Zwischen Licht und Schatten (Der Welten-Express 2) - Anca Sturm - E-Book

Zwischen Licht und Schatten (Der Welten-Express 2) E-Book

Anca Sturm

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Beschreibung

Eine atemlose Reise, angetrieben von Kohle, Dampf ... und Magie! Willkommen im WELTEN-EXPRESS! Endlich ist Flinn Nachtigall offiziell Schülerin im Welten-Express, dem magischen Internatszug. Doch dass sie eines Tages die Welt verändern soll, mag sie kaum glauben. Auch ihre Freunde Pegs, Kasim und Fedor reagieren mit gemischten Gefühlen. Denn der gesamte Zug ist in Gefahr: Ein geheimnisvoller Schatten treibt sein Unwesen und Maskierte sorgen für Chaos und Angst. Was ist los an Bord des Welten-Expresses? Das Reise geht weiter: Der zweite Band einer fantastisch-zauberhaften Trilogie über Freundschaft, Liebe und Abenteuer mit jeder Menge Spannung und Magie für Mädchen und Jungen ab 10 Jahren. Das Debüt der mehrfach preisgekrönten Autorin.  Für Fans von "Harry Potter" und "Der Goldene Kompass"  "Ein Schätzchen! Was für ein wundervolles Buch!" (Leserstimme) 

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ANCA STURM DER WELTEN-EXPRESS ZWISCHEN LICHT UND SCHATTEN

Ein Aufsehen erregendes Debut der Autorin Anca Sturm: episch, magisch, spannend.

Ein rollendes Internat voller Geheimnisse.

Ein Mädchen auf der Suche.

Eine atemlose Reise, angetrieben von Kohle, Dampf und Magie.

Endlich ist Flinn Nachtigall offiziell Schülerin im Welten-Express, dem magischen Internatszug. Doch dass sie eines Tages die Welt verändern soll, mag sie kaum glauben. Auch ihre Freunde Pegs, Kasim und Fedor reagieren mit gemischten Gefühlen. Denn der gesamte Zug ist in Gefahr: Ein geheimnisvoller Schatten treibt sein Unwesen und Maskierte sorgen für Chaos und Angst.

Was ist los an Bord des Welten-Expresses?

Auf der Suche nach Antworten steht Flinn plötzlich ihrem Bruder Jonte gegenüber. Doch etwas stimmt nicht mit ihm …

Willkommen im Welten-Express! Die Fortsetzung des magischen Bestsellers.

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Pegs hört das Lied „Du stehst nicht im Adressbuch“ von Erik Wallnau (Text) und Leopold Paasch (Melodie).

Der Koch Ratefy hört das Lied „Mrs. de Winter bin ich“ aus dem Musical „Rebecca“ von Michael Kunze (Text) und Sylvester Levay (Musik).

 

Copyright © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2019

Umschlagillustration, Kapitelvignetten und Vorsatz: Bente Schlick

Umschlaggrafik: formlabor

Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-646-92614-9

Vermittelt durch Barbara Küper Literarische Agentur und Medienservice, Frankfurt a.M.

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WOHIN SOLL ES GEHEN?

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PROLOG

Zu einer Zeit, als Andersdenker zu Helden wurden, da baute ein reicher, begabter Mann eine Schule auf Rädern. Und weil er wusste, wie es sich anfühlt, anders zu sein, beschloss er, dass es eine Schule sein musste für all jene außergewöhnlichen Kinder, die sich oft einsam fühlen.

Da diese Schule ein Zug war, der die ganze Welt durchkreuzte, aber den Regeln keines einzigen Landes folgte, musste sie ein Geheimnis bleiben. Der Mann wählte die Schüler ganz allein und einzig nach seinem magischen Gespür aus. Er irrte sich nie.

Das ist aber nur die halbe Geschichte. Denn die Jahre gingen ins Land und der alte Mann ahnte, dass er Vorsorge treffen musste, damit der Internatszug nicht mit ihm starb. Also wandte er sich an seine drei Begleiter: einen weißen Tiger, einen großen Feldhasen und einen flinken Vogel, der eine Bekassine war. Als ihre Zeit gekommen war, schenkte er ihnen ewiges Leben und die Freiheit, die Welt zu durchstreifen. In seinem Sinne sollten sie die Schülerauswahl fortführen bis in alle Ewigkeit.

Fortan wählte jedes der drei Tiere Schüler für den Zug aus. Jedes der Tiere wählte sie danach aus, was diese Schüler später einmal mit ihrem Potenzial tun würden. Sie irrten nie.

Und weil diese drei Tiere Schüler aus jedem Land, von jedem Kontinent und aus der ganzen Welt auswählten, nannte der Mann die Schule den

WELTEN-EXPRESS

DER WELTEN-EXPRESS –DIE WAGENREIHUNG:

 

Lok

1.Lagerwagen

2.Gepäckwagen

3.Hausmeisterwagen

4.Küchenwagen

5.Speisewagen

6.Teebar

7.Bibliothek

8.Unterrichtswagen „Heldentum“

9.Unterrichtswagen „Strategie & Zuversicht“

10.Unterrichtswagen „Benehmen“

11.Studierwagen

12.Studierwagen

13.Aufenthaltswagen der Pfauen

14.Clubwagen

15.Schlafwagen der Pfauen (Mädchen)

16.Schlafwagen der Pfauen (Mädchen)

17.Schlafwagen der Pfauen (Jungen)

18.Schlafwagen der Pfauen (Jungen)

19.Aufenthaltswagen des Personals (mit Lehrerzimmer, Krankenzimmer, Pausenraum)

20.Direktoratswagen

21.Schlafwagen der Lehrer

22.Schlafwagen des Personals

23.Letzter Waggon

24.Aussichtswagen

 

182 Jahre später, im Hier und Jetzt.

Es lag an ihrem Namen: Flinn Nachtigall fand keine passende Schuluniform.

Im Stillen glaubte sie, dass ein anderer Name das Problem gelöst hätte: irgendein großartiger, erhabener wie Kleopatra oder Nofretete. So ein Name hätte deutlich gemacht, dass Flinn kein Junge war.

„Schau her!“, brummte Curly Canvas, der Hausmeister des Welten-Expresses. Mit seinem Adlerblick musterte er Flinns Gesicht. „Du freust dich nicht“, stellte er fest.

Flinn blinzelte. Sie saß auf einem dreibeinigen Stuhl im Hausmeisterwaggon und strich über die Ecken einer zerfledderten Postkarte, während Curly den Bestand an petrolfarbener Schulkleidung durchsah.

„Ich freue mich doch“, log Flinn. Sie hörte selbst, wie undankbar sie klang. Das Problem war: Flinn war daran gewöhnt, innerhalb ihrer Familie alte Kleidung aufzutragen. Aber der Gedanke, die alte Kleidung fremder Menschen anzuziehen, fühlte sich unbehaglich an und legte sich wie ein Ölfilm auf die Haut.

Doch ihr blieb keine Wahl und Flinn wusste das. Es war besser, verspätet Schülerin im Welten-Express zu werden, als gar nicht. Denn hier lebte sie nun: im Welten-Express, dem fahrenden Internat auf Schienen, gezogen von einer gewaltigen Dampflokomotive.

Erst vor zwei Wochen war Flinn ohne Ticket auf den Zug aufgesprungen, um ihren verschwundenen Halbbruder Jonte zu finden. Aber das war gar nicht so einfach. Dass sie mittlerweile ein Ticket besaß, machte die Sache leider auch nicht leichter.

„Freude sieht anders aus!“ Der Hausmeister des Welten-Expresses hielt ihr ein ausgewaschenes Hemd vor die Nase. Der schwere Geruch nach Mottenpulver und der sommerliche Duft von Henriettas bestduftendem Waschpulver vermischten sich in Flinns Nase wie ein chemisches Experiment.

Zwei Sekunden musterte sie das Hemd, als wäre es gewebt aus reinster Willkür und Scham.

„Aber“, machte Flinn und sank unter dem Anblick des alten Kleidungsstücks zusammen, „das ist gestreift!“

In der Tat, das war es. Gold auf Petrol, vom Kragen bis zum Saum. Das Problem mit der gestreiften Schuluniform war, dass sie den Jungen gehörte. So wie die gepunktete den Mädchen.

„Hm“, brummte Curly. Er war eine unförmige Gestalt mit entstellter Gesichtshälfte und rot-grauem Haar. Der fleckige Kittel, den er stets trug, ließ ihn wie eine Mischung aus Automechaniker und verrücktem Wissenschaftler aussehen.

„Ist das ein Problem?“, fragte er. Sein Blick war scharf und stählern und Flinn wurde klar, dass sie besser kein Problem mit dem Hemd heraufbeschwor. Sie wusste selbst, wie groß und schlaksig sie war. Ihre weiten Jeans, Jontes alte Karohemden und die großen Boots verstärkten darüber hinaus den Eindruck, Flinn wäre ein schmächtiger Junge. Das ungekämmte Haar in Lila-Blau-Gold und ihr ausdrucksloses Gesicht änderten daran nichts. Und die goldenen Augen unter ihren schweren Lidern hatte bis auf Fedor Kulikow, den Kohlenjungen des Welten-Expresses, noch nie jemand bewundert. Nicht einmal ihre neuen Freunde Pegs und Kasim.

„Pfff“, machte Flinn deprimiert.

Im Stillen wünschte sie sich, sie wäre eine typische Schülerin, die bereits im Januar ihre Reise im Welten-Express angetreten hätte. Stattdessen war es jetzt mitten im Herbst und das Schuljahr beinahe zu Ende. In den nächsten Wochen musste Flinn wohl oder übel mit der Schulkleidung auskommen, die Curly noch irgendwie auftreiben konnte.

„Im Laufe der Jahre haben Absolventen und Pfauen ihre abgelegten Uniformen an Bord zurückgelassen. Freu dich gefälligst, wenn wir hier was für dich finden!“, brummte Curly Canvas, während er sich durch Berge altmodischer Hemden, Hosen und Röcke wühlte.

Pfauen – so wurden die Schüler des Zuginternats genannt. Der Bestand ihrer alten Uniformen füllte einen der drei großen alten Kleiderschränke im Waggon des Hausmeisters. Spendensachen stand in goldenen Lettern darüber.

Flinn wusste, dass es irgendwo im Zug noch einen Schrank voller Restesachen geben musste. Sie war sich ziemlich sicher, dass dort Dinge versteckt wurden, die Jonte gehörten. Entdeckt hatte sie diesen Schrank bisher leider nirgends. Und das, obwohl sie vor einigen Nächten mit ihrem Freund Fedor danach gesucht hatte. Es war ihr letzter Abend als blinde Passagierin gewesen und Flinn hatte sich wehmütig und trotzig gefühlt bei der Vorstellung, den Zug am nächsten Morgen verlassen zu müssen. Fedor, mit seiner selbstverständlichen Art, hatte sie genau so wehmütig und trotzig sein lassen.

Und doch war die Suche mit ihm beinahe märchenhaft gewesen: Gemeinsam waren sie durch die vorderen, verwinkelten Wagen des Zugs geschlichen und hatten nach verborgenen Ecken oder Räumen gesucht. Als Flinn nach zwei Stunden wilder Suche immer noch unermüdlich hinter jedes Regal spähte, war Fedor ihr im Schein seiner Taschenlampe so nah gekommen, dass ihre Lippen begonnen hatten zu prickeln.

„Du bist ganz große Klasse, Flinn“, hatte er geflüstert. „Du gibst einfach niemals auf.“

Flinn hatte den Kohlenstaub in seinem Haar glitzern sehen und das Blitzen in seinen dunklen Augen. In diesem Moment hatte sie gewusst, dass sie wirklich niemals aufgeben würde.

„Du träumst vor dich hin“, grummelte Curly, als wäre das etwas Schlimmes. Mit einem Brummen hielt er ihr ein weiteres gestreiftes Hemd vor die Nase. „Freust du dich?“, fragte er und forderte grollend: „Jetzt freust du dich! Sag das deinem Gesicht.“

Flinn starrte auf das Hemd und öffnete den Mund, um zu protestieren. In diesem Moment schaukelte der Waggon in einer Kurve. Metallräder quietschten unter Flinns Füßen und Wasser tropfte ihr auf die Stirn. Flinn rieb sich ungeduldig über das Gesicht. Der Hausmeisterwagen war weder der heimeligste noch der magischste Waggon des Welten-Expresses. Er war bloß ein großer, unverkleideter Raum voller Werkzeug und Waschmaschinen. Fahrtwind säuselte durch die Ritzen in den Wänden. Von den nassen Schuluniformen auf den Wäscheleinen über ihrem Kopf tröpfelte beständig Wasser auf die Holzbohlen am Boden. Mit genau so einer Uniform wäre Flinn nicht nur ein offizieller Pfau, sondern sie sähe auch endlich wie einer aus. Was machten die Streifen da schon für einen Unterschied?

„Ich bin aber kein Junge“, wagte Flinn dennoch einzuwerfen. Sie wand sich innerlich. War das nicht einfach verrückt? Ein Mädchen, das mutig genug gewesen war, um auf einen Zug aufzuspringen, traute sich nicht laut und deutlich zu sagen: „Ich bin ein Mädchen!“

Weil kaum jemand sie für ein Mädchen hielt.

Weil sie sich wütender und wilder fühlte, als Mädchen dies nach Meinung ihrer Mutter durften.

„Mir doch egal, was du bist“, brummte Curly. „Ich habe nicht den ganzen Samstag für dich Zeit. Jetzt beeil dich. Du musst noch deinen Schülerausweis bei Daniel abholen.“

Flinn spürte ein nervöses Flattern in der Brust. Heute war der Tag, an dem sie all die typischen Pfauendinge bekommen sollte: nicht nur eine Schuluniform, sondern auch einen eigenen Schlafplatz in einem der Schülerabteile. Im Welten-Express bewohnten immer zwei Schüler ein Schlafabteil. Flinn dachte lieber nicht allzu viel darüber nach, mit wem sie ihres würde teilen müssen.

Sie beobachtete, wie Curly drei gestreifte Jungenhemden zusammenfaltete, und kaute auf ihrer Unterlippe. Sie wusste, dass sie sich durchringen und nach einer gepunkteten Bluse fragen sollte, doch sie schaffte es nicht. Schweigend griff sie nach dem Stapel Kleidung, den Curly ihr reichte, und verließ den Hausmeisterwagen Richtung Direktorat.

Seit zwei Tagen war Flinn offiziell eine Schülerin im Welten-Express. Seitdem erschien ihr der Zug in einem ganz neuen Licht: Er strahlte noch magischer, noch heimeliger, aber auch noch gefährlicher als bisher.

Der Welten-Express war eine Aneinanderreihung von vierundzwanzig altmodischen Waggons, in denen gelebt und gelernt wurde. Verbunden waren die Wagen mit rostigen Metallgelenken, über die klapprige Verbindungsstege führten. Jedes Mal wenn ein Pfau oder ein Lehrer von einem warmen Wagen in den nächsten wollte, musste er hinaus auf die Verbindungsstege in den kalten Fahrtwind. Flinn stellte sich das wunderbar vor, wenn einem im Sommer Sonne, Hitze und der Duft von Regen auf heißem Metall entgegenschlugen. Doch heute wehte ihr auf dem Steg zwischen Hausmeisterwagen und Küchenwaggon kalter Herbstwind entgegen und ließ sie frösteln.

Neugierig beugte Flinn sich über das Eisengeländer und steckte die Nase der goldgelben Landschaft Polens entgegen. Verwischt von Dampf, Fahrtwind und Magie zogen flache Felder und gedrungene Wälder an ihr vorbei.

Ich bin im Welten-Express zu Hause, dachte Flinn und konnte ihr Glück kaum fassen. Doch der Geruch von Qualm, Weite und Regen erfüllte sie auch mit Sehnsucht. Sie wusste nicht, ob die Kälte zwischen den Wagen vom drohenden Winter kam oder von dem Gefühl, dass etwas in der Ferne lag, was auf sie wartete. Etwas, was klar und klirrend und gefährlicher war als ihre Hoffnungen, Jonte zu finden.

Während sie den Zug Wagen um Wagen durchquerte, sah Flinn die vergangenen zwei Wochen noch einmal vor ihrem geistigen Auge: Hier im Speisewagen hatte sie ihre neuen – nein, ihre ersten Freunde Pegs Havelmann und Younes-Kasim kennengelernt. Beide waren modisch und selbstbewusst – und, was Flinn am erstaunlichsten fand, es störte keinen der beiden, dass sie es nicht war.

Sie sah sich um. Der Speisewagen war ein großer, langer Waggon voller Vierertische, die sich zu beiden Seiten des Mittelgangs erstreckten. Die Fensterscheiben, die sich um den Raum wölbten wie ein gläsernes Dach, schimmerten wie gewebtes Wasser.

Doch der Speisewagen war nicht der magischste Waggon im Welten-Express: Da waren Unterrichtswagen voll funkelnder Mechanik und raschelnder Schaubilder, Wagen mit sich bewegenden Deckengemälden und flatternden Buchstaben auf den Fensterrahmen. Und gleich hinter dem Speisewagen gab es die Teebar mit den dampfgekühlten Regalen und die goldene Bibliothek, in deren Rohrpostklappe jeden Montag der Express-Express erschien – die Schulzeitung voller Nachrichten, Klatsch und Werbung.

Flinn hob den Kopf, als sie den Bibliothekswagen betrat. Die magische Landkarte an der Decke knisterte und raschelte, als redete sie mit sich selbst. Es gab ein Ächzen wie von gebogenem Metall, dann blinkte auf der Karte ein Schienenstrang rot auf. Er führte von Mitteleuropa weg und nach Russland hinein. Flinn riss die Augen auf. Sie musste unbedingt mit Pegs und Kasim über diese neue Strecke sprechen!

Doch sechs Wagen weiter, im Aufenthaltswagen der Pfauen, konnte sie die beiden nicht entdecken. Im Leierkastenradio dudelte ein altes Lied: „Wo magst du denn nur wohnen? Dich überall zu suchen, das müsste sich doch lohnen …“. Diese beschwingte Musik ging ganz sicher auf Pegs’ Konto – sie musste eben noch hier gewesen sein.

Das Lied klang wie immer furchtbar altmodisch, doch heute störte sich keiner der Pfauen daran. Eine Gruppe Drittklässler trug gerade ein Backgammonturnier aus. Etliche ältere Pfauen hatten sich um ihre Sessel versammelt und blickten mit konzentrierten Mienen auf die Spielbretter hinab. Ihre Ausrufe wechselten zwischen begeistertem Johlen und ernüchterten Ohs.

Flinn stemmte die Eisentür am Waggonende auf und ging in den hinteren Teil des Zugs. Sofort verklangen die begeisterten Ausrufe und die beschwingte Musik.

So weit hinten im Zug bestanden die Wagen aus schmalen Gängen und kleinen Abteilen. Hier gab es Räume, die Flinn noch nie betreten hatte: Der Clubwagen war voller verschlossener Türen und auch der sogenannte Letzte Waggon besaß eine Tür, die niemand öffnen durfte.

Die Schlafwagen dazwischen waren still und zauberhaft. Unzählige Absolventenfotos säumten den Platz auf den Wänden neben den Abteiltüren und den Fenstern gegenüber.

„Wie geht’s euch?“, fragte Flinn, ohne jemand Bestimmten zu meinen. Sofort ratterten die metallenen Buchstaben unter den Bilderrahmen wie nervöse Flügelchen. Aus Emmeline Pankhurst wurde Selbstbestimmtheit und aus Marie Curie wie immer Forscherdrang.

Flinn lächelte zufrieden. Von diesen kleinen magischen Spielereien im Zug würde sie nie genug bekommen.

Doch schon zwei Schritte weiter erstarrte ihr Lächeln. Im gedämpften Nachmittagslicht kam ihr eine Gestalt entgegen. Sie zeichnete sich groß und kantig vor den goldgelben Stoppelfeldern ab, die hinter den Fensterscheiben dahinzogen. Ihre dunklen Haare starrten vor Kohlenstaub und am Saum der ölbefleckten Hose klimperte allerlei technisches Werkzeug.

Flinn erkannte sofort, wer es war: Fedor. Der Duft nach Öl, Ruß und Pfirsichen stieg ihr in die Nase wie der Geruch von Glück.

„Hallo“, sagte sie aufgeregt.

Fedors Stimme war dunkel und rau. „Hey.“

Einen Augenblick lang blickte er sie erfreut an. Er beugte sich zu ihr und hob einen Arm, als wollte er sie berühren. Flinns ganzer Körper begann zu kribbeln. Dann schien Fedor zu merken, was er da tat. Mit unbehaglicher Miene wandte er den Blick von ihr ab und rieb sich mit der Hand über den Nacken.

„Du solltest jetzt nicht zu Daniel gehen“, warnte er sie leise. „Er hat mich gerade aus seinem Büro geschmissen.“

Flinn blinzelte irritiert. „Warum?“

Als Mitarbeiter des Zugs durfte Fedor alles wissen und alles sehen. Es sei denn, es handelte sich um etwas Gefährliches – oder etwas Geheimes. Flinns Herz begann schneller zu klopfen. „Geht es um Jonte? Geht es um die Phantom-Pfauen?“

Sie dachte an Jontes altes Zugticket, dieses graue verkohlte Ding. Sie wusste, was die Brandspuren darauf bedeuteten: Ihr Bruder war bei voller Fahrt aus dem Welten-Express verschwunden. Mitten in der Nacht. So wie unzählige weitere Pfauen vor ihm. Niemand wusste, wie das hatte geschehen können.

Doch Fedor schüttelte bloß stumm den Kopf, als bereute er es, sie angesprochen zu haben. Als er sich an ihr vorbeischob, sagte er kein Wort mehr.

Flinn blieb stehen und blickte ihm nach. Sie sah, wie er die Eisentür am Waggonanfang aufstemmte und auf der Außenplattform verschwand. Er drehte sich nicht einmal nach ihr um.

Der Duft nach Glück roch plötzlich fad. Noch vor ein paar Tagen hatte Flinn geglaubt, zwischen ihr und Fedor liege mehr in der Luft als nur Kohlenstaub und rußiger Dampf. Sie hatte die Verbindung zwischen ihnen gespürt wie ein Kompass das magnetische Knistern der Welt. Und nun? Nun sprach Fedor kein Wort mehr mit ihr und Flinn wusste nicht, warum.

Sie wusste nur: Fedor Kulikow war bereits fünfzehn Jahre alt, also zwei Jahre älter als sie. Vor zwei Jahren hatte er sich gegen ein Schülerleben als Pfau und für die Arbeit im Kohlenlager des Zugs entschieden. Flinn verstand bis heute nicht, warum. Der Welten-Express war der heimeligste, edelste, magischste Ort, den sie kannte. Wer würde hier nicht zur Schule gehen wollen?

Flinn blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Im Gang vor dem Krankenzimmer hingen Worte in der Luft wie Geisterflüstern: „ … meine Entscheidung … mir doch egal, was die anderen machen …“

Flinn lauschte. In diesem Gang wirkte alles trostlos. Es roch nach Stillstand und Stille. Und doch hörte Flinn leises Gemurmel: „ … ab heute trage ich nur noch Pumps … geht mir aus dem Weg!“

Vorsichtig schob Flinn die Tür zum Krankenabteil beiseite und lugte in den kleinen, lichtdurchfluteten Raum. Das hatte sie in den vergangenen Tagen oft getan. Denn auf dem Bett vor dem Fenster lag die ohnmächtige Garabina – Flinns Mitschülerin, Schuldiva und ein echter Hank. So nannten die Pfauen all jene Schüler, die mit ihren Plänen über die Stränge schlugen.

Garabinas Augen waren geschlossen, das lange Haar glänzend über ihr Kissen ausgebreitet wie das einer schlafenden Prinzessin. Sie atmete flach, aber gleichmäßig.

Jetzt hörte Flinn die Worte ganz deutlich: „ … ich lasse mich nicht herumkommandieren … auf meinem Konto ist genügend Geld! Ich brauche euch nicht!“

Flinn benötigte eine Sekunde, um zu begreifen, dass Garabina vor sich hin murmelte. Was sie sagte, klang nach der typischen Garabina – arrogant und rücksichtslos. Flinn verzog das Gesicht. Was hatte sie denn erwartet? Dass Garabina durch den Unfall vor sechs Tagen ein netter Mensch wurde? Wie unwahrscheinlich!

Sie schloss die Abteiltür, durchquerte den Gang, huschte über einen weiteren Verbindungssteg und stand kurz darauf vor der Tür zum Direktorat. Eine laute Stimme drang durch das Buntglasmosaik auf den Gang hinaus: „Was, wenn er uns zuvorgekommen ist? Wenn er sie gefunden hat, dann sind wir verloren!“

Flinns Herz hämmerte so laut, dass sie die Worte kaum verstand. Dies war die Stimme von Bert Willmau, dem Lehrer für Benehmen. Flinn hatte erst einen Tag Unterricht bei ihm erlebt, doch der genügte, um zu wissen, dass der Lehrer normalerweise nicht ernst zu nehmen war. In diesem Moment allerdings klang er sehr ernst.

„Wir müssen handeln, jetzt!“, verlangte Willmau ungewöhnlich laut. „Cree darf sie nicht in die Finger bekommen. Er würde ein Monster aus ihr machen!“

Flinns Herz flatterte unruhig, als sie an die Bürotür klopfte. Sie wollte dieses Gespräch nicht belauschen. Seit sie herausgefunden hatte, dass Daniel Wheeler nicht nur der Schulleiter des Welten-Expresses, sondern auch ihr Vater war, wusste sie noch weniger, was sie von ihm halten sollte. Sie hatte ihn von Anfang an als sonderbar scheu empfunden und seinen Blick als seltsam intensiv.

„Herein“, drang Daniels Stimme gehetzt und erschrocken aus dem Abteil. Flinn war nicht überrascht, als sie ihn beim Eintreten dabei erwischte, wie er neben dem angekippten Fenster hastig eine Zigarette ausdrückte.

Sein Direktorat war ein vollgestopfter, interessanter Raum, doch Flinn konnte ihren Blick nicht von ihm und Willmau wenden.

„Sprechen Sie von Jonte?“, fragte sie nervös. „Wer oder was ist Cree?“

Willmau glotzte Flinn an wie einen Geist. Einen Augenblick lang wünschte sich Flinn, sie hätte auf Fedor gehört. Sie rechnete damit, dass Daniel sie ebenso wie ihn aus seinem Büro werfen würde. Dann räusperte Daniel sich unruhig und rief: „Flinn!“ Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, als wäre ihr Name ein Schalter, mit dem man eine Lampe anknipst. „Herein, herein. Setz dich. Auf Wiedersehen, Bert. Wir sprechen später weiter.“

Flinn runzelte die Stirn. Daniel wirkte bei ihrem Anblick seltsam beschwingt. Und hatte er sich etwa das braune Haar kürzer geschnitten?

„Sie können ruhig jetzt weiterreden“, sagte sie möglichst höflich zu Willmau. Wie immer trug der Lehrer viel zu enge Jeans und einen eingelaufenen Pullover mit zwei aufgestickten Tigerbabys darauf. Statt Flinns Aufforderung nachzukommen, verzog er das Gesicht und stürmte aus dem Abteil. Hinter ihm knallte die Abteiltür zu, sodass das Glasmosaik vorwurfsvoll darin klirrte.

„Willmau hat recht. Wir müssen Jonte und alle anderen Phantom-Pfauen finden“, beharrte Flinn und setzt sich auf den Stuhl vor Daniels Schreibtisch. Es war ein großer, protziger Tisch, der wie eine fette Kröte in der Mitte des Raums hockte, und in dessen Beinen viele kleine Schubladen allerlei Krimskrams verbargen. Nachdenklich fügte sie hinzu: „Vielleicht liegt Jonte in einem Krankenhaus oder lebt längst irgendwo außerhalb des Zugs?“

Daniel runzelte die Stirn. „Mitarbeiter der Weltweiten Expresszentrale haben alle Krankenhäuser überprüft. Sie haben weltweit nach den verschwundenen Pfauen gesucht. Es gibt keine Spur.“

Flinn wollte nicht so einfach aufgeben. „Und was ist mit diesem Cree? Willmau hat dieses Wort eben erwähnt …“

„Du solltest nicht ständig an Türen lauschen“, unterbrach Daniel sie. Er klang bitter. Rasch setzte er sich an seinen Platz hinter dem Schreibtisch und deutete auf eine sechseckige Metalllampe auf der Tischplatte zwischen ihnen. Sie sah schwer und klobig aus und leuchtete goldfarben. Tausende Goldpartikel tanzten träge in ihrem Innern.

„Das ist die Humphrylampe“, erklärte Daniel. „Der Magietechnologe Sir Humphry Davy hat sie unserem Schulgründer vor zwei Jahrhunderten geschenkt. Wenn sie golden leuchtet, ist alles in Ordnung.“

Flinn starrte von der Lampe zu Daniel und wieder zurück. Der goldene Lichtschein ließ Daniels Gesicht ungewohnt weich und jung aussehen.

„Die ist bestimmt kaputt“, vermutete Flinn. Dass Jonte und viele andere Pfauen an Bord des Welten-Expresses verschwunden waren, konnte man schließlich kaum als in Ordnung bezeichnen.

Doch das goldene Licht der Lampe gab ihr ein ganz anderes Gefühl: In seinem sanften Schein fühlte Flinn sich seltsam fröhlich und betört, leicht und schläfrig. Ein sanftes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Dann holperte der Waggon über einen Gleisübergang und Flinn erwachte aus ihrer Glückseligkeit. Sie schüttelte überrascht den Kopf.

„Sie sorgt für gute Stimmung an Bord“, sagte Daniel mit Blick auf die Lampe.

Flinn kniff die Augen gegen den Lichtschein zusammen. „Ist das nicht eigentlich dein Job?“, entgegnete sie.

Daniel ging nicht darauf ein. Hastig zog er eine der Schreibtischschubladen bis zum Anschlag auf. „Hier ist sie. Deine neue Schülerakte.“ Wie ein Zauberer ein Kaninchen aus dem Hut befördert, zog er eine Akte aus beigefarbener Pappe hervor und legte sie vor sich auf den Tisch.

Flinn wandte den Blick widerwillig von der Humphrylampe. Sie verengte die Augen noch ein Stückchen mehr. Dafür, dass die Akte erst wenige Tage alt war, sah sie sehr schwer und zerlesen aus. Wie ein Geheimnis, das jeder kannte.

„Was steht denn da drin?“, fragte Flinn skeptisch.

Daniel wischte ihre Frage mit einer Handbewegung beiseite. „Keine Ahnung, ich lese die Schülerakten nie“, behauptete er. „Aber die Weltweite Expresszentrale ist immer sehr gründlich beim Zusammentragen aller Fakten, damit wir genau wissen, mit wem wir es zu tun bekommen. Stimmt es, dass du in der Fräulein-Schlechtfeld-Schule am siebten Mai vorletzten Jahres eine Tür abgefackelt hast? Die Tür war angeblich nur noch ein Haufen Asche.“

Flinn erstarrte. Sie erinnerte sich, wie all die Aasgeier in ihrer alten Schule sie feixend und grölend auf der Jungentoilette eingesperrt hatten. Das schleichende Gefühl von Panik, das sie damals erfasst hatte, war noch frisch.

Sie wusste nicht mehr, was dann geschehen war – nur, dass sie ein paar Minuten später im Büro von Fräulein Schlechtfeld eine Verwarnung wegen Sachbeschädigung bekommen hatte. Noch jetzt, hier im Welten-Express, wand Flinn sich unter der Erinnerung. In ihrer alten Schule war Vandalismus nichts außergewöhnlich Seltenes gewesen. Im Zuginternat dagegen benahm man sich nicht derart daneben.

„Du hast die Akte ja doch gelesen!“, warf Flinn Daniel mit glühenden Wangen vor.

Daniel schüttelte den Kopf und kramte in einer Schublade am anderen Tischbein herum. „Nicht ich, sondern Curly“, stellte er klar.

Flinns Schultern versteiften sich. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Der gruselige Hausmeister konnte sie nicht leiden. Was würde er wohl mit den Informationen über sie anfangen?

Daniel ließ eine Handvoll Krimskrams auf den Tisch purzeln: einen rechteckigen Anstecker mit dem Schullogo (ein WE neben einem stilisierten Pfau), einen Schlüssel für ihr neues Schlafabteil, eine Liste der Schulregeln und einen kleinen, flachen Schülerausweis aus Metall. „Der zeigt immer genau die Schule an, die sich in der Nähe unseres aktuellen Haltebahnhofs befindet. Das ist praktisch, um sonntags neugierige Bahnhofsvorsteher zu beruhigen“, erklärte Daniel und zwinkerte.

Flinns Blick blieb an dem Abteilschlüssel hängen. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, mit wem sie sich in Zukunft ein Abteil teilen würde. Was, wenn ihre neue Zimmergenossin sie nicht leiden konnte und ihr nachts heimlich Streiche spielte? Ihre Halbbrüder hatten das früher in Weidenborstel getan. Das hieß, alle außer Jonte natürlich.

„Und nun habe ich noch etwas Besonderes für dich …“ Daniel verschwand in der Tür zu seinem Privatabteil. Flinn hörte ihn herumwühlen, dann erschien er wieder im Raum, eine altmodische Ledertasche in den Händen. Der abgestandene Geruch nach Qualm und Papier stieg Flinn in die Nase. „Meine alte Schultasche“, sagte Daniel und hielt ihr das Ding auffordernd entgegen.

Flinn griff zögernd danach. Das Leder fühlte sich abgenutzt und weich an unter ihren Fingern. Trotz all der Kratzer wirkte die Tasche chic und teurer als alles, was Flinn je besessen hatte.

„Ähm …“, machte sie und zögerte. Wenn dies ein Geschenk war, wäre ein Danke angebracht gewesen, doch wenn nicht, würde ein Danke Daniel in die unangenehme Situation bringen, ihr die Tasche schenken zu müssen.

Noch während sie überlegte, ging ein Ruck durch den Zug.

Flinn rutschte mit voller Wucht gegen Daniels Tisch. Die breite Tischplatte drückte sich in ihren Magen wie ein Boxhieb. Flinn ächzte. Das hohe, pfeifende Geräusch von quietschenden Rädern auf Metallschienen erfüllte die Luft, dann stand der Zug mit einem Mal still.

Daniel sprang erschrocken auf. „Nimm deine Ledertasche und dann raus hier“, wies er Flinn an. Schon war er aus dem Direktorat verschwunden und hastete den Gang entlang.

Flinn hörte die schwere Eisentür des Waggons krachen, dann das metallene Klong-klong-klong, als Daniel die drei Stufen zum Rand der Gleise hinabstieg.

Hastig stopfte Flinn ihren Schülerausweis und all den anderen Krimskrams, den Daniel ihr gegeben hatte, in die neue Ledertasche. Die Humphrylampe leuchtete noch immer in warmem Gold, doch Flinn traute dem Ding nicht. Wer war Sir Humphry Davy überhaupt gewesen? Sie hatte noch nie von ihm gehört.

Ihre Schuluniform unter den Armen und den schweren Lederriemen über der Schulter, trat sie hinüber in den angrenzenden Waggon.

Im Gang vor dem Krankenabteil lag eine gespannte Stille in der Luft. Etliche Schüler drängten sich vor den Fenstern. Verwirrt zwängte Flinn sich durch eine Gruppe Fünftklässler und drückte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe. Draußen zischte Dampf empor und verdeckte die Sicht auf einen winzigen Bahnhof am Rande Masowiens. Direkt unter dem Fenster thronte eine untersetzte, breitschultrige Frau in Anglerweste und Cargohose und mit Safarihut zwischen unzähligen leopardengemusterten Koffern. Sie sah so rund und in sich ruhend aus wie eine Bienenkönigin inmitten ihres Volkes. In der Hand hielt sie einen sehr dünnen Spazierstock, den sie wie einen Taktstock Richtung Express neigte. Einen kurzen Moment lang glaubte Flinn, sie habe den Zug damit gestoppt. Aber das war ja wohl nicht möglich.

„Dreizehn Koffer! Ich wüsste gern, was da drin ist“, drang Pegs’ helle Stimme durch die Menge. „Normale Klamotten werden es wohl nicht sein, so schwer, wie die Dinger aussehen.“

Rasch sah Flinn sich um. Ihre beste Freundin schob sich durch die Gruppe Fünftklässler. Mit ihrer flinken Art und der auffällig bunten Kleidung auf der weißen Haut wirkte sie wie eine wandelnde Farbexplosion. In ihrem kurzen albinoweißen Haar steckte eine blaue Schleife mit mächtig viel Tüll. Flinn fand, dass Pegs damit aussah wie ein Staubwedel auf zwei Beinen.

„Schüler dürfen nur einen Koffer mitbringen“, beschwerte Pegs sich. „Das ist ein bisschen ungerecht, wenn du mich fragst. Ich musste einen Pelzmantel bei meinen Eltern zurücklassen. Es war natürlich kein echter Pelz. Er war grün und zottelig.“

Wo Pegs auftauchte, war auch Kasim nicht weit.

„Wo hast du die Ledertasche her?“, fragte er, kaum, dass er sich durch die Schülermenge zu ihnen hindurchgezwängt hatte. Wie immer am Wochenende trug er zerschnittene Jeans, ein grelles Hemd und allerlei Nieten an seinen Armbändern. Doch was Flinn am meisten an ihm gefiel, waren die blaugrün gefärbten Haare, die über seiner gebräunten Haut schimmerten und knisterten, als wären sie elektrisch aufgeladen.

Pegs warf einen raschen Blick auf Flinns neue Tasche. „Ich hoffe, das ist kein echtes Leder“, sagte sie streng und wandte sich wieder dem Fenster zu. „Die Frau sieht aus wie eine Großwildjägerin mit schlechtem Modegeschmack. Wir brauchen doch keine Jägerin an Bord!“

Flinn dachte an den neuen roten Schienenstrang an der Decke der Bibliothek. Die Vorstellung, so weit von ihrem Zuhause in Weidenborstel entfernt zu sein, ließ ihr Herz flattern wie die goldenen Buchstaben an den Rahmen der Zugfenster: Hohenwulsch, Spreewald und Woiwodschaft Lebus – Namen von Orten und Regionen, die der Welten-Express bisher durchquert hatte und die sich in Flinns Innerem verzweigten wie Striche und Buchstaben auf einer Landkarte.

„Vielleicht brauchen wir eine Jägerin zum Schutz vor wilden Tieren?“, mutmaßte sie. „Wir fahren nämlich nach Russland. Taiga und Tundra, ihr wisst schon. Endlose Weiten. Was sollen wir tun, wenn uns auf den Bahnhöfen dort ein riesiger Elch oder ein Bär begegnet?“

Pegs schüttelte lachend den Kopf. „Eher werden wir eingeschneit!“

Eine dröhnende Stimme am Waggonende ließ sie alle zusammenfahren: „Eingeschneit? Mitten im goldenen Herbst? Sag mal, in welcher jämmerlichen Schule hast du das denn gelernt? Im Kupferschloss?“

Flinn zuckte zusammen. Die Eisentür war geöffnet worden und auf der Plattform davor stand die untersetzte Safarifrau wie eine Eroberin auf einem neuen Kontinent.

„Wir sind hier im Welten-Express!“, rief sie polternd. „Ich erwarte ein bisschen mehr Bildung, bitte!“

Mit einer wuchtigen Hand strich sie ihr zerzaustes dünnes Haar zurück. Es ließ sie älter wirken, als sie vermutlich war – vielleicht ungefähr vierzig. Auf unangenehme Weise erinnerte ihre kräftige Erscheinung Flinn an Curly.

Die Frau begutachtete Flinn, dann die Gruppe Fünftklässler hinter ihr, ignorierte Kasim, als wäre er gar nicht da, und glotzte schließlich Pegs an.

„Welches ist das Tigerkind?“, dröhnte die Frau. „Ich hoffe, nicht dieses kunterbunte Schneefrettchen!“

Pegs’ dunkler Haarreif rutschte ihr wie ein Stimmungsbarometer tief in die helle Stirn. Keiner der Pfauen antwortete. Verwirrung lag in der Luft.

„Flinn“, sagte Daniel, der gerade den ersten der dreizehn Koffer in den Waggon hinaufwuchtete, „sei so gut und bring die neuen Schulsachen in dein Abteil, ja?“ Er schloss die Eisentür hinter sich, bevor die frische Herbstluft den Waggon auskühlen konnte, und wandte sich an die Schülermenge. „Wir fahren in fünf Minuten weiter. Marina, sagst du bitte Curly Bescheid, dass er die übrigen zwölf Reisekoffer direkt in den Gepäckwagen verladen soll? Danke sehr.“

Flinn, Kasim und Pegs wandten sich zum Gehen.

Pegs zog die Augenbrauen hoch. „Direkt in den Gepäckwagen?“, wiederholte sie flüsternd. „Will die Frau ihre Koffer denn nicht auspacken?“

„Sehr merkwürdig“, stimmte Kasim zu und schob seine Hände nachdenklich in die Hosentaschen.

„Einen Moment noch!“, kreischte die Safarifrau ihnen hinterher. Flinn beschlich die Vermutung, diese Frau würde immer kreischen, wenn sie redete, so wie eine schlecht gestimmte Geige. „Ist dieser Flinn-Junge etwa das Tigerkind? Sie haben mir ein Tigerkind versprochen, Daniel, vergessen Sie das nicht!“

Flinn zog den Kopf zwischen die Schultern. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Frau war oder wovon sie sprach. Doch sie beschlich das ungute Gefühl, dass sie es schneller herausfinden würde, als ihr lieb war.

Auf dem Weg durch die Schlafwagen betrachtete Flinn all die Abteiltüren, hinter denen sich gemütliche Hochbetten und persönliche Schätze verbargen. Ihr wurde flau im Magen bei der Vorstellung, dass sie Jontes alte Postkarte würde verstecken müssen, falls sie sich ein Abteil mit jemandem wie Garabina teilen musste.

„Ich durfte wieder nicht beim Backgammonturnier der Drittklässler mitmachen“, beschwerte Kasim sich, als sie gerade den Gang des ersten Mädchenschlafwagens durchquerten. „Wir sollten unbedingt trainieren. Wenn ich besser werde, knöpfe ich Gunnar Helguson all seine gewonnenen Rohlinge ab.“ Er strahlte in die Runde. „Was haltet ihr davon? Wir werden reich!“

Pegs verdrehte die Augen. „Meinetwegen“, sagte sie. „Ich habe heute sowieso nichts Besseres mehr vor. Flinn?“

Flinn schreckte aus ihren Gedanken. „Geht ruhig schon mal vor“, sagte sie, verabschiedete sich von Pegs und Kasim und kramte ihren neuen Abteilschlüssel aus der Ledertasche hervor. S1 A5 stand darauf, was bedeutete: Schlafwagen Nummer eins, Abteil Nummer fünf. Flinn hatte das Abteil kaum erreicht, da sah sie die Federn und den Glitter am Türrahmen und wusste, wer in S1 A5 schlief: Pegs!

Flinn atmete erleichtert aus. Ihre Sorge wich einem freudigen Kribbeln.

Neben der Tür zeigte ein Emblem ein hasenpfotiges Herz. Doch heute hing dort noch ein zweites Zeichen: drei parallel verlaufende Streifen auf metallischem Grund. Mit den Fingerspitzen strich Flinn über das glatt polierte Metall. „Was bedeutet ihr alle?“, fragte sie leise. „Ihr Zeichen neben den Türen?“

Hinter ihr antworteten die Buchstaben unter dem Bild von Florence Nightingale ihr immer gleiches Erleuchtung.

Flinn lächelte und schloss das Abteil auf. Wie bei ihrem ersten Besuch dort betrachtete sie die Schwarz-Weiß-Plakate an den Wänden, die Pegs’ liebste Swing- und Operettensänger zeigten, und das Gemisch aus Flusen, Federn und tanzenden Lichtpunkten, das durch die Luft schwebte. Einen Augenblick lang konnte sie nicht fassen, dass dieses Abteil nun auch ihr Schlafplatz war. Dieser vollgestopfte, bunte Raum voller Freundschaft und Wärme erschien ihr so perfekt wie ein bloßer Wunschtraum.

Wie jedes der Schülerabteile war Pegs’ Abteil ein schmaler Raum mit zwei Hochbetten zu jeder Seite des breiten Fensters, vor dem ein langer Schreibtisch für zwei stand.

Flinn hängte ihre neue Ledertasche neben das rechte Hochbett und schwang sich die vier Holzstufen hinauf. Bei ihrem letzten Besuch war dieses Bett unbezogen gewesen. Nun lagen darauf drei dicke Kissen und eine petrolfarbene Bettdecke. Ein warmes Gefühl kroch durch Flinns Körper.

Rasch ließ sie ihre Füße zurück auf den Teppich gleiten, öffnete den Kleiderschrank unter dem Bett und stülpte ihre Schuluniform über die Metallbügel: eine ausgewaschene Weste, in deren Kragen der Name Oscar Wilde eingenäht war. Zwei helle Hosen. Zwei Röcke, die Flinn ganz bestimmt niemals anziehen würde. Eine dicke Cabanjacke. Zwei samtweiche Pullover für den Winter, an deren Saum bereits die Farbe ausblich – und drei gestreifte Hemden.

Jungenhemden! Alte Jungenhemden! Was, wenn eines davon Jonte gehörte? Der Gedanke kam so schnell, dass Flinn die Hemden fallen ließ. Hastig bückte sie sich danach und inspizierte die Kragen: einmal Nikola Tesla in eingesticktem Gelb, einmal C. Colette und einmal …

Flinn stockte der Atem. Tatsächlich! Im matten Nachmittagslicht strich sie über den eingestickten Namen im Kragen des Hemds: J. Nachtigall.

Jonte. Goldener Zwirn auf petrolfarbenem Grund. Konnte das Zufall sein?

Auf drei Bügeln in ihrem Schrank hingen bereits die karierten Hemden, die Curly ihr am ersten Tag an Bord des Zugs gegeben hatte. Eines davon, ein sommergelbes, gehörte ebenfalls Jonte.

Als Flinn Curly an ihrem ersten Tag an Bord danach gefragt hatte, war er wütend geworden und hatte sie angeherrscht: „Das geht dich gar nichts an!“ Von ihm hatte sie keine Hilfe zu erwarten. Doch nun gab er ihr schon zum zweiten Mal ein altes Hemd von ihrem Bruder. Konnte das wirklich Zufall sein?

„Ich finde dich“, versprach Flinn und drückte ihre Nase in den weichen Stoff. Er roch sogar noch nach Jonte! Zwar auch nach Waschpulver und Staub, doch der leise Duft nach Kornblumen und Zimt hing zwischen den goldenen Streifen wie Erinnerungen an ihr früheres Zuhause.

Flinn hängte das Hemd in den Schrank. Piep!, machte der Kleiderbügel und verkündete blechern: Dieses Hemd muss gewaschen werden! Flinn verdrehte die Augen, woraufhin der Kleiderbügel mit mechanischer Stimme präzisierte: Dieses Hemd muss dringend gewaschen werden!

Flinn schloss den Kleiderschrank und verließ ihr Abteil Richtung Aufenthaltswagen.

„Es gibt einen neuen Hinweis!“, verkündete Flinn, kaum dass sie Pegs und Kasim in einer Ecke des Aufenthaltswagens entdeckt hatte. Beide saßen auf dem flauschigen Teppich und spielten wie verabredet eine Runde Backgammon.

„Ein altes Schulhemd von Jonte“, erklärte Flinn atemlos. „Curly hat es mir gegeben. Es hängt jetzt in unserem Abteil.“

Pegs stieß vor Überraschung beinahe ihre Dose Ingwersnaff um. Ein süßlicher, herber Duft stieg daraus empor. „In unserem Abteil?“, wiederholte sie ungläubig.

Einen Augenblick lang wurde Flinn mulmig bei dem Gedanken, dass Pegs ihr Abteil vielleicht gar nicht teilen wollte. Dann rief ihre Freundin: „Yes! Genau darum hatte ich Daniel gebeten!“ Sie reckte eine Siegerfaust gen Himmel.

Kasim kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

„Du hast Daniel bestimmt bestochen“, mutmaßte er. „Mit türkischem Honig oder so. Normalerweise steckt er immer Leute in ein Abteil, die sich nicht leiden können. So wie Sture Anoi und mich.“ Er reichte Flinn ein kleines klimperndes Säckchen aus Samt. „Mein Willkommensgeschenk für dich“, sagte er grinsend.

Flinn starrte perplex auf das Säckchen in ihren Händen. Es war rot und silbern und schimmerte im Nachmittagslicht.

„So ein Quatsch“, entgegnete Pegs. „Meine Eltern würden niemals erlauben, dass ich jemanden besteche. Das weißt du doch!“ Sie hob ihre Getränkedose zum Mund. Flinn sah, dass sie dahinter verschmitzt grinste.

In Pegs’ Leierkastenradio plärrte schon wieder eine helle Stimme: „Du stehst nicht im Adressbuch, ich kann dich nicht erreichen. Was soll ich denn nur machen, denn ich lieb dich ohnegleichen …“

Zwei fünfzehnjährige Pfauen warfen ihnen aus den Sesseln am anderen Ende des Wagens genervte Blicke zu. Das Backgammonturnier zwischen den Drittklässlern war noch immer in vollem Gange.

Flinn achtete nicht darauf. Sie setzte sich neben Kasim auf den Boden und schüttete den Inhalt des Säckchens in ihren Schoß. Zum Vorschein kam ein kunterbuntes Set Backgammonsteine. Die Spielsteine bestanden aus einer wilden Mischung von Holz, Glas, Bernstein und Metall. Manche glänzten silbern wie aufgefangene Sternschnuppen, andere fühlten sich glatt und warm an und wieder andere verhielten sich magnetisch oder knisterten voller Energie.

„Danke!“, sagte Flinn und strahlte Kasim an.

Der schien mächtig stolz auf sich. „Das Set habe ich für dich aus ausrangierten Steinen zusammengesucht.“

Flinn kannte Kasims Fingerfertigkeit. Sie fürchtete, dass er die Spielsteine in Wahrheit aus den Sets der anderen Pfauen zusammengeklaut hatte. Doch sie schob den Gedanken beiseite.

Glücklich betrachtete sie die kunterbunten Steine. Einer der Spielsteine fühlte sich besonders glatt zwischen ihren Fingern an. Er war aus Holz und wirkte so schlicht und bodenständig wie Flinns altes Leben in Weidenborstel. Sie drehte und wendete den Stein, bis ihr Blick plötzlich auf die winzigen Buchstaben fiel, die jemand in das weiche Holz geritzt hatte: Sei furchtlos und kühn!

Die Worte vibrierten in Flinns Innerem. Es waren Jontes Worte. Sei furchtlos und kühn, war sein Motto, das er so inbrünstig vertreten hatte wie ein Ritter seinen Wappenspruch. Mit einem Mal waren Flinns Finger fahrig und der Stein fühlte sich glühend heiß an.

„Kasim!“, rief Flinn und ließ den Stein auf den Boden purzeln. „Woher hast du den? Er gehört Jonte!“

Kasim zog erschrocken die Augenbrauen hoch. Er inspizierte den Stein so gründlich, als suchte er einen Diamanten nach Makeln ab, dann zuckte er ratlos mit den Schultern. „Den habe ich vor zwei Tagen in einem der Schlafwagen gefunden. Im Gang.“ Gedankenverloren zählte er auf: „Goldene Büroklammern, Rohlinge, Notizzettel – da liegt ständig alter Krimskrams herum.“

Mit einer Stimme, die rauer klang als beabsichtigt, betonte Flinn: „Jontes Besitz ist kein Krimskrams.“ Die klappernden Backgammonsteine in ihrer Hand, lehnte sie sich an einen Sessel.

Sie vermisste ihren Halbbruder schrecklich. Sie vermisste seine Großartigkeit, seine Lässigkeit und seinen Witz. Sie vermisste, dass er ihr Zuhause gewesen war. Sogar der Welten-Express war nicht vollkommen ohne ihn. Seine ehemalige Anwesenheit in diesem Zug geisterte durch die petrolfarbenen Wagen und durch Flinns Inneres. Wo er jetzt wohl gerade war?

„Ich hab Mum im letzten Brief versprochen, Jonte zu finden“, verriet sie Pegs und Kasim. „Bislang bin ich auf zwei Hemden mit seinem Namen gestoßen und auf sein altes Ticket. Und jetzt auf diesen Backgammonstein. Das reicht doch nicht! Was sollen wir tun?“

Kasim warf Pegs einen beunruhigten Blick zu. Einen Moment lang fühlte Flinn sich wie eine Kranke, um deren Zustand man sich Sorgen machen musste. Aus irgendeinem Grund machte sie das wütend.

„Der Express ist wie ein Teppich aus Geheimnissen“, sagte Pegs altklug. „Wir haben am Rand gezupft und jetzt müssen wir nur noch darauf warten, dass er sich vor unseren Augen aufdröselt.“

Flinn blickte sie düster an. „Und wann genau wird das passieren?“, fragte sie ungeduldig. Sie fühlte sich nicht halb so zuversichtlich wie Pegs klang. Ihr Schweigen lag schwer über den drei Freunden. Es klang wie: Helft mir oder helft mir nicht, aber ich finde Jonte, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Der Abend war eisig und brachte außer zeitiger Dunkelheit auch kalte Regenschauer mit sich. Das Licht der Außenlampen war verwaschen und reichte kaum aus, um die Verbindungsplattformen zwischen den Wagen zu beleuchten. Zwischen Bibliothek und Teebar nutzten zwei siebzehnjährige Pfauen das schummrige Licht, um heimlich miteinander zu turteln. Flinn hatte keine Ahnung, wie die beiden es im nebligen, diesigen Fahrtwind aushielten. Sie selbst war froh, als sie mit Pegs und Kasim endlich den Speisewagen erreichte, in dem es warm war und nach Speck und Sauerkraut duftete.

„Riecht nach Kohl“, befand Pegs und zog die Nase kraus.

Flinn schnupperte. Ja, das auch. Aber es war ihr egal, und wenn es nach alten Socken gerochen hätte. Denn der Speisewagen sah wie verwandelt aus: Überall glitzerten elektrische Lichter in Kristallhaltern, die Fensterscheiben glänzten golden und weiß und über dem gesamten Waggon lag ein Gefühl wie am frühen Morgen in Weidenborstel: als wäre noch alles möglich.

„Wahnsinn“, hauchte Flinn. Der Speisewagen war ihr immer schon magisch erschienen, doch heute war Flinn sich sicher, dass das Funkeln des Zugs bis hoch zu den Sternen reichte. Der dunkle Abendhimmel über den Panoramafenstern war ausgesperrt wie ein ungebetener Gast.

„Wow, Flinn, es scheint, als wollte Daniel die Willkommenszeremonie für dich wiederholen“, mutmaßte Kasim, als die drei sich am Büfett anstellten, um ihre Teller mit Brot und polnischem Bigos zu befüllen.

Pegs schnappte nach Luft. „Meinst du wirklich?“, fragte sie begeistert. „Das muss ich unbedingt meinen …“

„Deinen Eltern schreiben, wem auch sonst?“, entgegnete Kasim und verdrehte die Augen. „Deine Eltern waren vor über zwanzig Jahren an Bord, Havelmann. Nirgendwo hängen Absolventenfotos von ihnen.“

Flinn horchte auf. Tatsächlich waren ihr noch in keinem der Schlafwagen Fotos von Pegs’ Eltern aufgefallen.

„Weil nicht genug Platz für alle Absolventenbilder ist“, entgegnete Pegs sachlich. Sie sprach mit ihrer typischen vernünftigen Express-Expertinnen-Stimme, in deren Unterton all ihre Gewissheiten mitschwangen: dass sie seit Kindheitstagen die Geheimnisse des Zugs kannte, dass ihre Eltern beide Pfauen gewesen waren und dass ihr Name im Welten-Express deshalb vorgemerkt gewesen war wie ein Stück des Inventars. Manchmal ging Flinn das gehörig auf die Nerven.

Pegs klatschte einen winzigen Klecks von dem Sauerkrauteintopf auf ihren Teller.

„Du bist ja bloß neidisch!“, sagte sie zu Kasim.

An seiner versteinerten Miene konnte Flinn erkennen, dass Pegs recht hatte.

„Ich wünschte, Daniel täte das nicht“, sagte sie leise. „Ihr wisst schon, mich offiziell begrüßen und so. Das ist mir peinlich.“

Sie wollte keine Sonderbehandlung als Pfau. Sie wollte einfach nur dazugehören.

Mit vollgeschaufelten Tellern in den Händen gingen Flinn, Pegs und Kasim durch die Tischreihen zu ihrem gewohnten Platz am Waggonende. In einer Kurve schwankte der Boden unter ihren Füßen, doch Flinn federte sich mit einem geschickten Schritt zur Seite ab. „Wenigstens ist Garabina nicht da“, murmelte sie. Ihre Mitschülerin hätte sich ganz bestimmt lustig gemacht über Flinns Holzfällerhemd und ihre weiten Jeans. „Hätte ich gewusst, wie besonders dieser Abend wird, hätte ich eines meiner neuen Schulhemden angezogen.“

Die Kristalllichter blendeten sie, als Flinn sich neben ihren Freunden auf einer gepolsterten Sitzbank niederließ. Nachdenklich schob sie die Beine unter die lange, schwere Tischdecke.

„Am Samstag trägt nie jemand Schuluniform“, widersprach Kasim und griff nach der Wasserkaraffe. Das Licht der Kristallleuchten brach sich flackernd darin. „Außerdem hatten wir an unserem ersten Schultag auch keine an.“

„Du hattest keine an“, verbesserte Pegs ihn scharf. Sie hatte ihre helle Schulhose zu einer eng anliegenden Knickerbockerhose umgenäht und trug grellgelbe Ringelsocken darunter. Mit den klirrenden Armreifen an ihren weißen Handgelenken wirkte sie so schillernd wie ein Rohdiamant, der sich jeden Tag selbst einen neuen Schliff verleiht.

Ein Flackern in den Augenwinkeln irritierte Flinn, doch als sie von ihrem Teller aufsah, strahlten die Kristalllichter so hell und makellos wie eben schon.

Am anderen Ende des Speisewagens verschaffte Daniel sich mit einem Räuspern Gehör. Im Waggon wurde es flüsterstill.

„Wir dürfen stolz sein auf drei neue Mitreisende“, sagte er und erhob sich von seinem Platz, damit auch die Schüler am Waggonende ihn gut sehen konnten.

„Zum einen auf Dr. Bentley aus Kanada, der sich just in diesem Moment um eure Mitschülerin Garabina Blasco-Diaz kümmert.“ Ein Raunen bahnte sich durch den Raum bis zu Flinn. Der grauhaarige Dr. Bentley war gestern Nacht an Bord gestiegen, um Garabina zu behandeln. Flinn fing Kasims Blick auf. Sie wusste, was er dachte: Dass Garabina ruhig noch ein bisschen länger k. o. bleiben sollte.

Höflicher Applaus für den nicht anwesenden Arzt erklang.

Daniel wandte sich der untersetzten Safarifrau zu, die zwischen Curly und Signore Guarda-Fiore, dem Lehrer für Kampfkunst, an einem der Tische für die Mitarbeiter saß. Wie bei ihrer Ankunft am Morgen trug sie einen Safarihut, doch die beigefarbene Jacke hatte sie gegen ein luftiges, helles Gewand getauscht. Neben ihren breiten Beinen lehnte der schmale Spazierstock.

„Ein weiteres Willkommen für Gerlinde Steinman aus Südafrika!“, rief Daniel in den Raum und signalisierte den Pfauen, noch einmal zu applaudieren. „Mrs Steinman wird auf … nun ja, auf unbestimmte Zeit den Platz als Lehrerin für Heldentum einnehmen.“

Wieder ging ein Flüstern durch den Raum, begleitet von einem Lichterflackern. Flinn blickte sich unruhig um. Nicht einmal die Notbeleuchtung während der Nachtruhe flackerte so stark.

Neben ihr stöhnte Pegs genervt auf.

„Ernsthaft? Warum schafft Daniel es nicht, eine ordentliche Lehrerin für Heldentum aufzutreiben?“, jammerte sie. An ihren bunt lackierten Fingern zählte sie ab: „Erst Madame Florett, die sich mehr für Technik und Magie interessiert als für Siege und Legenden, und nun diese Großwildjägerin mit Dachschaden, die nichts anderes im Kopf hat als Flinn …“

Das stimmte. Mrs Steinman starrte quer durch den Raum zu ihnen herüber, als wäre Flinn eine Gazelle, die sie zu erlegen gedachte.

„Daniel!“, brüllte sie und ihre Stimme schallte von den gläsernen Waggonwänden. „Ist dieser Junge dort hinten das Tigerkind, das Sie mir versprochen haben?“

Flinn hatte noch immer keine Ahnung, wovon die Safarifrau sprach, doch von einem Moment zum anderen fühlte sie sich wieder als das, was sie immer gewesen war: ein Fremdkörper. Alle Augenpaare richteten sich auf sie. Getuschel wurde laut. Die Kristalllichter flackerten immer stärker. Aufregung kroch auf leisen Pfoten durch den Raum. Flinn begann vor Nervosität zu frösteln.

In der Mitte des Waggons blickte Daniel drein wie ein Leuchtturmwärter, der weiß, dass sich der Sturm nicht verhindern lässt. Er klatschte in die Hände und rief betont fröhlich: „Richtig, dies ist Flinn Nachtigall, unser neuer Pfau. Und nun noch die Schulhymne! Jakub, wärst du so lieb und würdest …?“

In diesem Moment erstarb die Beleuchtung. Zwei Sekunden noch flackerten die hellen Lichter im Speisewagen wie Kerzenflammen im Wind – an – aus – lange an – wieder aus, dann erlosch ihr Schein mit einem metallenen Sirren. Pechschwarze Nacht drang in den Zug wie ein Tintenklecks, der alles unter sich verschluckt: Teller, Wasserkaraffen, erschrockene Gesichter.

Innerhalb von Sekunden war es im Speisewagen so nachtdunkel wie draußen in der flachen Heidelandschaft. Die Sterne über dem Gleisdach leuchteten schwach wie Stecknadelköpfe und der Mond zog sich hinter dichte Wolken zurück.

Im Speisewagen wurden Schreie laut, als sich der Express in vollkommener Schwärze durch die Nacht schob. Dann ertönte Daniels Stimme: „Bitte behaltet die Nerven! Dies ist nur …“

Die Worte gingen in seiner eigenen Ratlosigkeit unter. Dies war was? Ein Stromausfall?

„Es gab noch nie einen Stromausfall im Welten-Express“, flüsterte Pegs.

Angst kroch Flinns Rücken hinauf und krallte sich in ihren Nacken. Was war hier los?

Das einzige Licht im Wagen kam von Kasims knisternden, bläulichen Haaren, die leuchteten wie fedrige Feenflügel. Pegs’ weißes Gesicht wirkte daneben gespenstisch.

Vorsichtig tastete Flinn nach Pegs’ und Kasims Händen und verschränkte ihre Finger mit denen ihrer Freunde. Sie hatte das Gefühl, wenn sie es nicht tat, würde die Nacht sie aus dem Zug saugen wie ein schwarzes Loch im All.

Neben ihr fluchte Kasim. Pegs atmete flach und panisch.

Jemand weinte. Das Knallen der Eisentüren schallte durch die Dunkelheit. Dann, plötzlich, flackerten die Kristallleuchter erneut. Ein schwaches An – Aus – ein langes An – wieder Aus. Dann gab es ein rauschendes Geräusch wie von einer Turbine und die Lichter erwachten mit nervösem Flimmern zu neuem Leben. Licht flutete den Waggon wie ein starkes Glücksgefühl. Mit einem Heulen zog sich die Nacht hinter die Glasscheiben zurück. Glitzern und Glimmen erstreckten sich über das Panoramadach.

„Beim großen Stephenson, was war das?“, keuchte Kasim und ließ Flinns Hand los. „Hat Fedor Kulikow etwa nicht genug Kohlen geschaufelt?“

Pegs verzog das Gesicht. Im hellen Schein der Kristallleuchter sah es wieder lebendig und frisch aus. „Meine Hand kannst du jetzt auch loslassen“, forderte sie und wand energisch ihre Finger aus Kasims Umklammerung.

Mit dem Licht kamen die Stimmen zurück. Erleichtertes Lachen erfüllte den Raum. Neben dem Büfett rieb Daniel sich die Furchen aus dem Gesicht, als könnte er auf diese Art sein Alter austricksen, und sagte laut: „Keine Sorge, das war nur ein kleiner Stromausfall. Die Schulhymne, bitte, Jakub!“

Flinn starrte fassungslos zu ihm hinüber. Entweder Stromausfälle waren im Welten-Express neuerdings Standard oder aber er wollte vertuschen, was eben vor aller Augen geschehen war.

Am Tisch neben Flinn erhob sich ein kleiner, braunhaariger Junge.