Zwölf Monate bis zur Endlichkeit - Petra Höpfner - E-Book

Zwölf Monate bis zur Endlichkeit E-Book

Petra Höpfner

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Beschreibung

Fünf Jahre nahmen die Autorin und ihr Lebenspartner nicht wahr, dass ihr Sohn der Droge Crystal Meth verfallen ist. Nichts ließ sie stutzig werden, bis ein Tag im Mai 2012 die heile Welt zerstört. Die Familie gerät in einen Strudel von Kampf, Verzweiflung, Zuversicht und Rückfällen. Das Buch schildert die schlimmen Folgen, die die Droge im Körper und in der Psyche des Abhängigen sowie in der Familie hinterließ. Es beschreibt gravierende Probleme, die den Weg in ein Leben ohne Crystal Meth verhindern. Auszüge aus den Tagebüchern des Sohnes und eigene Aufzeichnungen der Autorin gewähren dazu tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt eines Crystal-Abhängigen und die einer Mutter. Das Buch beruht auf einer wahren Begebenheit.

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Petra Höpfner

Zwölf Monate bis zur Endlichkeit

Freiwillig – unfreiwillig

Sechs Jahre mit Crystal Meth

Impressum

© Telescope Verlag

www.telescope-verlag.de

Lektorat: Petra Steps

Foto Cover: Carsten Steps

Zur Erinnerung an

Patric

„Ich bin manchmal wie ein kleines Kind,

was über jeden möglichen Stein stolpert,

manchmal stolpert und strauchelt,

aber sich nicht unterkriegen lässt.

Auch nicht, wenn es mal peinlich wird.“

aus Patrics Tagebuch am 28.10.2012

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Patric selbst
Die Lawine kommt ins Rollen
Konfrontation
Erleichtert und Zerrissen
Eins, zwei, drei – drogenfrei?
Funktionieren als Härtetest
Wechselbäder
Zurück ...
Rückschläge
Ein großes Zwischenziel war erreicht
Ein neuer Weg
Sportlicher Kraftakt
Alte Freunde
Am Rande eines Strudels
Der Klinikaufenthalt
Der Rückzug
Unser gemeinsamer Ostseeurlaub
Aktivität als Schleier
Unbeschwert
25. Mai 2013 – 21.45 Uhr
Der Tag danach
Die Zeit danach
Nachwort
Anhang
Danke
Quellenverzeichnis
Literaturempfehlung

Vorwort

Jede Zeit hat ihre Drogen – so hört man, so redet man, so lebt und erlebt man.

Mein Lebenspartner Stefan und ich mussten innerhalb von 12 Monaten erfahren, dass Unterstützung, Verständnis, Akzeptanz und Liebe unserem Sohn nicht helfen konnten, den Weg aus der Abhängigkeit von Crystal Meth zu bewältigen. Patric beging im Alter von 25 Jahren Suizid. Vorangegangen waren fünf Jahre Crystal Meth Konsum. Im Anschluss daran erlebten wir ein Jahr lang Willensstärke und Kampf unseres Sohnes gegen diese Droge mit. Der Drogenkonsum veränderte über die Jahre das Leben und Wesen von Patric. Am deutlichsten spürte wahrscheinlich nur er diese Veränderung. Wir alle – dabei spreche ich von seinem sozialen Umfeld in der Familie und bei der Arbeit sowie von seiner langjährigen Freundin – bemerkten den Konsum all die Jahre nicht.

Für uns als Eltern war Patrics Entwicklung ganz normal. Es gab die üblichen Schwierigkeiten, wie sie bei heranwachsenden Kindern vorkommen, aber auch sehr viele schöne gemeinsame Erlebnisse. Wir kannten viele seiner Freunde und hatten keine Bedenken, dass etwas aus den Bahnen geraten könnte.

Unser Umgang untereinander war problemlos und von familiärer Nähe geprägt … bis die Droge Crystal Meth von Patrics Körper und Geist Besitz ergriff.

Patric war nie ein großer Redner und trotzdem gab es zwischen ihm und mir ein schönes Ritual. Wir gingen einmal im Jahr nur zu zweit Abendessen. Dieser Vorschlag kam vor ein paar Jahren einmal von ihm und ich freute mich sehr über diese Idee. Diesen Brauch pflegten wir das letzte Mal im Jahr 2011. Trotz aller Vertrautheit erzählte er mir nie von seinem Suchtproblem. Heute weiß ich, dass er zu diesem Zeitpunkt noch weit von der Einsicht entfernt war, seine Drogenabhängigkeit gegenüber Dritten einzugestehen. Der Schein nach außen blieb gewahrt.

Die üblichen, offensichtlichen Begleiterscheinungen bei langjährigem Drogenkonsum wie Arbeitslosigkeit, der Verlust der Fahrerlaubnis, Geldknappheit, sichtbare gesundheitliche Probleme, wie zum Beispiel schlechte Zähne, unreine Haut und vorzeitig einsetzender Alterungsprozess, traten bei ihm nicht auf. Auch deshalb kamen wir nie auf den Gedanken, dass unser Sohn Drogen nehmen könnte. Es gab für uns keinerlei Veranlassung, in diese Richtung zu denken. Daher wussten wir auch nicht, dass Gewichtsverlust, fehlendes Hungergefühl, Nachtaktivität, gesteigertes Selbstbewusstsein, schnelles Sprechen, Vergesslichkeit, Aggressivität, um nur einige zu nennen, Symptome eines Crystal Meth Konsums sind.

Warum bemerkten wir es nicht? Waren diese Symptome tatsächlich immer mit Drogenkonsum in Verbindung zu bringen? Wie wären die Wochen und Monate verlaufen, wenn wir hätten eher eine Verbindung herstellen können? Hätte es einen anderen Ausgang gegeben? Wäre Patric so offen mit seinem Drogenproblem umgegangen, wie er es tat, nachdem er uns von sich aus alles erzählte?

In dem vorliegenden Buch habe ich meine eigenen, über mehrere Monate vorgenommenen Aufzeichnungen einfließen lassen. Es enthält auch Auszüge aus Patrics Tagebüchern. Passagen, die verwundern werden, die auch uns verwundert haben. Seine Tagebücher halfen uns, einige Einblicke in seinen wirklichen seelischen und körperlichen Zustand zu erhalten, seine Gedanken, Empfindungen, Wünsche, Träume und Zweifel zu verstehen. Viele Einträge haben aber auch bei uns Fragen aufgeworfen und sind sicherlich nur mit fachspezifischem Wissen sowie durch Spezialisten, die Langzeiterfahrung bei der Behandlung mit Crystal-Konsumenten haben, zu erklären. Patric hat uns durch seine Niederschriften geholfen, die Abhängigkeit, aber vor allem die Schwierigkeit des Entzuges von dieser Droge, noch besser nachvollziehen und verstehen zu können. Ebenso habe ich Recherchen in seinem ehemaligen Umfeld, Gespräche mit Freunden und Bekannten, mit Eltern, Ärzten, Beratern und anderen durchgeführt. Ich erzähle eine daraus entstandene Wahrheit, die andere Personen, die in Patrics Leben integriert waren, vielleicht anders erlebt haben. Manche Namen habe ich geändert, um diese Personen nicht zu verletzen und ihre Privatsphäre zu respektieren.

Patric selbst

Patric wurde am 30. März 1988, 13 Uhr, einem Mittwoch vor dem Osterfest, geboren. Es war herrliches Frühlingswetter und eigentlich wollte ich an den Feiertagen wieder zuhause sein. Doch er nahm sich mit seinen 52 Zentimetern und 3.800 Gramm Zeit und so verbrachten wir Ostern in der Klinik. Patric kam mit wenigen kurzen dunklen Haaren, die sich später in einen rötlich-braunen Ton änderten, mit blauen Augen und einem zerknautschten, aber pausbäckigen Gesicht zur Welt. Der erste Fototermin in der Klinik gefiel ihm gar nicht. Mit einer abwehrenden Handbewegung und dem Ansatz eines gleich hörbaren Geschreis ließ er keinen brauchbaren Schnappschuss zu.

Patric entwickelte sich prächtig. Sein leiblicher Vater und ich hatten unsere Freude an ihm. Ein Jahr blieb ich mit Patric zuhause, dann besuchte er bis zu seinem dritten Lebensjahr die Kinderkrippe und danach den Kindergarten. Er war gerne mit Kindern zusammen und es machte ihm nichts aus, dass er immer mit einer der Letzten war, die von der Kindereinrichtung abgeholt wurden. Patric gliederte sich als aufgeweckter Junge gut in die Gemeinschaft ein. Freundschaften zu bilden, fiel ihm nicht schwer.

Zuhause war Patric ein ruhiges, folgsames und liebebedürftiges Kind. Es gab häufig Einschlafphasen, bei denen ich seine Hand halten musste, bis seine Augen zufielen.

Das Vorlesen hatte er sehr gerne. Dazu kuschelten wir uns zu zweit auf die Couch unter eine mollige Decke. Er suchte die Nähe zu mir und es kam nicht selten vor, dass wir dabei zusammen einschliefen. Das Spielen mit Lego-Steinen machte ihm Spaß und bei komplizierteren Projekten tüftelten wir gerne gemeinsam. Einmal vor Ostern bemalten wir zu zweit sieben ausgeblasene Eier. Patric tauchte seine kleinen Finger in die verschiedenen Farbbehältnisse und wurstelte dann ganz vorsichtig das Ei zwischen seinen Händen. So entstand eine Struktur, bei der die Farben ineinanderflossen und kein Ei glich dem anderen. Dabei kam er aus seinem kindlichen Lachen gar nicht heraus. Diese Ostereier schmückten jedes Jahr einen Strauß an einem besonderen Ort in unserer Wohnung.

Patric war in unseren Alltag eingebunden. Durch Beruf, Um- und Ausbau unseres Hauses und den Garten blieb wochentags wenig Zeit und an den Wochenenden war die Freizeit auch knapp bemessen. Familiäre Unternehmungen waren eher selten an der Tagesordnung. Haus und Garten ließen jedoch Bewegungsfreiheit sowie Spiel und Spaß zu.

Als Patric fünf Jahre alt war, trennte ich mich von seinem Vater. Ich zog mit meinem Sohn aus dem gemeinsamen Haus aus und wir wohnten zukünftig bei Stefan und seiner siebzehnjährigen Tochter Yvonne. Patric und Stefan kamen gut miteinander zurecht. Zum einen lag dies an der Art von Stefan, meinen Sohn so zu nehmen, wie er war. Und Patric hatte das Talent, sich gegebenen Situationen anzupassen. Er akzeptierte Stefan, was sich auch darin widerspiegelte, dass er uns gegenüber Dritten als seine Eltern benannte. Die beiden spielten, lachten, stritten und lernten miteinander. An manchen Tagen überraschten sie mich gemeinsam mit besonderen Ideen. Stefan wurde eine wichtige Bezugsperson für meinen Sohn. Mit Patrics leiblichem Vater bestand von Anfang an hinsichtlich Umgangsrecht Einigkeit. Patric war häufig an den Wochenenden bei ihm und wochentags bei uns. Dadurch verlor er auch den Kontakt zu seinen bisherigen Freunden nicht.

Die gesamten Jahres- und manche Kurzurlaube verbrachten wir zu dritt – Patric, Stefan und ich. Diese gemeinsamen Tage waren immer erlebnisreich und harmonisch. In dieser intensiv genutzten Zeit ist auch ein Gedicht entstanden, welches Patric und Stefan bei einem Spaziergang reimten: „Im Wald“. Dieses Gedicht hing jahrelang in unserer Küche an der Pinnwand. Und hin und wieder, wenn wir bewusst diese Zeilen einmal vorlasen, mussten wir lachen und die Erinnerungen wurden wach.

Im Wald

Machst du im Wald mal einen Zisch,

droht die Ameise, pinkel ja nicht auf mich.

Pinkel lieber auf den Käfer drauf,

der regt mich schon seit Tagen auf.

Der Käfer dieses hört,

ruft sogleich empört.

Hör‘ nicht auf das Geschwätz der Ameise,

die redet ja nur Scheiße.

Den Baum, den pinkel an,

damit sich der Holzwurm endlich mal waschen kann.

Der Holzwurm dies vernimmt,

ruft sofort ergrimmt,

du blöder Käfer du, verschwinde in deinem Bau,

sonst hol‘ ich den Specht, der haut dir die Augen blau.

Und du, steck schnell deinen Zipfel weg

und scher‘ dich weg von diesem Fleck,

sonst bohr‘ ich dir viele Löcher rein,

in deinen Klein‘,

dann wird über Nacht ‘ne Gießkanne draus

und die ganze Welt, die lacht dich aus.

Und die Moral von der Geschicht‘:

Pinkel zu Haus, dann störst du die Tiere nicht.

Im August 1994 wurde Patric eingeschult. Bis zur vierten Klasse war er nachmittags im Schulhort untergebracht. Seine schulische Entwicklung in den ersten vier Schuljahren gab keinen Anlass zur Sorge. Er erzielte gute Noten und sicherlich hätte er mit mehr Ehrgeiz und etwas Druck meinerseits seine Leistungen noch steigern können. Doch ich drängte nicht auf super Noten. Mir war wichtig, dass er die Schule nicht mit Widerwillen besuchte, sondern Freude am Lernen hatte.

Sein Verhalten ließ manchmal zu wünschen übrig. So blieben auch Vorladungen zu Gesprächen mit den Lehrern nicht aus. Ich merkte in diesen Situationen immer wieder, wie gegensätzlich Patrics Verhalten zuhause und außerhalb war. Wie widersprüchlich mein Sohn sich zeigte, bekamen wir auch durch ein Ereignis in der neunten Klasse zu spüren. Patric erzählte uns, dass er von einem Mitschüler verbal so gereizt wurde, dass er mitten in der Stunde aufstand und ihm ins Gesicht schlug. Ergebnis: Der Schüler hatte das Nasenbein angebrochen (so glaube ich mich zu erinnern) und mein Sohn hatte eine Fraktur des rechten Mittelhandknochens. Ich konnte mir diese Gegensätzlichkeit nie richtig erklären. Zuhause war Patric nach wie vor ruhig, lieb und machte keine Probleme.

In den ersten vier Schuljahren versuchten Stefan und ich, Patric für eine Freizeitbeschäftigung zu gewinnen, die ihm Spaß machte. Judo gefiel ihm. Wir sahen in einer sportlichen Betätigung auch den Vorteil, Ausdauer und Teamgeist zu entwickeln. Nach drei Probetrainingseinheiten meldete ich ihn in einem Judosportverein an. Einmal pro Woche besuchte er regelmäßig sein Training. Aber nie war Begeisterung bei ihm zu spüren. Es folgten Wettkämpfe, bei denen ich auch nie dahinter kam, ob er sie gerne und mit Ehrgeiz absolvierte oder ob er nur teilnahm, weil sie dazu gehörten.

Um das Training regelmäßig absichern zu können, übten wir das Ablaufen der Wegstrecke zwischen der Schule und meiner Arbeitsstelle, die Patric allein gehen musste. Die Trainingsstunde begann während meiner Arbeitszeit und ich musste ihn in eine drei Kilometer entfernte Kleinstadt fahren. Ich war stolz auf Patric, dass er die zirka 2,5 Kilometer Fußweg durch die verwinkelten Straßen der Stadt allein zurücklegte. Doch nach ungefähr zwei Jahren hatte er kein Interesse mehr am Judosport. Nachdem er einmal bei einem Wettkampf chancenlos verloren hatte, weil sein Gegner ihm körperlich total überlegen war, konnte ihn keiner mehr motivieren. Da half auch der Vogtlandmeistertitel nicht, den er sich in diesem Zeitraum erkämpft hatte. Der Sieg brachte ihm keine Freude und auch keinen Stolz. Vielleicht lösten solche Ereignisse bei ihm sogar einen gewissen Druck aus, auch weiterhin erfolgreich sein zu müssen.

Als zweite Möglichkeit bot sich der Modellautosport an. Dazu schenkten wir ihm einmal zu Weihnachten ein ferngesteuertes Modellauto und knüpften Kontakt zu einem in der Nähe befindlichen Verein. Dort bestand die Möglichkeit, in einer Halle zu üben und zu trainieren. Doch auch dieses Hobby war nur von kurzer Dauer. Patrics Begeisterung hatte nie lange Bestand.

Parallel versuchte Stefan, ihn an sein Hobby, den Oldtimersport, heranzuführen. Anfangs nahmen wir Patric immer zu den Veranstaltungen mit. Er und ich beobachteten gemeinsam, wie Stefan seine Läufe absolvierte. Mit acht Jahren saß er dann das erste Mal bei einem Berg- rennen als Beifahrer mit im Auto. Es gab auch gemeinsame Familienausflüge von Vereinen, an denen Patric mit uns teilnahm. Das machte ihm Spaß, zumal auch andere Kinder in seinem Alter anwesend waren. Einmal fuhren Stefan und Patric ohne mich bei einer Rallye mit. Bei dieser Veranstaltung musste er als Copilot die Karte lesen. Diese Karte war, wie im Rallyesport gebräuchlich, nur mit Richtungs- und Entfernungsangaben versehen. Das Lesen und Umsetzen der Zeichen oblag dem Copilot und voll konzentriert lotste er Stefan. Das löste bei Patric große Freude aus und man spürte bei ihm eine seltene Euphorie. Später richtete Stefan ihm ein Moped Simson SR2 her. Zu ausgewählten Oldtimerveranstaltungen bestand die Möglichkeit, dass Heranwachsende auf einer abgesperrten Strecke einen Parcours fahren durften und in einer gesonderten Klasse starteten. Die Auszeichnung erfolgte mit Pokal und Urkunde. Patric ging mit elf Jahren zum ersten Mal allein an den Start. Mit dreizehn Jahren absolvierte er zum zweiten Mal so eine Veranstaltung. Und obwohl bei dieser Freizeitbeschäftigung immer ein Erfolg für ihn zu verbuchen war, Anerkennung folgte und ein Wandregal mit erzielten Pokalen sein Zimmer zierte, konnte er auch hierfür nicht auf Dauer gewonnen werden.

Ab der fünften Klasse besuchte er die Mittelschule. Sein schulischer Ehrgeiz hielt sich in Grenzen. Er machte gerade so viel, wie nötig war und es gab Phasen, in denen ich nun doch manchmal Druck zum Lernen ausüben musste. Nach wie vor gab es immer wieder einmal Kritik an seinem Verhalten – außer zuhause. Die zwei Seiten seines Wesens zogen sich durch seine Entwicklung.

Patric schloss neue Freundschaften und trotzdem hatten wir immer etwas das Gefühl, er würde in seiner eigenen Welt leben. Oft zog er sich in sein Schneckenhaus zurück und wir kamen nicht an ihn heran.

Die pubertäre Zeit war die Schwierigste, wie bei vielen Jugendlichen in diesem Alter. Es gab zwar nie große Auseinandersetzungen oder Diskussionen zwischen uns, doch Patric versuchte häufig, seine altersabhängige Lebensauffassung durchzusetzen. Von gemeinsamen Mahlzeiten hielt er nichts mehr und er fühlte sich zu streng behandelt, weil er angeblich nicht die zeitlich unbegrenzten Abende hatte wie einige seiner Freunde. Die Computerwelt hielt Einzug.

In dieser Zeit entdeckten wir eine von Patric in seinem Zimmer versteckte Topfpflanze. Die Heimlichkeit um dieses Gewächs erweckte in uns den Verdacht, dass es sich vielleicht um Cannabis handeln könnte. Wir sprachen ihn daraufhin an, doch er verneinte dies beharrlich und am nächsten Tag war die Pflanze wieder verschwunden. Die ganze Sache geriet in Vergessenheit und war nie wieder ein Thema.

Unser Sohn unterzog sich auch äußerlich einer Veränderung. Modetrends nahm er mit. So musste ich ihm regelmäßig seine Haare dunkel färben, die wellig-lockig gewachsen waren. Kapuzenshirts und sogenannte „Zwickelhosen“ waren ein Muss.

Es gab eine Phase der Jugendtreffs in unserem Heimatort, wo Patric nicht fehlen durfte. Was sich bei diesen Treffen abspielte, wussten wir nicht und ein von mir gestarteter Versuch, einfach dort aufzutauchen, wurde von Patric verständlicherweise als peinlich und unangenehm empfunden und ich wurde von ihm abgefangen, bevor ich überhaupt etwas von der Gemeinschaft mitbekam. Die ersten Discobesuche folgten und der Mopedführerschein stand an, für den er die Prüfung ohne Probleme bestand.

Ich hatte aus meiner Jugendzeit noch ein Simson S51, welches Patric nutzte, natürlich mit trendgemäßen Umbauten – auch außerhalb der zulässigen Norm. Von dieser Zeit an sahen wir ihn meistens nur noch abends, wenn er von seinen Ausflügen mit dem Moped zurück kam. Auch wenn er sich gegängelt fühlte, die Zeiten für die Rückkehr nach Hause hielt er noch ein.

Die Verbindung zu seinem Vater war ab Patrics zwölftem Lebensjahr immer weniger geworden und im Laufe der kommenden zehn Jahre abgebrochen. Von beiden Seiten gab es keine Aktivitäten mehr.

Mit fünfzehn Jahren wollte Patric den bisher gemeinsamen Jahresurlaub nicht mehr mit uns verbringen. Wir hatten damit kein Problem und respektierten es. Die dafür notwendigen Regeln und Verpflichtungen für ihn wurden abgesprochen und auch umgesetzt. Wir konnten uns auf ihn verlassen.

Familiäre Ereignisse wie zum Beispiel Geburtstage nahm er gerne wahr. Auch Feiertage wie Weihnachten oder Ostern mochte er sehr. Egal in welchem Lebensalter er sich befand, die Familie war ihm immer wichtig.

Zum letzten Jahr der Mittelschule musste die gesamte Klasse meines Sohnes die Schule wechseln. Die bis dahin besuchte Einrichtung wurde geschlossen und so absolvierte Patric die zehnte Klasse an einer anderen Schule in einer Nachbarstadt. Ich hatte ein ungutes Gefühl zum Schulwechsel im Jahr, in dem die Prüfungen erfolgten. Ich musste ihn die letzten beiden Jahre immer wieder an seine Verantwortung und Pflicht zu einem guten Schulabschluss ermahnen. Er sah dies locker und nicht so eng, doch er erreichte ein gutes Zeugnis. Einer Lehre als Dachdecker – seinem Wunschberuf – stand nichts mehr im Wege.

Mit dem Schulwechsel zur zehnten Klasse lernte er auch seine Freundin Carolin kennen. Carolins Einfluss war positiv. Das spürten auch wir. Die pubertären Züge verschwanden. Patric suchte nun öfters das Gespräch mit uns. Wir spürten wieder stärker seine Nähe, die uns die letzten Monate etwas gefehlt hatte.

Patric begann seine Lehre. Er musste anfangs während der Berufsschulzeit im Internat wohnen, weil die tägliche Hin- und Heimfahrt durch öffentliche Verkehrsmittel und auch durch uns nicht gewährleistet werden konnte. Er fügte sich in diese Situation ohne Murren. Und obwohl es mir ein klein wenig schwer fiel und die Muttergefühle die Oberhand gewannen, so war ich doch der vollen Überzeugung, dass dieser vorübergehende Lebensabschnitt ihm nicht schaden und eine große Portion Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein vermitteln würde.

Er teilte sich ein Zimmer mit einem anderen Auszubildenden. Es war sehr spartanisch eingerichtet und wirkte kühl und überhaupt nicht einladend. Sonntags fuhr ich Patric ins Internat und Stefan holte ihn freitags ab. Hin und wieder passierte es auch, dass er eine andere Mitfahrgelegenheit nutzen konnte.

In der Zwischenzeit hatte Patric auch den PKW-Führerschein erlangt. Er übernahm ein „Familienauto“ VW Polo, das schon Stefans Tochter Yvonne und anschließend ihr Freund René gefahren hatten. Ab seinem achtzehnten Geburtstag war er nun selbst mobil.

Seine Lehrzeit verlief in Theorie und Praxis problemlos. Im Team der ausbildenden Firma fühlte er sich wohl und er erlernte gerne das ABC des Dachdeckerhandwerks. Anscheinend hatte er seinen Wunschberuf gefunden. Im Jahr 2007 wurde er Lehrgangsbester im Bereich Techniken der Dacheindeckung mit Schiefer und für den Elitekurs zur Förderung begabter Lehrlinge im Dachdeckerhandwerk ausgewählt. Während der Ausbildung erlangte er auch die Befähigung zur Bedienung von Turmdrehkränen, Frontgabelstaplern und Motorkettensägen. Seine Facharbeiterprüfungen bestand er mit guten Ergebnissen. Deshalb waren wir sehr verwundert, dass er an der Veranstaltung zur Übergabe des Gesellenbriefes nicht teilnehmen wollte. Er ließ sich das Zeugnis zuschicken. Wir verstanden dies überhaupt nicht. Warum wollte er so ein besonderes Ereignis, auf das er stolz sein konnte, nicht wahrnehmen? Wir versuchten, ihn von einer Teilnahme zu überzeugen. Doch ohne Erfolg. Wir erhielten keine Begründung für seine Entscheidung. Er lehnte es einfach ab.

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich Patric Wissen im Umgang mit Computertechnik angeeignet. Mit seinen Kenntnissen stellte er sich seine Rechnertechnik selbst zusammen, kaufte diese und tauschte sich mit Freunden aus. Das war ein Beschäftigungsfeld, an dem Patric festhielt. Diese Betätigung zog einen Nachteil mit sich. Er verbrachte oft viele Stunden vor dem PC, zockte und meistens waren die Spiele nicht gewaltfrei und sinnvoll.

Wir sind nun im Jahr 2009. Patric und Carolin waren noch immer ein Paar, hatten sich inzwischen verlobt. Es folgten ein Arbeitgeberwechsel, der Zivildienst, der Umzug zu Carolin und wieder ein Arbeitgeberwechsel. In dieser Zeit bewies er seine dachdeckerischen Fähigkeiten nicht nur an unserem Haus. Seine Hilfsbereitschaft spürten auch Yvonne und René beim Eindecken ihres Gartenhäuschens. Patric war ein junger Mann geworden. Er war schlank gewachsen, 1,78 Meter groß und seine Muskulatur war von seinem Beruf gezeichnet. Seinen Haarschnitt hielt er inzwischen kurz und vorsichtig zeigten sich ein paar Sommersprossen auf Stirn und Nase, wenn ihn die Sonne bei seiner Arbeit begleitete. Seine blauen Augen, die nach außen hin schmal wurden, dominierten unter den hellen Augenbrauen und es bildeten sich zwei schwungvolle Falten um seinen Mund, wenn er lachte. Ein schwarzer Flesh Tunnel von ungefähr sieben Millimeter Durchmesser zierte sein rechtes Ohr.

Wir waren überzeugt, dass Patric mit Carolin seinen Weg gehen würde.

Die Lawine kommt ins Rollen

September 2011

Endlich! Die schriftlichen Prüfungen waren vorbei und damit meine im Jahr 2009 begonnene Ausbildung zum Industriefachwirt beendet. Nun hieß es nur noch auf die Prüfungsergebnisse warten und mich noch einmal einer mündlichen Prüfungskommission stellen. Mein Sohn Patric schrieb mir am Morgen des ersten Prüfungstages noch eine SMS und machte mir Mut. „Du schaffst das schon!“, so war ein Teil der Nachricht formuliert. Damals ahnte ich noch nicht, welche Bedeutung diese Worte bekommen sollten, wie oft ich sie in Gedanken meinem Sohn zuflüsterte, wie oft mein Blick in seine Augen diese Botschaft vermitteln sollte. Eine innere Stimme hielt mich davon ab, diese Worte immer auszusprechen. Aus eigener Erfahrung hatte ich schon öfters festgestellt, dass sie manchmal eine Selbstverständlichkeit des Gelingens vermitteln. Sie geben oft keinen Raum für ein Nichtgelingen, für Schwäche, Verzweiflung und Niedergeschlagenheit. Die Worte werden in mutmachender Absicht ausgesprochen, die Wirkung ist jedoch personenabhängig. Sind diese Worte bei manchen Leuten der Auslöser zum Kämpfen, so können sie bei einem anderen Personenkreis Versagensängste hervorrufen. Also hielt ich mich oft verbal zurück.

An diesem Tag wusste ich noch nicht, dass die Beziehung zwischen Patric und seiner Carolin bereits zerbrochen war. Sie wollten es mir aus Rücksicht auf die Prüfungen nicht sagen und warteten deshalb, bis ich die Prüfungstage hinter mir hatte. Patric erzählte uns bei einer passenden Gelegenheit von der Trennung. Und da er schon eine geraume Zeit bei Carolin gewohnt hatte, bedeutete dies, dass er wieder bei uns einziehen würde. Seine zwei nebeneinanderliegenden Zimmer waren unverändert vorhanden und wir hatten nichts dagegen, dass er zurück kam. Die Räume waren je zirka zehn Quadratmeter groß. In dem einen standen rechts sein Bett und links sein Kleiderschrank. Lange Zeit nahm auch ein kleiner Hometrainer, den er einmal zum Geburtstag von seinen Großeltern geschenkt bekommen hatte, Platz in Anspruch. In dem anderen Zimmer hatte er auf der linken Seite seine Couch platziert, davor einen kleinen Glastisch. Gegenüber war die buchefurnierte Schrankwand aufgestellt, in der er auch seinen Monitor und Rechner untergebracht hatte. Gleich rechts neben der Tür befand sich sein Fernseher auf einem Glasregal. Über der Couch hing ein Schwarzweißbild auf Leinwand. Darauf waren große, von Wasser rund gespülte Steine zu sehen, die aus einem See ragten. Links neben dem Bild hing sein Strohhut, den er während der Arbeit bei sehr heißem Wetter ab und zu als Sonnenschutz nutzte.

Wir bedauerten sehr, dass sich Carolin und Patric getrennt hatten. Wir mochten Carolin unheimlich gern und hatten sie in unser Herz geschlossen. Sieben Jahre prägte sie unsere Familie mit, sie gehörte dazu. Hin und wieder hatten wir schon registriert, dass zwischen den beiden Spannungen auftraten und uns blieb auch nicht verborgen, dass Patric der auslösende Pol für diese Situationen war. Wir gaben ihm oft zu verstehen, dass er sein Verhalten gegenüber Carolin ändern muss und dass sie vielleicht die Beziehung aufgrund seines Umganges mit ihr einmal beenden könnte. Doch er war davon überzeugt, dass Carolin ihn nicht verlassen würde. Er zählte auf ihre Liebe zu ihm. Da Patric uns gegenüber immer mit Respekt und Anstand aufgetreten war, vermuteten wir keine ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen den beiden.

An dem Scheitern der Beziehung gab Patric Carolin nie die Schuld. Er sprach nicht darüber. Wir bemerkten keinen Trennungsschmerz. Nur einmal liefen ihm bei diesem Thema Tränen über seine Wangen, während er mit mir an einem gemeinsamen freien Tag frühstückte. Sein Leben ging irgendwie weiter …

Oktober 2011

… nein, so einfach gestaltete sich sein Leben doch nicht. Patric hatte sich verändert. Dies spürten wir nun deutlich, auch wenn wir nur wenig Zeit miteinander verbrachten. Er übte seinen Beruf als Dachdecker weiterhin tagtäglich aus. Mit wem er seine Freizeit verbrachte, entzog sich unserer Kenntnis. Wir wussten nur, dass er nach wie vor den Kontakt zu seinem Schulfreund Markus hielt. Die Freundschaft zwischen Markus und Patric hatte sich seit der fünften Klasse aufgebaut und es bestanden Zeiten der Unzertrennlichkeit. Wir mochten Markus ebenfalls. Er war ein freundlicher, aufgeweckter Junge und hatte immer ein Lächeln im Gesicht. Markus war wie Patric schlank gewachsen. Seine grünen Augen sahen verschmitzt in die Welt und das gewellte, kurz gehaltene Haar rundete sein nettes Erscheinungsbild ab. Wir wussten, dass Markus hinsichtlich seiner Ausbildung und seines Berufes Probleme hatte und dass sein Lebensweg nicht so verlief, wie man sich dies als Eltern wünscht. Doch die Gründe hierfür waren uns nicht bekannt und Patric gab diese natürlich nicht preis. Auch die etwas demonstrativ wirkenden Veränderungen von Markus durch Frisur, Tätowierungen und Piercings ließen uns nicht misstrauisch werden. Wir hatten und haben keine Vorurteile hinsichtlich Äußerlichkeiten. Er blieb für uns ein netter Freund unseres Sohnes.

Patric wurde merklich unnahbarer. Oft war er extrem genervt, wenn wir mit ihm reden wollten. Wir spürten uns gegenüber Ablehnung. Sein Lebenswandel wurde für uns bedenklich. Patric kam spät abends nach Hause, manchmal verließ er das Haus noch einmal nachts. Der Fernseher oder auch der Computer liefen lange. Zum Schlafen benutzte er nicht mehr sein Bett, sondern er verbrachte die Nacht auf seiner Couch, ohne diese wenigstens zur Schlafcouch auszuziehen. Er lag dazu in seiner Bekleidung in seinem überhitzten Zimmer und wechselte seine Sachen erst, wenn er morgens zur Arbeit musste. Inzwischen türmten sich auch die Bierflaschen, wobei wir ihn nie betrunken erlebten. Das geringe Schlafbedürfnis, trotz seiner Nachtaktivität, diskutierten Stefan und ich oft, doch wir zogen keine Schlüsse in Richtung Drogenkonsum. Die Gedanken, dass Drogen die Ursache sein könnten, kamen uns nicht in den Sinn. Wir erklärten uns sein Verhalten mit der Trennung von seiner Freundin. Da er uns nicht in seine wirkliche Gefühlswelt blicken ließ, stuften wir es als „seine“ Verarbeitung ein. Wir konnten allerdings schwer damit umgehen. Der Wunsch drängte sich auf, mit ihm über diese Probleme zu reden. Seine ausgeprägte Unnahbarkeit hinsichtlich Gesprächen hielt uns jedoch davon ab. Nur hin und wieder konnte ich nicht gegen mein Inneres angehen und dann sagte ich ihm auch ganz direkt, dass sein derzeit geführter Lebenswandel so nicht weiter gehen konnte. Viel lieber nutzte ich aber die Gelegenheit, ihn in den Arm zu nehmen und an mich zu drücken, wenn es die Situation zuließ. Allerdings machte sich auch zeitweise Wut in mir breit. Wir wussten, dass wir den Umgang mit ihm mit Fingerspitzengefühl angehen mussten. Soweit konnten wir Patric einschätzen, dass er emotionsgeladen reagieren und sich die Fronten absolut verhärten würden, wenn wir ihn immer und immer wieder auf sein Verhalten ansprechen und vielleicht auch Druck nach dem Motto – Entweder du änderst dich oder du kannst dir etwas Eigenes suchen – ausüben würden. Am 25.10.2011 schrieb ich ihm einen Brief, der meine Bedenken und Kritiken hinsichtlich seines derzeitigen Lebens beinhaltete. Ich schrieb mir alles von der Seele, alles das, was ich ihm gerne selbst gesagt hätte, mit der Hoffnung verbunden, dass er ein Einsehen hat. Ich appellierte an sein Verantwortungsbewusstsein, kritisierte seinen Egoismus, seinen Alkoholkonsum, seinen fehlenden Ordnungssinn, seine Unbelehrbarkeit. Ich bot ihm allerdings auch Hilfe an, Hilfe, wie es in einer Familie selbstverständlich ist, durch Reden, Schweigen, einfach da sein und wenn gewollt auch durch Aktivitäten. Und ich schrieb ihm auch, dass wir ihn lieb haben, er unser Sohn und hier sein Zuhause ist. Es schmerzte mich beim Schreiben und meine Augen füllten sich mit Tränen.

Ich habe Patric den Brief nie gegeben ...

November 2011

Patrics Leben ging unverändert weiter. Tagsüber war er auf Arbeit, abends lebte er seinen Trott. Die Kommunikation unter unserem Dach bewegte sich gegen null. Wir bekamen nichts mit, Patric zog sich immer mehr zurück. Er interessierte sich überhaupt nicht für uns, ließ sich nicht mehr blicken. Post an ihn ignorierte er. Wir wussten nicht, wie es ihm geht. Er hatte Probleme, das war uns klar. Doch wir kamen nicht an ihn heran. Er versprühte keine Energie mehr. Allerdings begann er, wieder auf sein Äußeres zu achten. Seine Bekleidung, die er sich grundsätzlich selbst kaufte, war modisch immer angepasst. Die Zeit der Hosenzwickel in den Kniekehlen und der über den Kopf gezogenen Kapuzen war vorbei.

Am 29.11.2011 schrieb ich an Patric einen zweiten Brief. Dieser war nicht so umfangreich und emotionsgeladen, eher verzweifelt. Ich bat ihn, sein momentanes Leben zu überdenken. Ich wies ihn auf seine Erfolge hin, die er sich selbst geschaffen hatte und auf die er aufbauen und stolz sein konnte. Doch ich kritisierte natürlich auch. Und damit kam bei mir wiederholt die Angst hoch, dass er beim Lesen der Zeilen genervt reagieren könnte. Ich wollte das Risiko nicht eingehen, dass er vielleicht in seinem Umfeld, das uns nach wie vor nicht bekannt war, untertauchte und nicht mehr nach Hause kam. So behielt ich auch diesmal meine niedergeschriebenen Bedenken und Sorgen für mich.

***

Dass ich Patric beide Briefe nie zu lesen gab, bereue ich nicht. Ich bin noch heute davon überzeugt, dass es am weiteren Verlauf seines Lebens nichts geändert hätte. Er war zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht soweit, um sich und uns einzugestehen, dass er ein Suchtproblem hatte und dies Ursache für seinen Lebenswandel war.

Dezember 2011

Am 01.12.2011 begann für Patric die Winterkündigung. Dies brachte sein Beruf als Dachdecker mit sich. Wir gönnten ihm die Auszeit von der körperlich schweren Arbeit. Allerdings hatten wir in diesem Jahr Bedenken. Die verpflichtende Aufgabe fiel für einige Wochen weg, das hieß, auch tagsüber konnte er sich seinem labilen Leben hingeben. Doch es kam anders. Patric suchte sich Beschäftigung und ganz allmählich nahm die Kommunikation zwischen uns wieder zu.

Eine Bitte seines Opas erfüllte er bereitwillig. Da sein Opa aufgrund des Alters selbst kein Auto mehr fahren konnte, übernahm Patric in der Zeit seiner Winterkündigung die notwendigen Fahrten mit ihm. Er hatte das Auto meines Vaters im Oktober 2011 geschenkt bekommen, nachdem dieser das Fahren aufgegeben hatte. Und natürlich war daran auch die Erwartung auf Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft geknüpft. Jede Woche fuhr Patric seinen Opa ein- bis zweimal zirka siebenundzwanzig Kilometer zu dessen Lebensgefährtin oder holte ihn dort ab und erledigte mit ihm auch die Fahrten zum Arzt. Patrics Hilfsbereitschaft kam auch zum Tragen, in dem er während seiner Winterkündigung seinen Freund Markus zur Arbeit fuhr. Markus besaß zu dieser Zeit kein Auto und so stellte Patric sich den Wecker und stand zeitig auf.

Auch am Haus seiner Cousine Nicole und ihres Ehemanns Andreas half er mit. Die Hilfe beschränkte sich nicht nur auf Dachdeckerleistungen. Auf Wunsch legte er bei allen anderen Arbeiten ebenfalls mit Hand an. Dies hatte er trotz seiner Probleme in den zurückliegenden Monaten beibehalten. Er verbrachte seine Freizeit gerne bei Nicole und Andreas.

Patrics Alkoholkonsum ging während dieser Zeit zurück. Doch die Nachtaktivität blieb und er war viel unterwegs. Für uns schien sein Leben trotz aller Hilfsbereitschaft, die er an den Tag legte, chaotisch und desorientiert. Und noch immer verschwendeten wir keinen Gedanken daran, dass Patric Drogen nehmen könnte.

Das Weihnachtsfest stand bevor. Patric freute sich darauf. Ich fragte ihn im Vorfeld, was er sich zu Weihnachten wünsche. Obwohl es noch nie unsere Art war, ihm zu Weihnachten Geld zu schenken, betonte er diesmal, dass er unter keinen Umständen ein Geldgeschenk haben wolle. Ich wunderte mich darüber, weil er so explizit darauf hinwies.

***

Später konnte ich mir dies erklären. Es wäre für ihn selbst ein Eingeständnis seiner Sucht gewesen. Der Drogenkonsum war vermutlich seit der Trennung von Carolin und der stärkeren Integration in das Umfeld der Suchtabhängigen angestiegen. Höchstwahrscheinlich hatte er sein Geld in den letzten Wochen hauptsächlich dafür ausgegeben.

***

Den Heiligabend verbrachte er mit uns bei Yvonne, René und deren Sohn Jonas. Sie wohnten in einer anderen Stadt. Der Abend war harmonisch. Ich beobachtete meinen Sohn. Er war manchmal etwas neben sich. Vielleicht spürte er gerade jetzt, wie ihm seine Carolin fehlte. Ich vermisste sie jedenfalls.

An diesem Abend machte Yvonne von uns allen ein Weihnachtsfoto. Beim Betrachten lässt das Bild den Schluss zu, dass Patric abseits steht. Dies fiel mir sofort auf. Ich äußerte meine Gedanken aber nicht.

Am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag aß er mit uns zusammen Mittag. Wir sprachen an diesen Tagen seinen Lebenswandel nicht an, wollten Weihnachten die Stimmung nicht nehmen.

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Viel später, nachdem er sich zu den Drogen bekannt hatte, sagte mir Patric einmal, dass er auf dem Foto nicht zu uns gehört hätte, dass er in einem anderen Leben war. Und dass man dies ganz deutlich auf dem Bild erkennen würde. Patric hatte also die Aufnahme genauso empfunden wie ich, nur dass ich die Gründe hierfür noch nicht wusste.

Januar und Februar 2012

Die Monate vergingen für Patric und uns in der gleichen Atmosphäre. Wenig Kommunikation, wenig Interesse von ihm für uns, wenig Interesse von Patric für sich selbst. Das Leben war immer noch ziellos und keine Wende in Sicht.

Er wurde nun bald vierundzwanzig Jahre alt. Ich verglich sein Leben mit meinem damaligen Leben in diesem Alter. Mit vierundzwanzig Jahren hatte ich meinem Sohn das Leben geschenkt. Ich hatte eine tolle Schwangerschaft ohne Probleme. Patric war ein ausgesprochenes Wunschkind. Es war einer der schönsten Momente, als man ihn mir unmittelbar nach der Geburt auf den Bauch legte. Dieses kleine Wesen sollte von nun an mein Leben bestimmen. Ich wollte immer für ihn da sein, seine Entwicklung begleiten und unterstützen, ihm zur Seite stehen, wenn er Probleme hatte, wollte mit ihm lachen und weinen. Ich hatte mich darauf gefreut, diese Verantwortung zu tragen.

Konfrontation

März 2012

Am 12.03.2012 begann Patric zu arbeiten. Die Winterkündigung war beendet. Wir waren froh, dass wenigstens das Arbeitsleben wieder Einzug hielt und hatten den Eindruck, dass Patric auch glücklich darüber war. Endlich hatten wir einen Bezugspunkt, um uns in Patrics Leben zu integrieren. Wir nahmen an seinem Berufsleben teil, indem wir ihn fragten, wo sich die Baustellen befinden und wie sie so vorankamen. Und wenn machbar, fuhren wir auch vorbei, um ihm zu vermitteln, dass er uns nicht egal war und wir uns für ihn und seine Arbeit interessierten. Wir zeigten Anerkennung für seine Tätigkeit und ließen es ihn auch wissen.

Patric ging in der ersten Zeit später als wir aus dem Haus zur Arbeit. Eines Morgens standen dort, wo wir unsere Schuhe wechselten, Damenstiefel. Patric hatte also über Nacht Besuch. Ich freute mich für ihn und sah dies locker. Stefan betrachtete diese Situation mit gemischten Gefühlen, da er der skeptischere und vorsichtigere Part von uns beiden ist. Wir fragten Patric abends nach dem Mädchen, bekamen aber keine richtige, eher eine etwas ausweichende Antwort. Die Übernachtung wäre nur eine Ausnahme gewesen. In den nächsten Tagen wiederholte sich das Ganze noch einmal. Ich war ganz entspannt und hoffte natürlich, dass er vielleicht jemand kennengelernt hätte. Eines machte mich trotzdem nachdenklich. Dass er ein Mädchen in sein chaotisches, unordentliches Zimmer mitnahm, widersprach seiner früheren Gepflogenheit. Da hatte er zumindest in der Anfangszeit, bevor Carolin zu Besuch kam, immer aufgeräumt und gesaugt.

An einem der folgenden Tage kam Stefan vormittags unverhofft nach Hause, weil er etwas vergessen hatte. Als er das Haus betrat, hörte er, wie die Badezimmertür ins Schloss fiel. Ein dunkelhaariges Mädchen lief die Treppe nach oben in Patrics Zimmer, holte ihre Sachen und verschwand. Stefan erzählte es mir am Abend. Wir waren uns darüber einig, dass wir natürlich nicht akzeptieren konnten, dass sich eine fremde Person tagsüber allein in unserem Haus aufhielt und sagten dies Patric auch. Er reagierte vernünftig und es kam nicht mehr vor. Wir hakten noch einmal etwas nach und er erzählte uns, dass das Mädchen zurzeit keine Wohnung hätte und seitdem bei seinem Freund Markus übernachtete. Dort dürfte sie jedoch nicht mehr bleiben. Das alles kam mir natürlich ziemlich eigenartig vor. Patric sagte uns, dass das Mädchen in den nächsten Tagen eine Wohnung bekommen würde. Wir fragten nicht nach, wo sie denn nun übernachtete. Ich nahm Kontakt zur Mutter von Markus auf. Auch sie konnte mir nichts Näheres erzählen, wusste nur, dass sie Sarah heißt und momentan keine Bleibe hatte. Einige Tage später erfuhren wir über meinen Sohn, dass sie bei Markus wieder Unterschlupf gefunden hatte.

Uns stellte sich die Frage, warum ein Mädchen von zirka zwanzig Jahren keinen festen Wohnsitz hatte. Warum musste sie sich ihre Bleibe bei Freunden und Bekannten suchen? Welche Gründe konnten vorliegen, dass eine solche Situation eintrat? War sie mit den Eltern zerstritten? Konnte sie die Miete nicht mehr bezahlen, da sie arbeitslos geworden war? Konnte sie eine Wohnung nicht anmieten, da kein Arbeitsverhältnis vorweisbar war? Wir spielten diese Möglichkeiten durch. An Drogen dachten wir dabei nicht ...

April 2012

Wie so oft in den letzten Wochen und Monaten schaute ich auch in den ersten Apriltagen wieder einmal in Patrics Zimmer. Mein Blick schweifte durch seine Räumlichkeiten. Vielleicht würde ich ja doch irgendetwas finden, was in Patrics Gefühlswelt blicken ließ. Allerdings entdeckte ich außer Chaos, Unordnung und leeren Bierflaschen im ersten Moment nichts. Dann blieb mein Blick an einem Zettel auf seinem Couchtisch hängen. Ich nahm den Zettel, um ihn zu lesen. Darauf stand mit seiner Handschrift geschrieben: „Nachdem man aufhört sich zu verkrampfen, läuft alles wie von selbst und man kann endlich wieder der sein, der man wirklich ist.“ Ich las den Satz mehrmals und versuchte mich in das Wortgefüge einzufühlen. Die Schrift war klar und deutlich. Langsam kamen mir Gedanken, dass Patric weit größere Probleme haben musste, als wir je vermuteten. Sollte ihn die Trennung von Carolin wirklich so heruntergerissen haben? Was bedeuteten die Worte „aufhört sich zu verkrampfen“ und „kann man endlich wieder der sein, der man wirklich ist“? Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Was führte zu dem Verkrampfen? Und vor allem, was führte zur Entkrampfung? Ich merkte, wie mein Puls langsam schneller wurde. Am Boden lag eine Hose von ihm. Ich griff in die Taschen. Vielleicht fand ich ja noch andere Indizien. Ich fühlte in der rechten eine Tüte. Vorsichtig zog ich sie heraus. Die kleine selbstschließende Tüte war zirka 4 x 7 Zentimeter groß und Reste von weißem Pulver waren sichtbar. Mir stockte der Atem. Ich setzte mich auf seine Couch, hielt die Tüte in der Hand, las den Zettel wieder und mir wurde erstmals klar, dass es sich hier um Drogen handeln könnte. Meine Arme begannen unangenehm zu kribbeln. Dieses Gefühl zog sich über den Nacken, den Hals, bis in die Haarwurzeln. Das Herz raste noch immer und langsam wurden meine Hände immer kälter. Ich hatte keine Ahnung, um welche Droge es sich handeln und schon gar nicht, welche Schäden diese bereits verursacht haben könnte und wie lange er sie schon nahm. War die Droge Ursache für sein verändertes Verhalten? Eine Erklärung wäre gefunden. Doch wie würde ich mit Patric das Gespräch dazu finden? Ich konnte keine weitere Strategie entwickeln und zeigte Stefan nur den Zettel. Ich konnte mich nicht überwinden, ihm auch die Tüte mit den Resten von weißem Pulver zu zeigen. Sucht, wenn auch keine illegalen Drogen – das war eine Erfahrung, die Stefan schon einmal in seiner ersten Familie massiv Probleme bereitet hatte. Er litt damals sehr unter der Situation. Ich wollte nicht, dass er abermals mit dieser Thematik konfrontiert wird. Doch die nächsten Wochen zeigten, dass es sich nicht vermeiden ließ, das Thema anzusprechen. Ich schrieb mir die Worte von dem Zettel ab und legte ihn wieder an seinen Platz. Die Tüte behielt ich.

Ich wusste nicht, wie ich Patric gegenüber reagieren sollte. Sollte ich ihn mit meinem Fund konfrontieren?

Ich suchte im Internet, weil ich nur so viel Ahnung hatte, wie man eben als Laie hat. Drogen – hier in unserem kleinen Dorf, weit weg vom Großstadtmilieu. Meine ersten Recherchen deuteten auf Amphetamine oder Methamphetamine hin. Was ich zur Wirkung von Amphetaminen zu lesen bekam, waren Begleiterscheinungen wie: wirkt extrem leistungssteigernd, euphorisierend, unterdrückt Müdigkeit und Hungergefühl, steigert das Selbstbewusstsein, Steigerung des sexuellen Verlangens. Auch Methamphetamin wurde erläutert, wobei hier auf ein sehr hohes Abhängigkeitspotential mit psychischen und körperlichen Symptomen hingewiesen wurde. Ich musste überlegen und beobachten. Amphetamin, Methamphetamin – noch nie hatte ich diese Begriffe gehört. Dass Patric Drogen nehmen sollte, ging mir einfach nicht in den Kopf, obwohl ich nicht in die Stimmung verfiel, es kategorisch abzulehnen nach dem Motto: Mein Sohn macht so etwas nicht! Dafür war ich doch zu realistisch.

Ich dachte auch darüber nach, Kontakt zu Carolin aufzunehmen, um sie zu fragen, ob sie etwas von dem Drogenkonsum wusste. Ich tat es nicht, weil ich hoffte, erst mit Patric sprechen zu können.

Am 11.04.2012 fuhr ich auf Wunsch von Patric nach der Arbeit mit ihm zu einem Mobilfunkshop seines Anbieters. Sein Handy war noch auf meinen Namen registriert, obwohl er seine Handyrechnung selbst bezahlte. Dies rührte aus dem ersten Kauf seines Mobiltelefons her, weil er damals noch nicht volljährig war. Er wollte den Vertrag endlich auf seinen Namen laufen lassen. Ich hatte nichts dagegen und mir kam dies ganz recht. So hatte ich ihn für mindestens eine halbe Stunde allein und ungestört für mich, da wir gemeinsam mit dem Auto fuhren. Ich nahm mir vor, mit ihm zu reden. Patric machte auf mich einen nervösen Eindruck. Jetzt, wo ich ihn seit Wochen wieder einmal so richtig in meiner Nähe hatte und ihn konzentriert musterte, fiel mir auf, dass er nicht gesund aussah. Die Augen wirkten gläsern, das Gesicht war etwas eingefallen. Seine Hände zitterten sehr. Er war schmal geworden. Am liebsten hätte ich ihn einfach in die Arme genommen. Doch ich kannte mich und wusste, dass mir dann gleich die Tränen kommen würden. So ließ ich es sein.

Eine einfache Umschreibung des Vertrages war nicht möglich. Patric musste einen neuen Mobilfunkvertrag abschließen und ich kündigte dafür den bisherigen. Er suchte sich ein neues Handy aus, was ihm hinsichtlich der Entscheidung schwer fiel. Er konnte sich nicht eindeutig ausdrücken, welche Funktionen er zusätzlich an seinem Telefon wollte. Er wirkte unsicher und unbeholfen. Das Handy wurde gleich aktiviert. Dies dauerte ein paar Minuten und wir mussten warten. Ich fragte Patric, ob wir inzwischen zu einem in der Nähe befindlichen Fastfood Restaurant gehen und eine Kleinigkeit essen wollten. Er war einverstanden. Auf dem Weg dorthin fing er an, in einer überheblichen Art und Weise über die Verkäuferin zu schimpfen. Nach seiner Auffassung hätte sie gar keine Ahnung und er meinte, dass Sarah sich diese Behandlung nicht hätte gefallen lassen. Ich konnte diese Äußerung nicht einordnen, da sich die Verkäuferin viel Mühe gegeben hatte, Patrics unklare Vorstellungen in ein positives Ergebnis umzusetzen. Ich sagte ihm, dass er doch nur seine Wünsche eindeutig hätte äußern sollen.

Warum lobte er diese Sarah so? Und warum lobte er sie bei solchen Anlässen? Eigentlich stellte er sich damit ein schlechtes Zeugnis aus, weil er selbst etwas nicht auf die Reihe brachte. Oder sollte es darauf abzielen, dass ich ihn in diesem Fall nicht unterstützt hatte? Doch für mich gab es keinen Grund, sich hier einzumischen. Sein Verhalten deutete nicht auf benötigte Hilfe hin. Im Gegenteil, trotz aller Unschlüssigkeit hatte es auf mich den Anschein, als ob er über den Dingen stand. Wir diskutierten diese Verhaltensweise nicht aus. Im Fastfood Restaurant ließ ich mich von ihm beraten, was er als Snack empfehlen würde und bestellte dies. Patric bezahlte. Ich fing mein Gespräch nicht an, da zu viele Leute um uns herum saßen. Wir unterhielten uns über allgemeine Dinge und gingen anschließend zurück in den Shop, um das Telefon abzuholen. Es funktionierte und sofort, schon auf dem Weg zum Auto, hingen seine zittrigen Finger nur noch am Display. Als wir im Auto saßen, sprach ich ihn an. Ich versuchte, Blickkontakt zu halten. Das gelang mir nicht. Patric war an sein neues Telefon gefesselt. Während ich mit ihm redete, kämpfte er sich durch das Menü des neuen Gerätes. Ich fragte ihn, was mit ihm los sei und sagte ihm, dass wir merken, dass er große Probleme hätte und egal, was es ist, dass er jederzeit zu uns kommen und mit uns reden könnte. Wir würden ihm keine Vorwürfe machen. Von Drogen sagte ich nichts. Er behauptete, dass alles in Ordnung sei. Mehr sagte er nicht. Ich konnte nicht deuten, ob er vielleicht doch reden wollte und sich nur nicht überwinden konnte, mit mir das offene Gespräch zu führen. Das Handy hielt ihn gefangen und alles andere war unwichtig – so machte es den Eindruck.

In den nächsten Tagen sahen wir Patric sehr wenig. Er übernachtete nicht mehr zuhause. Von der Arbeit kommend duschte er, packte seine Arbeitssachen neu und verschwand wieder. Wir gingen davon aus, dass er die Nächte bei Sarah verbrachte, da sie inzwischen eine eigene Wohnung besaß.

Trotz geringer Kommunikation fragten wir Patric, ob er uns beim Gartenzaunbau helfen würde. Es mussten nicht nur Riegel und Latten erneuert werden, sondern auch die Betonsäulen. Deshalb waren wir auf seine Hilfe angewiesen. Er sagte ohne Zögern zu und wir legten den folgenden Samstag zur Umsetzung fest. Es war ein angenehmer warmer Frühlingstag. Patric packte zu und half uns beim Setzen der Säulen und beim Anbringen der Riegel. Die Arbeiten verrichtete er mit Stefan Hand in Hand und mit kurzen Absprachen. Patrics Hilfsbereitschaft machte sich hier wieder bemerkbar.

Ich wunderte mich, dass er während dieser Tätigkeit unverhältnismäßig viel Wasser trank, wo doch seine Flüssigkeitszufuhr in den letzten Wochen hauptsächlich aus Bier bestand und war natürlich froh, dass seine Entscheidung so ausfiel.

Das Ausrichten der Zaunlatten nahm etwas Zeit in Anspruch. Patric wurde ungeduldig. Plötzlich meinte er, dass er einmal schnell etwas erledigen müsste und fuhr mit seinem Auto davon. Stefan und ich schüttelten nur mit dem Kopf und hatten nicht wirklich Verständnis für sein Verhalten. Ungefähr eine viertel Stunde später kam er zurück. Er strahlte eine Frische aus. Allerdings war an Weiterhelfen nicht zu denken. Er gab nur eine kurze Stippvisite ab und verabschiedete sich für den Rest des Tages.

Erleichtert und Zerrissen

13.05.2012 – Sonntag

Muttertag – Patric hatte diesen Tag noch nie vergessen, so auch diesmal nicht. Vor einem Jahr schenkte er mir ein Buch mit dem Titel: „Mama, erzähl mal!“, ein Album zum Selbstausfüllen, das er gerne mit meinen Erinnerungen zurückhaben wollte. Auch dieses Jahr stand er vormittags mit einem Blumenstrauß in der Tür. Er nahm mich in seine Arme, drückte mich und sagte: „Alles Gute, Mami.“ Meine Arme umschlangen seine Schultern. Dazu musste ich mich auf die Fußspitzen stellen. Ich genoss es, ihn so nah zu spüren. Wir wechselten ein paar allgemeine Worte. Zum Essen wollte er nicht bleiben. Gerne hätte ich ihn länger bei uns gehabt, die Zeiten dafür waren seltener geworden. Ich war froh, dass Patric an solche Tage dachte und war mir auch sicher, dass es für ihn keine Pflichtveranstaltung war.

Er kam am späten Nachmittag noch einmal mit Sarah gefahren. Er stieg aus und holte irgendetwas aus seinem Zimmer. Ich war zu dieser Zeit im Garten. Sarah war allein im Auto sitzen geblieben und ich nutzte die Gelegenheit, zu ihr zu gehen und Hallo zu sagen. Ich fragte, was sie denn so vorhaben. Sie meinte, dass sie jetzt nach Tschechien fahren, um Zigaretten zu holen. Nach Tschechien war Patric früher auch oft mit Kumpels gefahren …

Ich ging ins Haus, da kam mir Patric auch schon entgegen und mit einem kurzen Tschüss war er im Auto verschwunden.

15.05.2012 – Dienstag

Ein etwas kühler Frühlingstag. Nach Feierabend ging ich noch einkaufen, Pflanzen für die Balkonkästen holen und war gegen 17 Uhr zuhause. Stefan war auch eingetroffen und Patric stand in seinem Dachdeckeroutfit am Gartentor. Und nun überschlugen sich die Ereignisse und wir ahnten nicht, welche Auswirkungen dieser Tag auf unsere Zukunft, auf unser Leben haben würde.

Patric und ich begrüßten uns. Ich merkte, wie er an seiner ungezwungenen Haltung arbeitete. Eigenartig, wie angewurzelt er am Gartentor stehen blieb. Was los sei, wollte ich wissen und schaute ihm dabei in die Augen, um das gewohnte Blaue darin zu suchen. Doch mich schauten große, dunkle Pupillen an. Er meinte, dass Stefan mit zu Carolin fahren müsste, doch vorher sollte er sie anrufen. Dies sagte er in einer schnellen, monotonen Art und Weise, die ich von ihm nicht gewohnt war. Sein Blick dabei war fast unheimlich starr. Ich verstand das alles nicht. Wieso sollte Stefan Carolin anrufen und warum sollte er mit zu seiner ehemaligen Freundin fahren? Ich fragte bei Patric nach, bekam aber keine Antwort. Er sah mich nur an, schaute durch mich hindurch. Stefan zuckte mit den Schultern. Auch er konnte sich die Situation nicht erklären, kam aber Patrics Wunsch nach und rief Carolin an. Er erläuterte kurz das Ansinnen von Patric und fragte sie, ob ihr etwas Näheres bekannt sei. Doch sie verneinte und konnte sich nicht vorstellen, was er vorhabe. Die beiden konnten nur wenige Worte wechseln, dann nahm Patric Stefan den Hörer aus der Hand und vereinbarte mit Carolin ein sofortiges Treffen in der Nähe einer für beide Seiten bekannten Gaststätte. Mein Sohn bestand immer noch darauf, dass Stefan an dem Treffen teilnehmen sollte. Inzwischen vermuteten wir, dass er vielleicht einen Versuch starten wollte, Carolin zurückzugewinnen und Stefan sollte dabei vermitteln. Patric und Stefan fuhren los.

Ich nahm inzwischen die Pflanzen aus dem Auto und stellte sie unter. Meine Gedanken kreisten und ich bekam keinen klaren Kopf. Was war passiert?

Über eine Stunde war inzwischen vergangen und ich hatte keine Zwischeninformation. Ich glaubte nicht, dass so lange diskutiert wurde. Es musste etwas anderes passiert sein. Gedanken an die damals gefundene Tüte mit Resten von weißem Pulver kamen mir in den Sinn. Allerdings wusste ich noch nicht mehr darüber als das, was ich bei meinen ersten Recherchen in Erfahrung gebracht hatte. Unaufhörlich stieg Unruhe in mir hoch und ich schaute ständig aus dem Fenster in der Hoffnung, dass Stefan und Patric endlich zurückkommen.

Mein Handy klingelte. Nicole, Patrics Cousine, war am anderen Ende. Sie wollte wissen, ob Patric zuhause sei. Ihr Anruf kam wie eine Erlösung. Endlich konnte ich mit jemandem reden. Auch wenn ich nichts Genaues wusste, so konnte ich doch wenigstens meine Sorgen mit ihr teilen. Ich erzählte ihr, was geschehen war. Aber offensichtlich war Nicole mehr bekannt als uns, denn sie sagte, dass es Patric nicht gut ginge und dass wir aufpassen müssten. Ich merkte ihr an, dass da noch mehr war als nur das Befinden von Patric. Ich drängte sie, mir ausführlicher zu erzählen. Zögernd antwortete sie: „Patric wurde heute gekündigt.“ Das versetzte mir einen Stich und ich empfand dies als eine unwahrscheinlich schlimme Tatsache, ohne zu wissen, wieso und weshalb die Kündigung erfolgte. Eigenartigerweise machte mir dies für einen Moment mehr zu schaffen als der Gedanke an die Drogen.