Alle unter eine Tanne - Lo Malinke - E-Book
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Lo Malinke

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Beschreibung

Für die Adventszeit DER SO GANZ ANDERE WEIHNACHTS-FAMILIENROMAN: »Alle unter eine Tanne« von Lo Malinke – entwaffnend ehrlich, pointiert witzig und dabei einfühlsam versöhnlich »Und den Kindern sagen wir es erst, wenn wir tot sind.« Vor drei Jahren haben sich die Psychotherapeutin Elli (62) und der Arzt Robert (65) scheiden lassen, um mit neuen Partnern zusammenzuleben. Aber keiner von beiden hat es bisher über sich gebracht, den drei erwachsenen Kindern davon zu erzählen. Deshalb wird auch in diesem Jahr die alljährliche Weihnachtsfeier wieder mit der ganzen Familie im Elternhaus inszeniert – eine mittlerweile routiniert ablaufende Farce. Aber dieses Mal gerät der Plan ins Wanken. Roberts neue Partnerin, Chrissi, will das nicht mehr dulden und quartiert sich unangemeldet ein. Sie stellt ein Ultimatum: Bis zum Abendessen sollen die Verhältnisse geklärt sein. "Die Girlanden auf den Fenstersimsen im ersten Stock bildeten gurkengrüne Augenbrauen für die Fenster darunter. Das Haus schien Elli mit kritischem, nein, mit mürrischem Blick anzustarren. Sie starrte trotzig zurück und seufzte vernehmlich. Aber alles würde gut gehen. Auch in diesem Jahr."

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Lo Malinke

Alle unter eine Tanne

Roman

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Inhalt

Für Philipp Müller, [...]12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061626364656667686970Danksagung

Für Philipp Müller,

wie immer und alles

1

Eines Tages hatte Robert seine Frau einfach vergessen. Er hatte nicht etwa vergessen, sie am Bahnhof abzuholen oder zum Zahnarzt zu fahren (er war ja selber einer). Er hatte auch nicht vergessen, ihr zum Geburtstag zu gratulieren oder wie versprochen eine Familienpackung Taschentücher aus dem Supermarkt mitzubringen (Elli war Therapeutin, ihre Patienten waren meist Frauen Mitte vierzig und weinten sehr viel). Robert war einfach eines Morgens aufgestanden und ins Bad gegangen. Er hatte im Stehen gepinkelt, warm geduscht, den beschlagenen Badezimmerspiegel verflucht und sich blind rasiert. Er hatte sein feuchtes Handtuch ordentlich auf seine Seite des Handtuchhalters gehängt (das seiner Frau hatte er dazu wie jeden Morgen etwas zur Seite rücken müssen) und sich dann nackt auf den Weg zurück ins Schlafzimmer gemacht. Seit auch seine jüngste Tochter ausgezogen war, hatte sich Robert die Marotte zu eigen gemacht, zu manchen Zeiten nackt im Haus herumzulaufen. Mit leisem Stolz bemerkte er dabei jedes Mal wieder, dass die Spitze seines Penis immer noch tiefer hing als seine Eier. Nicht alle seine Freunde konnten das mit Anfang sechzig von sich behaupten. Nackt und vom freundlichen Gebaumel seiner Geschlechtsteile heiter gestimmt, war Robert durch den noch dämmrigen Flur zurück ins Schlafzimmer spaziert, als ihn plötzlich eine grimmige Vorahnung von Unheil gestreift hatte, ein kurzer, aber deutlicher Schock, der wie ein kalter Luftzug über seinen Rücken geweht war und ihn hatte innehalten lassen. Vorsichtig, wie die ängstlichen Blondinen in den amerikanischen Horrorstreifen, die seine Frau so leidenschaftlich gerne sah, hatte Robert die Schlafzimmertür geöffnet. Elli schlief. Sie lag auf dem Rücken. Ihr ruhiges Atmen wurde von einem leisen Pfeifen ihrer Nebenhöhlen begleitet. Und just in diesem Moment war Robert bewusstgeworden, dass er seine Frau an diesem Morgen schlichtweg vergessen hatte. Er hatte für einen Moment vergessen, dass sie überhaupt existierte. Er hatte ihr, als er aufgestanden war, nicht wie an all den Morgen in all den Jahren zuvor einen verschlafenen Kuss auf die Wange gehaucht. Er hatte ihr nicht wie üblich versichert, sie könne gern noch ein Weilchen liegen bleiben. Er hatte nicht wie sonst die Vorhänge etwas zur Seite gezogen und das Fenster zum Garten einen handbreiten Spalt geöffnet, so dass Elli durch das euphorische Gezwitscher der Vögel im Garten (im Sommer) oder das ferne Rauschen des morgendlichen Verkehrs auf dem nahen Kaiserdamm (im Winter) sanft aus dem Schlaf emportauchen konnte. Robert hatte schlichtweg vergessen, dass dort im Bett neben ihm (seit nun fast vierzig Jahren) eine Frau gelegen hatte. Seine Frau – was es noch schlimmer machte. Und als er, noch immer unsicher im Türrahmen verharrend, einen erneuten Blick auf sie geworfen hatte, war Elli ihm mit einem Mal fremd vorgekommen, über Nacht alt geworden, unvertraut, unheimisch. Plötzlich fröstelnd, hatte er das nächstbeste Hemd aus dem Kleiderschrank gezogen und es eilig übergeworfen. Er hatte sich vor sich selbst geschämt. Und er hatte gewusst, dass es nicht gut ausgehen würde.

2

Elli fand, dass das Haus mehr Girlanden nicht verkraften würde. Fast rechnete sie damit, es vor ihren Augen im Boden versinken zu sehen, so wie das alte Stadtarchiv in Köln, das eines Morgens unter dem Gewicht all der Worte zusammengebrochen und mitsamt seinen Büchern in einem U-Bahn-Schacht verschwunden war. Ein leichtes Beben in Charlottenburg, eine zarte Wolke Mörtelstaub über den Villen des Westends. Danach würde es so sein, als hätte es das Haus nie gegeben, das Haus, in dem Robert und sie beinahe neununddreißig Jahre lang gelebt und drei Kinder großgezogen hatten. Elli hängte einen letzten Plastikzapfen auf und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Seit den frühen Morgenstunden hatte sie dunkelgrüne Würste aus Kunststoffkiefernnadeln um Geländer und Handläufe des Treppenhauses gewunden, hatte den Windfang und die zwei Sandsteinsäulen, die das Vordach des Treppenaufgangs trugen, geschmückt und zuletzt auch noch die straßenseitigen Fenster der alten Villa eingerüstet. Fast obszön hob sich das satte, industrielle Grün gegen das matte Braun des Gartens ab, der seit Wochen vergeblich auf ein wenig Schnee hoffte, um seine winterliche Blöße zu verbergen.

Heiligabend fiel in diesem Jahr auf einen Mittwoch. Elli hatte vor einigen Wochen zugestimmt, an diesem Tag Gast einer Talkshow zu sein, ausgerechnet. Sie wusste, sie würde gestresst und reichlich konfus sein, doch die Gelegenheit, die Verkäufe ihres letzten Buches mit einer kleinen Plauderei in einer der meistgesehenen Sendungen des RBB anzukurbeln (und nebenbei den idiotischen Diät-Ratgeber von Platz eins der Bestsellerliste zu verdrängen, der behauptete, man könne im Schlaf abnehmen), konnte sie sich nicht entgehen lassen. Außerdem fand Elli den Gastgeber entzückend. Jörg Thadeusz hatte die rosige Haut der leicht Übergewichtigen und das verschmitzte Lächeln eines charmanten Teenagers nach drei Wochen Zeltlager. Keine allzu schlechte Kombination in Ellis Augen. Danach würde sie zurückhetzen und die Gans ins Backrohr schieben (sie wohnte nun schon so lange in Berlin und brachte es noch immer nicht über sich, Ofen zu sagen; je öfter sie Ofen sagte, desto mehr klang dieses Wort nach dem Namen eines japanischen Haiku-Dichters: Ofen, Ofen, Ofen, Ofen), sie würde die Gästezimmer durchlüften und dann auf Roberts Ankunft warten. Und auf die der Kinder. Robert. Sie hatten einander wie lange nicht mehr gesehen? Sechs Monate? Zuletzt bei Susannas Kurzbesuch anlässlich ihres Klassentreffens. Elli hatte damals gehofft, ihre älteste Tochter würde die Kinder mitbringen oder zumindest länger bleiben als die eine Nacht, die Susanna glaubte, von ihrem hypochondrischen Mann und dem gemeinsam geführten Autohaus fernbleiben zu können. Die Zeit raste, und Elli hatte immer seltener das Gefühl, mit ihr Schritt halten zu können. Elli kniff die Augen zusammen. Die Girlanden auf den Fenstersimsen im ersten Stock bildeten gurkengrüne Augenbrauen für die Fenster darunter. Das Haus schien Elli mit kritischem, nein, mürrischem Blick anzustarren. Sie starrte trotzig zurück. Von dort, wo sie stand, konnte sie Micha im Schlafzimmer umhergehen sehen. Er packte seinen Koffer. Armer Micha. Elli seufzte vernehmlich. Aber alles würde gutgehen. Auch in diesem Jahr. Elli hatte getan, was sie tun konnte. Sie atmete tief ein. Nasses Laub hing schlapp an den Bäumen, letzte Beeren klammerten sich von Frost überzuckert an die Büsche im hinteren Teil des Gartens, ein Igelpärchen zitterte sich unter dem Kompost hinter den Hartriegelsträuchern in den verdienten Winterschlaf. Der Duft des endenden Jahres. Sie würde sich umziehen und frisieren müssen, wenn sie rechtzeitig ins Studio kommen wollte. Zufrieden mit ihrer Arbeit, aber seltsam missmutig angesichts der Ergebnisse all ihrer Mühen, schleppte Elli den muffigen Karton mit den übrig gebliebenen Girlanden zurück in die Garage.

3

Es war wirklich lächerlich, so nervös zu sein. Warum ging er nicht endlich hinein? Warum saß er hier draußen im Auto? Es war noch immer auch sein Haus, Roberts Haus, das Haus, das er und Elli damals auf einem ihrer endlosen Spaziergänge durch West-Berlin entdeckt und nicht mehr hatten vergessen können. Es hatte jahrelang leer gestanden, die Erben waren nur zu bereit gewesen, es zu verkaufen, und die Bausubstanz schien solide. Robert hatte gerade seine erste eigene Zahnarztpraxis eröffnet, Elli hatte zwei lichtlose Souterrain-Räume am hässlichen Ende der Kantstraße übernommen, in denen sie vergeblich auf Patienten wartete. Noch war sie nicht die erfolgreiche Autorin von psychologischen Ratgebern, die mit jedem neuen Buch die Amazon-Verkaufslisten anführte, noch war Robert nicht gleichberechtigter Partner einer der angesehensten Zahn- und Kieferkliniken in einer Stadt, in der die Notwendigkeit von gewissenhafter Zahnhygiene bislang nicht ins Bewusstsein der Bevölkerung vorgedrungen war. Berlin hatte schlechte Zähne und Robert eine goldene Zukunft. Und Elli und Robert waren jung und verliebt und vollkommen pleite. Natürlich hatten sie das Haus gekauft. Sie hatten sich durch Lagen alter Tapeten gebissen, Dielen von dem tückischen, ochsenblutroten Lack befreit, der das Schleifpapier innerhalb von Sekunden in klebrige Lappen verwandelte, sie hatten Wände eingerissen und Fliesen abgeschlagen. Sie hatten ihr Baby Susanna, das mit eisernem Willen das Krabbeln übersprungen und vom Liegen direkt in ein ehrgeiziges Torkeln übergegangen war, im Garten unter den Nussbaum gesetzt und, mit Butterbroten in den Händen, auf ihr zukünftiges Zuhause geblickt. Sie hatten gewusst, dass sie, obwohl dieses Projekt eigentlich zum Scheitern verurteilt war, trotzdem siegen würden. Jugend und mangelnde Erfahrung hatten sie mit Mut und unendlicher Zuversicht ausgestattet. Sie würden kein Haus renovieren. Sie würden ein Heim schaffen. Für sich und ihre Kinder. (Manche Frauen wurden schwanger, wenn ihre Männer nur unkeusch an sie dachten: Susanna war noch nicht abgestillt und Elli schon wieder im dritten Monat und unsagbar glücklich darüber.) Und jetzt saß Robert vor dem Haus, in dem ihm sein Sohn sein erstes selbstkomponiertes Klavierkonzert vorgespielt hatte (Tobias war acht Jahre alt gewesen und das Stück ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand, aber Robert hatte vor Stolz geweint), in dem Susanna ihren Eltern ihren ersten Freund vorgestellt hatte, den sie bald darauf auch heiratete (Heiner war von atemberaubender Langeweile, aber er war Roberts Enkeln ein liebevoller und zärtlicher Vater und der einzige Mann, den Susannas Ehrgeiz mehr anzog als abschreckte, und dafür war Robert bereit, ihn bedingungslos zu lieben), dem Haus, in dem sie alle immer wieder über das leicht verwirrte Feenkind Leonie gestaunt hatten, das mit einiger Verspätung zu ihnen hereingeweht worden war und das nicht aufhörte, sich an jeder Wegbiegung seines Lebens für die schlimmstmögliche Katastrophe zu entscheiden. Es war immer noch sein Haus. Und es würde immer sein Haus bleiben. Mochte Elli nun darin wohnen, mit wem sie wollte. Robert saß in seinem Wagen und beschloss, dass er noch nicht bereit war, für zwei Tage in sein altes Leben zurückzukehren. Er würde noch ein wenig hier sitzen bleiben. Sitzen bleiben, bis es wieder einmal unabwendbar Zeit wäre, seine Freundin zu enttäuschen und seine Kinder zu belügen. Es waren Momente wie dieser, in denen Robert bitter bereute, vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört zu haben.

4

Elli konnte den Anblick ihres Halses (ihr Hals!, ihr Hals!) im unbarmherzigen Neonlicht des Schminkspiegels nicht mehr ertragen. Ungeduldig nahm sie der Maskenbildnerin die Puderquaste aus der Hand, tupfte noch einmal energisch ihre bereits dreifach mattierten (und immer noch glänzenden) Nasenflügel ab und ließ sich ins Studio führen. Wer hatte eigentlich entschieden, dass man sich beim Friseur, in der Umkleide seiner Lieblingsboutique oder in der Maske der RBB-Studios einem Licht aussetzen musste, bei dem Neurochirurgen ohne Probleme eine abgetrennte Hand hätten transplantieren können? Machte man Frauen so gefügiger? Ließen sie sich derart ausgeleuchtet zu Frisuren hinreißen, die sie eigentlich gar nicht wollten? Kauften Frauen mehr oder einfach nur die nächstbeste Textilie, damit sie so schnell wie möglich dem schauerlichen Fleischpanorama entfliehen konnten, das diese brutale Beleuchtung wie unter einem Neutronenmikroskop bloßlegte? Und wie sollte Elli an sich selbst als kompetente Therapeutin glauben, wenn sie auf Fragen wie diese seit Jahren keine Antwort fand?

Waren sie schon auf Sendung? Der Moderator hatte sie überaus herzlich begrüßt und zu ihrem Stuhl geführt. Jörg Thadeusz sah aus wie Bussi Bär, fand Elli. Sie hatte ihre Kinder, als sie noch klein waren, immer mit Bussi-Bär-Heftchen in Schach halten können. Zumindest lang genug, um all ihre Einkäufe in den Tragetaschen zu verstauen, bevor der Krieg der Knöpfe erneut ausbrach und sie wieder als Schiedsrichterin und imperialer Schutzwall gefragt war. Bussi Bär hatte orangebraunes Fell gehabt, wenn Elli sich richtig erinnerte. Jörg Thadeusz war stark gebräunt. Elli war von dieser Übereinstimmung leicht irritiert. Sie versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie ahnte, dass ihr Gegenüber gerade am Ende seines Begrüßungsmonologs angelangt war. Thadeusz hatte sie angelächelt. Sollte sie zurücklächeln? Die Kamera ihr gegenüber zeigte ein rotes Licht. Hieß das, man konnte sie sehen? Noch immer nahm Elli den Moderator nur schemenhaft wahr und seine Worte als entferntes Gemurmel. Vielleicht sollte sie sich gerader hinsetzen? Die Kamera fuhr mit einem hektischen Surren auf sie zu und schaltete auf Grün. Welches Gesicht sollte sie jetzt machen? Sie war eine bekannte Therapeutin, eine anerkannte Fernsehgröße, wie so viele, die als fragwürdige Experten durch die immer gleichen Brennpunkt-Sendungen und Talkshows gereicht wurden, und sie würde zur Bedeutung der Aufrichtigkeit in Paarbeziehungen befragt werden. So viel hatte Elli im Vorbereitungsgespräch verstanden. Thadeusz hielt jetzt Ellis neues Buch in Richtung einer aufgeregt kreisenden Handkamera. Elli entschied sich für ein gelassenes, aber nicht zu professionelles Lächeln.

Thadeusz sprach jetzt direkt in die Kamera. »Das Buch meines heutigen Gastes hat nicht nur meine Ehe gerettet, sondern auch die vieler anderer verzweifelter Paare.«

Bussi Bär war also verheiratet. Elli gestattete sich einen kleinen, innerlichen Seufzer. So jung. So niedlich. Und schon so verheiratet! Oje. Thadeusz sah Elli erwartungsvoll an. Hatte er gerade ihren Namen gesagt? Elli Berger-Voigt? Berger-Voigt. Natürlich hatte sie einen Doppelnamen. Elli dachte manchmal, dass sie sämtliche Frauenklischees ihrer Zeit erfüllte. Lächerlicherweise fast schon übererfüllte. Die rote Lockenmähne, die Vorliebe für klobigen Holzschmuck und großzügige Schals aus Ikat-Stoffen, die teuren Schuhe, der elegante Shopper aus Bast und Leder, der tiefrote L’Oreal-Lippenstift, die Chanel-Sonnenbrille am Brillenbändchen und der saudumme Doppelname, für den sich außer ihr noch Millionen andere gouvernantenhafte Deutschlehrerinnen und verbiesterte Gewerkschaftsfunktionärinnen entschieden hatten. Warum war sie mit einem Mal so wütend? Am Moderator konnte es nicht liegen. Er wartete noch immer geduldig auf ihre erste Antwort, auch wenn die Zeit sich für Ellis Empfinden ungut zu dehnen schien und der Moment, in dem ihr Schweigen noch tiefsinnig gewirkt hätte, längst vergangen war. Vielleicht würde sie gleich einen Nervenzusammenbruch erleiden. Und das vor laufender Kamera. Hm. Unwahrscheinlich. Im Moment war Ellis Problem nicht ein Zuviel an Gefühl. Nein, Elli fühlte gar nichts mehr. Sie entschied, dass die einzigen zwei Tage im Jahr, an denen sie mit all ihren Kindern zusammen sein würde, nicht die richtige Zeit für großes Drama waren, und bediente sich der Masche, die sie bei Politikern und Beamten (und sogar bei einigen ihrer Klienten) selbst immer zur Weißglut trieb. Elli schenkte dem Moderator ihr strahlendstes Lächeln und begann zu reden, ohne wirklich etwas zu sagen. Bevor ich Ihnen auf Ihre Frage antworte, lassen Sie mich Ihnen versichern, wie sehr es mich freut …, bla, bla, bla. Alles, was dann kam, waren die Lügen, die Elli seit Anbeginn ihrer Karriere wie eine Bugwelle vor sich herschob, die ewig gleichen Phrasen, die davon ablenken sollten, dass sie tief in ihrem Inneren nicht wirklich sicher war, zu wissen, was sie da eigentlich tat. Immer verfolgt von der Angst, dass eines Tages während einer ihrer vielen Lesungen jemand aufstehen und rufen würde: ›Sie hat keine Ahnung von dem, was sie da sagt!‹ Dass eines Tages jemand begreifen würde, dass Elli in Wahrheit ein Scharlatan war, eine Hochstaplerin, eine Ketzerin, die in ihrer eigenen Beziehung stets das genaue Gegenteil von dem tat, was sie anderen predigte. Lassen Sie das Gespräch nie abreißen! Ha! Elli und Robert hatten sich in den letzten Monaten ihrer Ehe in verbissenem Schweigen eingemauert, das nur hin und wieder von jähen Ausbrüchen voll Zorn und gekränkter Eitelkeit durchbrochen wurde. Gönnen Sie sich und Ihrem Partner den Luxus der unbedingten Offenheit! Wirklich? Bitte schön! Als Robert ihr nach Wochen die Affäre mit seiner Sprechstundenhilfe gestanden hatte, hatte Ellis Motorradfahrlehrer ihr in seiner kleinen Wohnung im Wedding bereits eine Schublade in seiner Kommode freigeräumt gehabt, in der sich Ellis Schlüpfer, ihr Reiseföhn und ihr Jil-Sander-Parfüm eingerichtet hatten, um zu bleiben. An manchen Tagen ihres Lebens war Elli das Gefühl nicht mehr losgeworden, im Körper einer anderen zu stecken und deren Leben zu leben, so gut es eben ging, ohne Kontrolle über das, was passierte, und ohne jegliche Verbindung zu den Gedanken und Empfindungen dieser fremden Person. Doch all die Jahre der Selbstzweifel hatten Elli wenigstens eine gewisse Übung im Vortäuschen von Kompetenz verschafft: Als nach einer halben Stunde die Scheinwerfer erloschen und die Kameras von ihr abrückten, drückte ein begeisterter Jörg Thadeusz Ellis Hände. Elli verabschiedete sich herzlich. Sie würde jetzt nach Hause fahren. Sie hatte ein Weihnachtsfest zu überleben.

5

Natürlich hatte Elli gesehen, dass Robert in seinem geparkten Wagen saß und dort auf sie wartete. Er hatte richtigerweise angenommen, dass Micha allein im Haus war. Und das bedeutete für Robert, dass er Zeit mit Micha allein hätte verbringen müssen, ohne dass er – wie bei früheren Zusammentreffen – Elli als Simultandolmetscherin nutzen konnte, durch die er mit dem neuen Partner seiner Frau sprach. Dass Micha fast dreißig Jahre jünger als Robert war, hatte in solchen Momenten nie wirklich geholfen. Die drei Jahre, die seit Ellis und Roberts Trennung vergangen waren, hatten nicht dazu beigetragen, dass Exmann und Neu-Freund einen normalen Satz miteinander sprechen konnten, ohne ein verbales Weitpinkeln zu veranstalten. Erst recht nicht seit dem Abend, an dem Robert und seine neue Freundin Chrissi ihre Drohung wahr gemacht hatten, Elli und Micha zu einem gemeinsamen Abend beim Italiener einzuladen, ausgerechnet bei Ellis und Roberts ehemaligem Lieblingsitaliener, Giancarlo, den sowohl Elli als auch Robert nach ihrer Trennung geflissentlich gemieden hatten und der sie begrüßt hatte wie das sprichwörtliche verlorene und wiedergefundene Schaf. Auch nach der zweiten Flasche Chianti, die Giancarlo – natürlich auf Kosten des Hauses – an ihren immer schweigsamer werdenden Tisch gebracht hatte, war es Elli nicht gelungen, dem glücklichen Patrone begreiflich zu machen, dass Robert nicht mehr zu Elli gehörte und Elli nicht mehr zu Robert. Wie das Kind, das seinen in Trennung lebenden Eltern einen gemeinsamen Ausflug nach dem anderen vorschlägt, hatte Giancarlo stoisch alle Hinweise übersehen, die Elli und auch Robert ihm diskret gegeben hatten. Wenn Elli Giancarlos Lady Di war, so würde Micha für ihn immer der neureiche Schmierlappen Dodi bleiben und Chrissi für ihn das Luder Camilla, das Prince Charles davon abhielt, wieder zu seiner Prinzessin zurückzukehren. Sie hatten sich bemüht. Aber der Abend war ein Desaster gewesen, und das Verhältnis aller Beteiligten hatte sich nie wieder davon erholt. In dem Moment, in dem Elli die Haustür aufschloss, hörte sie, wie Roberts Autotür zufiel.

6

»Kalt isses hier!« Schon diese drei Wörter ihres Exmannes ließen Ellis Halswirbel versteifen. Robert rieb sich übertrieben die behandschuhten Hände und klopfte vermeintlich fachmännisch am Thermostat des Heizkörpers im Flur herum. Diesmal hat er es fast bis ins Treppenhaus geschafft, bevor er zum ersten Mal sein Bein heben muss, dachte Elli und warf ärgerlich ihren Mantel über die Garderobe.

»Spinnt die wieder?«, fragte Robert und hämmerte noch einmal gegen das Heizungsrohr.

»Wir finden es mollig, und die Heizung funktioniert wunderbar«, antwortete Elli. Typisch, dachte sie. Dieses Verhalten war typisch für den Nach-unserer-Trennung-Robert, einen Mann, an dem sie nach fast vierzig gemeinsamen Jahren noch einmal ganz neue Seiten hatte entdecken dürfen. Wann immer Robert jetzt ihr Haus betrat, überhäufte er Elli mit gutgemeinten Ratschlägen, wie man die Fassade isolieren oder den doch recht feuchten Keller trockenlegen könnte. Micha gegenüber sprach er sich dafür aus, das Lüften auf ein Minimum zu beschränken, um die Heizkosten nicht ohne Not nach oben zu treiben, oder das Rauchen im Haus zu unterlassen, um den Wert des Hauses nicht noch weiter zu mindern. Micha reagierte stets mit einem souveränen Lächeln auf Roberts übergriffiges Getue, dabei war es Elli, die, nach über drei Jahrzehnten ohne eine einzige Zigarette, angefangen hatte, sich ab und zu eine Camel Light zu gönnen. Und es war Elli, die auch im strengsten Winter aus dem Haus ging und die Fenster sperrangelweit offen stehen ließ, um den lästigen Gestank einer heimlich im Wohnzimmer gerauchten Kippe wieder loszuwerden. Natürlich wusste Robert von alldem nichts (nicht einmal Micha wusste es). Und wenn, hätte es an Roberts Vorhaltungen nicht das Geringste geändert. Er brabbelte in Ellis und vor allem Michas Gegenwart unaufhörlich besserwisserischen Schwachsinn, wie die greisen und nutzlosen Schrebergärtner, die ihr Wissen der jungen und bedauernswerten Familie auf der anderen Seite der Hecke aufdrängen, wenn es sonst schon niemanden mehr zu interessieren schien. Elli sah darin den verzweifelten und oft lächerlichen Versuch eines verlassenen Ehemanns, sich der Exfrau als unentbehrlich zu präsentieren (und sich vor dem Nachfolger aufzuplustern), und oft genug tat ihr Robert deswegen leid.

Doch heute, entschied Elli, hatte ihr Exmann kein Mitleid verdient. Heute ging es darum, in straffer Formation zu marschieren und den Feind zu besiegen. Und mit Feind, ertappte sich Elli, meinte sie ihre Kinder und deren jeweilige Partner. Ein Gedanke, auf den sie nicht besonders stolz war und den sie gleich darauf mit Schwung in die äußerste Umlaufbahn ihrer Großhirnrinde verdrängte.

Robert drehte noch immer missmutig am Thermostat herum.

»Vielleicht magst du deine Sachen schon einmal nach oben bringen?« Elli wies mit dem Kinn zur Treppe.

Doch Robert hatte offensichtlich nicht die Absicht, sich so leicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Er hatte ein neues Ziel für seine Spottlust entdeckt, eine zweite neue Seite an ihm, auf die er im Zusammensein mit Elli viel Zeit verwendete. Zu viel Zeit, wie Elli verstimmt dachte. Robert hatte ein gerahmtes Foto von der Wand genommen und betrachtete es amüsiert. Elli ahnte, was nun kommen würde, sie roch es förmlich.

Das Foto, das Robert in den Händen hielt, zeigte Micha und Elli auf schweren Motocross-Motorrädern auf einer riesigen Sanddüne, deren Umrisse im rötlichen Schimmer eines Sonnenuntergangs verschwanden. Elli und Micha trugen Tuareg-Turbane (die schon damals arg malerisch gewesen waren) und strahlten erschöpft, aber stolz in die Linse des Fotografen. Elli hätte das Foto nicht gebraucht. Sie erinnerte sich an diesen Moment, als sei seitdem erst ein einziger Tag vergangen. Wie viel Glück sie in dieser Sekunde verspürt hatte, wie viel Leichtigkeit, welche Freiheit vor ihr gelegen hatte! Auf dieser Düne, irgendwo in Afrika, an der Seite dieses Mannes, den sie so sehr liebte. Wie unverwundbar und mächtig sie sich gefühlt hatte! Wie eine Amazone nach überlegen gewonnener Schlacht, wie eine Herrscherin, die ihren Blick ein letztes Mal über die besiegten Truppen schweifen ließ. Doch nun sah sie sich durch Roberts Augen und kam sich alt vor und lächerlich. Eine verwelkende Mitteleuropäerin auf ihrer ersten und letzten Abenteuerpauschalreise.

»Wo war das jetzt wieder?«, fragte Robert.

»Sahara«, murmelte Elli.

»Was machst du in der Sahara?«

»Ich fahre durch.«

»Auf einem Motorrad!«

»Die Kamele waren bereits alle vergeben.« Elli hatte sich stets darauf verlassen können, Robert in kritischen Momenten mit ihrer Schlagfertigkeit das Maul zu stopfen. Es funktionierte auch dieses Mal. Robert zog säuerlich die Mundwinkel nach unten und reichte Elli das Bild. Die nahm es huldvoll entgegen. »Deine Sachen? Nach oben? Und am besten, bevor alle da sind?«

Mit einer gekränkten Grandezza, die dem so fabelhaft tuntigen Albin aus La Cage aux Folles gut zu Gesicht gestanden hätte (Elli bekam nie genug von diesem bezaubernden Kracher der Filmgeschichte), nahm Robert seinen Koffer und seine Plastiktüten und stieg die Treppe hinauf. Nachdenklich warf Elli noch einen letzten Blick auf das Foto, von dem Micha sie jetzt und für alle Zeiten jungverliebt anlächelte. Dann verstaute sie es in der Kommode (obere Schublade). Aus derselben Kommode (untere Schublade) holte sie ein anderes Bild hervor: ein goldener Wannseetag am Bootssteg ihres damaligen Segelvereins, der junge Robert mit seiner ebenso jungen Frau Elli, drei lachende, sonnengebräunte Kinder und ein auffallend dicker, hechelnder Labrador namens Rosel. Rosel hätte ihr eigenes Körbchen aufgefressen, dachte Elli in wehmütiger Erinnerung an ihren ersten Hund, sie hätte Joghurtbecher verschlungen und Tapeten von den Wänden gefressen, hätte man sie nicht davon abgehalten. Rosel war schon vom Anblick eines Brötchens fett geworden. Ganz ähnlich wie ihr Frauchen heute, dachte Elli seufzend. Ein Bild aus glücklichen, längst vergangenen Tagen. Rosel war mit vierzehn Jahren an einer Gebärmutterblutung gestorben. Auf einem ihrer Spaziergänge durch den Grunewald hatte sich die alte Hündin plötzlich erschöpft fallen lassen und war auch durch Ellis gutes Zureden nicht mehr dazu zu bewegen gewesen, aufzustehen. Nur Minuten später war sie in Ellis Armen eingeschlafen. Elli spürte es noch heute. Sie spürte es als leichten Druck auf ihren Unterarmen, der plötzlich nachließ, sie sah noch genau, wie Rosel ihr einen letzten, überraschten Blick zugeworfen hatte (Was passiert mit mir? Wirst du bei mir bleiben?), konnte immer noch spüren, wie der warme Hundekörper mit einem Mal schlaff geworden und weggesackt war. Robert hatte die beiden etliche Stunden später gefunden, Elli kauerte weinend an Rosels Seite. Zusammen hatten sie Rosel zum Auto getragen, und auch Robert hatte sich an diesem Tag seiner Tränen nicht geschämt. Rosel lag im Garten begraben, Robert hatte einen roten Ahorn auf ihrem Grab gepflanzt. Der Baum war nun schon einige Meter hoch und warf an langen Sommernachmittagen einen freundlichen Schatten auf das Fenster von Ellis Arbeitszimmer. Elli hatte danach nie wieder einen Hund haben wollen. Sie wischte mit dem Ärmel etwas Staub von der Glasplatte des Bildes und hängte es an die verwaiste Stelle an der Wand.

7

Susanna hatte sich vor diesem Moment seit Monaten gefürchtet. Sie hatte Angst, vor ihren Angestellten und den Beamten der Pfändungsstelle in Tränen auszubrechen. Doch während nun ein Auto nach dem anderen aus der Ausstellungshalle gefahren wurde, war es ihr, als würde sie innerlich vertrocknen, als würde ihren Organen, ihrer Haut, ihren Augen der letzte, überlebensnotwendige Rest Flüssigkeit entzogen, so gründlich und endgültig, dass sie wie eine dieser mumifizierten ägyptischen Königinnen, die man im Naturkundemuseum hinter Glas bestaunen durfte, für alle Tage in ihrem jetzigen Zustand konserviert wäre. Ihr starrer Blick, ihre gekrümmte Haltung, einbalsamiert in Tausende und Abertausende Jahre harter Arbeit und vernichteter Hoffnungen. Beide hatten sie es kommen sehen. Heiner und Susanna waren sich der Krise bewusst gewesen, doch sie waren überzeugt, dem Sog widerstehen zu können, der bereits so viele unabhängige Autohäuser in den Abgrund gerissen hatte. Irgendwann, so Heiner, würden die Leute wieder anfangen, Autos zu kaufen. Das war sein Mantra gewesen: der Deutsche und seine Liebe zu seinem Auto! Die Tage, an denen nicht eine Menschenseele den Weg in ihr Autohaus fand, wären bald vergangen, die Regierung tat doch ihr Möglichstes, um die Leute zum Kaufen zu animieren. Aber diejenigen, die ihr altes Auto verschrotten ließen, um in den Genuss der staatlichen Prämien zu gelangen, kauften anschließend keine Limousinen, sie kauften günstige Kleinwagen mit niedrigem Verbrauch und hässlichen Plastikarmaturen. Und die Rabatte und Vergünstigungen, die Heiner sich ausgedacht hatte, waren ohne jeden Effekt verpufft. Susannas Buchführung war bald zu einer Chronik ihrer wachsenden Verluste geworden. Susannas und Heiners Versuche, das Unvermeidliche gegenseitig zu beschönigen und einander dadurch zu trösten, hatten nach Wochen und Monaten des Niedergangs nur noch seltsam hohl und naiv geklungen. Als die Banken endgültig auf die Rückzahlung der Kredite bestanden und das Ende gekommen war, hatte Susanna fast so etwas wie Erleichterung verspürt. Sie schämte sich dafür. Aber es war vorbei. Susannas und Heiners Traum vom eigenen Autohaus war ausgeträumt. Sie waren nach fast zehn Jahren wieder dort angekommen, wo sie losgegangen waren.

Das letzte Auto fuhr an ihnen vorbei. Der lebensgroße Papp-Aufsteller mit Heiners und Susannas Konterfeis, auf dem sie strahlend und mit erhobenen Daumen großzügigste Rabatte anpriesen, geriet leicht ins Wanken. Es sah aus, als winkten Papp-Heiner und Papp-Susanna zum Abschied noch einmal leise servus. Was für ein Hohn!

Susanna sah, wie der Hausmeister mit trauriger Miene auf Heiner zukam. In seinem roten Overall und mit seinem weißen Rauschebart sah er aus wie der Coca-Cola-Weihnachtsmann. Nur, dass er statt der erhofften Geschenke sein Schlüsselbund aus der Hosentasche zog und es in Heiners geöffnete Hand legte. Auch für ihn war heute der letzte Tag. Die übrigen Angestellten hatten sich bereits am frühen Morgen verabschiedet. Keinem von ihnen war danach gewesen, mit anzusehen, wie sich Hof und Ausstellungshalle langsam leerten, bis nur noch die Reifenspuren auf den blanken Fliesen der Halle davon zeugten, dass hier einmal einige der schönsten Autos, die deutsche Autobauer zu entwerfen imstande waren, in langen, sorgsam polierten Reihen gestanden hatten. Es war zum Heulen.

»Nehmen Sie’s mal nicht so tragisch. In Ihrem Alter, da fällt man. Und dann steht man wieder auf.« Der Weihnachtsmann nickte Susanna und Heiner noch einmal gütig zu. »Schöne Feiertage!« Damit verließ auch er die Stätte ihrer Niederlage.

Susanna wusste, dass seine Worte aufmunternd gemeint waren. Aber sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um nicht die verstaubte Yucca-Palme, die rechts vom Ausgang stand, aus ihrem Granulat zu reißen und den alten Mann damit zu verprügeln. Sie wollte nicht getröstet werden. Sie hasste Trost. Sie war es doch immer gewesen, die getröstet hatte! Sie war es, die den anderen gezeigt hatte, wie man ein erfolgreiches Leben lebte! Sie hatte es ihrem Bruder gezeigt, sie hatte es ihrer Schwester gezeigt, sie hatte es ihren Eltern gezeigt. Vielleicht war sie nicht das beliebteste Mädchen der Schule gewesen (diesen Titel hatte sich eher ihr Bruder verdient). Aber sie war das am häufigsten ausgezeichnete. Ihre Urkunden hatten ihr Zimmer von der Fußleiste bis zur Decke gepflastert, selbst im Schulsport war sie so erfolgreich gewesen, dass sie nach ihrem Abitur gleich zwei Leichtathletik-Stipendien ablehnen konnte. Sie wollte keinen Trost. Sie wollte Respekt.

Der Weihnachtsmann schloss die großen Glastüren der Ausstellungshalle und verschwand. Ein Luftzug fuhr durch den Raum. Der Papp-Aufsteller schwankte und schlug mit einem müden Flupp aufs Gesicht. Das Blinken der Weihnachtsdekoration draußen auf dem Hof erlosch. Heiners Hand hatte sich noch immer nicht um den Schlüsselbund geschlossen. Vielleicht würde Susanna jetzt doch noch ein bisschen weinen. Sie war sich nicht sicher.

8

Robert hatte nicht damit gerechnet, dem Liebhaber seiner Exfrau ausgerechnet im Schlafzimmer zu begegnen. Offensichtlich war Micha noch nicht fertig mit Packen, er stopfte gerade Unterwäsche und Socken in eine Sporttasche. Der Liebhaber seiner Frau. Du meine Güte. Robert wusste, Liebhaber war eine einigermaßen altmodische und wahrscheinlich auch schlicht dämliche Bezeichnung für den neuen Lebensgefährten seiner Frau, doch seitdem Elli ihm zum ersten Mal von ihrer Beziehung zu diesem fast dreißig Jahre jüngeren Fahrlehrer erzählt hatte, konnte Robert nicht anders, als sich die beiden beim Liebesakt vorzustellen. Er sah Elli nackt an der Küchentheke lehnen, Michas Hände auf ihren Hüften, er sah die beiden kopulierend im Gartenhäuschen oder hinter beschlagenen Scheiben in Michas einsam am Waldrand geparktem Volvo. Nicht, dass ihn die Vorstellung seiner Exfrau mit ihrem neuen Freund körperlich erregt hätte, er war schließlich kein zwanghafter Lüstling, der Sex nur bei einem Blick durchs Schlüsselloch der Nachbarn genießen konnte, nein, ganz im Gegenteil, die Bilder bereiteten Robert in der Regel eher leichte Kopfschmerzen. Aber Elli war eine sehr sinnliche Frau (mein Gott, er klang wirklich wie ein spießiger alter Sack; sie war eine Granate im Bett, jawohl, das war sie), und daher hatte Robert gedacht (gehofft), ihre Zuneigung zu Micha wäre nicht mehr als eine körperliche. Eine flüchtige kleine Leidenschaft, derer sie bald überdrüssig werden würde, ein Jucken, das man einmal ausgiebig kratzte und dann vergaß. Nicht, dass Robert damals auch nur einen Moment lang geglaubt hätte, ihre Ehe wäre noch zu retten gewesen. Sie hatten sich seit Jahren stetig voneinander fortbewegt und es fast achtlos geschehen lassen. Nach Leonies Geburt hatte Robert häufig im Gästezimmer übernachtet und in den letzten Jahren hatten beide jede Ausrede genutzt, um nicht miteinander schlafen zu müssen. Höflich, wie sie waren, und in Erinnerung an all die glücklichen, gemeinsam erlebten Zeiten, hatten sie sich auf eine sanfte, schüchterne, fast freundschaftliche Weise voneinander entfernt, immer in dem Bemühen, den anderen weder zu verletzen noch zu beschämen. Nur, dass es ihnen schließlich doch nicht gelungen war, als Freunde auseinanderzugehen. Robert hatte sich in Chrissi, seine Sprechstundenhilfe verliebt, Elli hatte sich von Micha, ihrem Fahrlehrer, verführen lassen (wahrscheinlich war es genau andersherum abgelaufen, wie auch immer, dies war Roberts Lesart der Geschehnisse), und alles, alles hätte gut sein können. Doch zu beider Überraschung hatten sie es schließlich doch als Kränkung empfunden, sich so bald durch jemand anderen ersetzt zu sehen, und diese Kränkung hatten sie einander spüren lassen. Sie hatten es einander mit Schweigen und kindischen Zänkereien vergolten, worüber sie beide bis heute, drei Jahre danach, nicht wirklich hinweggekommen waren. Robert hüstelte.

Überrascht blickte Micha vom Kofferpacken auf. »Robert.«

Michas Gruß klang wie das Quaken eines beleidigten Frosches.

Robert gab ein tiefes Grunzen zurück: »Micha.«

Es war wie eine Begrüßung unter Steinzeitmännern, die den Namen des jeweils anderen Männchens ausriefen, um Handgreiflichkeiten vorzubeugen. Danach schwiegen beide betreten. Schließlich fuhr Micha fort, seine Seite des Kleiderschrankes auszuräumen. Robert öffnete seinen Koffer und legte seine Sachen auf seine Seite des Bettes, oder besser, auf die Seite, die vor noch gar nicht allzu langer Zeit seine gewesen war. Es war immer noch dieselbe. Elli hatte ihre Seite behalten. Auch wenn das Bett nun leicht verschoben im Raum stand. Wahrscheinlich ein Ritual, um die Schwingungen, die Robert in mehr als dreißig Jahren in diesem Raum hinterlassen hatte, endgültig zu tilgen. Elli glaubte an solche Sachen – auch wenn sie vorgab, es nicht zu tun. Keiner wusste das besser als Robert: Eines Tages hatte Elli ein ganzes Hotelzimmer umgeräumt, angeblich, um mehr Platz zu schaffen, doch ihrer Freundin Biggi hatte sie am Telefon verraten, dass ihr tatsächlich das miese Fengshui des Raumes bereits beim Betreten eine Gänsehaut beschert hatte. Das Zimmermädchen hatte sie gleich am nächsten Morgen bei der Hotelleitung verpetzen wollen, doch Elli hatte ihr, ohne zu zögern, einen ihrer geliebten Kaschmirschals geschenkt und sie damit zum Schweigen gebracht.

Micha nahm eins dieser neuen elektrischen Lesegeräte vom Nachttisch. Robert misstraute Lektüren, denen unterwegs der Strom ausgehen konnte. Er legte sein Buch an dessen Stelle. Micha nahm sein iPhone von der Kommode. Robert stellte seinen alten, aber immer noch zuverlässigen Radiowecker an dessen Platz. Vielleicht bemerke nur ich es, dachte Robert fast belustigt, aber was hier abläuft, ist ein Kampf der Giganten. Ein Kampf der Generationen. Robert war seinem gekränkten männlichen Ego noch nicht zu sehr auf den Leim gegangen, um nicht auch die Peinlichkeit dieser Situation spüren zu können. Doch er war kindisch genug, sie zu genießen. Micha und Robert agierten noch eine Weile mit der höflichen Vorsicht zweier Reisender in einem überfüllten Zugabteil, begleitet von allerlei schwach gemurmelten Entschuldigungen, dem anderen jetzt doch leider im Weg stehen zu müssen (Aber nicht doch!), und nervösem Gehüstel (Muss der Staub hier oben sein!). Schließlich nahm Robert seinen Pyjama aus dem Koffer und platzierte ihn auf dem Kopfkissen.

Micha hielt fasziniert inne. »Pyjama. Im Ernst?«

Robert sah Michas belustigten Blick, verstand jedoch die Frage nicht. »Was denn sonst?«

Eine lässige Handbewegung Michas später gab es ein weiteres Bild, das in Roberts Kopf um einen Platz auf dem ewigen Bildschirmschoner kämpfte: Micha, der sportlich und nackt aus dem Badezimmer kommt, um sich vor Elli zu drehen und zu wenden, damit seiner Geliebten auch nicht der geringste Schatten entgeht, den die kleinen Fächer seines Waschbrettbauches auf sein Schamhaar … Guter Gott! Vielleicht hatte Micha überhaupt kein Schamhaar mehr! Hatten Robert und seine Freunde in der Umkleide ihres Tennisclubs nicht oft genug über die jungen Männer gescherzt, die weder Achsel- noch Schambehaarung an ihren modernen, glattrasierten Körpern duldeten? Und hatte Robert sich nicht oft genug den Kopf darüber zerbrochen, welche Art Frauen Männer bevorzugten, die ihren Körper auf einen vorpubertären Entwicklungsstand herunterepilierten? Robert fand es plötzlich unerquicklich und definitiv zu homoerotisch, sich über Michas Schambehaarung noch ausführlichere Gedanken zu machen (Robert vermutete ohnehin, dass Micha einen riesigen Penis mit sich herumschleppte, aber das hätte er von jedem Mann angenommen, mit dem Elli sich einließe). Robert lächelte Micha unsicher an. Micha grinste gutmütig zurück. Dann verschwand er im Bad. Robert konnte sich nicht zurückhalten, Michas Handbewegung vor dem Spiegel des Kleiderschranks nachzuäffen (Ich schlafe nackt, nackt, nackt, damit mein Riesenpimmel das Letzte ist, was deine Frau beim Einschlafen, und das Erste, was sie beim Aufwachen sieht!). Als sein Blick dabei auf die rundliche kleine Kugel unter seinem Pullunder fiel, hielt Robert inne und posierte noch einmal. Diesmal mit eingezogenem Bauch. Na also. Nicht schlecht für einen alten Sack. Gar nicht schlecht.

9

Leonie zuckte erschrocken zusammen, als die Gynäkologin das kalte Gel für die Ultraschalluntersuchung aus der Tube quetschte und den durchsichtigen Glibber mit dem Kopf der Sonde auf ihrem Bauch verteilte. Die Arzthelferin, die ihre Daten aufgenommen hatte und gerade den Behandlungsraum verließ, war eine unfassbar freundliche, unfassbar dicke Blondine in weißen Bequemschuhen, in deren fetten, warmen Armen die erschöpfte Leonie am liebsten ein wenig geweint hätte. Sie war jetzt immer so müde. Schlafen machte sie müde. Essen machte sie hungrig. So oft, wie sie pinkeln musste, hätte sie ihre Tage ebenso gut auf der Toilette in ihrem Studentenwohnheim verbringen können. Leonie hatte während der letzten Wochen gelernt, ihrem Körper von Grund auf zu misstrauen. Die mütterliche Arzthelferin, die sie mit der routiniert werkelnden Ärztin allein gelassen hatte, hatte ihr gesagt, dass manche Patientinnen das Auftragen des Gels als unangenehm empfänden. Sie hatte Leonie auch darüber informiert, dass die Untersuchung mittels Ultraschall für ihr Kind vollkommen ungefährlich sei (Leonie hatte sich vorher darüber keine Gedanken gemacht, erst jetzt fühlte sie ein leichtes Unbehagen), da die Schallwellen lediglich den Widerstand reflektierten, auf den sie im Gewebe des Mutterleibes trafen, um ihn anschließend auf dem Monitor als zweidimensionales Bild sichtbar zu machen. Embryos, die für Leonie während des Studiums nie mehr gewesen waren als grobkörnige, maulwurfartige Wesen in grau-weißer Suppe (Leonie studierte Biotechnologie in Freiburg und hatte ihren Abschluss für das kommende Jahr geplant, doch danach sah es jetzt nicht mehr aus), waren also eine Illusion, ein Echo, waren eher der Wunschgedanke werdender Eltern als die Gewissheit eines Kindes.

Die Gewissheit eines Kindes. Leonie war bereits im dritten Monat schwanger, bevor sie überhaupt bemerkt hatte, dass sie gegen Anfang des Sommers ihre wohl vorerst letzte Periode gehabt haben musste. In den letzten Tagen hatte sie versucht, all die Biere und gelegentlichen Zigaretten zusammenzuzählen, mit denen sie ihr ungeborenes Kind malträtiert hatte, bevor sie von seiner Existenz erfahren hatte. Gott sei Dank hatte sie Alkohol nie besonders gut vertragen, schon von dem alkoholfreien Jever ihrer Freundin Jessica verspürte sie regelmäßig leichten Schwindel. Trotzdem wurde sie von Visionen geplagt, in denen ihr Kind ein Trottel war, das Kind mit den flaschenbodendicken Brillengläsern, das mehr Aufmerksamkeit als alle anderen bekam und die Sonderschule trotzdem mit nur mangelhaften Lesekenntnissen abschloss.

Leonies Handy klingelte. Die Ärztin war noch immer damit beschäftigt, mit der Ultraschallsonde auf ihrem Bauch Achterbahn zu fahren, um ein halbwegs deutliches Bild des Babys auf den Monitor zu bekommen. Sie warf Leonie einen vorwurfsvollen Blick zu, als die jetzt mit einer kleinen, entschuldigenden Geste das Gespräch annahm.

»Warum bist du noch nicht losgefahren?« Susanna hatte noch nie viel davon gehalten, mit Begrüßungen Zeit zu vergeuden, wenn sie stattdessen gleich zu Vorwürfen übergehen konnte.

»Wie kommst du darauf, dass ich noch nicht losgefahren bin?«

»Bist du?«

»Nein.«

Gespräche mit ihrer älteren Schwester hatten schon in ihrer Kindheit mehr Verhören geglichen als dem erwartbaren Geplauder zwischen Geschwistern. Susanna hatte Abweichungen von der Norm schon als Sechsjährige kaum ertragen und alles Notwendige unternommen, damit auch Tobias und die kleine Leonie sich ihrem strengen Reglement unterwarfen, das die genaue Einhaltung der Zeiten für Hausaufgaben, Lesen, Sporttraining, Reitstunden und gründliche Körperpflege ihrem Tagesablauf vorgab. Doch Leonie war seit jeher eine einzige Abweichung von den Prinzipien, die Susannas Leben bestimmten. Leonie war (in Susannas Augen) als eine einzige Anomalie auf die Welt gekommen. Leonie, so klagte Susanna einer amüsierten Elli manchmal ihr Leid, schläft mit offenen Augen, nie beantwortet sie eine Frage wirklich so, dass man das Gefühl haben kann, ihre Version der Ereignisse stimmt mit der Realität überein, nie ist sie pünktlich, nie bleiben ihre Blusen länger als fünf Minuten ohne Flecken, nie, nie, nie!

Leonie selbst hatte kurz nach ihrem fünften Geburtstag zu ihrer eigenen Überraschung erkannt, dass ihr wahrer Verbündeter nicht ihre ältere Schwester, sondern ihr Bruder Tobias sein würde. Tobias, der seine Tage an selbstgezimmerte Baumhäuser, bunt bekritzelte Tapetenreste, selbstkomponierte Glockenspielkonzerte und die abgelegten Kleider seiner Mutter verschwendete. Leonie war noch am selben Tag in Tobias’ Zimmer übergesiedelt. Sie hatte sich nichts dabei gedacht. Aber sie hatte damals eine Wahl fürs Leben getroffen.