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Annemarie Bruhns

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Beschreibung

David lebt eine Illusion. Niemand weiß, dass er die Nächte in einer Ruine im Wald verbringt. Dass seine Familie ihn verstoßen hat. Seine Mitschüler und seine Lehrer sehen nur, was er ihnen erlaubt zu sehen. Aber nichts ist schwerer, als sich selbst zu täuschen. Stück für Stück zerbricht David daran, ein fremdes Leben, den Traum eines geliebten Menschen, zu leben, weil ihm der Glaube an sich selbst fehlt.

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Inhaltsverzeichnis

Zwischen Scherben

Zwischen Scherben

Impressum

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

Nachwort

Playlist

Danksagung

Über die Autorin

IOSUA – Ein Leben im Schatten

Direkt zum Buch IOSUA – Ein Leben im Schatten Leseprobe

Sprungturmhelden

Sprungturmhelden Leseprobe

Zwischen Scherben

Über das Buch: David lebt eine Illusion. Niemand weiß, dass er die Nächte in einer Ruine im Wald verbringt. Dass seine Familie ihn verstoßen hat. Seine Mitschüler und seine Lehrer sehen nur, was er ihnen erlaubt zu sehen. Aber nichts ist schwerer, als sich selbst zu täuschen. Stück für Stück zerbricht David daran, ein fremdes Leben, den Traum eines geliebten Menschen, zu leben,weil ihm der Glaube an sich selbst fehlt.

Über die Autorin: Annemarie Bruhns ist Jahrgang 1985 und lebt in Brandenburg. Schreiben ist für sie die Flucht aus dem Alltag. Aber nicht als Reise in fremde, fantastische Welten, sondern zu den Problemen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten, die nach Schicksalsschlägen im Leben ihren Weg suchen. Die Erschaffung und Entwicklung von Romanfiguren mit ihren Gefühlen, Träumen und Zweifeln ist ein einzigartiges Erlebnis und steht im Mittelpunkt ihres Schreibens.

Annemarie Bruhns

Zwischen Scherben

Roman

Impressum

Copyright © 2022 Annemarie Bruhns

c/o autorenglück.de

Franz-Mehring-Str. 15

01237 Dresden

[email protected]

www.annemariebruhns.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7546-2549-1

Covergestaltung: Catherine Strefford | www.catherine-strefford.de

unter Verwendung eines Fotos von © julian geisler-wegwerth/EyeEm/Adobe Stock

Lektorat: Susanne Schwartz, Text & Gestalt Berlin

Autorinnenfoto: Marco Riedel

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und jeder Nachdruck, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Genehmigung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

Es braucht Vertrauen und Mut, sich selbst das Erinnern zu erlauben.

Bessel van der Kolk

Achte auf dich!

Davids Handlungen sind impulsiv und selbstzerstörerisch.

Sei du nachsichtig mit dir und schreie laut um Hilfe, wenn es dir schlecht geht.

Schlucke deine Gefühle nicht hinunter, sondern teile deine Sorgen und Ängste.

David ist fiktiv.

Aber du bist real.

Bundesweite Hilfehotline

Tag und Nacht

116 123

KAPITEL 1

David

Sein wackeliges emotionales Gerüst war zusammengestürzt und er lag unter den Trümmern. Tief sitzende Erschütterungen hatten die ursprüngliche Festung seiner Existenz zerstört. Übrig geblieben war ein kläglicher Rest seines früheren Selbst, das in einem Schlafsack in einem heruntergekommenen Bungalow lag. Eine leere Hülle, das ausgeschlachtete Überbleibsel einer ehemaligen Ferienanlage aus lange vergangener Zeit, das er als Unterschlupf nutzte. Vergessen und verwittert mitten im Wald. Regen drang durch die offene Fensteraussparung und tiefes Grollen kündigte ein aufziehendes Gewitter an. Der Innenraum war kaum größer als eine Abstellkammer. Von der Mitte aus konnte er mit ausgestreckten Armen die Wände berühren. Aber es war genug Platz für seine Isomatte, die einzige Polsterung und Wärmeisolierung, die er dem Betonboden entgegensetzen konnte. Der Putz bröckelte vom Mauerwerk, aber die kreativen Obszönitäten und feindlichen Parolen, die nächtliche Besucher hinterlassen hatten, waren gut lesbar geblieben. Seine Mitbewohner waren bedeutend kleiner als er und krabbelten zahlreich und auf sechs Beinen. Für sie war die verfallene Baracke die optimale Bleibe.

David zog die Arme enger an seinen Oberkörper. Umschlang sich und versuchte sich Halt zu geben. Mit den Händen fuhr er kräftig am Körper auf und ab in dem Versuch, Wärme zu erzeugen. Er trug nur Boxershorts, seine wenigen Kleidungsstücke sollten nicht noch mehr strapaziert werden, und er wollte wenigstens Schlafgeruch und muffigen Nachtschweiß von ihnen fernhalten. Laut Etikett war der Schlafsack bis zu fünf Grad Frost nutzbar, aber David war sich nicht sicher, ob die Information nicht nur Marketingzwecken diente. Er fror erbärmlich. Wahrscheinlich kam die Kälte aus seinem Innern und ließ sich nicht mit Stoffschichten vertreiben. Er wälzte sich hin und her. Die Zeit vor dem Einschlafen traf ihn immer am härtesten. Allein mit seinen Gedanken war er selbst sein größter Feind und nichts gebot seinen Selbstzweifeln Einhalt. Das Stimmengewirr in seinem Kopf quälte ihn. Höhnisches Gelächter, boshafte Glückwünsche zu seinem Versagen und enttäuschtes Kopfschütteln kämpften um seine Aufmerksamkeit. Er konnte mittlerweile verstehen, dass Obdachlose eine Flasche oder eine Nadel griffbereit hatten, aber diesen Weg wollte er nicht gehen und hatte ohnehin kein Geld dafür. Auf ihn warteten die Scherben auf dem Fenstersims. Noch versagte er sich seinem endgültigen Scheitern und klammerte sich an das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte.

Seufzend änderte er abermals seine Position, rollte sich auf den Rücken und starrte aus dem zerstörten Fenster gegenüber. Er bettete seinen Kopf auf die angewinkelten Arme und verfolgte das Wetterschauspiel. Die sommerlichen Temperaturen des Maitages waren unangenehm gefallen. Aber Gewitternächte zwangen ihn auf schlimmere Weise in die Knie. Das anschwellende Grollen erschütterte die Abwehrmauer in seinem Kopf, hinter der sorgfältig alle Erinnerungen weggesperrt waren. Blitze erhellten die bekritzelten Wände für kurze Augenblicke und schlugen kleine Löcher in seinen Schutzwall. Einzelne Bildsequenzen drängten sich hindurch und eine Träne rann quälend langsam seine Wange hinab. Er presste die Kiefer fest aufeinander, um sich gegen die aufkeimenden Emotionen zu wappnen. Mit ganzer Konzentration drängte er alles zurück, was sich anbahnte, um nicht in eine Zeit entführt zu werden, in der er glücklich und unbeschwert gelebt hatte. Rücksichtslos und egoistisch trifft es besser, schalt er sich. Der Wechsel von zuckendem Licht und Donner intensivierte sich und einzelne Steine der Barriere bröckelten in seinem Kopf. Erinnerungen bedeuteten Hoffnung, und Hoffnung erlaubte er sich nicht. Selbst wenn er mit sich allein war, gab er dem Wunsch zu träumen nicht nach, denn es wäre doch nur eine Illusion, und irgendwann musste er wieder erwachen. Und dann wäre er immer noch allein.

Vor Wut auf seine eigene Schwäche zitternd, zog er einen Arm unter dem Kopf hervor und griff nach seinen Kopfhörern. Den Stecker verband er mit der kleinen Buchse am Smartphone und drückte die gepolsterten Muscheln fest auf die Ohren. Der Akku des Telefons würde nicht bis zum Morgen reichen und er riskierte, ohne Wecker zu verschlafen, aber er brauchte jetzt Ablenkung. Er wählte aus dem Musikvorrat ein Album von Nirvana, drehte die Lautstärke auf Maximum und schloss sich, seine Erinnerungsfetzen und seine Umgebung aus.

Sonnenstrahlen drangen in das Innere des Betonklotzes, als er erwachte. David stöhnte lautlos, während er sich auf den Rücken drehte und Bewegung in die steifen Glieder brachte. Es hatte noch lange gedauert, bis er in den Schlaf gefunden hatte, und er fühlte sich gerädert. Das Display des Smartphones war wie erwartet dunkel und damit seine einzige Quelle für die Uhrzeit versiegt. Auch wenn er diesen Schlafplatz jetzt seit einigen Wochen belegte, konnte er immer noch nicht am Stand der Sonne ablesen, ob er es rechtzeitig zu Unterrichtsbeginn zur Schule schaffen würde. Trotzdem beeilte er sich nicht, sondern verfolgte wie in Trance seine morgendliche Routine. Routine war alles, was ihm geblieben war. So würde er sich auch an diesem Dienstag in vier Blöcken durch zähen Unterrichtsstoff kämpfen und anschließend Bücher in der Bibliothek einsortieren.

David schlüpfte barfuß in ein Paar abgelaufene Sneakers, trat in den kleinen quadratischen Flur, nahm sich eine PET-Flasche und ging nach draußen. Er goss sich von dem abgefüllten Seewasser auf die Hände, wusch sich das Gesicht, putzte die Zähne und kehrte zu seinem Schlafplatz zurück. In seiner Tasche fand er noch ein Paar frische Socken und zog Jeans und T-Shirt über, bevor er wieder in die Schuhe glitt. Die Luft nach dem nächtlichen Regen war frisch und er zog eine leicht wattierte Steppjacke über. Um keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen, rollte er den Schlafsack und die Isomatte zusammen. Sorgfältig verstaute er seine Habseligkeiten in einer Sporttasche und versteckte alles in einem kleinen Hohlraum unter den Resten einer morschen Holzterrasse, in deren Mitte flache Betonstufen zum Eingang des Bungalows führten. Dort waren seine Sachen halbwegs sicher und durch die Überreste eines Vordachs vor Witterung geschützt. Nach einem prüfenden Blick schulterte er seinen Rucksack und trat zurück in den Flur. Im einzigen anderen Raum seiner zwölf Quadratmeter großen Zuflucht lehnte sein Mountainbike an der Wand. Er lenkte es vorsichtig durch die schmalen Türaussparungen ins Freie.

Der Waldboden war nach dem Unwetter aufgeweicht und er fuhr vorsichtig. Zahlreiche Wege führten durch den dichten und hoch gewachsenen Mischwald. Nicht selten begegnete er einem Jogger oder Spaziergängern mit Hund, aber außer einem kurzen Nicken gab es keinen Kontakt. David war das recht und er konzentrierte sich auf den rutschigen Untergrund. Nach wenigen Kilometern erreichte er den Radweg entlang der Landstraße und folgte ihm auf direktem Weg ins Dorf. Die digitale Anzeige der Tankstelle verriet ihm, dass es bereits nach acht Uhr war. Zu spät, um pünktlich zum ersten Block im Klassenzimmer zu sitzen.

Er unterbrach seine Fahrt am Supermarkt und stellte sich beim Discountbäcker an. Der junge Mann vor ihm in der Schlange bestellte einen Kaffee zum Mitnehmen und David fluchte leise, als der herbe Geruch ihn traf. Er konnte dem Drang nicht widerstehen und bestellte ebenfalls einen heißen Kaffee. Zugunsten der teuren, unplanmäßigen Ausgabe verzichtete er auf ein belegtes Sandwich und begnügte sich mit einem trockenen Brötchen. Sonst trank er die ungenießbare Automatenbrühe in der Schulkantine, aber an Tagen wie diesem, an denen ihm die Nacht noch in den Knochen steckte, wurde er bei dem köstlichen Duft schwach. Er suchte sich einen Platz an einem der freien Tische mit Zugang zu einer Steckdose. Aus dem Rucksack holte er das Ladekabel hervor und schloss das Smartphone an. Mit beiden Händen umschloss er die aufgewärmte Tasse und überlegte sich eine brauchbare Ausrede für sein Zuspätkommen, während er kleine Schlucke nahm. Die Wärme des Getränks und des Sitzplatzes machten ihn angenehm müde und er musste sich anstrengen, die Augen offen zu halten.

Nach dem zweiten prüfenden Blick des Kassierers stöpselte er das Handy ab und verließ den Laden. Er schwang sich auf sein Fahrrad und trat mechanisch in die Pedale. Es war erstaunlich, wie fit er durch seine neue Lebensweise geworden war. Er hatte schon immer regelmäßig Sport getrieben und in Mannschaften trainiert, aber er war kein Fitnessfreak. Er hatte nie Probleme mit seinem Gewicht gehabt und die Kilos hatten sich gut über seine hochgewachsene Statur verteilt, aber mittlerweile war seine breite Schulterpartie das Einzige, was sein Shirt ausfüllte. Wenig Schlaf, viel Bewegung und mangelhafte Ernährung hatten deutlich Spuren hinterlassen. Seine dunkelblonden Haare fielen ihm tief in die Stirn und ein Friseurbesuch war notwendig. Der Blick seiner grauen Augen kam ihm abgestumpft vor, wenn er zufällig in den Spiegel sah. Seine Mitmenschen schienen die Veränderungen nicht wahrzunehmen. Schlimmer noch schienen sie zu denken, sie wüssten den Grund dafür und fragten lieber nicht nach. Unangenehmes zu verschweigen, lag anscheinend eher in der Natur der Menschen, und David war es nur recht. Eine ernst gemeinte Frage nach seinem Befinden würde er ohnehin nicht ehrlich beantworten können.

Er durchquerte das Schultor. Das gelbe zweistöckige Gebäude mit Satteldach ließ er rechts liegen und rollte auf die Fahrradständer am anderen Ende des Hofes zu, als der Pausengong ertönte. Sofort setzte ein monotoner Geräuschpegel ein, dominiert von schnellen Schritten und Gesprächsfetzen, die nach draußen drangen. David schloss das Fahrrad an, straffte sich unwillkürlich und betrat das Gebäude durch den Mittelgang zwischen Haus eins und zwei. Er nickte einigen Schülern aus seinem Jahrgang zu, sprach aber mit niemandem und ging zielstrebig zum Treppenaufgang. Er hatte das erste Stockwerk fast erreicht, als er mit einem festen Klopfen auf die Schulter gestoppt wurde.

„David, ich dachte schon, du tauchst heute gar nicht auf.“

David zwang sich ein Lächeln ins Gesicht, bevor er sich zu seinem Mitschüler umdrehte.

„Luke, du weißt, manchmal ist die Schwerkraft eines Bettes einfach zu übermächtig.“

Der Angesprochene lachte und das Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz neben ihm rollte mit den Augen.

„Schröder war not amused“, kommentierte sie und überreichte David ein Buch. „Es ist mal wieder Shakespeare-Zeit und wir sollen den „Sommernachtstraum“ bis nächste Woche lesen.“

„Danke Finja.“

David nahm die gelbe Reclam-Schulausgabe entgegen und nickte zur Bestätigung.

„Bist du heute Nachmittag beim Training dabei? Samstag ist Heimspiel und wir könnten dein sicheres Zuspiel gut gebrauchen.“

Davids Lächeln wurde gequält. Er hätte die Volleyballmannschaft der Schule gern unterstützt, musste aber arbeiten und konnte sich nicht erlauben, eine Schicht ausfallen zu lassen.

„Tut mir leid. Ich muss …“

„Arbeiten?“, fiel Finja ihm ins Wort und verbarg ihre Enttäuschung nicht. „Solltest du nicht mal etwas Schönes am Wochenende machen?“

David nickte nur, blieb ihr aber eine Antwort schuldig.

„Aber du kommst zur Party.“

Luke fragte nicht, sondern bestimmte und ließ so gar keine Absage zu. Nach kurzem, unangenehmem Schweigen hob David die Hand zum Abschied und wandte sich zum Gehen.

Luke und Finja waren Zwillinge. Zweieiig, wie sie immer betonten, und tatsächlich konnten sie vom Wesen nicht unterschiedlicher sein. Luke war intelligent, spielte aber lieber den Klassenclown. Er lebte voll und ganz im Jetzt und verschwendete keine Gedanken an die Zukunft. Finja dagegen war in der Schülervertretung, setzte sich mit brennendem Eifer für verschiedene Initiativen ein und arbeitete ehrgeizig für einen guten Abschluss. Verbunden waren die Geschwister durch ihre Leidenschaft zum Volleyball, und sie hatten David gleich an seinem ersten Tag in der neuen Schule für die Mannschaft eingespannt. In der alten Heimat hatte er Basketball gespielt, aber er war nicht wählerisch, was den Ballsport anging, solange es nicht Fußball war. Zu dem Zeitpunkt hatte er noch daran geglaubt, zur Normalität zurückkehren zu können, und leichtfertig ihr Angebot angenommen. Jetzt war an Normalität nicht mehr zu denken und seine verschiedenen Aushilfstätigkeiten waren für ihn wichtiger, um über die Runden zu kommen. Er beschränkte sich darauf, in der Schule den Alltag aufrechtzuerhalten, für mehr Täuschung fehlte ihm die Kraft. Vielleicht würde er die Einladung zur Feier annehmen. Die Zwillinge waren gerade volljährig geworden und hatten fast die ganze Klassenstufe zu sich nach Hause eingeladen. In dem Gewimmel würde er untertauchen und eine warme Mahlzeit bekommen, bevor er sich dann irgendwann auf dem Weg zu seinem Unterschlupf machte. Wenigstens gab es niemanden, dem er Rechenschaft ablegen musste. Es gab keine feste Uhrzeit, zu der er zu Hause sein musste. Weil es kein Zuhause gab.

Es läutete bereits, als er das Klassenzimmer betrat und sich auf seinen Platz in der hinteren Ecke setzte. Er schaute zur Lehrerin und ein kurzes Aufflackern in ihrem Blick alarmierte ihn. Frau Voss unterrichtete nicht nur Naturwissenschaften, sondern war auch Vertrauenslehrerin, und wenn sie ihn im Visier hatte, bedeutete das nichts Gutes. Obwohl David ständig damit rechnete aufzufliegen, lähmte ihn die Angst. Er wusste nicht, was ihn verraten haben könnte und trotzdem zog sich sein Magen zusammen. So beiläufig wie möglich unterbrach er den Blickkontakt und ließ den Rucksack zu Boden gleiten. Er konzentrierte sich darauf, Stift und Block auszupacken, hatte aber Mühe, dem Unterricht zu folgen und zu verstehen, wofür er die Formeln nutzen sollte, die er von der Tafel abschrieb. Sie mussten in Zusammenhang stehen mit elektrischen Feldern – oder behandelten sie schon magnetische? Seine inneren Schwingungen waren auf jeden Fall gerade nicht im Einklang und stießen alle Informationen ab.

Während die Doppelstunde zäh fortschritt, hielt er den Kopf gesenkt und hoffte, nicht aufgerufen zu werden. Frau Voss tat ihm den Gefallen, und fast beunruhigte ihn das mehr, als dass er sich darüber freuen konnte. Endlich erklang das erlösende Klingeln, schnell griff er nach seinem Rucksack und steuerte zielstrebig zur Tür des Kursraums, als Frau Voss ihn zurückhielt.

„David, warte bitte kurz!“

Er straffte die Schultern und drehte sich langsam um, während die anderen Schüler das Klassenzimmer verließen. Einige amüsierte, spöttische oder neugierige Blicke trafen ihn.

„Es tut mir leid, dass ich den ersten Block verpasst habe. Ich …“

David stockte kurz, suchte nach einer Erklärung. Frau Voss kam einen Schritt auf ihn zu.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich habe heute nicht mit dir gerechnet. Es muss schwer für dich sein, damit umzugehen. Nimm dir ruhig den Rest der Woche frei.“

Sie schob ihre Brille auf die Nase und schaute auf eine irritierend mitfühlende Weise zu ihm auf. Er runzelte die Stirn und überlegte fieberhaft nach einem Ausweg. Wovon sprach sie? Was wusste sie?

„Es muss dir nicht unangenehm sein. Mein Mann arbeitet in der Klinik und hat mir gestern Abend von der Einlieferung deiner Mutter erzählt. Es tut mir wirklich leid. Was auch immer ihr fehlt, ich hoffe, sie erholt sich schnell wieder.“

David erstarrte. Alles krampfte sich in ihm zusammen, es war, als würde er körperliche Schmerzen empfinden. Seine Mutter hatte wohl einen Rückschlag erlitten, und er erfuhr es von seiner Lehrerin. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er presste ein krächzendes „Danke“ hervor und flüchtete. In dem Moment machte er sich keine Gedanken, welchen Eindruck er hinterließ, er musste einfach weg.

Irgendjemand rief seinen Namen, aber er registrierte es nur am Rande und ließ sich von seinen Füßen tragen, ohne die Richtung vorzugeben. Sein Unterbewusstsein führte ihn vom Schulhof und weiter zum angrenzenden See. Die einstündige Mittagspause verbrachten einige Schüler außerhalb des Geländes, auch wenn es nicht gern gesehen wurde. Seine Schritte wurden immer schneller, aber auch unsicherer. Strauchelnd fand er eine schwer einsehbare Stelle am Ufer, an der er sich erlaubte zusammenzubrechen. Die Knie fest an den Körper gezogen, bettete er den Kopf darauf. Alles war verkehrt. Er wusste, der Zustand seiner Mutter war ein ständiges Auf und Ab, aber er hatte gehofft, seine Abwesenheit hätte einen der Hauptauslöser eliminiert. Die Enttäuschung hatte ihn mit voller Wucht getroffen und er hatte seine Überraschung nicht verbergen können. Er hatte gnadenlos vor seiner Lehrerin versagt. Um sich abzulenken, überlegte David, ob er einen Arzt namens Voss im Zusammenhang mit der Behandlung seiner Mutter kannte, aber der Name löste keine Erinnerung aus. Ich hätte mich informieren müssen, schalt er sich. Dann hätte er gewusst, was der Ausdruck in den Augen der Lehrerin bedeutete und wäre vorbereitet gewesen. Stattdessen hatte es ihn kalt erwischt. Wenigstens meine Fehlstunde wird mir wohl verziehen, dachte er zynisch. Er musste nicht zurück. Er hatte die perfekte Ausrede, um vom Nachmittagsunterricht fernzubleiben. Aber was sollte er tun? In Gedanken sah er sich zur Klinik radeln, aber das durfte er nicht. Er musste sich von seiner Mutter fernhalten. Ihretwegen.

KAPITEL 2

David

„Was ist heute los mit dir? Du hast ein Sachbuch in der Hand. Da kannst du in dem Regal lange nach dem geeigneten Platz suchen.“

Mit einer Mischung aus Spott und Besorgnis blickte Nadine auf David. Als wäre er gerade aus einem Traum erwacht, sah David das Vogelbestimmungsbuch an und legte es zurück auf den kleinen Handwagen.

„Tut mir leid, ich bin heute total neben der Spur. Ist irgendwie nicht mein Tag“, entschuldigte er sich lahm.

„Lass mich weitermachen und du machst für heute Feierabend. Sonst finden wir die Bücher erst zu Ostern wieder.“

Die rundliche Brünette griff nach dem Wagen und zwinkerte ihm zu. David unterstützte Nadine. Die Bibliothekarin hatte ihm den Nebenjob in der Stadtbücherei angeboten, als sie bemerkte, dass er jeden Nachmittag nach dem Unterricht hier verbrachte. David vermutete, dass sie absichtlich die Bücher sammelte, anstatt sie selbst einzusortieren, um ihm eine Beschäftigung zu geben. Trotzdem hatte er dankend angenommen. Es gab für ihn keinen besseren Ort, um Hausaufgaben zu erledigen. Hier konnte er den öffentlichen Computer nutzen, um zu recherchieren und Ausarbeitungen zu drucken. Wenn die Bibliothek geschlossen hatte, hatte er am nächsten Tag nichts vorzuweisen. Dank dem Angebot konnte er das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden und Geld verdienen, während ihn der Duft der Bücher beruhigte. Das System der Signaturen war leicht zu verstehen und die Arbeit bereitete ihm keine Mühe, aber heute fehlte ihm jegliche Konzentration. Er konnte sich nicht erinnern, wie er die Stunden in der Schule überstanden hatte. Um sich abzulenken, war er nach der Pause wieder zum Unterricht gegangen, aber er war nur physisch anwesend gewesen. Bei jedem Blick eines Lehrers oder Schülers war sein Alarm angesprungen und hatte sein Herz unruhig schlagen lassen. Wahrscheinlich hatten sie nicht einmal ihm gegolten, aber er hatte sich von allen beobachtet gefühlt und die ganze Zeit seinen Fluchtinstinkt bekämpfen müssen. Am Ende des Unterrichts war er seelisch erschöpft und ausgelaugt gewesen. Er erinnerte sich nicht mehr an den kurzen Weg zum Rathaus, in dessen Räumlichkeiten die Bibliothek untergebracht war. Wem machte er etwas vor? Er war ein Wrack.

„Danke“, murmelte David, holte seinen Rucksack aus dem kleinen Mitarbeiterraum und verschwand nach draußen. Noch ehe er eine bewusste Entscheidung getroffen hatte, saß er auf dem Fahrrad und fuhr zur Klinik. Er hatte keine Kraft mehr, dem inneren Drang zu widerstehen. Er musste wissen, wie es ihr ging, auch wenn die Wahrscheinlichkeit hoch war, ihm zu begegnen.

Die Kilometer zum Krankenhaus flogen an ihm vorbei und obwohl die Luft frisch war, klebten ihm Haarsträhnen schweißnass an der Stirn, als er in die Waldsiedlung einbog. Das Klinikgelände lag idyllisch inmitten hochgewachsener Buchen und Spazierpfade boten den Reha-Patienten verschiedene Ruheoasen, um an der frischen Luft die Heilung ihrer Herzleiden zu unterstützen oder ein schwaches Nervenkostüm zu stärken. Von der Terrasse des Cafés konnte man eine Entenfamilie beobachten, die zwischen Seerosen auf einem kleinen, künstlich angelegten Teich schwamm. Das Hauptgebäude war halbrund und sah mit den Balkonen auf allen sechs Stockwerken eher aus wie ein Hotel. Es war das einzige Haus, das über die Bäume ragte, die anderen lagen verstreut und fügten sich unaufdringlich in die Umgebung ein.

David durchquerte das Haupttor, folgte der Allee noch ein Stück und bog dann nach rechts zur psychosomatischen Station ab. Sein Herz zog sich unangenehm zusammen, als das flache, langgezogene Gebäude in sein Sichtfeld kam. Der Druck war fast nicht auszuhalten. Er wusste nicht, was ihn erwartete, und die Ungewissheit ängstigte ihn. Er sicherte sein Rad mit der Kette und ging mit wackeligen Schritten zur Schiebetür. Zur Ablenkung las er wie schon unzählige Male zuvor die historischen Details auf der Hinweistafel vor dem Eingang. Vor dreißig Jahren waren die Räumlichkeiten als Klubhaus für hohe Funktionäre der Deutschen Demokratischen Republik genutzt worden. Kurz durchzuckte ihn der Gedanke, ob sich die Klientel wohl groß von damals unterschied. Er zögerte noch einen Moment und spürte plötzlich, dass er beobachtet wurde. Seine Schultern sanken mutlos und einen Augenblick später legten sich große Hände unsanft darauf und drückten schmerzhaft zu. Die Chance, zu seiner Mutter zu gelangen, war vertan.

„Was hast du hier zu suchen?“

David spürte den Atem seines Stiefvaters im Nacken und zuckte unter dem eisigen Tonfall zusammen. Kälte kroch aus Davids Innern hervor und hüllte ihn ein. In Torstens Anwesenheit war er unfähig sich zu verteidigen. Obwohl dieser Mann immer schneidend und herrisch klang, falls er überhaupt mit ihm sprach, war David jedes Mal von seiner offenen Ablehnung aufs Neue enttäuscht.

„Was ist passiert?“

David hasste den flehenden Ton in seiner Stimme, aber er konnte ihn nicht unterdrücken.

„Was soll schon passiert sein? Gestern war einer der schlechten Tage und sie muss wieder einige Zeit auf die Station. Nichts, was dich zu kümmern hat. Du solltest nicht hier sein. Nicht auf diesem Gelände und nicht in dieser Stadt.“

Torsten war, während er sprach, noch dichter gekommen. Seine Finger bohrten sich in Davids Schulterblätter und sein Mund war unangenehm nah an Davids Ohr. Ein süßlicher, schwerer Geruch umfing ihn und verursachte ihm einen Würgereiz.

„Tauch endlich in Berlin unter und gesell dich zu dem anderen Straßenpack!“

Die letzten Worte spuckte Torsten seinem Stiefsohn voller Verachtung geradezu vor die Füße.

„Ich will sie sehen“, protestierte David schwach und ohne Hoffnung.

Torsten lachte nur.

„Sie aber dich nicht. Verschwinde, so lange ich dir die Gelegenheit dazu lasse!“

Er umrundete David und baute sich vor ihm auf. David schaffte es kaum, den Blick von den braunen Lederhalbschuhen zu heben, die sein Stiefvater trug. Er war wie immer perfekt gekleidet, mit einer beigen Chinohose, gehalten von einem schmalen braunen Gürtel, das dunkelblaue Hemd akkurat eingesteckt und bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Er hatte die Arme vor dem Körper verschränkt, und seine Haltung demonstrierte vollkommene Gleichgültigkeit. Nur seine Augen waren dunkel vor Zorn. David senkte den Blick und wandte sich ohne Widerworte ab. Wie erschlagen ging er zu seinem Rad. Die Hände hatte er tief in den Taschen der Jeans vergraben, um das Zittern zu verbergen. Das Geräusch sich entfernender Schritte in seinem Rücken verriet ihm, ohne dass er zurückblicken musste, dass Torsten nicht mehr auf ihn achtete. David hörte die Glastüren aufgleiten und blieb auf dem Vorplatz zurück. Aufgewühlt und allein mit dem brennenden Schmerz in seinem Innern. Er hätte gern geschrien, sich gewehrt, stattdessen schluckte er seine Emotionen hinunter und schwang sich in den Sattel. Dann ließ er seinen Ärger auf sich selbst in die Pedale fließen.

Er fuhr nicht zurück zur Straße, sondern tiefer in das Waldstück hinein. Der bewölkte Himmel hatte die Sonne zurückgehalten, der Boden war vom Regen der vergangenen Nacht noch aufgeweicht und bot einen ungeeigneten Untergrund für seine halsbrecherische Geschwindigkeit. Beinahe lechzte er danach, sein Schicksal herauszufordern. Er hätte sowieso schon sterben sollen, dass er lebte, war unverdient. Bittere Ironie. Nur ihretwegen versuchte er durchzuhalten. Nur ihretwegen überstand er einen Tag nach dem anderen und stand jeden Morgen auf. Deswegen durfte er nicht aufgeben und sich nicht leichtfertig in Gefahr bringen. Über diesen Gedanken drosselte er das Tempo, aber seine Einsicht kam zu spät. Er übersah eine Wurzel und sein Vorderrad stellte sich quer. Das Mountainbike glitt seitlich unter ihm weg, reflexartig nahm er den rechten Fuß vom Pedal, um sich abzufangen. Er bekam keinen sicheren Stand, stieß gegen eine weitere Baumwurzel und knickte weg. Mit einem Schmerzensschrei, der mit aller aufgestauten Wut aus ihm hervorbrach, ging er zu Boden.

David saß auf einem umgestürzten Baumstamm, das Wasser umspülte seine Unterschenkel. Seine Beine waren mittlerweile taub vor Kälte und Gänsehaut überzog seine Arme. Er hatte Stunden gebraucht, um auf den unebenen Waldwegen bis in die Nähe seines Schlafplatzes vorzudringen. Das Vorderrad war zum Glück nur leicht verzogen und das Fahrrad fahrtüchtig, aber der verstauchte Knöchel machte jeden Schritt zur Qual. Die kleinste Belastung schoss wie mit Stichen von tausend Nadeln in sein Sprunggelenk, und während er sich schwer aufs Rad gestützt fortbewegte, war sein Knöchel zu einem unförmigen Klumpen angeschwollen. Innerlich wie äußerlich war er zu erschöpft, um sich aufzuregen, weswegen er sich mit Musik betäubte. Jonathan Davis, der Sänger von Korn, hatte ihn die restlichen Kilometer durch den Wald getrieben. Mittlerweile war es dunkel. Der Himmel war von Wolken verhangen und nicht einmal ein blasser Lichtschein erhellte den vom Wald vollständig umschlossenen See. Es raschelte immer wieder, wenn nachtaktive Tiere durch das Dickicht schlichen, und der Schrei eines Waldkauzes durchbrach hin und wieder die Stille. David hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht und war erstaunt, wie es jedes Mal schlimmer kommen konnte. Jeden Abend blickte er auf den vorherigen Tag zurück und musste sich eingestehen, dass es ihm gestern besser gegangen war. Aber vierundzwanzig Stunden zuvor hatte er sich nicht darüber freuen können, weil ihm die Situation bereits erdrückend und ausweglos erschienen war.

Steif ließ David sich vom Baumstamm gleiten. Mit einer Hand Halt suchend, kletterte er ans Ufer und ließ sich auf den sandigen Untergrund fallen. Kritisch betastete er seinen Knöchel und fluchte, als die Berührung die Schmerzen neu entfachte. Er hatte keine Ahnung, wie es aussehen würde, wenn die Sonne aufging, aber er bezweifelte, dass ein paar Stunden Ruhe eine heilende Wirkung haben würden. Für die Schule hatte er eine gute Ausrede und musste sich keine Sorgen um die Konsequenzen seines Fehlens machen, aber hier bleiben konnte er nicht. Sein Magen zog sich unangenehm zusammen und erinnerte ihn daran, dass das trockene Brötchen am Morgen seine letzte Mahlzeit gewesen war. Die Nachricht, die Frau Voss ihm überbracht hatte, hatte ihn in der Mittagspause davon abgehalten, sich um seine Grundbedürfnisse zu kümmern. Er trank den letzten schalen Schluck aus seiner Trinkflasche und kramte im Rucksack nach etwas Essbarem. Ein Apfel fiel ihm in die Hände. Der Sturz hatte einige Druckstellen hinterlassen, aber er war noch genießbar. Eventuell würde er bei einer weiteren Suche noch einen Müsliriegel finden, aber mehr Vorräte hatte er nicht. Er war kein Überlebenskünstler, der sich mit Nahrung aus der Natur über Wasser halten konnte, und hatte keinerlei Qualitäten als Pfadfinder. Er war einfach nur vollkommen erledigt. Mit klammen Fingern zog er die Jeans an und unterdrückte das Stöhnen, als er seinen Fuß strecken musste. Sein Verstand sagte ihm, dass er zum Bungalow gehen sollte. Der Schlafsack würde verhindern, dass er weiter auskühlte, und er musste sich trockene Sachen anziehen. Aber er ignorierte die Stimme der Vernunft. Er kippte müde zur Seite und bettete den Kopf auf den Rucksack. Die dünne Steppjacke zog er sich über die bebenden Schultern und schloss erschöpft die Augen.

KAPITEL 3

David

David erwachte mit der Morgendämmerung. Das undurchdringliche Schwarz des Waldes wich einem helleren Grauton. Sein Zittern hatte aufgehört, aber vermutlich nur, weil es vergebens war. Statt Kälte fühlte er Taubheit und sein erster Impuls war, liegen zu bleiben. Er schluckte trocken gegen das Kratzen im Hals, ein Phantomschmerz, der ihn seit fast zwei Jahren beim Aufwachen begleitete. Schwach stemmte er sich in eine sitzende Position, rieb sich über die müden Augen und verzog beim Anblick des geschwollenen Knöchels das Gesicht. Die wenigen Stunden Schlaf hatten ihn Energie gekostet, anstatt seine Batterien aufzuladen, aber es half nicht, in Selbstmitleid zu verfallen. Wackelig kam er auf die Beine und versuchte, das Gewicht auf den gesunden Fuß zu verlagern. Notdürftig klopfte er Erde und Blätter ab, aber seine Kleidung war vollgesogen mit morgendlicher Feuchtigkeit. Mit steifen Bewegungen zog David die Jacke an, schulterte den Rucksack und schob sich mit dem Rad die Böschung hoch. Als er auf den Hauptweg stieß, der den See umrundete, sammelte sich bereits kalter Schweiß auf seinem Rücken und sein Atem ging stoßweise. Auf sein Mountainbike gestützt, schleppte er sich weiter. Sein Ziel war nicht seine Zwei-Zimmer-Baracke, sondern seine Verzweiflung trieb ihn dazu, dem Weg nach Westen zu folgen in der Hoffnung, auf einen Angler zu treffen. Unter der Woche war wenig Betrieb, aber er dachte auch eher an einen pensionierten Hobbyfischer, der mit einem Zelt über Nacht geblieben war und einen Erste-Hilfe-Kasten zu seiner Ausstattung zählte.

Der Weg schlängelte sich auf und ab und David kam immer wieder ins Straucheln, hielt sich aber tapfer auf den Beinen. Ein leichter Schwindel befiel ihn. Er hätte wenigstens eine Handvoll Seewasser trinken sollen, bevor er aufgebrochen war. Unterzuckert, unterkühlt, durstig und verletzt zu sein, war keine angenehme Kombination und brachte seinen Körper an seine Grenzen. Hinter der nächsten Biegung sah er tatsächlich ein Zelt am Ufer stehen. Bevor ihn sein Mut verlassen konnte, setzte er seinen Weg fort. Die Geräusche, die er machte, blieben nicht unbemerkt und der Angler war bereits aus seinem Stuhl aufgestanden und beäugte ihn neugierig.

„Entschuldigen Sie die Störung“, sprach David den Mann direkt an. „Hätten Sie vielleicht einen Verbandskasten? Ich bin auf dem Weg zur Schule gestürzt und habe mir den Knöchel verstaucht. Ich glaube, ein wenig Stabilisierung könnte helfen für den Rest des Weges.“

Der Angesprochene lächelte amüsiert und rückte sich den Anglerhut zurecht. Ein kleiner Bauchansatz wölbte sich über den Gürtel der Funktionshose und die Jacke reichte nicht ganz über die Hüfte. Er strahlte Ruhe und Besonnenheit aus, alles was David fehlte und brauchte.

„Die Party war wohl lang? Hast du im Wald übernachtet, Junge?“ David suchte noch nach einer Antwort, als der Mann bereits weitersprach: „Na egal, setz dich und ich schaue nach deiner Verletzung.“

Die Einladung nahm David ohne zu zögern an und spürte erleichtert, wie der Schmerz zu einem Pochen abebbte, als er den Fuß entlastete. Erst einmal entschied er sich, die Kommentare des Anglers zu überhören. Zweifel an seiner Geschichte konnte er später noch ausräumen. Der alte Mann verschwand gebückt in seinem Zelt. Als er wieder zum Vorschein kam, reichte er David einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit.

„Du siehst blass aus. Zieh mal den Schuh und den Socken aus und dann sehen wir uns das an. Leg mal dein Bein hier rauf“, forderte der Angler David auf und brachte einen Klapphocker in Position.

David folgte der Aufforderung schweigend. Schwielige Hände betasteten sein Sprunggelenk und beobachteten jede seiner Regungen aus den Augenwinkeln. Schmerzhaft verzog David das Gesicht, versuchte aber das Ausmaß seiner Qualen zu kaschieren und war froh, als der Mann ihn in ein Gespräch verwickelte.

„Es ist geschwollen, aber es scheint alles da zu sein, wo es hingehört. Ich bin übrigens Hans.

---ENDE DER LESEPROBE---