Alle müssen mit - Lo Malinke - E-Book

Alle müssen mit E-Book

Lo Malinke

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Beschreibung

Ein Roman über eine Familie, die keine ist, aber die Chance bekommt, eine zu werden – witzig, voller Empathie und berührend aufrichtig. Ein Familienroman von Bestsellerautor Lo Malinke, bekannt durch ALLE UNTER EINE TANNE »Ich bin gern bereit, die Asche meines Vaters in seiner Heimat zu verstreuen. Aber nicht mit Leuten, die es nicht einmal zu seiner Beerdigung geschafft haben!« Die Geschwister Inge, Klaus und Uwe haben seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt. Doch als ihnen der Notar eröffnet, dass sie das Erbe ihres Vaters nur ausgezahlt bekommen, wenn Sie seinen letzten Willen erfüllen, müssen die drei sich entscheiden. Und das innerhalb der nächsten 14 Tage … Zusammen mit Inges Tochter Jule und dem Notargehilfen Krzysztow machen sie sich auf eine Reise durch Polen, die alles verändern wird.

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Seitenzahl: 360

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Lo Malinke

Alle müssen mit

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Inhalt

Wenn ich doch auch [...]1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465666768697071727374NachwortDanksagung

Wenn ich doch auch froh sein könnte!, sagte die Königin. Aber ich vergesse immer wieder, wie es geht. Wie glücklich du sein musst, so in diesem Wald zu leben und froh sein zu können, sooft du nur willst!

Lewis Carroll

 

Seltsam, wie die Toten an den Straßenecken auf uns losspringen, oder in Träumen.

Virginia Woolf

 

Erinnerung ist abschüssig.

Bei Dao

1

Georg wollte sterben. Wenn es nach ihm ginge, musste die Sonne nicht noch einmal aufgehen. Vielen Dank, er hatte genug gesehen. Der Herzinfarkt hatte ihn nach dem Zubettgehen mit der Wucht eines Vorschlaghammers getroffen, seitdem lag er mit offenen Augen im Bett und freute sich an seiner letzten Nacht. Im Zimmer roch es schwach nach Waldmeister vom Wackelpudding, den er vom Abendessen übrig gelassen hatte. Durch die Rollläden vor seinem Fenster brach das Licht der Straßenlaterne und streute Rechtecke aus trübem Licht auf die Wände. Kein Tunnel, an dessen Ende ein gleißend helles Licht aufschien – aber immerhin, er wollte sich nicht beschweren. Georg hörte die Schritte der Nachtschwester auf dem Gang. Das arme Ding. Er fühlte leichtes Mitleid mit ihr. Sie würde es sein, die ihn im Morgengrauen vergeblich ansprechen würde, in dem munteren Singsang, den sie hier für die Alten und Verblödeten reserviert hielten. Vor ein paar Tagen hatte sich der alte Mankowski auf der Suche nach der Toilette in der Tür geirrt und in die Kommodenschublade gepinkelt, in der Georg seine Socken aufbewahrte. Neun-Finger-Fred, mit dem Georg noch vor ein paar Monaten regelmäßig Schach gespielt hatte, saß neuerdings an der Haltestelle, die die Heimleitung im Innenhof hatte installieren lassen, und wartete auf den Bus, der ihn nach Hause bringen würde. Du liebe Güte. Das würde Georg nicht passieren. Er würde gehen, bevor sein Gehirn zu Blumenkohl wurde. Georgs Trumpf war sein schwaches Herz. Was Herzinfarkte anging, war er ein alter Hase. Er wusste, dass sich eines seiner Kranzgefäße verschlossen hatte, er spürte den grimmigen Schmerz, mit dem sein Herz gegen die daraus resultierende Unterversorgung protestierte, er atmete, so flach er konnte, er gönnte diesem nimmermüden, lächerlich ehrgeizigen Muskel nicht mehr das kleinste bisschen Sauerstoff. Es reichte. Es hatte lange genug gedauert. Er erwartete nichts mehr. Seinen Glauben an Gott hatte er schon vor langer Zeit verloren. Nach Juttas Tod hatte er ihn verflucht und, was seine Person betraf, endgültig für nicht zuständig erklärt. Seinen Glauben an ein Leben nach dem Tod dagegen hatte er nicht aufgeben können. Er hoffte, wenn all das hier vorbei war, an den Ort seiner Kindheit zurückkehren zu dürfen. Er stellte sich diese Rückkehr wie eine der straff organisierten Seniorenreisen vor, die er immer vermieden hatte. Nur ohne die lästige Busfahrt und den obligatorischen Zwischenhalt in einer Manufaktur für Treppenlifte. Er musste noch einmal zurück. Vielleicht ermöglichte man es ihm sogar, etwas länger zu bleiben. Zu viele waren es, die er wiedersehen, zu viele, die er noch einmal sprechen musste. Von denen, die er hier zurückließ, hatte er längst Abschied genommen, vor Jahren schon. Er war sich nicht sicher, ob er von irgendjemandem vermisst werden würde.

2

Inge öffnete die Papiertüte. Der Geruch von Schweinehack und Zwiebeln erfüllte das Schwesternzimmer. Inge wusste, dass die Zwiebeln ihr in den nächsten Tagen zu schaffen machen würden. Früher hatte sie essen können, was sie wollte, doch mittlerweile verursachte ihr nahezu alles Blähungen – Zwiebeln, Knoblauch, Sellerie, Radieschen, Fertigsoßen, Fleischsalat, zu stark gewürztes Pflaumenmus und zu kalte Milch, ja sogar Pfannkuchen und Belgische Waffeln –, so schlimm, dass sie nachts von den eigenen Fürzen aufwachte und das Fenster öffnen musste. Inge wusste, sie würde es bereuen, aber wenn sie ehrlich war, war es ihr herzlich egal. Sie biss in das Mettbrötchen, angelte ein Gewürzgürkchen aus dem Einmachglas und schob es sich in den Mund. Der Essig ließ einen kurzen Schmerz durch ihren rechten Backenzahn zucken. Ihr Magen sandte mit einem sauren Aufstoßen eine erste Warnung. Inge öffnete einen Knopf ihrer Strickjacke. Ihre Brüste lagen auf ihrem Bauch wie Waschlappen auf einem prallgefüllten Müllsack. Grundgütiger Gott, wie war es so weit gekommen?

Jule hatte ihr zu ihrem fünfzigsten Geburtstag einen Gutschein für ein Probetraining in einem Fitnessstudio geschenkt. Inge hatte ihrer Tochter herzlich gedankt und den Gutschein zu den anderen drei Grußkarten gelegt – eine von den Kolleginnen auf der Station, eine von der gehbehinderten Nachbarin aus dem Vierten, für die Inge manchmal einen Sack Katzenfutter nach oben trug, und eine mit der vorgedruckten Unterschrift ihres Sparkassenberaters. Ein paar Tage später hatte Inge Grußkarten und Gutschein in den Papiermüll entsorgt. Sie war im Krankenhaus gefürchtet für ihre unerbittliche Disziplin sich selbst und anderen gegenüber, aber ein Besuch im Fitnessstudio hätte mehr Energie von ihr verlangt, als ihr zur Verfügung stand. An manchen Tagen kostete es Inge alle Kraft, die sie noch hatte, um nach dem Ausschalten des Fernsehers den Weg ins Schlafzimmer zu schaffen. Immer öfter blieb sie, wo sie war, und schlief auf dem Sofa. Seit Jules Auszug war Inge die Einzige, die sich an ihrer eigenen Verwahrlosung hätte stören können, doch abgesehen von einem leichten Erstaunen darüber, dass sie an ihren freien Wochenenden kaum noch Veranlassung sah, zu duschen oder sich die Zähne zu putzen, und einer leichten Scham darüber, dass sie mit Anfang fünfzig das sozial verarmte Leben einer Rentnerin führte, fühlte Inge gar nichts.

Sie nahm das nächste Gürkchen und drehte es nachdenklich in ihren Fingern, bevor sie es in den Mund stopfte. Sie hätte gern einmal wieder Sex gehabt. Das schon. Sie hatte gern Sex gehabt. Früher. Jules Geburt hatte ihrer Libido allerdings einen ziemlichen Dämpfer versetzt. So wie ein Auffahrunfall mit leichtem Blechschaden, nach dem man sich nur noch ungern hinters Steuer setzt. In den fünfundzwanzig Jahren als alleinerziehende Mutter, die darauf folgten, waren die Gelegenheiten seltener geworden. Und schließlich schien Inge fast über Nacht zu einer der Frauen geworden zu sein, die von Männern nicht mehr als potentielle Sexpartnerinnen wahrgenommen wurden, sondern nur noch als gefütterte Popelinjacken mit zweckmäßigen Frisuren, die man beim Einsteigen in die Straßenbahn mit dem Ellenbogen beiseiteschob. Inges letzte sexuelle Begegnung mit einem Mann war ein unbeholfenes, betrunkenes Gefummel mit Mirko Hesselroth in der Damentoilette der Eckkneipe gewesen, in der das fünfundzwanzigjährige Klassentreffen ihrer Berufsschule stattgefunden hatte. Während Inge danach verlegen ihre Unterwäsche zurechtgezupft hatte, hatte Mirko Hesselroth angefangen zu weinen und von seiner Enttäuschung gesprochen, nach seiner Ausbildung zum Fernmeldetechniker schließlich doch das Schuhgeschäft seiner Eltern übernommen zu haben. Das war jetzt fast zehn Jahre her. Wenn Inge daran dachte, dass diese nicht ganz fünf Minuten auf der Damentoilette nicht nur der letzte Sex gewesen waren, den sie gehabt hatte, sondern auch der letzte Sex gewesen sein könnte, den sie je gehabt haben würde, konnte sie sich nur mit Mühe davon abhalten, sich die restlichen Mettbrötchenhälften auf einmal in den Mund zu stopfen.

Wie viele Menschen aß Inge, wenn sie nervös oder unglücklich war, und da heute der Tag war – der schreckliche, schreckliche Tag –, an dem sie die neuen Schwesternschülerinnen würde einweisen müssen, hatte Inge ihrem Heißhunger nichts entgegenzusetzen. Sie griff nach dem nächsten Mettbrötchen. An den meisten Tagen mochte Inge ihre Arbeit, an nicht wenigen liebte sie sie sogar. Die Sauberkeit der Station und die Ordnung, die all dem Chaos hinter den hydraulisch schließenden Türen Einhalt gebot, das blendende Weiß der Schwesterntracht, das durch nichts zu beschmutzen zu sein schien. Doch an den Tagen, an denen Inge die neuen Schwesternschülerinnen begrüßen musste, fühlte sie sich wie in Wachs gegossen. Der Anblick der geröteten, hoffnungsvollen Gesichter erfüllte sie jedes Jahr wieder mit dumpfer Wut. Dabei sollten sie ihr eigentlich leidtun. Keine von ihnen wusste, worauf sie sich eingelassen hatte. Nicht wirklich.

Sie würden in den nächsten Tagen lernen, Bettpfannen auszuleeren und offene Beine zu verbinden, sie würden die Körper von Leuten in die Kühlfächer der Leichenhalle schieben, mit denen sie am Tag zuvor noch über das Wetter oder die schulischen Erfolge der Enkelkinder geplaudert hatten. Sie würden Laken wechseln, wirklich schlechtes Essen servieren (wer wollte ernsthaft das Gegenteil behaupten?) und Menschen waschen, die schon seit Jahren zu schwach waren, es selbst zu tun. Die eine Hälfte der Mädchen würde schon innerhalb der nächsten beiden Wochen das Krankenhaus verlassen, um nie wieder zurückzukehren. Sie würden so weit laufen, wie sie nur konnten, in Nagelstudios und an Supermarktkassen stranden und in erregtem Flüsterton über ihre schreckliche Zeit im Krankenhaus berichten. Nie wieder würden sie leichtfertig behaupten, dass es eine lohnende und ehrenvolle Aufgabe sei, sich um die Alten, Kranken und Schwachen zu kümmern. Das Gefühl eines Einweghandschuhs auf ihrer Haut würde für die meisten kaum je wieder zu ertragen sein, und der Satz »Ich arbeite gern mit Menschen« würde ihnen für den Rest des Lebens Gänsehaut bereiten. Inge spülte das nächste Gürkchen mit einem Schluck Fanta herunter. Die anderen würden sich an die Arbeit gewöhnen, an den hartnäckigen Geruch von Blut, Scheiße und Desinfektionsmittel unter ihren Fingernägeln, an die teils sinnlosen, teils gefährlichen Anordnungen junger Ärzte, die ihre Ahnungslosigkeit mit Überheblichkeit überspielten, an die erschöpfende, unterbezahlte und undankbare Arbeit, die Inges letzte große Liebe war.

Inge warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Tüte, in der die restlichen Mettbrötchen auf sie warteten, und trat auf den Flur. Mit schrillem Quietschen, wie dem von Ratten, die in panischer Flucht übereinanderstolperten, kamen neun Paar Gesundheitsschuhe vor ihr zum Stehen. Ohrfeigengesichter, dachte Inge. Blanke, ahnungslose Ohrfeigengesichter. Schon jetzt erschöpft von der Aufgabe, die vor ihr lag, schüttelte Inge den Kopf. Unwillkürlich traten die Mädchen einen Schritt zurück. Im letzten Jahr hatte der Oberarzt Inge gebeten, es bei der Einweisung der Schülerinnen zur Abwechslung mit einem Lächeln zu versuchen.

»Machen Sie es den jungen Dingern nicht unnötig schwer«, hatte er gesagt und seine Hand auf ihre Schulter gelegt.

Inges Schultermuskeln hatten sich gespannt wie das Rückgrat eines wütenden Hundes. Eilig hatte der Oberarzt die Hand weggezogen.

»Frau Kurbjuweit, ich verlasse mich auf Sie.«

Inge hatte dem Oberarzt mit leerem Blick nachgeschaut. Wider besseres Wissen hatte sie seinem Wunsch entsprochen und bei der Begrüßung der Schwesternschülerinnen gelächelt. Zwei der Mädchen waren daraufhin in Tränen ausgebrochen. In diesem Jahr würde es wieder ohne gehen müssen.

»Fünf Dinge, die Sie beachten sollten, wenn Sie Ihre ersten Wochen hier überleben wollen«, sagte Inge und musterte die Mädchen der Reihe nach mit einem kühlen Blick. »Erstens: Stehen Sie mir nie im Weg. Zweitens: Verspäten Sie sich nie. Drittens: Ich sage alles nur einmal. Viertens: Widersprechen Sie mir niemals.«

Zögerlich hob eines der Mädchen die Hand.

»Das waren nur vier Dinge.«

Inge lächelte freudlos.

»Und fünftens, sollten Sie mir doch einmal widersprechen«, sie faltete die Hände vor ihrem Bauch wie zur stillen Andacht, »beten Sie zu Gott, dass Sie recht haben.«

Das Mädchen ließ seine Hand sinken. Seine Wangen röteten sich. Seine Augen wurden feucht. Bevor Inge fortfahren konnte, drückte ihr eine der älteren Schwestern das Telefon in die Hand.

»Für dich.«

Inge schaute auf das Display und zuckte zusammen. Sie kannte die Nummer.

3

Klaus parkte sein Taxi vor der Zentrale, zog die Plastikhülle hinter der Sonnenblende hervor, in der er den Fahrzeugschein und seine Lizenz aufbewahrte, und drückte auf die kleine Mulde im Autoschlüssel, die unter seinem Daumen leicht nachgab. Mit einem robusten Klompp! schloss die automatische Verriegelung die Türen des Autos. Klaus wusste nicht, wie es so weit hatte kommen können. Er hätte schwören können, gestern Abend nicht mehr als ein, zwei, höchstens drei Biere getrunken zu haben, aber als die Polizei ihn an den Straßenrand gewunken hatte, hatten seine Werte weit jenseits dessen gelegen, was erlaubt war. Hatte er nicht abgelehnt, als die anderen anfingen, Kurze zu bestellen? Hatte er? Er wusste es nicht mehr genau. Vielleicht lag genau da das Problem.

Monika war gerade dabei gewesen, die Geschirrspülmaschine auszuräumen, als Klaus ihr erzählt hatte, was geschehen war. Das Ausräumen des Geschirrspülers war eigentlich seine Aufgabe, aber er hatte es wie so oft vergessen, als er am Morgen losgefahren war. Moni hatte das Besteck mit dem Geschirrhandtuch nachpoliert, weil sie es hasste, wenn auf Gabeln, Messern oder Löffeln weißliche Kalkränder zurückblieben. Sie hatte nicht aufgesehen, als Klaus ihr erklärt hatte, dass sie in den nächsten Monaten den Gürtel etwas enger schnallen müssten, um über die Runden zu kommen. Sie hatte die Klappe des Geschirrspülers geschlossen und ohne ein Wort die Küche verlassen. Durch die angelehnte Tür hatte Klaus gehört, wie sie Ella und Yannik aufgefordert hatte, den Fernseher auszustellen, die Zähne zu putzen und ihre Schlafanzüge anzuziehen. Etwas später hatte sie den Kleinen mit ruhiger Stimme das nächste Kapitel aus Harry Potter und der Feuerkelch vorgelesen. Harry hatte gerade herausgefunden, dass der, dessen Name nicht genannt werden durfte, für den Tod von Harrys Eltern verantwortlich war, und dass die Narbe auf Harrys Stirn Zeugnis dieses letzten Kampfes war. Klaus hatte in der Küche darauf gewartet, dass Monika zurückkam. Aber das Licht im Flur war gelöscht und die Tür zum Schlafzimmer zugezogen worden, ohne dass sie noch einmal das Wort an ihn gerichtet hätte, und Klaus hatte beschlossen, die Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer zu verbringen. Heute Morgen war die Wohnung leer gewesen und Klaus allein. Er hatte angenommen, dass Moni die Kleinen in die Schule gebracht hatte und danach zur Arbeit gefahren war. Es hatte Klaus einige Überwindung gekostet, einen Kollegen anzurufen, um ihn zu bitten, ihn dorthin zu fahren, wo er auf Anweisung der Polizei sein Taxi am Abend zuvor hatte abstellen müssen. Gegen den Rat seines Kollegen hatte er sich hinters Steuer gesetzt. Als dann auf seiner Fahrt ein Polizeiwagen hinter ihm auftauchte und ihm folgte, hatte sich sein Herz kurz zusammengekrampft. Aber schließlich war die Polizei abgebogen, und Klaus hatte seinen Wagen auf dem Hof der Zentrale abgestellt.

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er zu viel getrunken hatte, um noch fahren zu können. Er hatte sich schon ein paarmal krankgemeldet, die Kinder vorgeschoben oder den Tod einer Tante erfunden. Doch nie hatte er sich betrunken hinters Steuer gesetzt. Bis gestern.

Nicht dass er ein Alkoholproblem hätte. Er war kein Alki. Keiner dieser Typen, die schon morgens um zehn vorm Kiosk standen, mit schlechten Zähnen, einem räudigen Hund an der Leine und der ersten Flasche Bier in der Hand. Er war normal. Er war kein Säufer. Er trank gern ein bisschen was, um zu entspannen, um abschalten zu können, in geselliger Runde. Vielleicht trank er manchmal ein bisschen mehr als üblich. Aber das war doch verständlich. Denn so sehr er seine Kumpels auch mochte, nüchtern war ihr Gequatsche für Klaus kaum noch zu ertragen – das ständige, immer gleiche Gemotze über Geld (zu wenig), Familie (undankbar), Frauen (alles Zicken), die ständige Enttäuschung darüber, dort zu sein, wo sie alle waren (unten), während andere über ihr Schicksal entschieden (oben). Im Großen und Ganzen teilte Klaus die Ansichten seiner Freunde. Aber die unermüdlich wiederholte Erzählung ihres gemeinsamen Scheiterns, für seine Kumpel so etwas wie ein liebgewordener Sport, der sie nach einem weiteren elenden Tag im Taxi für die Länge von ein, zwei Bieren von ihrem Versagen ablenkte, bevor sie nach Hause fuhren, um dort ihren Familien mit ihrer schlechten Laune auf die Nerven zu gehen, war für Klaus nur zu ertragen, wenn der Alkohol eine leichte Dämmschicht zwischen ihn und das Dilemma legte, in dem sie alle sich befanden.

Wie die meisten Frauen, die Klaus kannte – ausgenommen diejenigen, die zusammen mit ihm und seinen Kollegen in den Feierabendkneipen hockten, traurige Gestalten, an deren gekrümmten Rücken anzügliche Sprüche und Traurigkeit gleichermaßen abtropften –, betrank Moni sich so gut wie nie. Sie und ihre Freundinnen bestellten Weißweinschorle oder mit Beerensirup gemischten Prosecco und kicherten nach dem zweiten Glas wie Teenager, während sie ihren Männern, die leicht schwankend aufstanden, um zur Toilette zu gehen, augenrollend hinterhersahen. Wenn Klaus kurz vor dem Zubettgehen ein Glas Rotwein trank (oder zwei), weil er in letzter Zeit schlecht einschlafen konnte, atmete Moni tief ein, verschwand im Bad und putzte sich wütend die Zähne. An manchen Abenden bis ihr Zahnfleisch blutete. Moni konnte sich so furchtbar wütend die Zähne putzen, dass Klaus sich oft wünschte, einmal einen ganzen Tag lang nichts zu tun, was seine Frau ärgerte oder kränkte.

Klaus öffnete die Tür zum Büro. Karim sah überrascht auf. Karim ging manchmal mit, wenn Klaus und die anderen einen Absacker nahmen. Er bestellte sich einen Apfelsaft und blieb nie lang. Karim war Moslem und trank keinen Alkohol. Er hatte eine Frau, die auch nach zwanzig Jahren noch nicht richtig Deutsch sprach, drei Töchter, die sich mit scheuen Blicken unter den festgewickelten Kopftüchern über den Hof der Taxizentrale stahlen, um ihrem Vater das Mittagessen zu bringen, und vier Söhne, die Karim ab und zu überreden konnte, die Wagen zu waschen, und die ansonsten tun und lassen konnten, was sie wollten. Karim sprach stets mit Sorge von den schlechten Aussichten, seine Töchter erfolgreich zu verheiraten (die älteste war zwölf), und mit Stolz von seinen Söhnen, die, soweit Klaus das beurteilen konnte, allesamt die Schule ohne Abschluss verlassen würden. Karims Frau war Mitte dreißig, krankhaft übergewichtig und hatte den watschelnden Gang einer hüftkranken Großmutter. Wie Karim es ohne Alkohol aushielt, war Klaus schleierhaft.

»Klaus Kurbjuweit! Mein bester Fahrer! Mein Freund!« Karim breitete freudig seine Arme aus. Auf Karims Unterarmen wuchs schwarzes Fell. Unter seinen Achseln machten sich dunkle Schweißflecken breit.

Klaus hielt ihm Wagenpapiere und Taxilizenz hin.

»Ist nicht dein Ernst!« Karim starrte auf die Papiere in Klaus’ Hand und ließ traurig die Arme sinken.

Klaus zuckte müde mit den Schultern. Als Karim keine Anstalten machte, die Papiere entgegenzunehmen, legte Klaus sie vor seinen Chef auf den Schreibtisch.

»Wie lange?«, fragte Karim.

»Zwei Monate. Danach Fahrstunden und Idiotentest.«

Karim seufzte enttäuscht. Die dunkelvioletten Schatten unter seinen Augen schienen tiefer zu werden.

»Klaus, Klaus, Klaus, Klaus, Klaus.« Karim seufzte noch einmal.

Klaus wusste darauf nichts zu antworten.

»Na ja. Hastu jetzt viel Zeit für Familie.« Karim nickte traurig.

»Moni ist zu ihren Eltern. Die Kleinen hat sie mitgenommen.«

Karim starrte Klaus mit großen Augen an.

»Nur fürs Erste«, fügte Klaus verlegen hinzu.

Dass eine Frau einfach so ihre Kinder nahm und entschied, fürs Erste zu ihren Eltern zu ziehen, schien sich Karims Erfahrungswelt zu entziehen. Karims Mund öffnete und schloss sich wieder. In Momenten wie diesen schien es Klaus nicht das Schlechteste, Moslem zu sein. Diese Leute lebten in geordneten Verhältnissen. Ein Mann tat, was ein Mann tun musste, und die Frau fand sich damit ab, ohne ihm als Nächstes vorzuschlagen, einen Psychiater aufzusuchen. Klaus, tut mir leid, aber so kann es nicht weitergehen. Du solltest mit einem Therapeuten reden, hatte Moni zu ihm gesagt und es tatsächlich auch so gemeint. Zum Irrenarzt! Nur weil er ab und an einen über den Durst trank! Wenn seine Kumpel das spitzkriegten, würde Klaus zum Gespött der gesamten Belegschaft werden.

Klaus nickte Karim zu, der offensichtlich noch einige Zeit brauchen würde, um diese Nachricht zu verdauen, und verließ das Büro. Er würde jetzt nach Hause fahren, die Wohnung aufräumen, Staub saugen, den Geschirrspüler ausräumen und Moni ein paar Tage Zeit geben, sich zu beruhigen. Vielleicht würde er ihr einen Strauß Blumen kaufen. Moni mochte Blumen. Dann würde er zu ihren Eltern fahren – verdammt, er würde den Zug nehmen müssen –, die vorwurfsvollen und enttäuschten Blicke von Udo und Erika Nickler ertragen und seine Familie nach Hause holen. So war es immer gewesen. So würde es auch dieses Mal sein.

Klaus war auf dem Weg zur Bushaltestelle, als sein Handy klingelte.

4

Uwe konnte nicht fassen, was gerade passierte. Vielleicht hätte er sich doch ein bisschen länger mit Hannes unterhalten sollen, anstatt einfach nur einen Wodka vor ihm abzustellen und ihm seine Zunge in den Hals zu schieben. Vielleicht wüsste er dann, ob er gerade jemanden angerufen hatte, der sich, keine zwölf Stunden nachdem er mit ihm Liebe gemacht hatte, nicht mehr an ihn erinnerte, oder ob er sich unsterblich in jemanden verliebt hatte, der einfach nur sehr, sehr vergesslich war. Uwe klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr und versuchte, die Hunde von den Überresten einer toten Taube wegzuzerren.

»Uwe! Von gestern Abend!« Kein Mensch konnte so vergesslich sein! Oder vielleicht doch? »Im Barbietronic!«

Uwe hörte das stumme Fragezeichen am anderen Ende der Leitung und fing an, vor Verlegenheit zu schwitzen. Oder waren es die verfluchten Tabletten? Seitdem sein Therapeut ihn von Elontrin (Hautausschlag auf Brust und Rücken) auf Venlafaxin (starke Gewichtszunahme und suizidale Phasen) und schließlich auf Setralin (Schweißausbrüche, Schwindelgefühle, Erschöpfungszustände) umgestellt hatte, konnte Uwe kaum noch beurteilen, was Nebenwirkungen seiner Antidepressiva und was echte Panik vor der Blamage war, einem Mann hinterherzutelefonieren, der sich offensichtlich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, Uwes Nummer unter seinen Kontakten zu speichern. In Uwes Handy stand Hannes unter Favoriten.

»Nein, nicht der Sekt auf Eis.« Uwe lachte nervös und ein bisschen zu schrill. Er musste versuchen, ruhig zu bleiben. »Der Wodka!«

Psychopharmaka mit Alkohol zu mischen war nicht gerade das, was der freundliche Apotheker empfahl, aber Uwe hatte sich gestern zum ersten Mal seit Wochen wieder aus dem Haus und unter Menschen getraut, und das Vorhaben, diesen Abend nüchtern zu überstehen, hatte ihn schon nach den ersten fünf Minuten in einen Gin Tonic flüchten lassen. Um ehrlich zu sein, hatte Uwe sich noch nie mit anderen schwulen Männern in einem Raum aufhalten können, ohne nicht zumindest ein bisschen betrunken zu sein. Aber das hatte er nicht einmal seinem Therapeuten gegenüber erwähnt.

»Du weißt doch, wir sind später noch zu dir …«

Erschrockenes Hüsteln von Hannes.

»Nein. Nicht in die Wohnung. Nur bis in den Hausflur«, beruhigte ihn Uwe.

Alle im Barbietronic hatten Uwe mit großem Hallo begrüßt. Claus und André hatten noch immer ihre Mallorca-Bräune getragen, Tim hatte den kleinen humorlosen Chilenen mitgebracht, den er im Januar gegen den entschiedenen Widerstand aller seiner Freunde geheiratet hatte, Rainer hatte wie immer versucht, schriller zu sein als die verbeulte Transe, die jeden Montag die kleine Bühne neben der Raucherkabine in Beschlag nahm, und Tobias hatte sich wie alle anderen auch einen Vollbart wachsen lassen. Uwe hatte die üblichen Wangenküsse verteilt und entgegengenommen und dann schnell eine Runde für alle bestellt. Keinem war aufgefallen, dass Uwe ihnen die Antwort auf die Frage, aus welchem Grund er sich in den letzten Wochen so rar gemacht hatte, schuldig geblieben war.

Und was hätte er auch sagen sollen? Dass er eines Morgens schluchzend vor dem Kühlregal im Supermarkt gestanden hatte, weil die Entscheidung zwischen Joghurt mit 0,3 oder 3,5 Prozent Fett einfach zu viel für ihn gewesen war? Dass der Therapeut, an den ihn sein Hausarzt verwiesen hatte, Uwe einen schweren Burn-out, eine mittlere Depression und eine narzisstische Störung attestiert, ihn keinen einfachen Patienten genannt und ihm zusätzlich zur Gesprächstherapie auch zur sofortigen Einnahme von Medikamenten geraten hatte? Dass selbst diese Antidepressiva Uwes Verzweiflung nicht hatten vertreiben können und er daher mit Hilfe von Tavor (macht echt krass schnell abhängig), Ephidrin (putscht voll gut auf) und Valium (holt dich echt gut runter) großzügig nachjustierte?

Und welchen Rat sollten ihm seine Freunde auch geben? Beruflich kürzerzutreten? Uwe leitete keinen global tätigen Mischkonzern wie Jochen (Schrauben und Schmierfette in dritter Generation), und er stand auch nicht mit jeder seiner Entscheidungen im Kreuzfeuer der Öffentlichkeit wie Thomas (Kulturstaatssekretär). Uwe führte hauptberuflich die Hunde anderer Leute aus und arbeitete selten mehr als fünf Stunden pro Tag. Sogar sich selbst gegenüber hätte er Probleme gehabt, damit einen Burn-out zu rechtfertigen. Die einzige Herausforderung seines Jobs war, bei Regen Sneakers gegen Gummistiefel zu tauschen und immer ausreichend Kacktüten dabeizuhaben. Seine Klienten hießen Pogo, Pepe, Carlo, Helle, Safira, Blanca und Bentley und waren schon zufrieden, wenn Uwe ihnen ausreichend Gelegenheit gab, sich gegenseitig am Po zu schnüffeln. Abgesehen davon, dass er schrecklich einsam war, wollte Uwe kein Grund dafür einfallen, warum er es nicht mehr für sinnvoll hielt, am Leben teilzunehmen. Seiner Familie die Schuld zu geben schien ihm verlockend. Auch sein Therapeut schien ein großer Fan dieser Möglichkeit zu sein. Aber seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben, seinen Vater hatte er seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen, und seine beiden älteren Geschwister hatten nicht mal ein Facebook-Account, über den er mit ihnen in Kontakt hätte treten können. Wenn er ehrlich war, konnte er sich kaum noch daran erinnern, warum sie nicht mehr miteinander sprachen. Er hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht.

»Ich fand es schön gestern.« Uwe versuchte, nicht zu bedürftig zu klingen. Hannes war so still, dass Uwe nicht sicher war, ob er überhaupt noch am anderen Ende der Leitung war. Vielleicht war er einfach nur zu schüchtern, um am Telefon über seine Gefühle für Uwe zu sprechen? Vielleicht nickte Hannes gerade still, lächelte versonnen und wartete darauf, dass Uwe den nächsten Schritt machte?

Uwe hatte es endlich geschafft, die Hunde in Richtung Park zu zerren. Sie stürzten sich wie Verdurstende auf das Wasser, das ein bronzenes Walross in ein gemauertes Becken spie, und waren für den Moment vollkommen besessen von dem Bemühen, möglichst viel zu trinken, um später möglichst viel pinkeln zu können.

»Du bist der Typ auf dem Flur.«

Der Ton, in dem Hannes diese Feststellung traf, erinnerte Uwe an die erschöpfte Gleichgültigkeit, mit der sein Ex Du hast da was zwischen den Zähnen gesagt hatte, kurz bevor er Uwe gebeten hatte, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. Oder interpretierte er wie so oft viel zu viel hinein? Spielte ihm sein Minderwertigkeitskomplex einen Streich? Täuschte er sich? War er wieder einmal dem Irrglauben aufgesessen, andere könnten ihn nicht lieben, nur weil er selbst sich nicht zu lieben gelernt hatte? Uwes Therapeut hatte ihn wiederholte Male auf diese Möglichkeit hingewiesen.

»Ich hab dir echt meine Telefonnummer gegeben?«, seufzte Hannes erstaunt.

Vielleicht war dieser Mann ein Spätaufsteher. Nichts Persönliches. Einfach nur verschlafen! Immerhin hatte er sich an Uwe erinnert. Erleichtert nahm Uwe das Handy aus der Schulterbeuge. Er stellte sich vor, wie Hannes und er in zehn, fünfzehn Jahren ihren gemeinsamen Freunden, angefeuert von deren ungläubigem Lachen, erzählten, wie sie sich kennengelernt hatten: Wir haben es nicht mal bis in seine Wohnung geschafft. Am nächsten Tag hat er zehn Minuten gebraucht, um zu verstehen, wen er da am Telefon hat. Seitdem sind wir nicht einen Tag mehr getrennt gewesen. Nicht einen Tag, in all den Jahren. Hannes würde nach Uwes Hand greifen, und alle würden in ein gerührtes Ooooh! ausbrechen. Uwe fühlte, wie sich sein Herz hoffnungsvoll weitete, er konnte nicht dagegen an, er war plötzlich so glücklich, dass er fast laut gelacht hätte.

»Ich hab es schon mal probiert.« Das war nicht die ganze Wahrheit. Uwe hatte insgesamt sieben Nachrichten auf Hannes’ Mailbox hinterlassen, bis er ihn endlich erreicht hatte. »Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, heute Abend irgendwas zusammen zu unternehmen.«

Uwe hatte zwei Karten für die Komische Oper besorgt. Er war selbst noch nie dort gewesen, aber irgendjemand hatte ihm erzählt, dass dort ein schwuler Intendant lustige Revuen inszenierte, und obwohl ihm die Erfahrung fehlte, dachte Uwe, dass das etwas sein könnte, was schwule Paare miteinander unternahmen. Kultur, die man mit dem 100er-Bus erreichen konnte. Und man blieb unter sich.

»Heute ist schlecht? Okay, kein Problem. Dann vielleicht morgen?« Uwe hatte die Veranstaltungstipps für die nächsten sieben Tage im Kopf und wollte Hannes für morgen eine Lesung von Harald Martenstein vorschlagen, den sein Zahnarzt rasend komisch fand, von dem er selbst aber noch nie gehört hatte.

»Morgen muss ja nicht, kein Ding, ist ja auch ein bisschen spontan jetzt. Freitag vielleicht?« Am Freitagabend würden Hannes und Uwe in ein Solebad in Mitte gehen, in dem sie schweben würden wie rotgeschuppte Neurodermitispatienten im Toten Meer (nur ohne Neurodermitis), während Orffs Carmina Burana und die Lichtinstallation irgendeines isländischen Videokünstlers sie in andere Sphären versetzten. Sie würden stundenlang nebeneinander im warmen Wasser treiben, und ihre Hände würden sich dabei sachte berühren.

»Klar, versteh ich, die Wochenenden sind immer so supervoll, logo. Gern auch nächste Woche. Du meldest dich! Super! Ich bin eigentlich immer frei. Okay. Ich freu mich! Ich freu mich total. Bis dann! Tschüs! Tschüsi!« Hannes hatte bereits aufgelegt.

Uwe zitterte. Die letzten Sätze hatten ihn alle Kraft gekostet, die er noch hatte. Die Hunde jaulten unzufrieden. Sie wollten weiter. Uwes Kehle war ausgetrocknet, seine Zunge fühlte sich an wie ein staubiger Lappen, den ihm jemand in den Mund gestopft hatte, als er gerade nicht hingesehen hatte. Uwe hatte das seltsame Gefühl, alles richtig gemacht zu haben und trotzdem gleich in Tränen ausbrechen zu müssen. Er griff nach dem Tablettenröhrchen in seiner Jackentasche und schüttelte es, aber als das vertraute Klack-Klack-Klack ausblieb, fiel ihm ein, dass er seine letzte Tavor (stark angstlösend) bereits kurz nach dem Aufstehen genommen und dann vergessen hatte nachzufüllen.

Sein Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer. Er nahm das Gespräch an und rasselte seinen üblichen Standardsatz herunter. »Dogs In Motion, Ihr freundlicher Gassi-Service, Uwe Kurbjuweit am Apparat. Hallo?«

Uwe hörte der sanften Frauenstimme eine Zeitlang zu. Dann glitten ihm die Leinen durch die geöffneten Hände. Das Handy fiel ins Gras. Die Hunde brauchten einen Moment, um zu begreifen, dass sie frei waren. Sie rannten unter wildem Gekläffe los und verschwanden im Park.

5

Jule hörte den Summer, drückte die Haustür auf und hastete die Treppe hinauf. Ihr ICE war pünktlich am Hauptbahnhof angekommen, doch dann hatte Jule, eingelullt von der Zuverlässigkeit des westfälischen Nahverkehrs und wider besseres Wissen, die S-Bahn genommen, und die hatte keine fünf Minuten später auf offener Strecke gehalten, weil ein psychisch labiler und außerdem nackter Mann drohte, sich vom Dach des S-Bahnhofs Friedrichstraße zu stürzen. Herzlich willkommen in Berlin. Nach fast einer Stunde in den immer stickiger werdenden Waggons hatten Bahnangestellte die Türen geöffnet und Jule und die anderen Fahrgäste in einem zehnminütigen Marsch entlang der Gleise zurück zum Bahnhof geleitet. Aus Fenstern und von Balkonen hatten Leute ihnen zugewunken oder hämische Bemerkungen gerufen, eine ältere Dame war von einer brennenden Zigarettenkippe am Kopf getroffen worden.

»Die Berliner sind unfreundlich und rücksichtslos, ruppig und rechthaberisch, Berlin ist abstoßend, laut, dreckig und grau, Baustellen und verstopfte Straßen, wo man geht und steht – aber mir tun alle Menschen leid, die hier nicht leben können!« Jule hatte einmal in einem Drehständer vor einem Schreibwarenladen eine Postkarte mit diesem Zitat von Anneliese Bödecker gefunden. Hätten ihre Hirnregionen in diesem Moment darüber abgestimmt, wäre Jule sich nicht sicher gewesen, ob Zustimmung oder Ablehnung überwogen hätte. Berlin war einfach wahnsinnig anstrengend.

Sie hatte den angebotenen Schienenersatzverkehr ignoriert und schließlich ein Taxi gerufen, nur um trotzdem zu spät zu dem Notartermin zu kommen, für den ihre Mutter sie um absolute Pünktlichkeit gebeten hatte.

Jule öffnete die Tür zum Büro des Notars. Ihre Mutter und ihre Onkel Klaus und Uwe saßen wie Schüler, die man zum Rektor beordert hatte, vor einem wuchtigen Schreibtisch aus dunkler Eiche. Die Beine des Tisches endeten in Löwentatzen mit scharfen Krallen, und in den Schatten der ausladenden Schnitzereien meinte Jule für einen kurzen Moment Mäuse sehen zu können, die in panischer Hast vor den Flügelschlägen wütender Eulen flüchteten.

Der Notar starrte Jule über die geschliffenen Gläser seiner Lesebrille hinweg vorwurfsvoll an. »Hiermit stelle ich das vollzählige Erscheinen der Erbnehmenden fest und beginne die Verlesung des Testamentes Ihres verehrten Herrn Vaters und Großvaters.«

Der Notar hatte Großvater wie Jroßvahta ausgesprochen. Jule fühlte sich dunkel an die älteren Damen erinnert, die mit goldenen Broschen auf ihren schweren Busen früher manchmal in der Küche ihrer Mutter gesessen, Sahnetorte gegessen und still vor sich hin geweint hatten. Die Frauen hatten Jule und die Kinder aus der Nachbarschaft Marjellche und Jungche gerufen und hatten Fünfzigpfennigstücke und klebrige Malzbonbons verteilt. Irgendwann waren sie nicht mehr gekommen, ihre Mutter hatte nie mehr von ihnen gesprochen, und Jule hatte irgendwann begonnen zu glauben, sie habe sich die schluchzenden Omas hinter den Sahnetorten nur eingebildet.

Der Notar setzte ein schwungvolles Häkchen auf das vor ihm liegende Schriftstück. Jule nickte ihm verlegen zu und glitt so unauffällig es ging an Klaus und Uwe vorbei auf ihre Mutter zu. Sie machte den Versuch, ihre Mutter zu umarmen, doch Inge packte Jules Arm und zog sie mit einer energischen Bewegung auf den freien Stuhl neben sich.

Uwe zwinkerte ihr freundlich zu, Jule lächelte, doch gleich darauf zwinkerte er ihr noch einmal zu, und Jule fragte sich, ob ihr Onkel vielleicht einen Gesichtstick entwickelt hatte. Ein drittes, noch heftigeres Zwinkern beantwortete die Frage. Klaus, Onkel Nummer zwei, schien ihr Kommen gar nicht bemerkt zu haben. Er starrte mit trübem Blick geradeaus.

Der Notar bat um Aufmerksamkeit für die Verlesung des Testaments, doch Jule konnte sich nicht davon abhalten, ihre nächsten Verwandten heimlich zu mustern. Sie hatte die Brüder und ihre Mutter noch nie zusammen in ein und demselben Raum gesehen. Es gab zu Hause keine Bilder von ihnen, und soweit Jule wusste, hatten die drei Geschwister seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Als kleines Kind hatte Jule geglaubt, ihre Familie, das seien ihre Mutter und sie.

Als sie älter wurde, hatte sie gemerkt, dass die meisten Leute, wenn sie von Eltern sprachen, eine Mutter und einen Vater meinten. Sie hatte Inge gefragt, wo ihr, Jules, Vater war, und zur Antwort erhalten, dass er Inge sitzengelassen habe, als er gehört hatte, dass sie schwanger war. Sein Interesse für Jule schien sich in engen Grenzen zu halten. Jule hatte ihre Mutter nicht noch einmal gefragt, aber sie hatte in den nächsten Jahren heimlich nach ihrem Vater Ausschau gehalten. Vielleicht schlich er manchmal um das Haus herum, in dem sie wohnte, um zu sehen, wie groß Jule inzwischen geworden war und ob es ihr gutging?

Mit zwölf erfuhr Jule von einer Freundin ihrer Mutter, die etwas zu viel Eierlikör getrunken und sich in den Jahren danach schrecklich dafür geschämt hatte, dass ihr Vater bereits eine Familie hatte, eine Frau, Kinder, ein Haus mit Garten. Sogar einen Hund. Und das war das gewesen.

Ihren Onkel Uwe hatte Jule mit sechzehn kennengelernt, als sie seine Adresse aus dem Telefonbuch herausgesucht und ihn gefragt hatte, ob sie eine Zeitlang bei ihm wohnen könne. Uwe war nicht wirklich überrascht gewesen, dass Jule meinte, das ewige Genörgel ihre Mutter nicht mehr eine Sekunde länger ertragen zu können. Er hatte das Sofa in der Küche für sie bezogen, ihr einen Haustürschlüssel ausgehändigt und gesagt, sie solle ihm nicht böse sein, wenn er sich nicht um sie kümmern könne, er habe immer viel zu tun. Aber sie könne bleiben, solange sie wolle.

Was die gemeinsame Familiengeschichte betraf, hatte sich Uwe genau wie ihre Mutter in Schweigen gehüllt, aber er war lustig und nett gewesen und hatte aus der Videothek, in der er damals arbeitete, die neuen Folgen von Grey’s Anatomy und Sex in the City mitgebracht, die Jule und er anschauten, bis vor dem Küchenfenster die Sonne aufging.

Nicht selten wurde Jule in diesen Wochen bei ihrem Onkel von fremden Männern geweckt, die in den Küchenschränken nach Kaffeepulver oder Kondomen suchten. Jule fühlte sich auf diesem Sofa in der Küche ihres Onkels wie in einem der französischen Filme, in denen verdorbene junge Leute in einer WG lebten, nur so taten, als würden sie studieren, und stattdessen das Geld ihrer reichen Eltern für Drogen, nächtliche Autofahrten durch Paris und Sex am Strand ausgaben.

Inge hatte offensichtlich damit gerechnet, dass Jule es bei Uwe nicht länger als zwei, drei Tage aushalten würde. Nach über zwei Wochen hatte Inge dann eines Morgens vor Uwes Tür gestanden und ihre Tochter wieder nach Hause geholt, ohne ihren Bruder auch nur eines Blickes zu würdigen.

Klaus war zwei Jahre jünger als Inge und musste damit Ende vierzig sein, aber er sah älter aus, fand Jule. Er hatte die zerknitterte Haut und die wässrigen Augen von einem, der zu viel trank. Klaus war, das hatte Jule von Uwe erfahren, zweifach geschieden und seit ein paar Jahren in dritter Ehe mit einer jüngeren Frau verheiratet, mit der er zwei kleine Kinder hatte.

Kurz bevor Jule zu Hause ausgezogen war, um ihr Studium anzufangen, hatte Klaus eines Abends in Inges Küche gestanden und lautstark mit ihr gestritten. Er würde sich nicht um diesen alten Kacker kümmern, so viel hatte Jule, die von ihrer Mutter sofort auf ihr Zimmer geschickt worden war, verstanden, der nicht mehr in der Lage war, sich in seinem düsteren 70er-Jahre-Bungalow in Grünau selbst zu versorgen, und der, was ihn, Klaus, betraf, gern in einem Altersheim seiner Wahl verrecken könne.

Inge hatte den Umzug von Jules Großvater in eine Seniorenresidenz (O-Ton Inge) schließlich allein bewältigt, und Jule hatte dabei den ersten und letzten Blick auf den Vater ihrer Mutter werfen können, der etwas verloren in einem Sessel am Fenster seines Zimmers gesessen und ein Fotoalbum umklammert gehalten hatte.

Er schien sich nicht wirklich für seine Enkelin zu interessieren und reihte sich damit nahtlos in die Riege der Männer ein, die offensichtlich mehr um sich selbst als um andere besorgt waren. Inge hatte Jules Großvater von da an regelmäßig besucht, aber Jule begriff schnell, dass sie bei diesen Besuchen unerwünscht war, dass Inge ihren Vater für sich haben wollte und dass sie nicht bereit war, ihn mit jemandem zu teilen, nicht einmal mit ihrer eigenen Tochter. Inge machte sich hübsch für diese Besuche, sie ging zum Friseur und benutzte Lippenstift und Lidschatten, doch wenn sie zurückkam, zog sie die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer zu und schlief durch bis zum nächsten Morgen.

Die Geschichte ihrer Familie war verwirrend, Jule nur in Bruchstücken bekannt und löste in Inge solche Bestürzung und Trauer aus, dass Jule gelernt hatte, nicht weiter nachzufragen. Sie hatte bis zu dem Anruf ihrer Mutter vor ein paar Tagen nicht einmal gewusst, dass ihr Großvater überhaupt noch gelebt hatte.

Der Notar hatte sich durch die Klauseln der Testamentseröffnung gekämpft, eine bedeutungsvolle Pause gemacht und öffnete jetzt eine Mappe, auf der Jule die Worte Letzte Verfügung erkennen konnte. Jule warf einen verstohlenen Blick auf ihre Familie. Inge, Klaus und Uwe schienen angestrengt bemüht, den Blicken der anderen nicht zu begegnen. Inge saß aufrecht und hielt ihre Hände im Schoß gefaltet, Uwes Gesicht zuckte unkontrolliert, Klaus war in seinem Stuhl zusammengesunken und starrte den Notar verächtlich an.

Jules Blick glitt über eine Reihe schlecht gemalter Ölschinken, auf denen düstere Wälder und Seenlandschaften irgendwo in Osteuropa zu sehen waren. Über der Tür kreuzten sich die weiß-roten Flaggen zweier schlesischer Landsmannschaften. Von diesem Büro aus hätte man, ohne umdekorieren zu müssen, die Angeklagten der Nürnberger Prozesse verteidigen können.

Der Notar räusperte sich. »Wie Sie wissen, hat das Herz Ihres verehrten Herrn Vaters und Großvaters nie aufgehört, für seine alte Heimat zu schlagen.«

Jule sah ihre Mutter überrascht an. Heimat? Welche Heimat? Uwe gab ein deutliches Schnarchen von sich. Klaus seufzte genervt und sank tiefer in seinen Stuhl. Inge öffnete den Mund, als wollte sie anfangen zu singen. Doch dann wies sie ihre Brüder nur mit einem strengen Blick zurecht. Immerhin, dachte Jule. Sie hatte sie angesehen.

»Ich bin durch Ihren Vater befugt, Ihnen Ihr Erbe auszuzahlen.«

Es gab ein Erbe? Diese Nachricht schien zumindest Klaus so weit zu beleben, dass er sich aufsetzte. Uwes Zucken schien von seinem Gesicht nun auch auf seine Hände überzugreifen.

»Und zwar, sobald Sie dem letzten Wunsch Ihres verehrten Herrn Vaters und Großvaters entsprochen haben, seine Asche an den Orten seiner Kindheit zu verstreuen.«

Was nun folgte, war eine Stille, in die nicht einmal ein Gedanke zu passen schien. Jule konnte das Ticken der großen Standuhr hören, an der sie auf dem Flur des Notariats vorbeigekommen war. Teck, tock, teck, tock, teck, tock. Dann explodierten die Geschwister neben ihr in wortlosem Aufruhr. Klaus gab ein schmerzhaftes Grunzen von sich, riss den Mund auf, stöhnte gequält, lächelte ungläubig und wandte den Blick zur Zimmerdecke. Uwe sah aus, als hätte man ihn gezwungen, etwas Verdorbenes in den Mund zu nehmen. Seine Hände flatterten unkontrolliert hinauf zu seinem Gesicht und wieder zurück auf seine Oberschenkel. Inge gab einen hohen, seltsam hohlen Ton von sich, den Jule noch nie von ihrer Mutter gehört hatte und von dem sie nicht sagen konnte, ob er in ein Schluchzen oder in ein Lachen übergehen würde.

Der Notar schien von alldem keine Notiz zu nehmen. Vergnügt fuhr er fort. »Sie verstreuen die Asche Ihres Vaters. Gemeinsam. In Ostpreußen.«

Klaus krümmte sich in seinem Stuhl wie ein Boxer, der bereit war, den nächsten Schlag im feixenden Gesicht des Notars zu landen. »Und was, wenn nicht?«

Der Notar lächelte selig. »In diesem Fall verfällt Ihr Anspruch auf das Erbe, und die volle Summe wird an die Landsmannschaft zur Pflege der kulturellen Güter Ostpreußens ausgezahlt.«

»Die gibt es?« Uwes Mund wurde von einem besonders heftigen Muskelzucken verzerrt.

»Ich habe die große Ehre, ihr erster Vorsitzender zu sein.« Der Notar rückte mit bedächtigen Bewegungen einen hölzernen Briefbeschwerer zurecht, der die Form eines Trakehnerhengstes hatte. Aus den Augenhöhlen des Pferdes funkelten böse zwei kleine Brocken Bernstein. »Ihr Vater wünscht ferner, dass Sie auf dieser Reise zusammenbleiben, eine von ihm festgelegte Route nicht verlassen und unter freiem Himmel nächtigen.«

»Unter freiem Himmel?«, keuchte Inge ungläubig.

»Was soll das denn heißen?«, setzte Uwe nach.

Der Notar schien nicht vorzuhaben, auf weitere Fragen zu antworten. »Die Reise muss innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen angetreten werden. Die nötigen Unterlagen übergebe ich Ihnen hiermit.« Er reichte eine Mappe über den Schreibtisch, die, als weder Klaus noch Uwe Anstalten machten, sie ihm abzunehmen, in den zitternden Händen von Inge landete. »Und jetzt lassen Sie mich Ihnen noch den jungen Kollegen vorstellen, der Sie auf Ihrer Reise begleiten wird, um die testamentskonforme Einhaltung der Bedingungen zu protokollieren.«

Der Mann, der jetzt das Zimmer betrat, hatte blonde Locken, ein sanftes Lächeln und die freundlichen grünen Augen einer Katze, die zärtlich schnurren würde, wenn Jule sie hinter den Ohren kraulte. Jule spürte, wie ein unfreiwilliges und ziemlich blödes Grinsen ihr Gesicht überzog.

»Dzień dobry.« Er schien zu überlegen, wie er seine Begrüßung in ein möglichst fehlerfreies Deutsch übersetzen könnte.

»Einen schöne guter Tag.«

6

Inge hatte für die Trauerfeier vorsorglich eine Packung Papiertaschentücher eingesteckt. Und vielleicht hätte sie wirklich geweint, hätte ihr Vater in seiner letzten Verfügung nicht darauf bestanden, dass sein Leichnam eingeäschert würde.

Wäre der Körper ihres Vaters ordentlich aufgebahrt gewesen, hätte ihr Vater in einem richtigen Sarg gelegen, seine sterblichen Überreste nur durch ein paar Zentimeter Eiche-Vollholz von ihr getrennt, vielleicht hätte sie dann die Beherrschung verloren und wäre in Tränen ausgebrochen.