und wenn sich ihr Zustand nicht bald besserte, würde er um psychologische Hilfe bitten müssen.

Der schrille Klingelton des Telefons zerriss die Stille. Marlene sprang auf und umklammerte den Hörer, sodass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten.

„Nein, es gibt keine Neuigkeiten, tut mir leid. Wir melden uns, sobald Marie wieder wohlbehalten bei uns ist, aber jetzt brauchen wir eine freie Leitung, entschuldige bitte.“ Mit einem traurigen Gesichtsausdruck legte sie den Hörer zur Seite. „Deine Mutter“, erklärte sie schroff.

„Bitte Marlene, sie kann doch nichts dafür. Sie macht sich genauso verrückt wie wir.“

„Aber ich habe ihr doch schon etliche Male gesagt, dass wir uns melden, sobald sich an der Situation etwas ändert.“

„Wir sollten jetzt nicht über das Thema Schwiegermütter streiten. Meine Mutter ist ebenfalls an ihrem seelischen Limit angekommen, genau wie du. Sie liebt ihre beiden Enkeltöchter abgöttisch.“

„Entschuldige bitte.“ Marlene senkte schuldbewusst den Kopf.

Frank beugte sich zu ihr herunter und küsste zärtlich ihren Nacken. „Wir schaffen das, wir sind stark. Bestimmt hat sich Marie nur irgendwo verkrochen ...“

Tröstend legte er seinen Arm um ihre Schultern, doch Marlene schüttelte ihn ab.

„Das glaubst du doch selbst nicht!“ Ihre Augen funkelten zornig.

„Ich will es aber glauben und ich will mir meine Hoffnung nicht zerstören lassen.“ Frank klang wie ein trotziges Kind.

„Ich habe mir die Statistik angesehen und die ist nicht sonderlich berauschend, wenn es um vermisste Kinder geht.“

„Warum musst du immer alles schwarzsehen? Die meisten Kinder tauchen wieder auf.“

„Weil ich es als Mutter fühlen kann, verdammt noch einmal!“

Marlene machte eine ausholende Handbewegung und fegte die Kaffeetassen vom Tisch. Kleine braune Kaffeelachen breiteten sich zwischen den Scherben aus. Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihren Körper und sie eilte in das Badezimmer.

„Papa, streitet ihr wieder?“

„Komm her mein Mäuschen.“ Frank hob seine Tochter hoch und strich ihr liebevoll durch die blonden Locken.

„Seid ihr wegen Marie traurig?“

„Ja, das sind wir.“ Er drückte Mia fest an sich. „Aber die Polizei wird sie finden, da bin ich mir ganz sicher.“

Tag für Tag verging ohne eine positive Nachricht über den Verbleib ihrer gemeinsamen Tochter. Inzwischen begann auch Franks fester Glaube zu bröckeln, dass Marie wohlbehalten zu ihnen zurückkehren würde.

In ihrer grenzenlosen Verzweiflung hatten sie in der näheren Umgebung Flugblätter verteilt und in den sozialen Netzwerken einen Hilferuf gestartet. Doch brauchbare Ergebnisse waren ausgeblieben. Auch ihre Ehe schien die ersten Risse davonzutragen. Jeder driftete in eine andere Richtung, aus dem vorherrschenden Wir wurde ein einsames Ich.

Während sich Frank nach und nach mit dem Unvermeidlichen abfand, begann für Marlene die eigentliche Suche. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich sogar an ein Medium. Diese Frau hatte ihr glaubhaft versichert, dass Marie noch am Leben sei, dass sie nur entführt wurde, um einem höheren Zweck zu dienen.

Marlene klammerte sich an diesen Strohhalm, was Frank überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Sie stritten sich nur noch, bis die Fetzen flogen, und selbst eine Paartherapie konnte die tiefen Risse nicht mehr kitten. Frank wollte damit abschließen, wollte wieder nach vorn schauen. Auch er litt Höllenqualen, sobald er an Marie dachte, aber er brauchte seinen inneren Frieden.

Fünf Jahre später kam es zur Trennung.

Während Marlene einsam zurückblieb, verliebte sich Frank neu. Die Hochzeit mit Juliane, die darauffolgende Schwangerschaft, alles ging so rasend schnell. Diesen Umstand konnte sie ihm nie verzeihen. Die Suche nach Marie war für sie zur Obsession geworden.

Kapitel 2

„Guten Morgen meine Große und alles Gute zu deinem Geburtstag.“ Marlene betrat mit einem Tablett das Schlafzimmer und stellte es auf dem Nachtschränkchen ab. „Ich denke, an diesem besonderen Tag können wir eine kleine Ausnahme machen und im Bett frühstücken.“

„Gute Idee“, pflichtete Mia ihr bei und biss herzhaft in ein frisches Croissant.

„Du kannst es wohl nicht abwarten“, tadelte Marlene mit einem Lächeln.

„Wo sind eigentlich meine Geschenke abgeblieben?“, nuschelte Mia mit vollem Mund.

Wie auf Kommando klingelte das Telefon.

„Hier, für dich.“ Marlene reichte es an Mia weiter.

„Was? Das ist jetzt nicht wahr, oder? Danke Dad, ich werd verrückt!“ Mia ließ das Croissant fallen und fiel ihrer Mutter um den Hals. „Danke Mama, ihr seid die Besten!“

„Ich weiß“, wehrte Marlene lachend ihre Tochter ab. „Wir haben dich schon in der Fahrschule angemeldet, in zwei Wochen geht es los.“

„Wahnsinn! Ich kann es noch gar nicht fassen, dass ich bald ein Auto fahren werde.“

„Nun mal langsam, ich muss dich immerhin auf dem Beifahrersitz begleiten und eingreifen, wenn es brenzlig wird. Aber jetzt lass uns frühstücken.“

Marlene setzte ein vergnügtes Lächeln auf und strahlte Mia an. Ihre Tochter sollte sich wie eine Prinzessin fühlen, sie durfte ihr den Tag auf keinen Fall verderben, Marie hin oder her.

Nachdem Mia das Haus verlassen hatte, stieg Marlene in den Wagen und machte sich auf den Weg in die Innenstadt. Sie hatte heute extra Urlaub genommen und befürchtete, dass genau dieser Umstand ihr zum Verhängnis werden könnte. In einem leeren Haus herumzusitzen und über den noch immer tiefsitzenden Verlust zu grübeln, würde sie wahrscheinlich an den Rand des Wahnsinns treiben.

Sie steuerte den Wagen in ein Parkhaus und machte sich auf den Weg in die Innenstadt. Gemächlich bummelte sie durch die Fußgängerzone und ergatterte eine reduzierte und ausgesprochen elegant geschneiderte Bluse. Sie kleidete sich gern im klassischen Stil, auch wenn es in ihrem Leben niemanden gab, der ihr dafür Komplimente machte.

In einem lauschigen Café setzte sie sich auf die Terrasse, beobachtete die wenigen Passanten und ließ ein Stück Torte genüsslich auf ihrer Zunge zergehen.

Sie hatte gerade gezahlt, als sie einen blonden Lockenkopf in einer Boutique verschwinden sah. Marie! Ihr Herzschlag setzte aus und sie begann zu zittern. Umgehend schnappte sie sich ihre Tasche und stürmte die Fußgängerzone entlang.

Mit klopfendem Herzen betrat sie die kleine Boutique und sah sich suchend um, bevor sie eine Angestellte um Hilfe bat.

„Haben Sie die junge Frau gesehen, die soeben Ihr Geschäft betreten hat?“, fragte sie noch immer außer Atem.

Mit einem freundlichen Nicken deutete die stark geschminkte Frau in Richtung der oberen Etage.

„Dankeschön“, murmelte Marlene und eilte die Treppe hinauf. Sie zwängte sich durch die engen Räumlichkeiten, den Blick fest auf den wippenden Lockenkopf gerichtet.

Ohne lange darüber nachzudenken, riss sie die Schulter der jungen Frau herum. „Marie?“

„Mama, was machst du denn hier?“, rief Mia erstaunt, während ihre zwei besten Freundinnen unauffällig das Weite suchten.

„Das Gleiche könnte ich dich auch fragen. Schwänzt du etwa die Schule?“ Marlene musste sich erst einmal sammeln und atmete tief durch.

„Oma hat mir ein paar Euros zugesteckt und ich wollte die Freistunde nutzen, um das Geld in dieses schicke Shirt zu investieren. Und was hast du noch so vor?“

„Einkaufen“, erwiderte Marlene rasch. „Dann möchte ich euch nicht länger stören, habt noch viel Spaß.“

Sie hauchte Mia einen Abschiedskuss auf die Wange und machte auf dem Absatz kehrt. Mit Tränen in den Augen hetzte sie zum Parkhaus und fuhr zurück. Völlig aufgelöst schloss sie die Eingangstür auf und pfefferte die Einkaufstüten in eine Ecke. Dann warf sie sich auf die Couch und schluchzte hemmungslos.

Sie hatte Mia eindeutig diesen Tag verdorben, obwohl das überhaupt nicht ihre Absicht gewesen war. Doch Marlene konnte dieses Verhalten einfach nicht abstellen. Sobald sie unterwegs war, musterte sie aufmerksam die Umgebung immer in der Hoffnung, auf Marie zu treffen. Ganz tief in ihrem Herzen konnte sie fühlen, dass ihre so schmerzlich vermisste Tochter noch am Leben war.

Mia litt sehr darunter, ihre Mutter so verzweifelt zu sehen, und fühlte sich oft zurückgesetzt. Selbst eine Therapie hatte Marlene nicht helfen können und manchmal beneidete sie jene Eltern sogar darum, die ihr Kind begraben und damit abschließen durften. Sie hingegen hoffte und hoffte und hoffte ...

Sie war innerlich ein Wrack und einsamer denn je. Obwohl Anfang vierzig, war sie noch immer eine zierliche, attraktive Frau, die das eine oder andere Männerherz höher schlagen ließ. Doch sobald ihre seelischen Probleme deutlich sichtbar wurden und die Trauer ihre äußere Fassade durchbrach, ergriffen die meisten der Herren die Flucht. Keiner war Marlenes innerer Zerrissenheit auf Dauer gewachsen. Dabei fehlte ihr des Öfteren eine starke Schulter zum Anlehnen.

Mit einem zerknitterten Taschentuch tupfte sie sich die Tränen von der Wange und trottete ins Badezimmer, um mit kaltem Wasser ihr verquollenes Gesicht zu kühlen. Anschließend deckte sie die Geburtstagstafel und füllte die Salate in Großmutters teures Porzellan. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und lief ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

Eine kleine Traube schnatternder Teenager hatte sich im Wohnzimmer verbarrikadiert, während die Großeltern im Garten bei einer Tasse Kaffee zusammensaßen. Marlene hatte ordentlich zu tun, um alle Gäste zu bewirten und ihre beste Freundin Elena unterstützte sie dabei.

„Marlene, kann ich dich einen Moment sprechen?“ Frank steckte seinen Kopf zur Tür herein.

Mia musste ihm wohl von der Verwechslung erzählt haben. Betont langsam wischte sie ihre Hände am Handtuch ab. „Lass uns nach oben gehen“, forderte sie ihn auf und lief voraus. Im Arbeitszimmer ließ sie sich in den Sessel fallen. „Und, was gibt es so Dringendes, dass du mich ausgerechnet jetzt sprechen möchtest?“

Frank räusperte sich. „Du musst endlich loslassen, Marlene. Ich weiß wirklich nicht, wie oft ich dir diesen Ratschlag noch erteilen soll. Es macht dich kaputt, wenn du immer nur zurückschaust, wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern.“

„Aha, bist du jetzt ein ausgebildeter Psychologe?“, antwortete sie mit einem spöttischen Unterton.

„Nein, aber es hat Mia sehr verletzt, dass du sie für Marie gehalten hast. Sie lebt im Schatten ihrer Schwester, siehst du das denn nicht?“

„Weißt du, was mich wundert? Dass du Mia immer als Vorwand benutzt. Dabei warst du doch derjenige, der Marie ohne weiteres ausgetauscht hat“, rechtfertigte sie sich.

„Bitte nicht schon wieder diese alte Leier“, stöhnte er auf. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Deine Therapie hat nichts gefruchtet, du lebst immer noch allein ...“

„Das alles geht dich überhaupt nichts mehr an“, fauchte sie wütend. „Ich führe mein Leben so, wie ich es für richtig halte. Punkt.“

„Das wäre ja auch alles kein Problem, wenn du Mia damit nicht ständig belasten würdest“, konterte er.

„Sagt wer?“

„Vergiss es einfach.“ Frank winkte resigniert ab. „Ich bitte dich nur darum, Mia eine gute Mutter zu sein.“

„ ... sagte der Vater, der durch Abwesenheit glänzt“, vollendete sie den Satz. Seine Worte hatten sie zutiefst verletzt. „Ich bin eine gute Mutter und das weißt du auch“, empörte sie sich. „Wenn Mia krank war, habe ich an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten, während du mit Juliane gevögelt hast.“

So, jetzt war es raus. Sie stand auf und schritt hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei. Nein, so einfach war das nicht, auch wenn sie vielleicht ihr gesamtes Leben vergebens hoffen würde.

„Ich erkenne dich nicht wieder und ich verbiete dir, so über uns zu reden.“ Fassungslos schüttelte er seinen Kopf.

„Wie du das kleine Wörtchen uns betonst. Ich denke, damit hast du dich selbst ins Abseits manövriert.“

„Jedes Wort, das ich sage, legst du auf die Goldwaage.“ Seine Geduld schrumpfte merklich.

„Frank, die Geburt unserer Zwillinge war einst der schönste Tag in unserem Leben. Dass du ausgerechnet heute mit mir darüber streiten musst, spricht nicht unbedingt für dich.“ Sie ließ ihn einfach stehen und lief nach unten.

Kapitel 3

Lisa saß mit verquollenen Augen auf der Bettkante. „Warum sind die anderen nach der Geburt nur so emotionslos?“, fragte sie schluchzend.

„Ich kann es dir leider nicht sagen“, antwortete Lene. „Eigentlich bin ich auch ganz froh darüber, dass ich diese Erfahrung noch nicht machen musste“, gestand sie Lisa ehrlich.

„Aber du bekommst inzwischen Hormone gespritzt?“

Lene nickte. „Mir geht es gar nicht gut und ich fürchte mich vor der nächsten künstlichen Befruchtung.“

„Es ist zum Verzweifeln und noch einmal stehe ich das nicht durch. In meinen Träumen höre ich meine Kinder schreien und das treibt mich fast in den Wahnsinn. Vielleicht sollte ich noch mehr Sport treiben und abnehmen, um mehr Zeit zu gewinnen.“

„Meinst du, das hilft?“ Hoffnung schimmerte in Lenes Augen.

„Ich weiß es nicht genau.“ Lisa schüttelte bedauernd ihren Kopf. „Aber ich will nie wieder schwanger werden, eher sterbe ich.“

„So etwas darfst du niemals denken. Außerdem, was wird dann aus mir?“

„Aber ich kann nicht einfach so weitermachen. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich Mädchen oder Jungen das Leben geschenkt habe. Ich vermisse die beiden so sehr.“

„Du durftest keinen Blick auf deine Kinder werfen?“, fragte Lene schockiert.

„Nein, sie haben gesagt, dass würde mich nur verwirren. Hast du eigentlich einen besonderen Trick, weil du bis jetzt noch nicht schwanger geworden bist?“ Lisa schaute sie aufmerksam an.

„Ich weigere mich einfach, will es nicht akzeptieren. Große Sorgen bereiten mir nur die Hormone, die sie in mich hineinpumpen. Ich habe Angst, dass sich mein Körper irgendwann seinem Schicksal beugt.“

„Wie erwachsen du klingst. Weißt du eigentlich, was mit uns passiert, wenn wir keine Kinder mehr bekommen können? Hier müsste es doch nur so von älteren Frauen wimmeln?“

„Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Vielleicht kommen sie dann auf eine andere Station?“ Ratlos zuckte Lene mit den Schultern.

„Manchmal habe ich so meine Zweifel an der Geschichte mit den Auserwählten, dass wir hier in Saus und Braus leben können, während da draußen die Welt zugrunde geht. Wir müssen immer nur das essen, was sie uns vorsetzen, lernen rund um die Uhr und wenn ich an die strengen Regeln denke ...“ Lisa stieß frustriert die Luft aus. „Wir sind für den Fortbestand der Menschheit vorbestimmt, was für eine alberne Floskel. Die Natur hat uns mit zwei Milchpacks ausgestattet, damit wir unsere Kinder eigenständig aufziehen.“

Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und Lene nahm sie tröstend in den Arm.

„Ich will meine Kinder zurück“, schluchzte Lisa leise.

Lene strich ihr sanft übers Haar. „Ich würde dich so gern von deiner Last befreien, aber ich fürchte, wir sind ihnen hilflos ausgeliefert.“

Lisa hob ihren Kopf und blickte Lene fest in die Augen. „Wenn ich wieder schwanger bin, nehme ich mir das Leben. Ich kann das einfach nicht, für niemanden auf der Welt. Es zerreißt mir das Herz, es macht mich kaputt.“

„Bitte Lisa, tu das nicht“, stammelte Lene verzweifelt.

„Sie halten uns wie Tiere. Statt Tageslicht gibt es UV-Lampen und ich frage mich, ob wir jemals die Sonne zu sehen bekommen?“

„Vielleicht können wir fliehen, zusammen, ohne den anderen zurückzulassen?“ Ein Funken Hoffnung lag in ihrer Stimme.

„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Lisa rückte ein wenig von ihr ab. „Lucy hat erzählt, dass sie überall Kameras haben und jeden unserer Schritte überwachen. Sie ist sich sogar sicher, dass die uns abhören.“

„Wirklich?“ Lene ließ resigniert die Schultern hängen.

„Noch bevor wir das Wort Flucht überhaupt ausgesprochen hätten, würden die etwas unternehmen. Sie sagen uns immer wieder, wie kostbar unsere Gene sind und dass sie uns deshalb so hüten. Aber ich habe mich nicht nur einmal gefragt, was aus den Mädchen geworden ist, die bei den Prüfungen versagt haben und aussortiert wurden. Von heut auf morgen waren sie verschwunden.“

Lisa redete sich in Rage.

„Wir tragen alle Vornamen mit dem gleichen Anfangsbuchstaben. Wo sind unsere Eltern abgeblieben? Wurden wir genauso künstlich gezeugt und gleich nach der Geburt unseren Müttern entrissen? Es wäre doch für alle Beteiligten das Beste, wenn wir unser Muttersein auch ausleben dürften. Also wenn du mich fragst, hier ist irgendetwas faul.“

„Dann müssen wir etwas dagegen unternehmen, gemeinsam schaffen wir das“, antwortete Lene mit Nachdruck.

„Wir wissen doch gar nicht, wie es hinter den Stahltüren aussieht.“

„Oh doch, ich weiß es“, beharrte Lene. „Fast jede Nacht träume ich davon. Ich sehe den Himmel, der sich in einem kräftigen Hellblau über uns wölbt und fühle die Sonne, die mir warm ins Gesicht scheint. In mir sind Erinnerungen wie aus einer anderen Zeit.“

„Das hast du bestimmt nur aus deinen Büchern. Mir fehlen diese Träume, ich lebe immerzu im Hier und Jetzt.“ Lisa bereitete es sichtlich Mühe, ihre Tränen erneut zurückzuhalten.

„Wenn wir doch nur einen Blick in die Akten im Büro werfen könnten. Manchmal träume ich sogar von meinen Eltern. Wir wohnen in einem großen Haus mit einem großen Garten, in dem viele bunte Blumen blühen. Dort steht auch so ein Ding, wo man schaukeln kann. Meine Mutter hat langes braunes Haar und mein Vater trägt immer einen Anzug.“

„Ich wünschte, ich könnte auch in so eine Fantasiewelt abtauchen“, seufzte Lisa.

„Ich glaube nicht, dass diese Welt nur in meinem Kopf existiert. Die Stimme meiner Mutter klingt so liebevoll und unheimlich vertraut.“

„Ach Lenchen, wer weiß schon, was sich in unseren Gehirnwindungen so abspielt, damit wir das Leben hier irgendwie erträglicher finden.“

Ein leises Summen ertönte.

„Tja und schon ist der Tag wieder vorüber, wir sehen uns beim Frühstück. Schlaf gut.“ Lisa winkte ihr noch einmal zu und verschwand zur Tür hinaus.

Dann war Lene wieder allein. Sie streckte sich auf ihrem Bett aus und schloss die Augen. Nacht für Nacht tauchte sie in die Welt ihrer Träume, um für wenige Augenblicke die Wärme und Geborgenheit zu spüren, die von ihnen ausging.

Sie fühlte sich eingesperrt und wusste nicht, wie sie dem entkommen konnte. Es musste noch etwas anderes existieren, da war sie sich sicher. Dieses Gefasel, dass sie zur Elite gehörten, dass sie auserwählt worden waren, das hörte sich so verlogen an.

Der Unterrichtsstoff hatte es in sich, gar keine Frage, und Lene war eine der Besten. Aber wozu wurden sie auf so ungewöhnliche Weise gedrillt, wenn sie anschließend doch nur als Gebärmaschinen dienen sollten? Das passte vorn und hinten nicht zusammen.

Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich auf die andere Seite. Wie lange würde sie dieses Leben noch ertragen können? Und wäre der von Lisa anvisierte Freitod tatsächlich eine Option?

Lene stellte sich mit ihrem Tablett geduldig in die Schlange der Wartenden. Heute würde es zum Frühstück wieder Müsli, Obst und eine Scheibe Vollkornbrot geben. Nur das Beste für die Gäste, dachte sie frustriert, als sie an der Reihe war.

Lisa war noch nicht da, was sie erstaunt zur Kenntnis nahm. Dabei war ihre Freundin immer die Erste, wenn es ums Essen ging. Kaum hatte sie an ihrem Tisch Platz genommen, tauchte Frau Weber auf.

„Lene, du kommst bitte gleich nach dem Frühstück ins Labor zur Blutabnahme.“

„In Ordnung“, murmelte Lene zustimmend.

Sie konnte diese Frau auf den Tod nicht ausstehen. Selten hatte sie jemanden erlebt, der ihr auf Anhieb so unsympathisch gewesen war. Grell geschminkte Lippen und eine arrogante Körperhaltung waren die Markenzeichen dieser Frau.

Ein Gedanke blitzte auf. Wo schlief eigentlich das Personal? Stets zogen sie sich eine Jacke über, wenn sie den Trakt verließen.

„Guten Morgen.“ Lisa knallte das Tablett auf den Tisch und riss Lene aus ihren Gedanken.

„Hmmm, was für ein köstlicher Geruch.“ Neidisch blickte sie auf Lisas Teller. „Rührei mit gewürfelten Schinkenstückchen und dazu ein kleines Küchlein.“

„Weißt du was?“ Lisa schob den Teller in ihre Richtung. „Ich habe sowieso keinen Hunger und überlasse dir meine Portion.“

„Wirklich?“ Lene schaute sie mit großen Augen an.

Lisa nickte. „Lass es dir schmecken.“

Lene versenkte ihre Gabel im Rührei und schob sie genüsslich in den Mund.

„Die wollen mich nur mästen“, fuhr Lisa fort, „damit ich weitere Kinder gebären kann. Nicht mit mir“, wisperte sie leise, „nicht mit mir!“

„Aber du musst wieder zu Kräften kommen Lisa, du siehst wirklich sehr dünn aus.“

„Das ist mir egal. Wenn ich krank bin, kann ich nicht mehr schwanger werden, so einfach ist das. Ab heute stelle ich das Essen ein.“

„Du bist verrückt.“ Lene schob den Teller angewidert in Lisas Richtung. „Entschuldige, aber mir ist der Appetit restlos vergangen.“

„Jetzt mach nicht so ein Drama daraus, die anderen sehen schon zu uns herüber.“