Zwischen Eden und Trans - Heino Dölker - E-Book

Zwischen Eden und Trans E-Book

Heino Dölker

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Beschreibung

Nach "In Spottes Namen", Non-Fiction-Lyrik, folgt jetzt dieses Buch mit Kurzgeschichten "Zwischen Eden und Trans". Hier werden gesellschaftliche Zwänge und individuelles, menschliches Verhalten in analogen Metaphern paraphrasiert. Unser Anfang startet mit einer naiven Fiktion angeblich in Eden. Eva klaut vom Baum der damaligen unwissenschaftlichen Erkenntnis einen Apfel und Adam verspeiste ihn. Aber die Frucht, noch unreif, verursachte Blähungen. Daraus fabulierten wir, die Erben, im stillen Örtchen in geistlicher Notdurft, eine ideologisch philosophische Glaubenskrücke, den Trans-Axiom-Schisslaweng. Der Leser soll unterhalten und animiert werden, sein eigenes Verhalten sowie allgemeine Normen der Gesellschaft reflektorisch zu analysieren, um unabhängig vom herrschenden System, die Straße der wissenschaftlichen Erkenntnis zu wählen. Stellen wir die Welt wieder auf die Füße. Ade der politischen Placebo-Industrie! Überwinden Sie in sich den devoten Ja-Sager. Werden Sie Greta als Erwachsener, um die Ignoranten, Salbader und Geisterfahrer, die unseren Blauen lynchen, auszubremsen.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 389

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über den Sinn des Daseins

gibt es viele mystifizierte Fiktionen.

Der Sinn meines Daseins

verbirgt sich logischerweise hinter dem Zufall.

Zum Schreiber

Heino Dölker, Jahrgang 1937, lebt seit vielen, vielen Jahren furchtlos am Fuße des Vulkans auf der Insel Stromboli. Als studierter Grafiker und Texter hat ihn auf seine alten Tage die Sorge gepackt, wir könnten unseren Blauen, auch Kartoffel der Idioten genannt, wegen Hirnlosigkeit und Profitdenken vollständig ruinieren.

Nach „In Spottes Namen“, einer Non-Fiction-Lyrik, folgt nun sein Band mit Kurzgeschichten aus dem Planschbecken der Menschheit: mal belle – mal triste. Die Erzählungen sollen nicht nur unterhalten, sondern auch ein Anstoß des Nachdenkens sein.

Aus Scham, das Beispiel Greta vor Augen, würde er gerne alle Erwachsenen und Alten zum Aufruf bewegen: „Everyday for Future!“ Doch bereits seine Katz miaut herbe Kritik, dass sein Bestreben, die Umwelt zu retten, Zeitverschwendung und sinnlos sei, angesichts der von alters her herrschenden Klassen von profitgierigen Sesselfurzern, religiösen Geisterfahrern und politischen Salbadern. Sie empfiehlt ihm, lieber wieder zum Angeln aufs Meer zu fahren, um einen der letzten Fische zu fangen.

Er hat jedoch, mit Altersstarrsinn, die erhobene Pfote seiner Katz ignoriert und beschreibt in neun Geschichten individuelle Begebenheiten sowie nicht alltägliches Verhalten. Der Leser soll, durch seine eigene Stellungnahme, angeregt werden, tradierte Werte zu analysieren und dadurch den devoten Ja-Sager überwinden. Um noch vor dem Point of no Return, als Alternative, verifizierte, wissenschaftliche Ergebnisse zu akzeptieren.

Ein weiteres Letztlingswerk! Why not!

Heino Dölker

Zwischen Eden und Trans

Kurzgeschichten

© 2021 Heino Dölker

Cover: Heino Dölker

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung zu kommerziellen Zwecken ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag und Druck: tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

IBSN Taschenbuch: 978-3-347-35134-9

ISBN E-Book: 978-3-347-35136-3

Inhaltsverzeichnis

Zwischen Eden und Trans

Seite 7 - 64

Die Fahrt nach Ubatschna

Seite 65 - 80

Hartz im Glück

Seite 81 - 167

Sie nannten ihn La-La

Seite 168 - 189

Zahltagskizze

Seite 190 - 193

Eröffnungsrede

Seite 194 - 205

Außer Dienst

Seite 206 - 243

Der Vulkan spuckt aus, was zu viel ist

Seite 244 - 255

Superulk

Seite 256 - 330

Zwischen Eden und Trans

Der Anfang war ein Zustand, den ich mir noch nicht erklären konnte. Mir fehlte jegliche eigene Erinnerung nach dem Woher und dem Wohin. Nur eines stand fest, ich befand mich auf Reisen.

Im Morgengrauen war ich angeblich von Eden aus aufgebrochen. Jedenfalls sagte man mir, es sei Eden. Alle sagten es mir; es war allgemein. Ich hatte mir meinen gewichtigen, unhandlichen Rucksack auf den Rücken gehievt und begann zur rechten Seite der Landstraße mit forschen Schritten meine Wanderung. Die Richtung war eindeutig, denn sie führte vom Anfang in Eden direkt nach Trans. Kein Zurück, kein Rechts, kein Links. Oder?

Der Vormittag war ekelhaft. Ein Gewitter stand schwebend am Himmel, zog hoch und wieder nieder, völlig lautlos, wie eine Apokalypse drohend: Pass auf! Dieses Unwetter war irreal, künstlich, gewollt und irritierte mich. Die Ungewissheit quälte mich jetzt beständig und die Last auf meinem Rücken wurde von Minute zu Minute unerträglicher, schwerer und schwerer. Die Stille drückte unheimlich. Es war eine unwirkliche Stille und an den künstlichen Chausseebäumen regte sich kein einziges Blatt. Kein Vogelgesang war zu hören und keine menschliche Stimme – nicht nah und nicht fern.

Der Bus, unzweifelhaft mein Omnibus, den ich zuvor immer benutze, um vorwärtszukommen, hatte mich schon morgens gegen zehn Uhr überholt. Außer mir, ich begegnete niemand anderem, blieb diese seltsame Landstraße menschenleer. Ich war allein.

Als ich am Abend vorher meinen unzählig vielen Mitreisenden mitteilte, dass ich bis Trans zu Fuß zu gehen beabsichtige, hatte man mich unisono und rundheraus für verrückt erklärt. Mir unmissverständlich den Vogel gezeigt. Keiner meiner Mitreisenden im Bus und es waren, wie schon gesagt, fast unzählbare, hatten jemals zuvor versucht die eigenen Füße zu benutzen.

Keiner der mir bekannten Reisenden hatte jemals zuvor eine solche obskure Idee gehabt. Auch noch das Gepäck selber tragen zu wollen. Auch das noch. Alle Lacher waren gegen meinen Plan, meine Absicht, aber ich ließ mich nicht davon abbringen. Ihr unverhohlener Hohn bestärkte nur meinen Entschluss: Geh!

Zugegeben, meine Idee war nicht alltäglich, nicht kommun, denn auch ich war davor noch nie gewandert. Doch im Omnibus, auf dem Weg nach Trans, hatte mich der Gedanke sozusagen überfallen. Warum nicht einmal die eigenen Füße benutzen? Einfach selbstständig gehen, sich selber vorwärtsbewegen.

Ich war bis zu diesem Tag immer gefahren, wie die anderen auch. Richtiger gesagt: Ich war gefahren worden, abgeschirmt im Bus. Solange ich mich erinnern konnte, war ich ein immer gehorsamer Mitreisender gewesen. Aber merkwürdigerweise, wenn ich es genau überdenke, konnte ich mich ganz und gar nicht an den Anfang der Reise erinnern. Es gab keinen Anfang, keinen Einstieg.

Wie ein dumpfer Kloß steckte etwas in meinem Kopf. Ich fühlte diesen undefinierbaren Druck als Last. Aber erinnern konnte ich mich an rein gar nichts, das als Anfang hätte gelten können. Es blieb mir unmöglich, mir Einzelheiten vorzustellen oder gar zu artikulieren. Ich konzentrierte mich erneut und verspürte einen unnatürlichen, mir aufgezwungenen Überbau von oben. Es gelang mir nicht, ihm zu entrinnen. Verkörperte ich am Ende einen Gefangenen irgendeiner Ideologie?

Jetzt tat es mir fast leid, dass ich den Bus verlassen hatte. Sehnsucht überkam mich. Denn unerbittlich bekam ich zu spüren, wie schwer und belastend mein Gepäck auf meine Schultern drückte.

Der Bus, ja der Omnibus, blieb das Einzige, an das ich mich klar und plastisch erinnern konnte. Dieser war geräumig groß, aber ich kann nicht genau sagen in welcher Dimension. Und er war mit Reisenden überfüllt. Stets stand ich dicht gedrängt, konnte mir keinen Überblick verschaffen. War es immer so gewesen? Wurden die Reisenden mit der Zeit ständig zahlreicher?

Die vielen Fahrgäste, alle mit dem gleichen, enormen Gepäck, erschienen mir jetzt als Kollektiv nebelhaft verschwommen, nur Masse, obwohl ich mit ihnen die ganze Zeit gereist war. Ich versuchte mir wiederholt eine begreifbare Vorstellung zu machen. Umsonst, es blieb alles zusammenhanglos. Eine sich schubsende, sich wälzende Menschenmasse, ohne Anfang und ohne Ende, die sozusagen unwissend und gläubig, willenlos in ihrem Zustand, ergeben dahinvegetierte. Man könnte auch sagen, ihrem Schicksal gehorchend, wenn es eins gäbe.

Mir drängte sich erneut die Stimmung der Gewitterwolke auf. Nach dem Getöse im Bus sehnte ich mich förmlich nach Stille. Aber dieses stille Gewitter machte mich argwöhnisch. Diese Lautlosigkeit machte mich hellhörig. Wollte man mich auf meinem Weg, meiner Wanderung vereinsamen? Obwohl das abstumpfende Silentium mich seit Stunden umgab, begleitete, empfand ich es als feindlich, sozusagen hochgradig suspekt.

Ich erinnerte mich plötzlich an den Gesprächs lärm, der ununterbrochen im Bus geherrscht hatte. Im Nachhinein empfand ich ihn unerträglich, betäubend. Dieses niemals endende simultane Gequatsche. Doch von was, von wem und worüber hatten wir gesprochen? Und wohin sollte genaugenommen die Fahrt gehen? Wann enden? Das Ziel blieb verschwommen, unklar – Trans.

Ich zog meine Fahrkarte aus dem Jeanstäschchen. Sie bestand aus einer circa ein Millimeter dicken Kunststofffolie und in Prägeschrift stand in Rot: HEILIGE LINIE NULL. Weiter unten, auch in Prägung, ohne Farbe: GERADEAUS – auch in Versalien. Außerdem war das Ticket mit einer glasharten und klarsichtigen Lackschutzschicht überzogen, sie sollte vor Schmutz und Unleserlichkeit schützten. Ein Werk für lebenslänglich gefertigt, scheinbar unverwüstlich. In der Schutzlackschicht sah ich noch vier handkrakelig eingeritzte Großbuchstaben: I. N. R. I. Was hatten die hier zu suchen, zu bedeuten?

Krampfhaft überlegte ich: Sollte ich dieses Ticket von mir schleudern? Wurde dann aber doch unschlüssig und behielt es weiterhin in meiner Hand. Nach dem zehnten artifiziellen Chausseebaum wollte ich es dann endgültig entsorgen. Ich zögerte … Also beim nächsten zehnten! Ich fing an laut zu zählen: „Eins, zwei … sieben, acht, neun, zehn.“ Ich holte aus, hielt inne, überlegte einen Augenblick und steckte die Fahrkarte zurück in das Täschchen. Wer weiß? Man konnte ja nie wissen, ob ich es nicht bereuen würde, wieder einsteigen möchte, um zusammen mit den anderen wie bisher weiterzufahren.

Es mochte gegen Mittag sein, als die breitkronigen Chausseebäume aufhörten und kleine, erst vor Kurzem produzierte Kunststoffpappeln weiterführten, die den Seitenrand rechts in zwei Reihen säumten. Das Gewitter türmte immer noch steile, gewaltige Wolkenfronten auf. Ab und an zuckte ein Blitz. Darauf ein lautloses Krachen. Man spürte die Bewegung, einen Druckluftstoß.

Links von mir, auf der anderen Seite der breiten Landstraße, breitete sich eine gespenstische Leere aus: Kein Strauch, kein Gras, keine Lebewesen waren auszumachen. Eine plane Fläche spannte sich aus, soweit das Auge reichte. Die linke Seite zeigte sich unvergleichbar öde und leer: nicht Wasser, nicht Steppe.

Links der Fahrbahn erschien die Welt wie abgedeckt mit einem nebligen Leichentuch oder einer matten undurchsichtigen Folie. Hatte man die Wirklichkeit dahinter einfach wegfabuliert? Was verbarg sich jenseits dieser Täuschung? Rechts eine künstliche Welt und links davon das Nichts? Sympathetische Spiegelung? Hoffnungslos?

Meine Füße fingen an zu schmerzen. Ich war das Laufen nicht gewohnt. Das veranlasste mich, mir Gedanken über meine Situation zu machen. Wie sollte es jetzt weitergehen im wahrsten Sinne? Wo blieb der Gegenverkehr oder befand ich mich auf einer Einbahnstraße?

Mein Bus, aus dem ich ausgestiegen war und der mich am Morgen bereits überholt hatte, musste längst in Trans angekommen sein. Aber wie kam ich darauf, dass er ausgerechnet heute dort ankommen würde? Wie viele Stationen waren es bis zum Ziel? Ich hatte keine Ahnung, wie lange die Reise geplant war. Und wo blieb z. B. der Retourbus? Der Gegenverkehr von Trans nach Eden? War mir jemals ein Bus auf meiner Reise entgegengekommen? War alles am Ende immer schon so gewesen? Ich fing an, in Gedanken zu grübeln.

Nein, ich konnte mich nicht an einen entgegenkommenden Bus erinnern während meiner bisherigen Reise. Auch sind wir nie überholt worden. Rechts der Straße blieb alles wie gewöhnlich. Alles künstlich mit einer sinnlosen, antwortlosen Stille. Die hatte ich bei dem Lärm, dem andauernden Geschwätz und der Volksmusik im Innenraum, nicht bemerken können. War das der Normalzustand: draußen Stille, drinnen Krach? Durch das Tamtam im Innenraum den Reisenden dadurch verborgen geblieben? Ich hatte mir noch nie zweifelnde Fragen gestellt. Jetzt fehlten mir Antworten und Erklärungen.

Die Schmerzen in den Waden und Füßen und im Rücken begannen unerträglich zu werden. Ich beschloss, kurzerhand Rast zu machen. Neben einigen faust- und kopfgroßen Felsbrocken ließ ich meinen Rucksack auf den Kunstrasen fallen und streckte mich lang neben ihm aus. Es war angenehm, von den Treckingstiefeln befreit, die Zehen bewegend, in den gewittrigen Himmel zu schauen. War er am Ende auch künstlich?

Es gelang mir einfach nicht einzuschlafen. Unentwegt beschäftigten mich die am Vormittag aufgetauchten Fragen: Was war in dem schweren Rucksack, wieso lautloses Gewitter, die künstliche Stille an sich, die falschen Bäume, das eingeritzte I. N. R. I. auf der Fahrkarte, kein entgegenkommender Omnibus? – Und vor allem: Was verbarg sich auf der linken Seite der Straße? Das Nichts? Oder etwas, was ich nicht sehen durfte?

Diese gespiegelte, unerklärbare Leere zog mich mit unwiderstehlicher Anziehungskraft und Neugierde auf die andere Seite. War diese Leere auch künstlich erzeugt? Nur vorgespiegelt? Eine Fiktion? Wollte man mir und allen Reisenden etwas verbergen?

Woher kamen so gänzlich unvermittelt, außerhalb der Gewöhnung, all diese Fragen? Solange ich mit den anderen im Bus fuhr, war mir ähnliches nie in den Sinn gekommen. Kurioserweise beschäftigte es mich jetzt, wo ich doch allein war. Ich wollte gerade versuchen, mich in die Leere auf der linken Seite hineinzuversetzen, als ich ein hastiges Keuchen hörte. Ich hob unwillig den Kopf und gewahrte in der Ferne einen wohl älteren Mann in einem schwarzen Umhang, der einem Talar oder Kaftan glich. Der Keucher näherte sich mir.

Er kam mit riesigen Schritten auf mich zu. Dabei bewegte er seinen Kopf wie ein Raubvogel, der etwas suchte. Das Keuchen wurde immer lauter. Er war in großer Eile. Als er vor mir stand, grüßte ich ihn freundlich mit dem Kopf nickend. Doch es schien, als ob er mich nicht wahrgenommen hatte. Er würdigte mich keines Blickes. Oder wollte er mich willentlich übersehen?

Mit einem Aufschrei: „Na, endlich!“, stürzte er sich auf die Felsbrocken neben mir, faltete einen Sack auseinander und begann mit fahrigen, zittrigen Fingern dieselben einzusammeln. Mich betrachtete er als nicht vorhanden. Ich hatte zwar schon gehört, dass kuriose Sammler alles Mögliche horten, sogar Schrumpfköpfe und faules Holz als Reliquien. Aber ordinäre Felsbrocken?

„Mann“, fragte ich, „was will er damit? Ist er ein Konstrukteur, ein Architekt? Will er sich daraus ein ewiges Haus, ein Kathedrale errichten?“

„Geld, Geld“, keuchte der Schwarzgekleidete wiederholt, „bares Geld – Kapital.“

„Wo hat er sein Gepäck, seinen Rucksack?“, fragte ich den geschäftigen Keucher. Denn er trug nur einen leeren Sack über die Schulter geworfen.

„Gepäck“, murmelte dieser mit einem scheelen Seitenblick auf mich, „dafür hat man stets dienstbereite, willige und gläubige Träger.“

„Er lässt sich sein Gepäck von anderen tragen und sammelt jetzt Felsbrocken? Ist er noch recht bei Trost?“, antwortete ich erstaunt.

Doch die schwarze Gestalt keuchte wieder: „Geld – bares Geld, keine Almosen.“

Beim Einsammeln der Felsstücke hatte ich bemerkt, dass Buchstaben, Wortfetzen auf den Steinen geschrieben standen, was mir vorher entgangen war: ismus, logie, gion, zendent, ante und trans konnte ich entziffern.

Die Schwarztalarte warf seinen Sack über die Schulter auf den Rücken, blickte mich mit funkelnden, bösen Augen an und sang, ja, er sang wie ein Priester bei der Liturgie: „Wieso bist du nicht im Bu – u – u – us? Auf der Straße hast du nichts verloooooren. Geehorche uu- und beeete. Hal – le – lu – ja.“

Erstaunt hatte ich mich halb aufgerichtet. Überrascht blickte ich auf ihn. Doch er eilte ohne Gruß mit riesigen Schritten von dannen.

Eine Lichtquelle brach, wie ein Scheinwerfer, für einen Augenblick durch die Gewitterwolken. Potz Blitz! Der Körper der schwarzen Erscheinung warf keinen Schatten. Während der meinige klar neben mir mit dem Rucksack zu sehen war. Vielleicht hatte er ihn auch verkauft oder überließ ihn seinen Trägern – Schattenträgern. Wer konnte dies bei diesem suspekten Burschen wissen? Zuzutrauen war ihm das allemal. Oder war er ein Geist, der Heilige Geist, der sprechen und singen konnte?

Wieder antwortlose Fragen. Und wie der Schwarzkittel es eilig hatte und wie er gut zu Fuß war. Da war ich ein rechter Stümper. Jedoch schien ihm die Straße keinen Widerstand entgegenzusetzen. Er schwebte förmlich wie eine Magnetbahn davon.

Nach dieser unerwarteten Begegnung konzentrierte ich mich erneut auf die Leere der linken Straßenseite. Was mochte sich dahinter verbergen? Warum wurde sie so sorgfältig abgeschirmt?

Als ich aufwachte, beschlich mich ein Gefühl, als wäre ich drüben, auf der anderen Seite gewesen. Ich erhob mich benommen und mein Kopf schmerzte. Die Lichtquelle stand jetzt tief unter den Gewitterwolken lange Schatten werfend. Die letzten Stunden waren für mich unbegreiflich. Ich musste drüben gewesen sein, denn so zeitlos wie die Leere links war die Zeit nach der Begegnung mit dem Schwarzkittel zerflossen.

Ich schulterte mühsam meinen Rucksack. Die Last dünkte mir noch gewaltiger und unnützer zu sein. Was zum Teufel mochte in dem Rucksack sein? Ich hatte es bis jetzt noch nie gewagt nachzusehen. Doch willentlich verdrängte ich die Neugier und wanderte weiter.

Mittlerweile war es Abend geworden und ich hielt Ausschau nach einer Bleibe. Wohl tauchten einige Male Häuser in weiter Entfernung auf, doch als ich mich ihnen nähern wollte, wichen sie beständig zurück, immer den gleichen Abstand haltend. Mir gelang es nicht, die Distanz zu überwinden. Sie blieben unnahbar für mich.

Ich hätte mich gerne unterhalten. Ich brauchte jemanden, mit dem ich über das Geschehene und Gesehene sprechen konnte. Niemand war zu sehen weit und breit. Dann tauchten zuweilen Silhouetten von mehreren Personen rechts der Straße auf, die, wie verwischte, unscharfe Schatten auf alten Fotografien, schwebten.

Ich versuchte sie anzusprechen. Doch machte ich nur Anstalten, den Versuch einer Geste, so winkten diese Geisterschatten entsetzt ab und flohen in Angst, als wäre ich ein Aussätziger oder geächteter Gläubiger. Ich sehnte mich nach einem Menschen, einem Gelehrten, der viel Zeit für mich hätte – sehr viel Zeit. Der einfach da war. Ich fühlte mich allein gelassen. Mir half hier keiner!

Meinen Gedanken nachhängend, hörte ich ein knurrendes, knarrendes Geräusch in der Ferne vor mir. Ich ging entschlossen weiter. Das Knarren wurde langsam, aber stetig lauter. Dann konnte ich ein Bersten, Ächzen und Klagen unterscheiden. Eine schaurige, disharmonische Symphonie von Tönen drang in meine Ohren.

Endlich gelangte ich zum Ausgangspunkt dieses erschreckenden Geräusches. Vor mir, hinter einem fast naturechten, kleinen Apfelbaum mit grasgrünen Früchten, musste die Ursache dieses berstenden Klagens verborgen sein. Es bestand kein Zweifel.

Ich schritt vorsichtig, ohne Furcht, doch gespannt voller Neugier, um den Baum. Ein Mensch, eindeutig eine Frau, lag hier mit schmerzverzerrtem Gesicht, in einer Unheil fürchtenden Gebärde, sich mit verkrampften Fingern aufbäumend, doch von der Last ihres Gepäcks gewaltsam zu Boden geworfen, im Todeskampf sich nochmals aufreckend, die Brust gen Himmel gewölbt, die Arme abstützend zur Erde, den Kopf in den Nacken gepresst, sodass Adern und Sehnen zum Zerreißen gespannt hervorquollen, Augen und Mund weit geöffnet, in den Knien eingeknickt, durch das Gewicht ihres Rucksacks zurückgehalten und vernichtet.

Ich konnte geschichtlich nicht begreifen, wie dieser Mensch, diese Frau, in einer solchen Position verharren konnte und nicht nachvollziehen, wieso sie nicht laut schrie, sondern nur verzweifelte Laute von sich gab. War es ihr verboten worden schreiend zu sprechen?

Da diese Frau noch am Leben zu sein schien, sprang ich hinzu und wollte ihr helfen wieder auf die Beine zu kommen. Als ich sie anfasste, erschrak ich aufs Tiefste. So natürlich sie auch aussah, bestand sie doch aus Stein oder Steinsalz. War sie ein lebendes Fossil? Mir fehlte eine einleuchtende Erklärung.

Eine nie verspürte Wut und auch ein leises Grauen überkamen mich. Vom Anblick verfolgt floh ich, unter Aufbietung all meiner noch immer verfügbaren Kräfte, in unüberlegter Hast von archaischer Angst getrieben.

Als mir der Atem versagte und meine Beine schwer wurden, sie fühlten sich an wie aus Blei gegossen, hielt ich kurzatmig, schweißgebadet und keuchend nach Luft ringend gezwungenermaßen inne. Was war geschehen mit dieser Steinfrau? Hatte sie das Gewicht des Rucksacks so zugerichtet? War sie ein Opfer der Medusa? Hatte sie in deren Gesicht geblickt, sich gar umgedreht und verbotener weise zurückgeschaut? Oder war sie eine Heilige, eine Märtyrerin, die sich und ihresgleichen vor permanenter Unterdrückung beschützen wollte?

Ein Luftzug hetzte, fetzte das scheußlich ächzende Geklage oder klagende Ächzen herüber. Erneut erstarkte in mir eine mich forttreibende Kraft und ein zum Kotzen aufsteigendes Ekelgefühl würgte meine Kehle. Im Kopf bildete sich Bewusstsein vermischt mit Hass. Diesen Ort war ich gezwungen, so schnell wie möglich zu verlassen. Ich schleppte mich weiter vorwärts in Richtung Trans. Wie lange ich noch so vorwärts stolperte und darüber nachdachte, ich weiß es nicht mehr, mir war jeglicher Zeitbegriff abhandengekommen, verloren gegangen. Das heißt, wenn ich es jetzt im Nachhinein recht überdenke, gab es seit dem Verlassen des Busses erst ein Zeitverständnis für mich.

Es war schon stockfinstere Nacht, als ich irgendwo am Straßenrand kurz vor dem Zusammenbrechen haltmachte. Meine Angst und mein Verhalten, meine Reaktionen kamen mir jetzt lächerlich vor. Ich lag Schlaf wachend mit offenen Augen, starrte in den projektierten Nachthimmel. Oder war er halb echt, weil man ihn nur teilweise verfälschen konnte?

Ich, mein Standort, … wir waren nicht der Mittelpunkt des Universums. In der Entfernung verloren sich die Lichter, bestehend aus Sternen und Galaxien, bis nur noch ein schwacher Schimmer die Tiefe des Systems verriet. Dahinter verbargen sich neue und wieder neue, deren Licht nicht mehr von meinen Augen erfasst werden konnten. Dieser Himmel schien echt zu sein auf der rechten Seite. Es war ihnen nicht gelungen, ihn komplett weg zu spiegeln, ihn weg zu lügen. Sie konnten ihn nur in seiner Wirklichkeit verleugnen.

Diese Stille des Firmaments war mir angeboren, vertraut und alles, alles um mich herum und in mir wurde so unvorstellbar, undenkbar klein. Zum allerersten Mal in meinem Leben befiel mich eine noch vage Vorahnung von Raum und Zeit.

Dann zuckten wieder die antwortlosen Fragen durch mein Gehirn wie ein Leuchtfeuer. Sie waren nicht festzuhalten, sie wiederholten sich, blieben unbegreiflich, weil noch ohne Erklärung. Ein stechender Schmerz breitet sich aus, um mein ganzes Sein zu erfassen, zu erobern, um ein teilnahmsloses Leiden zu gebären.

Mein Herzschlag war abgestimmt auf das Leuchtfeuer der antwortlosen Fragen. Ein disharmonischer Takt, der sich bis zum Zerspringen steigerte und dann langsam ausklingend verebbte. Ein dumpfer, noch anonymer Verdacht machte sich in mir unaufhaltsam breit, der gleichmäßig weit von tief unten aufstieg. Stumm in mich horchend wartete ich auf Antworten.

Mir kamen all die biblischen Geschichten und die Märchen in den Sinn, die man mir im Omnibus als Kind vorgelesen hatte, die mich seitdem begleiteten wie ein Schatten. Wer hatte jemals den Wahrheitsgehalt geprüft? Mechanisch schüttelte ich den Kopf von einem ironischen noch hilflosen Lächeln begleitet.

Die antwortlose Stille erzeugte einen tonnenschweren Albtraum, der über mir schwebte, in dem jede Bewegung eine zeitlupenhafte Kraftanstrengung war. Dazu gesellte sich unvermittelt Sehnsucht. Sehnsucht, die mich unwiderstehlich herüberzog auf die linke Seite der Straße, in jene, von der rechten Seite aus vorgespiegelte oder vorgetäuschte, anscheinend unbegrenzte Leere. Auch hierfür musste es eine Erklärung geben.

Fast bewegungslos hatte ich die Nacht durchdämmert. Morgens stellte ich fest, dass ich in einer verkrampften Stellung, traumlos, schlaflos ausgeharrt hatte. Meine Glieder schmerzten mich. Sie waren steif und ungelenk. Ich unternahm kleine, kurze Gehversuche wie ein Kranker nach einer Bettlägerigkeit, rieb und massierte die Muskeln, bis der Körper und die Gelenke wieder einigermaßen geschmeidig wurden. Mir fiel mein gestriges Erlebnis mit der Steinernen ein. Du hast überlebt, ja du hast überlebt, schoss es mir durch den Kopf.

Mein Mund war trocken mit einem faden Geschmack auf der Zunge und in meinem Schädel dröhnte es, als ob ein Karren über eine Brücke führe. Erst nach und nach kehrten meine alten Lebensgeister zurück. Als mich dann noch die ersten Strahlen einer Lichtquelle erwärmten, beschloss ich weiter zu wandern. Ich buckelte wieder mein Gepäck und schritt erneut in Richtung Trans.

Die Sonne! Ja, das nächtliche Firmament und die Sonne waren das Einzige auf der rechten Seite, die nicht durch eine gigantische, künstliche Lichtquelle ersetzt werden konnten. Die Sonne war real, konnte nicht manipuliert werden, war nicht politisierbar. Man konnte sie nur wegfabulieren. Doch diese stille Stille, diese schillernde Stille, stillte nicht meine Sehnsucht, meine erneut erwachte Neugier, nach der anderen Seite.

Unterwegs quälten mich fortwährend alte Fragen. Was bedeutet dieses knarrende, versteinerte Fossil von Frau? Wieso meine mich überkommene Angst, ja, panische Angst, auf der falschen Seite zu leben? Woher stammt mein Gepäck? Was mochte in dem Rucksack stecken?

Trotz des Vorfalls hatte ich den Rucksack nicht einfach von mir geworfen, sondern ihn in Demut brav, wie gewohnt, bis zum Zusammenbrechen mit mir geschleppt. So als ob er untrennbar mit mir verwachsen wäre, als ein Stück von mir, als etwas, das zu mir gehören sollte.

Jetzt war auch das Gewitter plötzlich wieder da. Die Wolken türmten sich drohend, jagten und fetzten über die Breite und Länge des projiziert anmutenden Himmels. Blitze zuckten! Alles ohne Laut. Kündigte sich unerwartet Regen, ein Unwetter an?

Ich vernahm ein Brummen, ein Motorengeräusch hinter mir. Fern am Horizont der Straße gen Eden sah ich einen Punkt, der sich langsam näherte. Der Omnibus von Eden? Ich blieb weit rechts am Straßenrand stehen. Der Punkt wurde größer, das Motorengeräusch lauter und höher. Dann war er da.

Der Fahrer nahm den Fuß kurz von Gaspedal, so als wolle er stoppen. War er erstaunt mich lebend zu sehen? Doch dann drückte er erneut voll durch. Was wäre passiert, wenn ich halt gewunken hätte? Schrumm – mit einem Luftzug preschte er an mir vorbei.

An den Fenstern tobten, schrien, johlten und winkten die Reisenden. Ich stand wie vom Blitz getroffen, erstarrt und regungslos da. Ich erinnerte mich jetzt zweifelsfrei: Sie hatten mich doch schon gestern überholt! Sollte meine Reisegesellschaft etwa in der Nacht, als ich dösend schlief, wieder zurückgefahren sein?

Alle Mitreisenden, meine früheren Weggenossen, sah ich jetzt klar an den Fenstern im Bus: Müller, Schulze, Meier, Schmidt, Krause, der Lange, die Dicke, Shorty, die Dürre, Bill der Nägelkauer, Homer der Spinner, Sokrates der Erfundene, Innozenz der Verklemmte, Martin der Rebell, Adolf der Vergaser, Ivan der Schreckliche, Jeanne die Mutige, Donald unser Hyperhypokriot, Franz der Kicker, Angie die promovierte Märchenmutti, Papam der Illusionist und all die unzähligen anderen.

Ein weißer Zettel flatterte aus einem Fensterspalt, wurde vom Fahrtensog erfasst und tanzte, rechts, links, oben, unten, gaukelnd und torkelnd hinter dem Mobil drein. Schlug endlich auf den Straßenglasphalt, machte dann Sprünge, die immer kleiner und kleiner wurden, bis er, langsam über die Ecken rollend im Halbkreis von der Straßenmitte im Rinnstein der rechten Seite liegen blieb.

Ich gelangte zu dem Zettel und klaubte ihn aus den künstlichen Blättern der Gosse. Auf ihm stand in kursiven Versalien gedruckt: „OH WANDERER, KOMMST DU NOCHMALS NACH EDEN, VERKÜNDIGE DORTEN ALLEN, DASS WIR HIER LÜGEN, WIE DAS GESCHWÄTZ ES BEFAHL,!“ Und darunter in krakliger Handschrift hastig geschrieben: „Ich warte nicht auf dich! Lila.“ Ach, Lila! Wer kann sie vergessen? Sie war unsere Neophile im Bus, immer zu einem kleinen Schwätzchen bereit, kannte fast alle und doch keinen. Nicht einmal sich selbst.

Alle waren sie noch beisammen. Es fehlte keiner von ihnen. Aber sie waren doch auch gestern vorbeigefahren. Wieso heute schon wieder? Ich konnte mir keinen Reim auf diesen Tatbestand machen. Das war doch logisch eigentlich unmöglich. Sie waren doch vor mir auf dem Weg nach Trans. Kamen aber wieder von hinten.

Ich versuchte die Vorbeifahrt zu vergessen. Die Leere links begann mich erneut zu interessieren. Zentimeter für Zentimeter schwenkte ich schwankend nach links auf der Straße. Einige Male brach ich wieder nach rechts aus, aber es zog mich stets magisch nach links zurück. So war ich dann nach langem Kampf auf der anderen, der linken Straßenseite angelangt.

Unschlüssig, ob es eine endgültige Entscheidung sei, wanderte ich langsamer werdend im Rinnstein vorwärts. Ich wurde unruhig und nachdenklich. Sollte ich oder sollte ich es nicht wagen? Es kribbelte in meinem ganzen Körper, doch mein Verstand schien entschlossen. War es denn verboten? Und wenn! Wer auf der Welt hatte mir überhaupt etwas zu verbieten?

Ich vollzog den entscheidenden Schritt und stand drüben auf der linken Seite. Im gleichen Moment riss mich die Schwere meines Rucksacks zu Boden. Ich sackte hintüber und es polterte, wie wenn Geröll und Felsstücke einen Hang hinunterrollen.

Die antwortlose Stille und die devote Gläubigkeit in mir zerbrachen. Ich lag im Gras ohne Leere, schaute jetzt auf der linken Seite in eine reale Landschaft, die nicht im Hintergrund durch nervende Musik und Geräusche gestört wurde. Staunend sah ich diese für mich neue Welt. Ich bin in der Wirklichkeit, in der Realität gelandet vermerkte ich in meinem jetzt klar gewordenen Kopf.

Die Sonne schien wohlig warm. Trieb die Kälte aus meinem Körper. Ordnete meine Gedanken. Ich wagte einen Blick nach rechts. Das Gewitter war von hier aus spontan aufgelöst, restlos verschwunden und ich spürte zum ersten Male mein Ich.

In den Bäumen säuselte ein leichter Wind. Übergoss die Baumkronen, wenn sich die Blätter wirbelnd drehten, mal silbern, mal dunkelgrün, mit einem Glitzern, das einem Fischschwarm in geringer Tiefe vergleichbar war. Der Wald glich für einen Augenblick einem zitternden Meer, auf das die Sonne senkrecht scheint, wodurch die kleinen, sich kräuselnden Wellen ein metallenes Gesplitter erzeugten, das die Augen blendete. Ich konnte mich von dem natürlichen Anblick nicht losreißen.

Selbstverständlich kannte ich ähnliches bereits auf der rechten Seite. Aus dem Fernsehen, dem Kino, den Illustrierten des Lesezirkels im Bus. Alles virtuell, fiktiv und geschminkt. Aber in der Natur überwältigte mich das Reale. Fast gleichzeitig vernahm ich ein tiefes, beruhigendes Raunen, in dem das Wort Frieden versteckt war. Bis dann die inneren Geräusche langsam verebbten. Es war alles für einen Augenblick regungslos, aber sozusagen und das war das Neue – eben nicht still.

Die Zeit sinnlosen Lärmens im Omnibus, die fieberhafte Hast mit dem verführerischen Streben nach vorgegaukeltem Fortschritt – verbitterten mich. Schade um die verlorene Zeit. Ich lag ausgestreckt und entspannt im grünen, duftenden Gras, die Fülle greifbar, wahrnehmbar vor Augen. Meine Sinne und mein Verstand fühlten sich, hier auf der linken Seite, zuhause.

Nach einer Weile raffte ich mich auf und schulterte erneut mein Gepäck. Hier auf dieser Seite war es noch schwerer geworden, überforderte nahezu meine Kräfte. Zum ersten Mal dachte ich ernsthaft daran auszupacken, nachzuschauen, was in diesem Rucksack verstaut war. Oder ihn aber unbesehen wegzuwerfen. Oder ihn einfach hier auf der linken Seite stehenzulassen.

Was war es, was ich mit mir herumschleppte, mit dem ich mich herumplagte? Mich beschlich erneut eine diffuse Ahnung. Von wem hatte ich mein Gepäck für diese meine Reise erhalten? Ich selbst war mir in dieser Sekunde todsicher, meinen Rucksack nie selber gepackt zu haben. Wer hatte ihn mir aufgebürdet, aufgejocht?

In der Entfernung bemerkte ich einen Menschen, einen Mann, auf mich zuschreitend. Ein erstes menschliches Wesen seit meinem Aufbruch und Übertritt zur linken Seite. Schon von Weitem schwenkte er seinen Strohhut und fuchtelte mit seinem Spazierstock, ihn drehend, in der Luft. Ich winkte erleichtert zurück.

Er kam darauf schnell näher. Es war ein ungefähr dreißigjähriger Mann mit langen, blonden Haupthaaren und einem gepflegten Bart. Er sah den dargestellten Heiligen ähnlich. Doch statt eines Heiligenscheines, einer Aureole, leuchtete ein leichter, sommerlicher Strohhut, mit einem schmalen goldenen Band, auf seinem Kopf.

Er sieht aus wie ein blonder Jesus! Das ist Jesus, war meine erste Eingebung. Wenn ja, aber was macht er hier auf der linken Seite? Wie würde er handeln, wenn er heute nochmals die Erde betreten würde? Würde er mit der Kalaschnikow und mit Handgranaten die Geistlichkeit und Börsianer aus ihren Tempeln treiben? Sich weigern über Politik, das System der freien Marktwirtschaft und die Aktienkurse zu diskutieren? Wahrhaftig, der fremde Blonde trug auch Sandalen mit Riemchen.

Unmöglich, folgerte ich. Er kann nicht Jesus sein. Ganz und gar unmöglich. Eine Spezialeinheit der Kapitallobby, der CIA oder sonst wer hätte ihn umgehend mit raffinierten, modernsten Waffen beseitigt. Oder mit Plutonium oder einem Nervengift ihn lautlos wieder ins Jenseits zurückgeschickt. Im Vatikan würden sie sich die Füße waschen und das Blaue buchstäblich vom Himmel herunterbeten. Welche absurden Gedanken imaginierten mich hier auf der linken Seite. „Sei willkommen und gegrüßt auf unserer linken Seite“, schmetterte der Blonde mit kräftiger Stimme. Er ergriff meine beiden Hände sie herzlich drückend. „Ich bin immer erfreut, Neulinge zu begrüßen. Lasst uns Rast machen, dann können wir in Ruhe unsere Gedanken austauschen, denn wer weiß, wann wir uns wieder begegnen.

Der Fremde duzte mich. Also war er kein eingebildeter Schwachkopf, kein Adliger oder gottgesandter Würdenträger, kein höflicher, manipulierender Politiker.

Natürlich war ich froh, einem Menschen linkerseits zu begegnen. Ich ließ meinen Rucksack hinter mir herunterrutschen, indem ich beide Arme rückwärts nach hinten hielt. Es polterte wie gewöhnlich, als das Gewicht auf dem Boden aufschlug. Dann setzten wir uns beide bequem ins duftende grüne Gras, so – dass wir uns gegenseitig ins Gesicht, in die Augen, schauten.

Der Blonde blickte ernsthaft auf mich: „Wohl zum ersten Mal hier auf dieser Seite? Erst ganz kurze Zeit. Man sieht es an deinem Gepäck.“

„Ja“, antwortete ich eilig. „Ja-ja, seit eben Mittag! Doch es kommt mir so vor, als sei es schon eine lange Zeit, dass ich hier drüben bin. Aber .“

Der Blonde wies auf mein Gepäck: „Dein Rucksack, Neuling, dein Rucksack!“

„Aber wieso mein Rucksack?“, ich zuckte die Schultern. Schlagartig wurde mir bewusst: Er hatte außer dem Spazierstock und dem Strohhut kein Gepäck. Er lebte hier auf dieser Seite ohne Rucksack.

„Schon Fragen gestellt und der Neugierde stattgegeben?“, fuhr der Strohhutbehütete fort.

Ich wurde misstrauisch. Dieser Mensch, und das war er zweifelsfrei, konnte er Gedanken lesen, war er allwissend? „Einerseits und andrerseits“, gab ich ausweichend zur Antwort, noch unschlüssig.

„Dann los, sieh nach!“, er machte eine hinweisende, dazu auffordernde Handbewegung.

Erst traute ich mich nicht. Doch dann packte mich eine nicht mehr zu unterdrückende Wissensbegierde. Voller Eifer und mit zittrigen Fingern versuchte ich die Verschnürung zu lösen. Doch vor Aufregung und Fahrigkeit gelang es mir nicht.

„Mit Bedacht, mit Bedacht!“ Er bewegte besänftigend seine beiden Hände.

Ich löste endlich den letzten Knoten der sorgfältigen Verschnürung. Sollte ich wirklich …?

Ich schlug den Latz zurück und erschrak. Mein Rucksack war angefüllt mit Felsbrocken, mit den gleichen Felsbrocken, wie sie der keuchende Schwarztalar, auf der anderen Seite neben mir aufgesammelt und eingesackt hatte. Das also war die Last auf meinem Rücken.

Eine unheimliche, nie gekannte Wut stieg in mir auf. Mein Blut kochte. Dann quoll es mir aus dem Mund: „Felsbrocken, Steine!“, brüllte ich, „nichts als gewichtige Felsstücke!“ Ich sprang auf, schlug um mich, schrie …

Doch der Blonde hielt mich jetzt zurück, versuchte mich zu beruhigen und drückte mich auf den Boden zurück ins Gras, sprach beruhigend auf mich ein. Ich riss mich sofort los. Trat mit den Füssen gegen den Rucksack, erwischte einen dicken Knüppel, hieb wahllos um mich und stürmte ohne Bedenken, ohne Hemmungen auf die andere, die rechte Seite.

Drüben, in der antwortlosen Stille, knüppelte ich gezielt auf die künstlichen Bäume, die zurechtgestutzten Sträucher, auf die willkürlich gesetzten, unzähligen Meilensteine und Wegweiser ein, bis mir meine Arme erlahmten und der Ast mir aus meinen kraftlos gewordenen Fingern glitt.

Ich stand einige Augenblicke, schwer atmend, in der Gewitterstille und schwankte, mehr stolpernd als gehend, wieder hinüber auf die linke Seite. Dort ließ ich mich völlig erschöpft ins Gras niederfallen. Eine augenblickliche Leere war in mir.

Der Blonde mit den langen Haaren blickte sehr ernst auf mich. Sein Gesichtsausdruck bezeugte eine unsäglich tiefe Verbitterung. Den linken Mundwinkel hatte er spöttisch nach oben gezogen: „Ich war damals“, er starrte mit zusammengezogenen Augenlidern in die Richtung nach rechts, „als ich das mit den Steinen im Gepäck bemerkte, denn ich hatte es in jungen Jahren analysierend herausgefunden – genauso erbost wie du. Ich habe eine Nacht lang wie ein Heiliger still in mir gerungen.“

Er legte eine nachdenkliche Pause ein: „Man hatte mich verlassen. Es war niemand da, der mir helfen wollte und der es auch konnte.“

Der Blonde war tieftraurig: „Ich habe einen Schuldigen gesucht“, fuhr er fort, „doch ich war allein, hatte keine Gelehrten, die mir die Hand reichten, die mir antworteten. Ich suchte ein Verschulden, ein Versagen bei mir selber. Bis ich einsah, es hat keinen Zweck zu wüten. Einen bestimmten Schuldigen fand ich nicht, den ich allein dafür verantwortlich machen konnte. Und das ist bis heute so geblieben, so gültig.

Ich bin nur auf eine unentschuldbare Dummheit und Leichtgläubigkeit gestoßen. Die Schuld, ein fantastisch erdichteter Kollektivbegriff, ist so ineinander verschachtelt, der alles und nichts bedeutet. Seziert man dieses Konglomerat, so wird die Schuld irrational, unwesentlich zusammenhangslos und gewollt konstruiert. Sie dient nur einem Zweck, der schwer durchschaubar ist.

Der Blonde legte eine Pause ein und strich sich nachdenklich über seinen Bart: „Die Schuld ist ein Märchen, eine Fiktion, die auf das Sein als Mensch Bezug nimmt. Die rational nicht nachvollziehbaren Ver- und Gebote haben wir alle im Omnibus als Kind gelernt von den Autoritäten. Sie, wer sonst, sind die zeitlos Mitschuldigen, wenn sie bewusst zum eigenen Vorteil täuschen und lügen. Das ist das wahre Teuflische. Eine geerbte transzendente Kollektivschuld als Mensch ist barer Unsinn.“

Er blickte mir in die Augen: „Ich entschied damals, Freispruch für das Individuum. Hier auf der linken Seite bist du befreit von ererbter Schuld, Angst und von Strafe. Du“, er tippte mir mit dem Finger auf meine Brust, „läufst jetzt auf der Zielgeraden, stehst vor dem Zielband“, er legte mir seine Hand auf meine Schulter, „zum Aufbruch in die Autonomie und tauschst das dir eingeredete Gewissen gegen nachprüfbares Wissen.“

Ich hatte mich immer noch nicht ganz beruhigt. Meine Finger verkrampften sich zur Faust. Mein Atem keuchte. Obwohl mir einleuchtete, was der Blonde sagte, konnte ich zunächst selbst keinen klaren, geordneten Gedanken fassen. Ich war nur ein gutgläubiger Lastenträger gewesen, den man noch zusätzlich wie einen Tanzbären an der Nase herumgeführt hatte. Ich war permanent am Gängelband gewesen, wie alle Reisende im Bus.

Der Blonde machte sich über meinen Rucksack her: „Ich will dir erklären, was du so lange auf deinem Rücken geschleppt hast.“ Er zog als Erstes ein längliches Stück Holz mit einem Nagel und rostroten Flecken hervor. „Es liegt stets obenauf. Soll Neugierige abschrecken, die gern durch Ritzen spähen. Hab keine Skrupel“, er machte den Finger nass mit Spucke und wischte darüber, „nur Farbe. Kein Blut.

Dies soll ein Stück vom Kreuz sein, das nie existierte, wird zu einer Reliquie, die den tiefen Glauben repräsentiert. Sollte eigentlich aus Holz sein. Ist aber heutzutage schon öfters aus Kunststoff und ein Massenartikel.

Diese Reliquie, postum untergebibelt, wiegt schwerer als Uran. Tonnenweise sind davon im Umlauf. Tonnenweise, für die ganze Welt gedacht, zum Glück total verfault. Generationen wird dieses Symbol uns noch peinigen, bis man es restlos entmystifiziert.“ Er ließ es achtlos auf den Boden hinter sich plumpsen.

Dann packte er mit beiden Händen einen gewichtigen Brocken und zog ihn hervor. Es war ein Zwillingsstein aus zwei gleichgroßen Stücken von unerhörter Starrheit und Schwere: „Ideologie und Dogma“, er hievte ihn zur Seite. Darauf kam ein schillerndes Gesteinsstück zum Vorschein. „Moral“, nannte es der Blonde, „es ist eine geheuchelte Fata Morgana für die Gutgläubigen und Armen.“ Er warf den Brocken zur Seite.

Und so ging es weiter, Stein um Stein: Wunder, Gier, Gewalt, Axiome, Verschwörungen, Hybris, Kapital, Sünde, Inferno, Rassenwahn, Gehorsam, Jenseits, Transzendenz, Jüngstes Gericht, Tradition, Taktik, Verbrechen, Intoleranz, Profitdenken, Vorteil, Schuld, Dritte Welt und, und, und …“

Zuletzt rasselte er mit den Splittern im Sack und sagte: „Na, und der andere Kleinkram, der mehr oder weniger uns das tägliche Leben vergällt“

Ich nickte: „Ist das alles?“ Eine Mischung aus Erleichterung, Wut und schwerer Wehmut erfasste mich augenblicklich. Ich war traurig berührt.

„Alles“, sagte er, „im Rucksack, ja.“

Und das, wofür ich im Omnibus geglaubt hatte zu leben, lag vor mir als Schotter. „Aber da fehlte doch vieles, was auch an erster Stelle im Gepäck, in meinem Gepäck, hätte sein müssen“, sagte ich: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Wahrhaftigkeit, verifizierte Erkenntnis, Gerechtigkeit, Einsicht, Notwendigkeit …“ murmelte ich verbittert durch die Zähne.

Der Blonde verstand mich sofort und tippte an die Stirn: „Diese Eigenschaften, die trägst du im Kopf und sie sind nicht in diesem Rucksack.“ Er hatte sich unterdessen geschickt aus dem Gras erhoben, packte den länglichen Holz-Blei-Stab mit den aufgemalten, rostroten Blutflecken und ging damit bis zur Straße.

Da erinnerte ich mich an den keuchenden, Schwarzkittel. Es war klar dieser Schurke machte mit dem Inhalt des Rucksacks Geschäfte. Ich schrie: „Halt! …“

Doch im gleichen Moment hatte er die Reliquie rechts an den Rand der Straße in die Gosse geworfen und kam gemächlichen Schrittes zurück.

„Es ist nicht gut“, stotterte ich, „sie machen Geschäfte damit, heilige Geschäfte. Fabrizieren Kreuze daraus. Das sollten wir unbedingt von hier aus verhindern.

„Ich weiß“, sagte der Blonde, „doch dieses als heilig erklärte Urstück ist das Gefragteste. Es bringt am meisten Geld ein. Aber dieses Steinholz ist knapp geworden. Die Bevölkerung wächst viel zu schnell. Es besteht ein enormer Bedarf. Viele möchten eine Reliquie.“

„Gerade deshalb müssen wir es hier behalten auf dieser Seite, bei uns!“, entgegnete ich. „Dann können sie es nicht in das Gepäck Unwissender mogeln.“

Er winkte ab: „Geht etwas verloren in ihrer Welt, wird es einfach ersetzt. Irgendein auf alt gemachtes Stück Holz wird heiliggesprochen oder irgendwo ausgegraben. Man nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau.

Die Schwarztalare sind Grenzgänger, bewusste Pendler nach Bedarf, die genau wissen, dass die linke Seite existiert. Aber sie verleugnen das Links, sie sind traditionelle Meister im Verleugnen. Sie fälschen nach Bedarf neue Reliquien, wenn ihnen welche fehlen. Sie kaufen sich auch hier bei uns, was in ihre Ideologie passt. Judas wohnt auch auf dieser unseren Seite.“

Er fing an, die Felsbrocken wieder in den Rucksack zu werfen: „Tragen wir es ihnen hinüber auf ihre Seite, dann haben sie keinen Drang, auch hier ihr Unwesen zu treiben. Auf die linke Seite kommen sie gezwungenermaßen nur, um hier zu bestechen und zu stehlen.“

Und ich half ihm sofort dabei, alles wieder hinüber auf die rechte Seite zu bringen.

Wir kamen zurück und setzten uns abermals ins Gras unter einen alten Ölbaum. Das war für mich eine gute Gelegenheit, mich bedrängende, ungeklärte Fragen zu stellen. Ich erzählte ihm, dass mich, auf meiner Wanderung auf der rechten Seite, derselbe Bus an zwei Tagen aus Richtung Eden überholt hatte. Das war logisch nicht nachvollziehbar bei einer Reise mit Aufbruch am Anfang und einem Ziel am Ende.

Der Blonde lehnte sich, mit dem Rücken stützend, an den Baumstamm. Hut und Spazierstock legte er neben sich ins Gras. Er schien es nicht eilig zu haben. Das war mir recht so. Ich setzte mich bequem vor ihn meine Knie mit beiden Armen umklammernd.

„Es ist absurd“, begann er, auf die rechte Seite zeigend, „aber erst von der linken Seite aus erkennst du das herrschende System mit aller Deutlichkeit. Die Reisenden seien aufgebrochen von Eden. Sie wollen, wie im Fahrplan ausgehängt, nach Trans. So wird es den Fahrgästen vorgegaukelt. Die Mitfahrer lenken selber nichts. Sie werden fahrplanmäßig befördert – auf einer willkürlich auserkorenen Straße.

Der Omnibus startet morgens in Richtung Trans und kehrt abends bei Dunkelheit heimlich zurück nach Eden. Es ist aber nicht das Eden vom Ausgangspunkt“, der Blonde unterbrach sich und fuhr nach einer kurzen Unterbrechung, sich konzentrierend, fort.

„Erst von unserer Seite aus siehst du das hollywoodreife Machwerk der Verdummung. Sie fahren letztendlich immer fast dieselbe Strecke. Weil sie aber rückwärts zurückfahren, sind sie etwas langsamer, als wenn sie vorwärtsfahren würden. Dadurch entfernen sie sich immer weiter von Eden. Am Anfang haben Sklaven den Omnibus gezogen, dann Esel, Dampfmaschinen, Dieselaggregate … Sie sind gerade dabei, Düsen- und Raketenantriebe einzusetzen, mit Mach fünf oder mehr. Techniken, die auf dieser unserer Seite entdeckt und entwickelt wurden. Und sie träumen vom Beamen. Aber was immer als Antrieb für die Reisegeschwindigkeit eingesetzt wird, sie werden niemals nach Trans kommen, weil das Trans eine fabulierte Fiktion ist und bleibt.“

„Sie fahren rückwärts zurück?“, fragte ich. „Aber wieso fahren sie rückwärts?“

„Du wirst es heute am späten Abend, wenn es schon dunkelt, selber erleben, selber sehen, sie fahren rückwärts.“ Der Blonde zeigte mit seinem Spazierstock, den er ergriffen hatte, in Richtung Eden: „Sie haben im Bus alle Fenster nach links verspiegelt. Würden sie den Wagen auf einem Drehkreis umdrehen oder eine Kurve von 180 Grad fahren, dann könnten alle Mitfahrer die linke Seite wahrnehmen, weil die Fenster nur nach rechts, wie du selbst erlebt hast, durchsichtig sind. Eine taktische Maßnahme aus Vorsicht. Wache, unvoreingenommene Reisende könnten den Schwindel leichter entdecken.“ „Also fahren sie wie eine U-Bahn, ein Intercity, wie eine Fähre. Der Zugführer geht zur anderen Seite und ab geht’s zurück, ohne Umkehr. Aber immer auf der gleichen Strecke auf demselben Gleis.“

„Genau so funktioniert es“, nickte der Blonde.

„Aber die Fahrer, die Lenker, wieso bemerkte ich sie nicht im Bus beim Wechsel?“

„Sie verhalten sich unauffällig, diskret. Sie sind Geheimdienstler, sind ohne Uniform. Sie tarnen sich, mischen sich unter die Reisenden, mimen hilfreiche Missionare, sind wie Schleuser nicht direkt erkennbar. Dafür werden sie gut bezahlt. Sie begreifen, dass hier betrogen wird und machen es trotzdem – für Silberlinge.“

„Aber die Straßenschilder, die Meilensteine, die vielen Richtungspfeile?“, fragte ich.

„Die werden am Abend, bei der Rückfahrt, auf der gesamten Strecke umgepolt, umgedreht. Die Reisenden sehen und glauben sie führen vorwärts. Außerdem senden sie im Bus abends Dauerunterhaltungsserien, die den Zuschauern den Verstand abschalten. Fickserien mit ewiger Liebe und so. Mord und Totschlag als Unterhaltung. Inszeniert tummelt sich der Denver-Clan und alles ist abgesprochen bis in die Lindenstraße. Und in allen Talkshows wird der Eindruck vorgegaukelt, es ginge fortschrittlich zu und bringe die Menschheit weiter vorwärts.“ Es entstand eine nachdenkliche Gesprächspause.

„Und wenn ., wenn ich wieder hinübergehe und abermals zusteige in den Bus?“, knüpfte ich an.

„Du hast im Moment keine gültige Fahrkarte mehr für den Omnibus. Schau nach.“

„Wieso?“ Ich griff in meine Billett-Tasche. Meine für die Ewigkeit gestanzte Fahrkarte war nicht mehr drin. Nur Krümel von Mikroplastik und Metallspänen fühlte ich. „Also kein Zurück mehr?“, ich runzelte die Stirn.

„Wanderer, die den Bus verlassen, gelten als subversive Elemente. Man lässt sie ohne gültigen Fahrschein nicht mehr zurück in den Wagen. Sie würden sonst die gläubige Atmosphäre und die „Werte“ untergraben, die Gesellschaft und ihre Geschäfte stören und zerstören.“

„Also gibt es kein Zurück mehr in den Bus!“, wiederholte ich monoton.

„Doch“, erwiderte der Blonde, „es ist möglich. Doch, doch“, beeilte er sich zu sagen.

„Sie haben eine Hintertür, einen Noteinstieg für Rückkehrer offengehalten. Das Talionssystem. Wenn du wankelmütig und schwach wirst, wenn du dich nach einem ausgetretenen, autoritären Pfad sehnst, dann wird den Schäfchen alle eigenständige Verantwortung wieder, wie vorher im Omnibus, abgenommen.

Wenn du zurückkehrst in Reue, Buße und Sühne tust, Wiedergutmachung leistest, durch Vergeltung oder Geldbeträge Vergebung erlangst, dann werden dir die Stellvertreter auf Erden deine Schuld, dein Vergehen erlassen.“

Der Blonde grinste: „Mit schmachtendem, gespielten Blick nach oben und einer unhörbaren Fürsprache stellen sie dir eine neue Fahrkarte der Wiedergeburt aus. Als Purifizierter, so nennt man es in verklärender, gehobener Sprache, darfst du gnädig zurück in den Omnibus als Geläuterter und wirst abermals ein Mitglied der Geisterfahrer auf Lebzeiten.

Du musst die linke Seite wieder verleugnen. Wenn du schweigst oder fromm ihre Fiktionen und ihre Lügen verbreitest, dann wirst du erneut ein Lamm Gottes auf Bewährung. Die Scharlatane rehabilitieren dich huldvoll. Egal, ob er Hahn dreimal kräht oder nicht.“

„Nie!“, entfuhr es mir spontan. „Niemals!“

„Dann wirst du auf unserer Seite zunächst in Armut leben. Hier auf der linken Seite haben wir weder Sozialwohnungen noch Plattenbauten, es gibt kein Sozialamt, kein Hartz oder so. Jeder muss sich aus eigener Kraft einrichten. Jeder geht alleine. Hier kann man sich nur begegnen. Es gibt kein Kollektiv hier bei uns. Nur ein Team“, er wischte sich den trockenen Mund und machte eine längere bedächtige Pause.

„Sieh zu, wo du übernachten kannst“, er zeigte landeinwärts. „Hinter dem Olivenhain hat Maria Magdalena ein Anwesen in Konstruktion. Grüß sie von mir. Sie wird dir behilflich sein. Wir haben ein inniges Verhältnis, trotz Meinungsverschiedenheiten.“ Er schnalzte mit gespitzten Lippen ein Küsschen.

„Wie erkenne ich sie? Wie sieht sie aus?“, fragte ich etwas ungläubig zurück. Mir wurde jetzt schlagartig bewusst, dass ich keine Bleibe hatte.

„Wenn du sie triffst, wirst du sie sofort erkennen. Sie ist grün, von Kopf bis Fuß grün gekleidet. Man kann sie nicht verwechseln. Wenn du ihr gefällst, wird sie für dich sorgen, dir helfen. An ihr kommen nur Uranisten und pathologische Onanisten vorbei.“

Der Blonde erhob sich, nahm Stock und Hut und blickte auf mich: „Ich muss meinen Dienst antreten. Die Mittagspause ist vorbei. Ich habe eine Assistentenstelle bei einem Professor angenommen.“ Er grüßte mich freundschaftlich: „Wir werden uns noch öfters wieder sehen, in der Kantine von Magdalena vielleicht, dort gibt es immer eine Gelegenheit.“ Und er machte mit dem Spazierstock eine drehende, schwungvolle Abschiedsbewegung, bevor er gemächlichen Schrittes davonging.

Ich blieb noch eine Weile sitzen und schaute ihm versonnen nach, bis er hinter einer Hecke und einer Bodenwelle verschwand.