Zwölf Zimmer für sich allein -  - E-Book

Zwölf Zimmer für sich allein E-Book

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Beschreibung

Dorothy Parker lästert über Carson McCullers und klagt über die vielen miesen Brotjobs zu Beginn ihrer Laufbahn, Elena Ferrante spricht über die Gedankensplitter, die am Anfang ihrer Texte stehen, und über den Begriff der literarischen Wahrheit. Nadine Gordimer erzählt von ihrer Kindheit in Südafrika und ihrer frühen Begeisterung für Evelyn Waugh, Lydia Davis von der fließenden Grenze zwischen Gedichten und Storys und dem »fröhlichen Schriftverkehr« in ihrem Elternhaus. Rachel Cusk beschreibt einen »spezifisch englischen Schmerz«, den auch sie kenne, und Toni Morrison befasst sich mit der Frage, wie Schwarze in der Literatur weißer Schriftsteller*innen dargestellt werden, und damit, wie viel Kontrolle sie selbst über ihre Figuren hat.Es geht um alles in diesen Gesprächen mit bedeutenden Autorinnen des 20. Jahr- hunderts, um Leben und Schreiben, um Erfolge und Niederlagen. Und diese Gespräche sind selbst Literatur – ein Spiegel des Werks derer, die hier reden: weise und witzig, tiefgründig und abgründig. 1953 an der Rive Gauche gegründet und seit den siebziger Jahren in New York angesiedelt, schenkt die Paris Review Leser*innen seit Jahrzehnten erhellende, amüsante – schlicht einzigartige Gespräche mit Autor*innen. Nun sind die besten Interviews mit Schriftstellerinnen endlichauch auf Deutsch in einem Band versammelt.

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Zwölf Zimmer für sich allein

Zwölf Schriftstellerinnen im Gespräch

Paris Review Interviews

Kampa

Dorothy ParkerMeine Antriebsfeder beim Schreiben? Geldmangel, Liebes.

Mit Marion Capron (1956)

Dorothy Parker lebte zum Zeitpunkt dieses Interviews in einem Hotel in Midtown Manhattan. Sie teilte ihr kleines Apartment mit einem jungen Pudel, der dafür verantwortlich sei, dass alles etwas »Hogarthesk« wirke, wie Mrs Parker sich zu entschuldigen suchte – Zeitungen lagen auf dem Boden verstreut, da und dort sah man abgenagte Knochen, ja sogar eine Gummipuppe mit klaffend aufgerissener Kehle fehlte nicht; diese Puppe übrigens wurde von Mrs Parker (nicht ohne Anstrengung) immer wieder in eine Zimmerecke geschleudert, nur damit der Pudel sie apportieren konnte. Das Zimmer war spärlich eingerichtet. Die einzige Attraktion war ein großes Hundeporträt, auf dem aber nicht der Pudel zu sehen war, sondern ein Schäferhund, der dem Schriftsteller Philip Wylie gehörte und von dessen Frau gemalt worden war. Der Hund auf dem Bild hatte einen so riesenhaften Körperbau, dass Mrs Parker, die tatsächlich sehr klein ist, daneben fast winzig wirkte. Sie sprach mit sanfter Stimme und schlug oftmals einen entschuldigenden Ton an. In manchen Augenblicken aber, wenn Dinge zur Sprache kamen, die den Kern ihrer Existenz berührten, wurde ihre Stimme fast scharf, und ihre Worte trafen nun mit tödlicher Präzision ins Schwarze. Noch immer funkelte ihr Witz, der sie einst zur legendären Gestalt am Round Table im Algonquin gemacht hatte; ein satirischer Humor, der keine Rücksicht nahm auf irgendwen und auf verheerende Weise erfinderisch war. Sie schien jederzeit mit einem Bonmot aufwarten zu können. Bei einer Theateraufführung sprach sich die Nachricht vom Tod des zählebigen Calvin Coolidge herum. Mrs Parker flüsterte daraufhin, wie Freunde erzählten: »Wie wollen Sie für diese Behauptung jemals den Beweis antreten?«

Lesern dieses Interviews wird jedoch auffallen, dass Mrs Parker ungern Lobeshymnen auf ihren Humor hörte. »Inzwischen ist es so schlimm«, sagte sie mit einiger Verbitterung, »dass man bereits zu lachen beginnt, ehe ich den Mund aufgemacht habe.« Ähnlich abwehrend verhielt sie sich, wenn man sie als seriöse Autorin bezeichnete. Dorothy Parkers schärfste Kritikerin war Dorothy Parker. Mögen ihre drei Gedichtbände ihr den Ruf einer »Meisterin des leichten Verses« eingebracht haben – ihre Kurzgeschichten sind ernste Sachen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihnen ihr eigenes, ein nicht eben unbeschwertes Leben spiegelt. Franklin P. Adams schrieb in einer Einführung zu ihrem Werk: »Niemand vermag mit solcher Ironie zu schreiben, ohne ein tief sitzendes Gefühl für Ungerechtigkeit zu besitzen – für jene Art von Ungerechtigkeit, der diejenigen ausgeliefert sind, die unter der Herrschaft von Dummheit, Arroganz und Heuchelei leiden.«

Sie waren zuerst Mitarbeiterin der Vogue, nicht wahr? Wie haben Sie es angestellt, dort genommen zu werden? Und warum die Vogue?

Als mein Vater starb, war kein Geld mehr da. Ich musste mir eine Arbeit suchen, und Mr Crowninshield – Gott hab ihn selig – gab mir zwölf Dollar für ein kleines Gedicht und einen Job für zehn Dollar die Woche. Nun ja, ich kam mir vor wie Edith Sitwell. Ich wohnte in einer Pension in der 103. Straße, Ecke Broadway und zahlte acht Dollar die Woche fürs Zimmer, Frühstück und Abendessen inbegriffen. Thorne Smith wohnte auch dort, und noch ein Mann. Abends saßen wir zusammen und redeten. Geld hatten wir keins, aber, Herrgott, wir hatten eine Menge Spaß.

Was mussten Sie bei der Vogue tun?

Ich schrieb Bildunterschriften. »Mit diesem kleinen pinken Kleid wirst du dir einen Verehrer angeln« und solche Sachen. Komisch, bei der Vogue arbeiteten fast nur unscheinbare Frauen, die waren nicht schick. Das waren lauter nette, anständige Frauen, nettere Frauen habe ich nie mehr getroffen, aber bei so einer Zeitschrift waren sie fehl am Platz. Sie trugen komische kleine Hauben, und die toughen Models, die auf ihren Seiten paradierten, die verwandelten sie in reine Unschuldslämmchen. Heute sind die Redakteurinnen comme il faut: elegant und weltläufig; die meisten Models sehen so aus, als hätte Bram Stoker sie sich ausgedacht. Was die Verfasser der Bildunterschriften betrifft – meinen alten Job also –, die empfehlen jetzt Nerzkappen für Golfschläger, fünfundsiebzig Dollar das Stück. »Für den Freund, der alles hat.« Die Zivilisation nähert sich ihrem Untergang, Sie verstehen …

Warum gingen Sie dann zu Vanity Fair?

Mr Crowninshield wollte das so. Mr Sherwood und Mr Benchley waren da (wir nannten uns immer beim Nachnamen). Unser Büro lag genau gegenüber vom Hippodrome. Wenn die Liliputaner rauskamen, erschrak Mr Sherwood fürchterlich. Er war ungefähr zwei Meter groß, und sie schlichen sich von hinten an ihn heran, um ihn zu fragen, wie das Wetter da oben sei. »Begleiten Sie mich auf die Straße«, bat er uns immer, und Mr Benchley und ich ließen unsere Arbeit liegen und gaben ihm Geleitschutz. Ein großer Spaß, das können Sie mir glauben. Mr Benchley und ich abonnierten zwei Bestattungsmagazine, The Casket und Sunnyside. Halten Sie sich fest! Sunnyside hatte eine Rubrik mit Witzen unter der Überschrift »From Grave to Gay« [Vom Grab zur Heiterkeit]. Aus dieser Zeitung schnippelte ich mir eine farbige Abbildung heraus. Darauf war detailliert dargestellt, wie und wo man die Flüssigkeit beim Einbalsamieren einzuführen habe, und dieses Bild hängte ich über meinem Schreibtisch auf, bis Mr Crowninshield mich bat, es doch, wenn irgend möglich, wieder abzuhängen. Mr Crowninshield war ein netter Mensch, aber etwas verloren. Ich muss zugeben, wir haben uns sehr schlecht benommen. Albert Lee, einer der Redakteure, hatte während des Ersten Weltkriegs eine Landkarte aufgehängt und darauf mit Fähnchen den Standort unserer Truppen markiert. Jeden Tag las er die Nachrichten und änderte die Position der Fähnchen. Ich war verheiratet, mein Mann war in Europa, und da ich nichts Besseres zu tun hatte, stand ich jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf, schlich in sein Zimmer und versetzte die Fähnchen. Später kam Lee, sah sich seine Karte an, sprach besorgt von »Spionage«, brüllte dann herum und verbrachte den Vormittag damit, die Fähnchen wieder richtig zu positionieren.

Wie lange blieben Sie bei Vanity Fair?

Vier Jahre. Ich hatte von P.G. Wodehouse die Theaterkritik übernommen. Dann machte ich drei Stücke fertig, eins davon war Caesar’s Wife mit Billie Burke, und wurde prompt gefeuert.

Sie machten drei Stücke fertig?

Ich habe sie verrissen. Die Stücke wurden abgesetzt, und die Produzenten, die große Nummern waren – Dillingham, Ziegfeld und Belasco –, fanden das natürlich nicht sehr nett. Vanity Fair war ein Magazin ohne Meinung, aber ich hatte Meinungen. Also wurde ich gefeuert. Und Mr Sherwood und Mr Benchley kündigten. Mr Sherwood machte das nichts aus, aber Mr Benchley hatte eine Frau und zwei Kinder. Für mich war das ein gewaltiger Freundschaftsbeweis. Mr Benchley malte ein Plakat – »Almosen für Miss Billie Burke«, und das ließen wir bei unserem Abgang in der Eingangshalle von Vanity Fair. Unser Benehmen war wirklich schlecht. Wir machten uns Entlassungsabzeichen wie beim Militär und steckten sie an.

Wo sind Sie drei dann hingegangen?

Mr Sherwood wurde Filmkritiker beim alten Life, und Mr Benchley machte dort die Theaterkritik. Er und ich hatten ein winziges Büro; wäre es nur einen Zentimeter kleiner gewesen, es wäre Ehebruch gewesen. Unsere Telegrammadresse war »Parkbench«, aber wir bekamen kein einziges Telegramm. Es ist schon so lange her, von Ihrer Existenz ahnte da noch niemand etwas. Vielleicht gab es auch noch keine Telegrafie …

In den zwanziger Jahren hätten sich die Schriftsteller viel häufiger getroffen, heißt es oft. Die Diskussionen am Round Table im Algonquin zum Beispiel.

Ich war nicht oft dabei, es war zu teuer für mich. Aber die anderen gingen hin. Kaufman zum Beispiel. Ich glaube, der war schon irgendwie lustig. Mr Benchley und Mr Sherwood gingen auch mal hin, wenn sie ein paar Kröten übrig hatten. Franklin P. Adams, dessen Kolumne von all denen gelesen wurde, die selbst Schriftsteller werden wollten, kreuzte da gelegentlich auf. Und Harold Ross, der Herausgeber vom New Yorker. Der war von Berufs wegen irre, aber ob er bedeutend war … Seine Unkenntnis zumindest war profund. Bei einem Manuskript von Mr Benchley schrieb er neben dem Namen »Andromache« an den Rand: »Wer is’n der?« Und Mr Benchley schrieb zurück: »Finger weg.« Am Round Table gab es nur einen einzigen Mann von Format: Heywood Broun.

Was war an den zwanziger Jahren besonders für Leute wie Sie und Broun? Was hat Sie inspiriert?

Gertrude Stein hat uns sehr geschadet mit ihrem »Ihr seid eine verlorene Generation«. Bei einigen Leuten hat das gezündet, und dann sagten wir alle: »Hurra, wir sind verloren!« Vielleicht fühlten wir uns deshalb mit einem Schlag anders, bar jeder Verantwortung. Aber vergessen Sie nicht, wenn Sie die Leute von damals für Nieten halten – sie waren keine. Fitzgerald und all die anderen, so leichtsinnig sie waren, Trinker noch dazu, die haben die ganze Zeit verdammt hart gearbeitet.

Hat dieses Gefühl, einer »verlorenen Generation« anzugehören, Ihrer eigenen Arbeit geschadet?

Dumm von mir, das der Zeit anzukreiden, aber so war’s nun mal. Herrgott, es waren die Zwanziger, und wir mussten einfach smart sein. Außerdem wollte ich clever sein, das ist ja gerade das Schreckliche! Das war nicht sehr klug von mir.

In der Zeit schrieben Sie Gedichte, oder?

Verse. Gedichte kann man das nicht nennen. Damals wandelte jeder in den zarten Spuren von Edna St. Vincent Millay. Ich auch. Nur leider trug ich fürchterliche Latschen. An meinen Versen ist nichts dran. Machen wir uns nichts vor, Herzchen, meine Verse sind schrecklich epigonal, wie alles, was einmal Mode war, heute grässlich ist. Ich habe es dann sein lassen, in dem Wissen, dass es niemals besser werden würde. Aber offenbar hat niemand meine großherzige Geste zur Kenntnis genommen.

Hat Ihre Prosa vom Gedichteschreiben profitiert?

Franklin P. Adams gab mir einmal ein Buch über französische Versformen mitsamt der Empfehlung, ich sollte ihren Aufbau imitieren, um meiner Prosa mehr Präzision zu verleihen. Solche Imitationen beeinflussen die Prosa, und wenn meine Prosa irgendeine Qualität hat, dann Präzision.

Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen?

Ich war eines dieser unausstehlichen Kinder, die Verse schrieben, so fing es an. Ich war Schülerin in einer New Yorker Klosterschule. Klosterschulen machen dasselbe wie normale Schulen, nur merken sie’s nicht. Lesen lernt man dort natürlich nicht, das muss man sich selber beibringen. In meinem Kloster hatten wir selbstverständlich ein Lehrbuch – anderthalb Seiten waren Adelaide Anne Procter gewidmet. Aber Dickens lesen? – Ausgeschlossen! Er war zu vulgär. Ich habe ihn trotzdem gelesen, Thackeray auch, und ich bin die einzige Frau, die Ihnen je über den Weg laufen wird, die jedes gedruckte Wort von Charles Reade gelesen hat. Sie wissen schon, der Autor von Kloster und Herd. Eine Ausbildung fürs Leben? Da habe ich auf der Klosterschule nur gelernt, dass ein Radiergummi auch Tinte wegmacht, wenn man vorher darauf spuckt. Und ich erinnere mich noch an den Geruch von Wachstuch, den Geruch der Nonnenkleider. Schließlich hat man mich wegen verschiedener Sachen rausgeworfen, unter anderem auch deshalb, weil ich die unbefleckte Empfängnis als Selbstentzündung definierte.

Haben Ihnen diese Jahre Material für Ihre Geschichten geliefert?

All diese Leute, die über ihre Kindheit schreiben! Du lieber Gott, wenn ich über meine schriebe, würden Sie nicht mit mir in einem Raum sitzen.

Was ist Ihre Antriebsfeder beim Schreiben?

Geldmangel, Liebes.

Und außerdem?

Am leichtesten lässt sich über Leute schreiben, die man hasst. Es ist ja auch leichter, ein schlechtes Stück oder ein schlechtes Buch zu rezensieren.

Wie steht’s mit Eine starke Blondine? Woher nahmen Sie die Idee?

Ich kannte einmal eine Frau, eine Freundin, die ging durch die Hölle. Sagen wir einfach, ich kannte mal eine Frau … Aufgabe des Schriftstellers ist es, zu sagen, was er fühlt und was er sieht. Für junge Damen, die die Phantasie bemühen – die Fräuleins Baldwin, Ferber und Norris –, für die bin ich nicht zu sprechen.

Sind Sie auf Ihre Geschlechtsgenossinnen nicht gut zu sprechen – das heißt, sofern es sich um Schriftstellerinnen handelt?

Als Lieferantinnen mögen sie sprudeln wie Ölquellen, aber nicht als Künstlerinnen. Norris hat gesagt, sie könne nicht schreiben, wenn sie nicht dazu aufgelegt sei. Ferber soll sogar pfeifen, wenn sie vor ihrer Schreibmaschine sitzt. Und dieser arme Kerl Flaubert hat sich drei Tage auf dem Boden herumgewälzt, weil ihm das richtige Wort fehlte. Ich bin eine Feministin, bei Gott, und meinem eigenen Geschlecht gegenüber loyal – bitte denken Sie daran, dass ich schon zu der Zeit, als noch Büffel durch diese Stadt zogen, für die Gleichberechtigung eingetreten bin –, aber damals, als wir uns, unter den Buhrufen der Männer, im Kampf für die Emanzipation an Laternenmasten gekettet haben, mein liebes Kind, da rechneten wir nicht mit diesen Autorinnen. Oder mit Clare Boothe Luce, Perle Mesta und Oveta Culp Hobby.

Sie gelten als schlagfertig und witzig. Glauben Sie, dass Ihre Reputation als seriöse Autorin darunter gelitten hat?

Es gefällt mir nicht, als Humoristin bezeichnet zu werden. Ich fühle mich dann schuldig. Mir ist noch nie eine gute toughe Humoristin untergekommen. Ich war selbst nie eine. Dazu hat’s nicht gelangt. Man hat mich eine Witzereißerin genannt. Das macht mich traurig. Zwischen Witz und Witzereißen liegen Welten! Witz enthält Wahrheit, Witzereißen ist Hopserei mit Worten. Solange es gut gemacht ist, habe ich nichts dagegen. Aber es gab mal eine Zeit, da wurde jeder Ulk ohne Pointe auf mein Konto gebucht.

Wie ist mit Satire?

Ah, Satire, das ist was ganz anderes. Das ist was für die »Big Boys«. Hätte man mich eine Satirikerin genannt, das hätte mir den Rest gegeben. Echte Satiriker sind für mich die Jungs aus vergangenen Jahrhunderten. Wer sich heute Satiriker nennt, macht ulkige Bemerkungen über aktuelle Themen und hält sich nur für einen Satiriker: Leute wie George S. Kaufman, die nicht den blassesten Schimmer haben, was Satire ist. Weiß der Himmel, ein Schriftsteller muss seine Zeit darstellen und sie kritisieren, aber nicht mit Ulk. Das ist keine Satire. Das ist so langweilig wie die Zeitung von gestern. Gute Satire hat kein Verfallsdatum.

Und was ist mit zeitgenössischen Humoristen? Denken Sie über die ähnlich wie über die Satiriker?

Man erreicht ein gewisses Alter, und dann sind nur noch die müden Schriftsteller witzig. Wenn ich heute meine Verse lese, finde ich sie nicht mehr witzig. Ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr witzig. Aber egal, es gibt keine Humoristen mehr, bis auf Perelman. Man braucht sie nicht mehr. Perelman muss sehr einsam sein.

Warum werden sie nicht mehr gebraucht?

Das ist eine Frage von Angebot und Nachfrage. Wären Humoristen notwendig – wir hätten welche. Diese ganze Armee von neuen Möchtegern-Humoristen zählt nicht. Die sind wie die Möchtegern-Satiriker. Sie schreiben nur über Aktuelles. Nicht wie Thurber und Mr Benchley. Die beiden waren verdammt belesen und – auch wenn ich das Wort verabscheue – kultiviert. Was sie von den anderen unterscheidet? Sie hatten einen eigenen Standpunkt, und den braucht jeder gute Text. Vergleichen Sie mal Paddy Chayefskys Geschreibsel mit der Sprache von Clifford Odets, dessen frühe Stücke nicht nur den scharfen Beobachter verraten, sondern auch einen Standpunkt. Der Schriftsteller muss das Leben ringsum spüren. Carson McCullers ist gut, wenigstens war sie’s mal, inzwischen hat sie sich aus dem Leben zurückgezogen und schreibt über Freaks. Ihre Figuren sind grotesk.

Da wir über Chayefsky und McCullers sprechen: Lesen Sie viel von Vertretern Ihrer Generation oder der jetzigen?

Einige Schriftsteller von heute sind, Gott sei Dank, so vernünftig, mit der Zeit Schritt zu halten. Mailers Roman Die Nackten und die Toten ist ein großartiges Buch. Und William Styrons Geborgen im Schoße der Nacht war für mich ein außerordentliches Erlebnis. Schon der Auftakt bricht gleich jeden Widerstand, und was dann kommt, das lässt einen nicht mehr los. Styron schreibt wie ein Gott. Aber sonst lese ich nur die Alten, bei ihnen finde ich Trost. Je älter man wird, desto weiter geht man zurück. Jahrmarkt der Eitelkeit lese ich jedes Jahr etwa ein Dutzend Mal. Ich war eine »Frau« von elf Jahren, als ich das Buch zum ersten Mal in die Finger bekam. Diese aufpeitschenden Worte: »George Osborne lag tot da, eine Kugel im Kopf.« Manchmal lese ich das, was ein vornehmer Freund von mir »Whodidits« nennt. Sherlock Holmes liebe ich. Mein Leben ist so unaufgeräumt, seins so ordentlich. Von den lebenden Romanciers aber halte ich E.M. Forster für den besten, auch wenn ich nicht genau weiß, was damit gesagt ist, aber er ist zumindest ein Halbfinalist, meinen Sie nicht auch? Somerset Maugham erzählte mir mal: »Wir haben hier bei uns einen Romancier, E.M. Forster, aber vermutlich kennen Sie ihn nicht.« Ich hätte ihn treten können. Er dachte wohl, ich käme aus der Prärie! Ich würde auf allen vieren kriechen, könnte ich Forster nur ein Mal sehen! Er hat etwas geschrieben, was ich niemals vergessen werde: »Ich habe nie zwischen einem Freund oder meinem Vaterland wählen müssen, aber sollte es einmal dahin kommen, werde ich hoffentlich den Mut aufbringen, mein Vaterland zu verraten.« Na, dagegen ist doch der fünfte Verfassungszusatz ein armes Waisenkind!

Darf ich Ihnen ein paar technische Fragen stellen? Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Geschichte schreiben? Machen Sie erst einen Entwurf, den Sie dann korrigieren?

Sechs Monate brauche ich für eine Geschichte. Zunächst durchdenke ich den Einfall, und dann geht’s ans Schreiben, Satz für Satz, ohne Entwurf. Auf fünf geschriebene Wörter kommen sieben, die der Korrektur zum Opfer fallen.

Wie finden Sie die Namen für Ihre Figuren?

Telefonbuch und Todesanzeigen.

Benutzen Sie ein Notizbuch?

Habe ich mal versucht, aber ich konnte das verflixte Ding nie wiederfinden! Ich sage mir immer: Morgen fange ich damit an.

Womit schreiben Sie?

Anfangs schrieb ich mit der Hand, aber das habe ich verlernt. Heute schreibe ich Schreibmaschine, Zweifingersystem. Übrigens finde ich Ihre Frage nicht gerade taktvoll. Ich verstehe von Schreibmaschinen so wenig, dass ich mir einmal eine neue kaufen musste, nur weil ich nicht wusste, wie ich das Farbband der alten wechseln sollte.

Sie schreiben gerade ein Theaterstück, oder?

Ja, zusammen mit Arnaud d’Usseau. Stücke schreibe ich viel lieber als alles andere. Es gibt nichts Spannenderes auf der Welt als eine Premiere. Herrlich, wenn man seinen eigenen Worten lauschen kann. Unser erstes Stück, The Ladies of the Corridor, war leider kein Erfolg, aber ich habe das Schreiben sehr genossen, weil die Zusammenarbeit mit Mr d’Usseau so anregend war und weil dieses Stück die einzige Leistung ist, auf die ich richtig stolz bin.

Und Romane? Haben Sie sich je an einem versucht?

Weiß der Himmel, wie gern ich einen schreiben würde. Doch dazu fehlt mir ganz einfach der Mut.

Und Kurzgeschichten? Schreiben Sie noch welche?

Ich sitze gerade an einer, sie ist rein narrativ. Ich glaube, solche Stories sind besser, obwohl ich früher immer die Leute habe reden lassen. Ich habe kein bildliches Vorstellungsvermögen. Ich kann viel besser akustisch auffassen. Aber ich werde mich nicht mehr mit »Er sagte« und »Sie sagte« einlassen, das ist vorbei, Herzchen, ein für alle Mal vorbei. Ich möchte eine Story schreiben, deren Wirkung mit rein narrativen Mitteln erzielt wird. Es wird ein Geschrei wegen der Mietzahlung geben, aber ich werde das machen.

Glauben Sie, dass wirtschaftliche Sicherheit für Schriftsteller von Nutzen ist?

Ja. Niemand profitiert davon, dass er in einer Klause unterm Dach haust, es sei denn, man ist eine Art Keats. Die Leute, die in den zwanziger Jahren gute Sachen schrieben, denen ging es auch gut, sie hatten ein angenehmes, leichtes Leben. Sie schrieben gute Geschichten und Romane – obwohl sie zwei Millionen Dollar Jahreseinkommen hatten statt einer Dachkammer. Was mich angeht, ich hätte gern Geld, und ich wäre gern eine gute Schriftstellerin. Diese beiden Dinge widersprechen sich nicht, ich hoffe, eines Tages den Beweis antreten zu können. Sollte ich aber vor die Alternative gestellt werden, hätte ich lieber nur das Geld. Ich verabscheue fast alle reichen Leute, aber ich glaube, ich habe ein großes Talent zum Reichsein. Im Moment halte ich es allerdings noch mit Maurice Barings Satz: »Willst du wissen, was der Herrgott vom Geld hält, schau dir die Leute an, denen er’s gibt.« Dabei weiß ich genau, wie wenig der hilft, wenn die Wölfe an der Tür kratzen, aber es ist ein Trost.

Was halten Sie von einer staatlichen Unterstützung für Künstler?

Wenn ich gerade keinen Penny habe, halte ich natürlich sehr viel davon. Wenn irgendwer in besonderem Ausmaß zum Prestige des Landes beiträgt, dann die Künstler. Ein Land, das Künstler und Schriftsteller haben will – die bei uns ja in unsicheren Verhältnissen leben –, ein solches Land hat die Pflicht, diesen Leuten zu helfen. Allerdings glaube ich nicht, dass einem Künstler mit Almosen gedient ist. Mal hier ein bisschen, mal da ein klein wenig – das bringt nichts. Der Unterschied zwischen dem Staat als Geldgeber und dem individuellen Mäzen besteht darin, dass es im einen Fall um Wohltätigkeit geht, im anderen nicht. Wohltätigkeit ist Mord, das dürfte sich eigentlich herumgesprochen haben. Ich bin der Meinung: Tut der Staat etwas für seine Künstler, so sollte er ihnen das Gefühl des Dankbarsein-Müssens ersparen, dieses gemeinste und schmierigste aller Gefühle. Sie haben es nicht nötig, die Künstler, dass sie auf die Knie fallen und dem Staat die Füße küssen. Herrgott, für den Staat arbeiten und seinem Arbeitgeber auch noch dankbar sein? Der Staat sollte sein Augenmerk auf das richten, was seine Künstler zu verwirklichen trachten – wie in Frankreich mit der Académie Française. Die Künstler sind Teil ihres Landes, und das Land sollte das anerkennen, damit beide, Künstler und Nation, auf die Ergebnisse einer gemeinsamen Anstrengung stolz sein können. Das ist mein voller Ernst, Liebes.

Wie denken Sie über Hollywood als Mäzen?

Hollywoods Geld ist kein Geld. Es ist gefrorener Schnee, der einem auf der Hand zergeht, und das war’s dann. Über Hollywood mag ich nicht sprechen. Für mich war der Aufenthalt dort einfach fürchterlich; ich kann nur mit Schrecken daran zurückdenken. Ich weiß nicht, wie ich das ausgehalten habe. Als ich endlich weg war, konnte ich es nicht mal mehr beim Namen nennen. »Da draußen«, das war mein Synonym. Wissen Sie, was ich mit »da draußen« meine? Einmal lief ich in Beverly Hills die Straße runter und sah einen Cadillac, so lang wie ein Häuserblock, und aus dem Seitenfenster hing ein wundervoller Nerz, der Ärmel eines Nerzmantels, und darin steckte ein Arm, und an dem Arm war eine Hand in einem weißen Wildlederhandschuh, und die Hand hielt einen Bagel – einen angenagten Bagel!

Glauben Sie, dass Hollywood Künstler kaputtmacht?

Nein, nein, nein. Niemand auf der Welt schreibt schlechter, als ihm gegeben ist. Auch wenn sie in Hollywood Schund produzieren – beim Schreiben bleiben sie nicht hinter ihren Fähigkeiten zurück. Sie können’s einfach nicht besser. Wenn man schreibt, soll man nie so tun, als unterschreite man sein eigentliches Niveau. Man gibt immer sein Bestes; und wenn man dahinterkommt, dass es nicht besser geht, macht einen diese Erkenntnis fertig. Ich will unbedingt gut schreiben, und doch weiß ich, dass ich’s nicht kann, nie gekonnt habe. Aber bis zum letzten Atemzug werde ich diejenigen verehren, die es konnten.

Was ist denn dann das Übel von Hollywood?

Die Leute. Zum Beispiel der Regisseur, der Scott Fitzgerald mit dem Finger vor der Nase herumfuchtelte und jammerte: »Dich bezahlen? Eigentlich müsstest du uns bezahlen!« Das mit Scott war schrecklich. Wenn Sie ihn gesehen hätten, wäre Ihnen schlecht geworden. Als er tot war, ging niemand zu seiner Beerdigung, keine Menschenseele, und kein Mensch hielt es für angebracht, ein paar Blumen zu schicken. Ich sagte: »Armer Hundesohn«, ein Zitat aus dem Großen Gatsby, aber alle dachten, das sei mal wieder einer meiner Witze. Dabei war es todernst gemeint. Ein Elend, das mit Scott. Aber es waren nicht nur die Leute, sondern auch die Erniedrigungen, denen das eigene Können ausgesetzt war. Da wurde beispielsweise ein Film gedreht, in dem Mr Benchley eine Rolle übernommen hatte. In diesem Film gab es eine Szene mit Monty Woolley. Der musste durch eine Tür, an deren Oberkante ein Eimer Wasser aufgehängt war. Als Woolley das Zimmer betrat, wurde er natürlich klatschnass, aber er verlor seine Haltung nicht, ging auf Mr Benchley zu und raunte: »Benchley? Der Harvard-Benchley?« – »Jawohl«, murmelte Mr Benchley, um dann seinerseits zu fragen: »Woolley? Der Yale-Woolley?«

Was ist mit Ihren politischen Ansichten? Hatten Ihre Überzeugungen berufliche Konsequenzen für Sie?

Ja, sicher! Auch wenn ich nicht glaube, dass diese Sache mit der »Schwarzen Liste« in den Theatern eine Rolle spielt oder in den Redaktionen der Zeitschriften, für die ich arbeite. Aber in Hollywood. Gewisse Herren lassen dort einen Namen fallen, wie eine Murmel, und der Name benimmt sich wie ein Gummiball, er springt wieder hoch. Das ist dann einer dieser Namen von Leuten, die man in der Gesellschaft jener gesehen hat, die überaus charmant »commies« genannt werden. Man kann doch nicht dreißig Jahre zurückgehen – zu Sacco und Vanzetti! Ich mache da nicht mit. Nun ja, so ist das. Und was bedeutet das für den Film? Wohl kaum etwas Gutes. Sam Goldwyn hat gesagt: »Wie soll ich anständige Filme drehen, wenn meine guten Autoren allesamt im Kittchen sitzen?« Und dann setzte er – der unfehlbare Goldwyn – hinzu: »Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Natürlich gehören die alle aufgehangen.« »Aufgehängt« war Goldwyn nicht geläufig. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Nicht Tragödien bringen den Tod, sondern Sauereien. Ich kann Sauereien nicht ausstehen. Und das ist nicht lustig gemeint. Sie wissen ja jetzt, da Sie mich kennen, dass ich keine Witzereißerin bin, nicht wahr, Herzchen?

 

Aus dem Englischen von Cornelia Künne

 

Dorothy Parker, The Art of Fiction No. 13, The Paris Review, 13/Sommer 1956.

Die deutschen Interview-Titel stammen vom Verlag.

Tania BlixenIch bin dreitausend Jahre alt und habe mit Sokrates zu Abend gegessen.

Mit Eugene Walter (1956)

Als vor einigen Jahren in einer geplanten Verfilmung von Jenseits von Afrika Greta Garbo die Rolle von Isak Dinesen spielen sollte, war dies in gewisser Weise die ideale Besetzung, ist doch die Schriftstellerin, genau wie die Schauspielerin, ein geheimnisvolles nordisches Wesen. Isak Dinesen ist in Wahrheit die dänische Baronin Karen Blixen-Finecke, Tochter von Wilhelm Dinesen, Autor der vielgelesenen Jagtbreve, die Ende des 19. Jahrhunderts erschienen. Baronin Blixen hat unter verschiedenen Namen in zahlreichen Ländern veröffentlicht: im englischsprachigen Raum meist als Isak Dinesen, im deutschsprachigen meist als Tania oder Karen Blixen. Gute Freunde nennen sie Tanne, Tanya oder Tania. Und dann ist da noch jener entzückende Roman, Rache der Engel, zu dem sie sich über viele Jahre nicht bekennen wollte, auch wenn jedem halbwegs aufmerksamen Leser klar war, dass sich hinter dem Pseudonym Pierre Andrézel die Baronin verbarg. In literarischen Zirkeln kursierten die wildesten Gerüchte über sie: Sie sei in Wahrheit ein Mann, er sei in Wahrheit eine Frau, »Isak Dinesen« sei in Wahrheit ein Autorenduo von Bruder und Schwester, er lebe in Elsinore, sie lebe vorwiegend in London, sie sei eine Nonne, er sei sehr gastfreundlich und lade junge Schriftsteller zu sich ein, sie lebe zurückgezogen und lasse sich nur selten blicken, sie schreibe auf Französisch, nein, auf Englisch, nein, auf Dänisch, sie sei in Wahrheit … und immer so weiter.

1934 erschien im Verlag Haas & Smith (später von Random House gekauft) ein Buch mit dem Titel Gothic Tales [dt. Sieben phantastische Geschichten]. Mr Haas nahm es gleich nach der ersten Lektüre an; es wurde ein Bestseller, war beliebt bei Schriftstellern und Malern und hatte wie vorausgesehen eine lange Karriere.

Außerhalb des Kanons der modernen Literatur, wie eine Goldamsel vor einem Käfig von sich mausernden Hänflingen, bietet die Baronin ihren Leserinnen und Lesern den unendlichen Genuss einer erzählten Geschichte: »Und was ist dann passiert? … Also, dann …« Ihr Instinkt als Erzählerin von Geschichten oder Balladen, verbunden mit ihrem unverkennbaren Stil ausschmückender Klarheit, veranlasste Hemingway bei der Annahme des Nobelpreises zu den Worten, eigentlich hätte der Preis an Isak Dinesen gehen müssen.

SZENEEINS

Rom, Frühsommer 1956. Das erste Gespräch findet in einem Straßenlokal auf der Piazza Navona statt – jenes weite Oval, das einst geflutet werden konnte und als Kulisse für Seeschlachten diente. Der Himmel leuchtet in der Abenddämmerung irisgelb; der von Bernini-Figuren umgebene Obelisk wirkt vor diesem Hintergrund blass und schwerelos. Am Cafétisch sitzen Baronin Blixen, ihre Sekretärin und Reisebegleiterin Clara Svendsen und der Interviewer. Die Baronin sieht aus wie eine Figur aus einer ihrer Geschichten. Schlank und von schlichter Eleganz, ganz in Schwarz gekleidet, mit langen schwarzen Handschuhen und einem schwarzen Pariser Hut, dessen Krempe ihre bemerkenswerten Augen beschattet, die zwischen hell und dunkel changieren. Ihr Gesicht ist schmal und vornehm; Mund und Augen umspielen ständig wechselnde Andeutungen eines Lächelns. Ihre Stimme ist angenehm weich, besitzt aber ausreichend Nachdruck und Timbre, um sofort erkennen zu lassen, dass es sich um eine Dame mit überaus gewichtigen und zugleich herrlich frivolen Ansichten handelt. Miss Svendsen ist eine jugendlich frische Person mit reizendem Lächeln.

 

Blixen: Ein Interview? O weh … Also gut, ich hab’s befürchtet. Hoffentlich keine lange Liste mit Fragen oder ein Verhör … Ich wurde erst kürzlich interviewt. Schrecklich!

 

Svendsen: Ja, von einem Mann, der einen Dokumentarfilm drehte. Es war wie eine Katechismusstunde.

 

Blixen: Können wir nicht einfach weiterplaudern, und Sie schreiben auf, was Ihnen gefällt?

 

Walter: Und dann können Sie das eine oder andere streichen oder neue Dinge hinzufügen.

 

Blixen: Ja. Ich sollte mich nicht überanstrengen. Ich war ein Jahr lang krank und habe in einem Sanatorium gewohnt. Ich dachte wirklich, ich sterbe. Ich bin fest davon ausgegangen, das heißt, ich habe Vorkehrungen getroffen.

 

Svendsen: Der Arzt in Kopenhagen sagte mir: »Tania Blixen ist sehr clever, aber die cleverste Sache, die sie je gemacht hat, ist, diese beiden Operationen überlebt zu haben.«

 

Blixen: Ich hatte sogar vor, eine letzte Ansprache im Radio zu halten. Ich habe in Dänemark über alle möglichen Dinge im Radio gesprochen. Man scheint mir dort gerne zuzuhören. Ich wollte darüber sprechen, wie einfach es ist zu sterben. Keine morbide Botschaft, ganz bestimmt nicht, sondern eine wirklich frohe Botschaft. Nämlich, dass zu sterben eine große und schöne Erfahrung ist. Aber wissen Sie, ich war zu krank, um das zu tun. Jetzt, nachdem ich so lange krank und im Sanatorium gewesen bin, habe ich das Gefühl, dass ich nicht wirklich zu diesem Leben dazugehöre. Ich schwebe über allem wie eine Möwe. Ich habe das Gefühl, die Welt ist glücklich und großartig und geht immer weiter, aber ich gehöre nicht dazu. Ich bin nach Rom gekommen, um zu versuchen, wieder ein Teil der Welt zu werden. Oh, sehen Sie sich nur den Himmel an!

 

Walter: Kennen Sie Rom gut? Wann waren Sie zuletzt hier?

 

Blixen: Vor ein paar Jahren, zu einer Audienz beim Papst. Das erste Mal war ich 1912 als junges Mädchen hier, zu Besuch bei meiner Cousine und besten Freundin, die mit dem dänischen Botschafter in Rom verheiratet war. Wir fuhren jeden Tag durch den Park der Villa Borghese. Damals waren dort all die Schönheiten des Tages mit ihren Kutschen unterwegs, und man hielt zwischendurch an und plauderte. Es war entzückend. Und jetzt sehen Sie sich nur die vielen Autos und Motorräder und den ganzen Lärm und die Hektik an. Aber das ist es, was die Jugend von heute will: Geschwindigkeit ist für sie das Größte. Wenn ich an das Ausreiten mit meinem Pferd denke – ich hatte als Mädchen immer ein Pferd –, habe ich das Gefühl, dass den jungen Leuten heute etwas sehr Wertvolles entgeht. Zu meiner Zeit wuchsen Kinder anders auf. Es gab nur wenig Spielzeug, selbst in den Häusern der Reichen. Modernes mechanisches Spielzeug, das sich von selbst bewegt, war gerade erst aufgekommen. Wir hatten einfaches Spielzeug, das wir selbst zum Leben erwecken mussten. Ich glaube, meine Liebe zu Marionetten rührt daher. Ich habe sogar versucht, Stücke für Marionettentheater zu schreiben. Man konnte natürlich ein Steckenpferd kaufen, aber wir brachen uns lieber im Wald einen Holzstecken ab, den wir in unserer Phantasie in Bukephalos oder Pegasus verwandelten. Anders als heutige Kinder, die von Geburt an damit zufrieden sind, Zuschauer zu sein. Wir waren kreativ. Die jungen Leute heute sind nicht mit den Elementen vertraut oder in direktem Kontakt mit ihnen. Alles ist mechanisch und urban: Kinder wachsen auf, ohne echtes Feuer zu kennen, Quellwasser, Erde. Die jungen Leute wollen mit der Vergangenheit brechen, sie hassen die Vergangenheit, sie wollen nichts davon hören, und zum Teil kann man sie verstehen. Die jüngere Vergangenheit ist für sie eine lange Geschichte von Kriegen, ohne jedes Interesse. Vielleicht ist es das Ende von etwas, von einer bestimmten Art der Zivilisation.

 

Walter: Aber aus Ablehnung entsteht oft neues Interesse, und man besinnt sich auf die Tradition. Mir macht die Gleichgültigkeit viel mehr Sorgen.

 

Blixen: Möglicherweise. Ich würde mich den Vorlieben der jungen Leute sogar anschließen. Zum Beispiel liebe ich Jazz. Ich glaube, er ist das einzige Neue in der Musik zu meinen Lebzeiten. Ich stelle Jazz nicht über klassische Musik, aber ich schätze ihn sehr.

 

Walter: Viele Ihrer Werke scheinen dem letzten Jahrhundert anzugehören. Die Rache der Engel, beispielsweise.

 

Blixen (lacht): Oh, das ist mein uneheliches Kind! Während der deutschen Besatzung Dänemarks dachte ich, ich werde verrückt vor Langeweile und Stumpfsinn. Ich wollte mich ablenken, mir irgendwie die Zeit vertreiben, und außerdem hatte ich wenig Geld, also ging ich zu meinem Verleger in Kopenhagen und sagte: »Wie wär’s, wollen Sie mir nicht einen Vorschuss für einen Roman zahlen und mir eine Stenographin schicken, der ich den Text diktieren kann?« Sie waren einverstanden, die Stenographin kam, und ich diktierte. Zu Beginn hatte ich nicht die geringste Vorstellung, worum es in der Geschichte gehen würde. Ich improvisierte und fügte jeden Tag ein kleines Stück hinzu. Für die arme Stenographin war es eine sehr verwirrende Erfahrung.

 

Svendsen: Ja, sie schrieb gewöhnlich Geschäftsbriefe, und wenn sie die Geschichte nach ihren Stenonotizen abtippte, standen da manchmal Zahlen, etwa »die 2 verängstigten Mädchen« oder »seine 1 Liebe«.

 

Blixen: Eines Tages fing ich mit dem Satz an: »Dann trat Mr Soundso in den Raum«, und die Stenographin rief: »Aber das geht nicht! Er ist gestern in Kapitel siebzehn gestorben.« Nein, Die Rache der Engel soll mein Geheimnis bleiben.

 

Walter: Ich mochte den Roman, und er bekam auch ausgezeichnete Kritiken. Haben viele Leute geahnt, dass Sie die Autorin waren?

 

Blixen: Einige wenige.

 

Walter: Und was ist mit den Wintergeschichten? Sie sind mitten im Krieg erschienen. Wie haben Sie das Buch nach Amerika schaffen können?

 

Blixen: Ich ging nach Stockholm – was schon an sich keine einfache Sache war, und noch schwieriger war es, das Manuskript mitzunehmen. Ich ging zur amerikanischen Botschaft und fragte, ob nicht jeden Tag Flüge nach Amerika gingen und sie das Manuskript nicht mitnehmen könnten, aber es hieß, sie würden nur rein politische oder diplomatische Papiere mitnehmen, also ging ich zur britischen Botschaft, und sie fragten, ob ich Referenzen aus England vorlegen könnte, und das konnte ich (ich hatte viele Freunde im Kabinett, darunter Anthony Eden), und nachdem sie das telegraphisch überprüft hatten, waren sie einverstanden, und so gelangte das Manuskript auf den Weg nach Amerika.

 

Walter: Ich schäme mich für die amerikanische Botschaft. Sie hätten es ganz bestimmt mitnehmen können.

 

Blixen: Seien Sie nicht so streng mit ihnen. Ich verdanke dem amerikanischen Publikum viel. Wie auch immer, ich legte dem Manuskript einen Brief an meine amerikanischen Verleger bei, in dem ich mitteilte, dass alles in ihren Händen lag und ich keine Möglichkeit hatte, mit ihnen zu kommunizieren. Ich wusste nicht, was aus den Wintergeschichten geworden war, bis ich nach Kriegsende plötzlich Dutzende begeisterte Briefe von amerikanischen Soldaten und Seeleuten aus der ganzen Welt bekam. Das Buch war in den Armed Services Editions erschienen – kleinformatige Bücher, die in die Tasche jedes Soldaten passten. Ich war sehr gerührt. Sie schickten mir zwei Belegexemplare. Eines gab ich dem König von Dänemark. Er freute sich, dass zumindest eine Stimme aus seinem stillen Land während dieser dunklen Zeit gesprochen hatte.

 

Walter: Und Sie sind dem amerikanischen Publikum besonders dankbar?

 

Blixen: Ja, ich werde nie vergessen, dass sie mich sofort aufgenommen haben. Als ich 1931 aus Afrika zurückkam, nachdem ich seit 1914 dort gelebt hatte, hatte ich das ganze Vermögen, das ich bei meiner Hochzeit bekommen hatte, verloren, da die Kaffeeplantage sich nicht rentierte. Ich bat meinen Bruder, mich für zwei Jahre zu unterstützen, während ich Sieben phantastische Geschichten schrieb, danach, sagte ich, würde ich für mich selbst aufkommen können. Nachdem ich das Manuskript beendet hatte, ging ich nach England, wo ich eines Tages beim Lunch dem Verleger Huntington begegnete und ihm sagte: »Entschuldigen Sie, ich habe ein Manuskript, das ich Ihnen gerne anbieten möchte.« Er fragte: »Worum handelt es sich?«, und als ich antwortete: »Eine Sammlung von Kurzgeschichten«, warf er die Hände in die Luft und rief: »Nein!«, und ich bettelte: »Wollen Sie es sich nicht wenigstens ansehen?« Und er sagte: »Ein Buch mit Kurzgeschichten einer unbekannten Autorin? Aussichtslos!« Daraufhin schickte ich es nach Amerika, wo Robert Haas es sofort annahm und veröffentlichte, und das amerikanische Publikum mochte das Buch und hat mir seither die Treue gehalten. Nein, vielen Dank, keinen Kaffee mehr. Ich rauche eine Zigarette.

 

Walter: Verleger sind Dummköpfe, überall auf der Welt. Die ewige Klage der Autoren.

 

Blixen: Das Lustige daran ist, dass Huntington nach der amerikanischen Veröffentlichung einen Brief an Robert Haas schrieb. Er lobte das Buch und bat um die Adresse des Autors, denn er wollte es in England herausbringen. Er hatte mich als Baronin Blixen kennengelernt, während Mr Haas und ich uns nie persönlich begegnet waren. Huntington brachte mich nicht mit Isak Dinesen in Verbindung. Später hat er das Buch in England veröffentlicht.

 

Walter: Eine herrliche Geschichte; sie könnte aus einem Ihrer Bücher stammen.

 

Blixen: Wie angenehm, hier im Freien zu sitzen, aber ich denke, wir müssen los. Sollen wir unser Gespräch am Sonntag fortsetzen? Ich würde mir gerne die etruskische Ausstellung in der Villa Giulia anschauen. Dort können wir uns weiter unterhalten. Oh, sehen Sie nur den Mond!

 

Walter: Großartig. Ich rufe ein Taxi.

SZENEZWEI

Ein warmer, regnerischer Sonntagmittag. Die etruskische Sammlung in der Villa Giulia ist wegen des schlechten Wetters nicht überlaufen. Die Baronin Blixen trägt an diesem Tag ein rotbraunes Wollkostüm und einen spitz zulaufenden ockerfarbenen Strohhut, der wieder ihre außergewöhnlichen Augen beschattet. Während sie sich die neu arrangierten etruskischen Figuren, Keramiken und Schmuckstücke ansieht, scheint sie von den übrigen Besuchern genauso weit entfernt wie die Ausstellungsstücke. Sie geht langsam, sehr aufrecht und bleibt immer wieder stehen, um Details, die ihr besonders gefallen, genau zu betrachten.

 

Blixen: Wie haben die nur dieses Blau hinbekommen, was meinen Sie? Pulverisierter Lapislazuli? Sehen Sie hier, dieses Schwein! Im Norden hat das Schwein eine große mythologische Bedeutung. Es ist eine Art Gehilfe der Sonne. Ich vermute, weil sein gutes Fett uns in der dunkelsten und kältesten Jahreszeit warm hält. Ein sehr intelligentes Tier … Ich liebe alle Tiere. Ich habe in Dänemark einen großen Hund, einen Schäferhund; er ist riesig. Ich gehe mit ihm spazieren. Wenn ich ihn überlebe, werde ich mir einen sehr kleinen Hund zulegen, einen Mops. Obwohl ich nicht weiß, ob man diese Tiere heute noch bekommen kann. Sie waren mal sehr in Mode. Sehen Sie sich die Löwen auf diesem Sarkophag an. Woher kannten die Etrusker Löwen? In Afrika waren Löwen meine Lieblingstiere.

 

Walter: Sie müssen Afrika von seiner besten Seite gekannt haben. Warum sind Sie wieder gegangen?

 

Blixen: Als junges Mädchen habe ich nicht im Entferntesten daran gedacht, einmal nach Afrika zu gehen, noch habe ich davon geträumt, eine afrikanische Farm könne der Ort sein, an dem ich vollkommen glücklich wäre. Das beweist, dass Gott eine größere und feinere Einbildungskraft besitzt als wir. Aber während meiner Verlobungszeit mit meinem Cousin Bror Blixen war ein Onkel von uns auf Großwildjagd in Afrika und lobte das Land nach seiner Rückkehr in den höchsten Tönen. Auch Theodore Roosevelt ging damals dort jagen; Ostafrika war in den Nachrichten. Also beschlossen Bror und ich, unser Glück dort zu versuchen, und unsere Verwandten auf beiden Seiten gaben uns Geld für den Kauf der Farm, die im kenianischen Hochland gelegen war, nicht weit von Nairobi entfernt. Vom Tag unserer Ankunft an liebte ich das Land und fühlte mich dort zu Hause, selbst unter lauter unbekannten Blumen, Bäumen und Tieren und den ständig wechselnden Wolken am Himmel über den Ngong-Bergen, anders als alle Wolken, die ich bis dahin gesehen hatte. Ostafrika war damals wahrhaftig ein Paradies, etwas, das die amerikanischen Indianer »glückliche Jagdgründe« nannten. Ich war in meiner Jugend eine begeisterte Jägerin, aber mein größtes Interesse während meiner vielen Jahre in Afrika galt den afrikanischen Ureinwohnern aller Stämme, besonders den Somali und den Massai. Es waren schöne, edle, furchtlose und weise Menschen. Das Leben auf einer Kaffeeplantage war nicht leicht. Mehr als 4000 Hektar Farmland, dazu die Heuschrecken und Dürren … Wir erkannten zu spät, dass das Tafelland viel zu hoch lag für den erfolgreichen Anbau von Kaffee. Ich glaube, das Leben dort draußen war ähnlich wie im England des 18. Jahrhunderts: Oft fehlte es an Geld, aber es war ein auf vielerlei Weise reiches Leben, mit der bezaubernden Landschaft, Dutzenden Pferden und Hunden und einer großen Dienerschaft.

 

Walter: Ich nehme an, Sie haben dort ernsthaft angefangen zu schreiben?

 

Blixen: Nein, ich habe mit dem Schreiben angefangen, bevor ich nach Afrika ging, aber ich wollte nie Schriftstellerin werden. Mit zwanzig habe ich einige Kurzgeschichten in dänischen Literaturzeitschriften veröffentlicht, und die Kritiken ermutigten mich, aber ich habe nicht weitergemacht. Ich weiß nicht, ich glaube, ich hatte intuitiv Angst, in eine Sackgasse zu geraten. In jungen Jahren habe ich außerdem eine Zeit lang Malerei an der Dänischen Königlichen Akademie der Künste studiert. 1910 ging ich dann nach Paris, um bei Simon und Ménard zu studieren, aber (kichert) … aber ich habe nur wenig gearbeitet. Die Wirkung von Paris war zu stark; ich spürte, dass es wichtiger war, sich umzutun und Bilder zu sehen, Paris zu entdecken. In Afrika habe ich ein wenig gemalt, vor allem Porträts der Einheimischen, aber immer, wenn ich mit der Arbeit begonnen hatte, kam jemand und sagte, ein Ochse sei gestorben oder was auch immer, und ich musste hinaus auf die Felder. Später, als ich tief im Innern wusste, dass ich die Farm verkaufen und zurück nach Dänemark gehen sollte, habe ich zu schreiben begonnen. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, habe ich angefangen, Geschichten zu schreiben. Zwei der Phantastischen Geschichten sind dort entstanden. Aber davor lernte ich, wie man Geschichten erzählt. Denn, sehen Sie, ich hatte das beste Publikum. Weiße Menschen können einer erzählten Geschichte nicht mehr zuhören. Sie fangen an herumzuzappeln oder werden müde. Aber die Einheimischen sind ausgezeichnete Zuhörer. Ich habe ihnen ständig Geschichten erzählt, jedweder Art. Und allen möglichen Unsinn. Ich fing zum Beispiel an mit: »Es war einmal ein Mann, der hatte einen Elefanten mit zwei Köpfen …« Sofort wollten sie mehr darüber erfahren. »Oh? Ja, aber, Memsahib, wie hat er ihn gefunden, und womit hat er ihn gefüttert?«, und vieles mehr. Sie liebten solche Erfindungen. Ich begeisterte die Menschen mit Reimen; sie kennen keinen Reim, wissen Sie, haben ihn nie entdeckt. Ich sagte Sachen wie: »Wakamba na kula mamba« (»Der Stamm der Wakamba isst Schlangen«), was sie in Prosa sehr erzürnt hätte, während sie sich über den Reim mächtig amüsierten. Nachher sagten sie: »Bitte, Memsahib, rede wie der Regen«, und da wusste ich, dass es ihnen gefallen hatte, denn Regen war dort draußen etwas sehr Wertvolles. Ah, da kommt Miss Svendsen. Sie ist Katholikin und war heute in der Messe, um einen bestimmten Kardinal predigen zu hören. Jetzt kaufen wir ein paar Postkarten. Ich hoffe, sie haben welche mit den Löwen.

 

Svendsen: Guten Morgen.

 

Blixen: Clara, du musst dir diese bezaubernden Löwen ansehen. Danach kaufen wir ein paar Postkarten und gehen essen.

 

Postkarten werden erstanden, ein Taxi wird gerufen, Schirme werden geöffnet, alle eilen zum Taxi, und wir fahren durch den verregneten Borghese-Park davon.

SZENEDREI

Die Casina Valadier ist ein elegantes Restaurant im Park, unweit der Piazza del Popolo, mit einer großartigen Aussicht über Rom. Nach einem kurzen Blick von der nassen Terrasse über die regengraue Stadt betreten wir einen Raum mit viel Brokat, dezentem Licht, leuchtenden Teppichen und zahlreichen Bildern.

 

Blixen: Ich sitze hier, damit ich alles überblicken kann. (Zündet sich eine Zigarette an.)

 

Walter: Hier ist es angenehm, nicht wahr?

 

Blixen: Ja, sehr angenehm, und ich erkenne es wieder. Ich war 1912 hier. Hin und wieder erinnere ich mich in Rom lebhaft an Orte, die ich damals besucht habe. (Pause.) Oh, ich werde verrückt!

 

Walter: Was ist?

 

Blixen: Sehen Sie nur, wie schief das Bild dort drüben hängt! (Zeigt auf ein nachgedunkeltes Porträt auf der anderen Seite des Raums.)

 

Walter: Ich werde es gerade hängen. (Geht hinüber.)

 

Blixen: Nein, etwas mehr nach rechts.

 

Walter: So?

 

Blixen: Ja, besser. (Zwei ernste Gentlemen am Tisch unter dem Porträt blicken verwirrt.)

 

Svendsen: Ganz wie zu Hause. Der viele Verkehr, und ständig muss ich die Bilder gerade rücken.

 

Blixen: Ich lebe an der Nordsee, auf halbem Weg zwischen Kopenhagen und Helsingør.

 

Walter: Vielleicht auf halbem Weg zwischen Schiras und Atlantis?

 

Blixen: Auf halbem Weg zwischen der Insel aus Der Sturm und wo immer ich gerade bin. (Der Kellner nimmt die Bestellung auf; das Essen wird aufgetragen.)

 

Blixen: Ich rauche jetzt eine Zigarette. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir noch eine Weile hierbleiben? Ich hasse es, den Ort zu wechseln, wenn ich mich in einer solchen Kulisse niedergelassen habe. Die Leute sagen immer, ich solle schneller machen oder mich beeilen und dies oder das tun. Auf der Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung sah ich einmal Albatrosse, und die Leute sagten: »Warum bleibst du an Deck? Nun komm schon. Es ist Zeit zum Mittagessen.« Und ich sagte: »Verdammtes Mittagessen. Ich kann jeden Tag zu Mittag essen, aber ich werde keine Albatrosse mehr sehen.« Diese Flügelspannweite!

 

Walter: Erzählen Sie mir von Ihrem Vater.

 

Blixen: Er war in der französischen Armee, genau wie mein Großvater. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg ging er nach Amerika und lebte bei den Prärie-Indianern im weiten Herzen Ihres Landes. Er baute sich eine kleine Hütte und nannte sie Frydenlund (»glückliches Wäldchen«), nach einem Ort in Dänemark, an dem er als junger Mann sehr glücklich gewesen war. Er verkaufte seine Felle meistens an die Indianer, und von dem Geld kaufte er ihnen Geschenke. Um ihn herum wuchs eine kleine Gemeinde, und heute ist Frydenlund, glaube ich, der Name einer Ortschaft im Staat Wisconsin. Nach der Rückkehr nach Dänemark schrieb er seine Bücher. Sie sehen also, für mich als seine Tochter war es ganz natürlich, nach Afrika zu gehen und dort unter den Einheimischen zu leben und nach meiner Rückkehr darüber zu schreiben. Er schrieb übrigens auch ein Buch über seine Kriegserlebnisse: Paris under Communen.

 

Walter: Und wie kommt es, dass Sie auf Englisch schreiben?

 

Blixen: Das hat sich ganz natürlich so ergeben. Ich bin zum Teil in England zur Schule gegangen, nachdem ich zu Hause ausschließlich Privatunterricht hatte. Deshalb fehlt mir auch das Wissen von grundlegenden Dingen, die für andere selbstverständlich sind. Aber meine Hauslehrerinnen waren ehrgeizig: Sie brachten mir Fremdsprachen bei, und eine von ihnen ließ mich The Lady of the Lake [dt. Die Dame vom See] von Sir Walter Scott ins Dänische übersetzen. Nachher in Afrika hatte ich ausschließlich mit Engländern zu tun. Zwanzig Jahre lang habe ich nur Englisch und Suaheli gesprochen. Und ich las die englischen Dichter und Romanciers. Ich mag die älteren Schriftsteller lieber, aber ich erinnere mich noch, als ich zum ersten Mal Huxleys Eine Gesellschaft auf dem Lande las. Es war wie der Biss in eine unbekannte, erfrischende Frucht.

 

Walter: Die meisten Ihrer Geschichten spielen im vergangenen Jahrhundert, nicht wahr? Sie schreiben nie über die moderne Zeit.

 

Blixen: Das tue ich schon, wenn man bedenkt, wie sehr die Zeit unserer Großeltern, die ja gerade erst vergangen ist, ein Teil von uns ist. Wir nehmen so vieles in uns auf, ohne uns dessen bewusst zu sein. Ich schreibe auch über Figuren, die zusammen die Geschichte ausmachen. Sehen Sie, ich beginne mit dem Aroma der Geschichte. Dann finde ich die Figuren, und sie übernehmen das Weitere. Sie sind für die Ausgestaltung verantwortlich, ich lasse ihnen einfach alle Freiheiten. Im modernen Leben und in der modernen Erzählliteratur herrscht eine gewisse Atmosphäre und vor allem eine innere Entwicklung – im Innern der Figuren – vor, die ist wiederum etwas ganz anderes. Ich habe das Gefühl, die Menschen haben sich im Leben wie in der Kunst in diesem Jahrhundert weiter voneinander entfernt. Einsamkeit ist jetzt das universelle Thema. Ich aber schreibe über Figuren innerhalb einer bestimmten Konstellation und wie sie aufeinander einwirken. Die Beziehung zu anderen ist wichtig für mich, sehen Sie, Freundschaft bedeutet mir sehr viel, und ich habe einige wahrhaft heroische Freundschaften erleben dürfen. Aber die Zeit in meinen Geschichten ist flexibel. Ich beginne vielleicht im 18. Jahrhundert und gehe von dort geradewegs zum Ersten Weltkrieg. Diese Zeiten sind deutlich voneinander getrennt und klar erkennbar. Außerdem spielen viele Romane, die wir, gemessen am Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, für zeitgenössisch halten – denken Sie nur an Dickens oder Faulkner oder Tolstoi oder Turgenjew –, tatsächlich in einer früheren Zeit, etwa eine Generation vorher. Die Gegenwart ist immer in Bewegung, niemandem ist es vergönnt gewesen, sie in Ruhe zu betrachten … Ich war Malerin, bevor ich Schriftstellerin wurde … und ein Maler möchte niemals den Gegenstand direkt vor seiner Nase haben; er möchte zurücktreten und eine Landschaft mit halb geschlossenen Lidern studieren.

 

Walter: Haben Sie Lyrik geschrieben?

 

Blixen: Als junges Mädchen.

 

Walter: Was ist Ihre Lieblingsfrucht?

 

Blixen: Erdbeeren.

 

Walter: Mögen Sie Affen?

 

Blixen: Ja, ich liebe sie in der Kunst: auf Gemälden, in Erzählungen, auf Porzellan gemalt. Aber im wirklichen Leben sehen sie irgendwie traurig aus. Sie machen mich nervös. Ich liebe Löwen und Gazellen … Meinen Sie, ich sehe aus wie ein Affe? (Die Baronin bezieht sich auf ein früheres Interview, in dem jemand vorschlug, sollte die Erzählung »Der Affe« jemals verfilmt werden, müsse sie die Rolle der Kanonissin spielen, die sich in einen Affen verwandelt.)

 

Walter: Natürlich. Aber Sie müssen wissen, es gibt viele verschiedene Arten von Affen. (Der Interviewer hat einen Abschnitt aus Ivan Sandersons The Monkey Kingdom abgeschrieben, den er zum Vergnügen der Baronin vorliest.)

 

Walter: »Die biologische Bestimmung des ›Affen‹ ist bislang noch nicht zufriedenstellend abgeschlossen. Darüber hinaus verlangt diese anscheinend simple Frage eine genaue Untersuchung, bevor wir mit unserer Geschichte fortfahren, denn auch wenn wir uns nicht ausschließlich oder vorrangig für Affen interessieren, können wir uns ohne eine Antwort nicht der größeren Galaxie der Lebensformen zuwenden, der sie angehören.«

 

Blixen (lacht begeistert): Aber jede Geschichte verlangt eine genaue Untersuchung der vermeintlich simplen Fragen.

SZENEVIER

Wir befinden uns jetzt auf der Brüstungsmauer der Burg von Sermoneta, auf einem Hügel inmitten eines Dorfs, etwa anderthalb Stunden südlich von Rom. Wir haben einen Burggraben über eine Zugbrücke überquert und sind eine wacklige Leiter hochgestiegen. Wir haben die Überreste von Fresken aus dem 14. Jahrhundert betrachtet und im Festungsturm Zeichnungen und Kritzeleien auf der Wand gesehen, frisch wie aus der Zeit, als napoleonische Soldaten hier eingekerkert waren. Als wir ins Freie treten, müssen wir die Augen gegen die Sonne abschirmen. Unter uns erstreckt sich die Pontinische Ebene grün und golden bis zum Meer, das gleißend im Nachmittagslicht liegt. In weiter Ferne sind winzige Figuren zu erkennen, die auf den Bohnenfeldern und in den Pfirsichplantagen ar-beiten.

 

Walter: Mich wundert, dass praktisch kein Kritiker in Amerika oder England auf das starke komische Element in Ihren Werken hingewiesen hat. Ich hoffe, wir können ein wenig über die Komik in Ihren Geschichten reden.

 

Blixen: Oh, ich bin froh, dass Sie das ansprechen! Die Leute fragen mich ständig, was dies oder das in den Geschichten bedeutet – »Was symbolisiert das? Wofür steht es?« Es kostet mich immer einige Mühe, ihnen zu erklären, dass ich alles genauso meine, wie es da steht. Es wäre furchtbar, wenn die Erklärung einer Geschichte außerhalb ihrer selbst läge. Und oft beabsichtige ich einen komischen Effekt, ich liebe Spaß und Humor. Der Name Isak bedeutet »lachen«. Ich denke oft, was wir augenblicklich am dringendsten brauchen, ist ein großer Humorist.

 

Walter: Welche englischsprachigen Humoristen mögen Sie am liebsten?

 

Blixen: Nun, Mark Twain zum Beispiel. Aber tatsächlich haben alle Schriftsteller, die ich mag, eine komische Ader. Zumindest in der Erzählliteratur.

 

Walter: Von welchen erzählenden Schriftstellern fühlen Sie sich angesprochen, wem fühlen Sie sich verbunden?

 

Blixen: E.T.A. Hoffmann, Hans Andersen, Barbey d’Aurevilly, La Motte Fouqué, Chamisso, Turgenjew, Hemingway, Maupassant, Stendhal, Tschechow, Conrad, Voltaire …

 

Svendsen: Melville nicht zu vergessen! Sie nennt mich Babu, nach der Figur aus Benito Cereno. Wenn sie nicht Sancho Pansa zu mir sagt.

 

Walter: Gütiger Himmel, Sie haben sie alle gelesen!

 

Blixen: In der Tat. Ich bin dreitausend Jahre alt und habe mit Sokrates zu Abend gegessen.

 

Walter: Wie bitte?

 

Blixen(lacht und zündet sich eine Zigarette an): Weil mir nie jemand sagte, was ich lesen sollte und was nicht, las ich alles, was mir in die Hände fiel. Shakespeare habe ich schon sehr früh entdeckt, und heute denke ich, ohne ihn wäre das Leben wertlos. Eine meiner neuen Geschichten handelt übrigens von einer Schauspielertruppe, die den Sturm aufführt. Ich liebe einige der viktorianischen Romanciers, die heute kein Mensch mehr liest: Walter Scott zum Beispiel. Oh, und ich mag Melville sehr, und die Odyssee, die nordischen Sagen. Haben Sie die nordischen Sagen gelesen? Und ich liebe Racine.

 

Walter: Ich erinnere mich an eine Bemerkung über die nordische Mythologie in einer Ihrer Wintergeschichten. Ich finde es übrigens sehr interessant, dass Sie Ihre Form im Erzählen von Geschichten gefunden haben.

 

Blixen: Das hat sich ganz von selbst ergeben. Meine literarisch interessierten Freunde daheim sagen mir immer, der Kern meiner Erzählungen liege nicht in der Idee, sondern in der Handlung. Etwas, das man nacherzählen kann, so wie man Ali Baba und die vierzig Räuber nacherzählen kann, aber nicht Anna Karenina.

 

Walter: Es gibt Leute, die Ihre Geschichten »künstlich« finden.

 

Blixen (lächelnd): Künstlich? Natürlich sind sie künstlich. Und zwar mit Absicht, denn das ist das Wesen der Erzählkunst. Und ich habe dem, glaube ich, Rechnung getragen … oder vielmehr darauf hingewiesen, indem ich meine ersten Erzählungen Gothic Tales [dt. Sieben phantastische Geschichten] genannt habe. Mit gothic meine ich nicht die historische Gotik, sondern die Epoche des Schauerromans, das romantische Zeitalter Byrons, das Zeitalter Horace Walpoles, der Strawberry Hill erbaut hat, das Zeitalter der Neugotik … Sie kennen doch Walpoles Das Schloss von Otranto?

 

Walter: Ja, sicher. In einer Geschichte ist also die Handlung das Wichtigste, richtig?

 

Blixen: Ja, das stimmt. Am Anfang steht bei mir ein Kribbeln, eine Art Vorahnung der Geschichte, die ich schreiben werde. Dann kommen die Figuren hinzu und übernehmen das Kommando, sie gestalten die Erzählung. All das läuft auf eine Handlung hinaus. Anderen Schriftstellern mag das unnatürlich erscheinen. Aber eine richtige Geschichte braucht eine Form und eine klare Struktur. Bei einem Gemälde ist der Rahmen von besonderer Bedeutung. Wo hört das Bild auf? Welche Details soll man zeigen? Oder weglassen! Wo verläuft die Linie, die das Bild abschneidet? Die Leute fragen mich immer: »Werden die Figuren in ›Die Sintflut von Norderney‹ am Ende gerettet oder ertrinken sie?« (Sie erinnern sich, sie sind während einer Sturmflut auf einem Dachboden gefangen und erzählen sich in der Nacht, während sie auf Rettung warten, ihre Lebensgeschichten.) Nun, was soll ich sagen? Was kann ich den Leuten antworten? Es liegt außerhalb der Geschichte. Ich weiß es wirklich nicht!

 

Walter: Verwenden Sie viel Zeit auf die Überarbeitung Ihrer Geschichten?

 

Blixen: O ja. Es ist die Hölle. Wieder und immer wieder. Und wenn ich denke, ich sei endlich fertig, und Clara das Manuskript für die Einsendung beim Verlag abtippt, schaue ich noch einmal darüber, kriege einen Anfall und schreibe alles noch einmal um.

 

Svendsen: In einer Geschichte kam eine Nebenfigur namens Mariana die Ratte vor, Wirtin des Gasthofs Läusekamm. Der Verlag erwähnte sie im Klappentext, aber im letzten Fahnenlauf war die Figur aus der Geschichte getilgt. Es muss für einige Verwirrung gesorgt haben.

 

Walter: