Ändert sich nichts, ändert sich alles - Katharina Rogenhofer - E-Book

Ändert sich nichts, ändert sich alles E-Book

Katharina Rogenhofer

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Beschreibung

Das Buch der Stunde von „Fridays For Future“-Aktivistin Katharina Rogenhofer – „Mehr Mut braucht die Welt! Ein gutes und vor allem wichtiges Buch.“ Luisa Neubauer
Sie hat „Fridays For Future“ nach Wien gebracht und ist die Sprecherin des Klimavolksbegehrens, sie ist 27, das Gesicht des Klimaschutzes in Österreich und mit ganzem Herzen dabei. Katharina Rogenhofer, studierte Biologin, hat ein beeindruckendes Faktenwissen zum Thema Umwelt und Klimakrise. Sie kennt die Zusammenhänge zwischen Ökologie, Wirtschaft und Politik – erst recht in schwierigen Pandemiezeiten – und weiß diese einfach, aber nie vereinfachend zu erklären. Sie arbeitet mit den politischen Akteuren auf nationaler und internationaler Ebene. Ihr Buch ist ein beeindruckendes Plädoyer für einen Green New Deal. Vor allem aber nimmt uns die Autorin mit auf eine Reise – engagiert, unverhohlen und so persönlich, dass man ihr folgen muss.

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Über das Buch

Das Buch der Stunde von »Fridays For Future«-Aktivistin Katharina Rogenhofer — »Mehr Mut braucht die Welt! Ein gutes und vor allem wichtiges Buch.« Luisa NeubauerSie hat »Fridays For Future« nach Wien gebracht und ist die Sprecherin des Klimavolksbegehrens, sie ist 27, das Gesicht des Klimaschutzes in Österreich und mit ganzem Herzen dabei. Katharina Rogenhofer, studierte Biologin, hat ein beeindruckendes Faktenwissen zum Thema Umwelt und Klimakrise. Sie kennt die Zusammenhänge zwischen Ökologie, Wirtschaft und Politik — erst recht in schwierigen Pandemiezeiten — und weiß diese einfach, aber nie vereinfachend zu erklären. Sie arbeitet mit den politischen Akteuren auf nationaler und internationaler Ebene. Ihr Buch ist ein beeindruckendes Plädoyer für einen Green New Deal. Vor allem aber nimmt uns die Autorin mit auf eine Reise — engagiert, unverhohlen und so persönlich, dass man ihr folgen muss.

Katharina RogenhoferFlorian Schlederer

Ändert sich nichts, ändert sich alles

Warum wir jetzt für unseren Planeten kämpfen müssen

Paul Zsolnay Verlag

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Ein Buch der Chancen

Seit ich denken kann, wünsche ich mir etwas mehr als alles andere. Ich wünschte es mir, als ich mit fünf Jahren meine ein Meter lange Frotteezipfelmütze im Lainzer Tiergarten verlor und dachte, das sei die größte Krise auf der Welt. Ich wünschte es mir vor den Schulwettkämpfen im Bodenturnen, als ich Bauchkrämpfe bekam bei der Vorstellung, in einem zu engen Kostüm grazil wirken zu müssen. Ich wünschte es mir auf der Fahrt ins Krankenhaus, als ich beim Sprung vom Dreimeterturm nicht im Becken, sondern auf dem Startsockel daneben gelandet war und die gebrochenen Rippen meine Lunge aufspießten. Als ich nach vier Jahren liebevoller Beziehung aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen musste, wünschte ich mir nichts sehnlicher. Und auch während der Arbeit am Klimavolksbegehren wünschte ich es mir beständig, denn ich war oftmals überfordert mit all der Verantwortung. Wenn es wieder einmal so aussah, als würden wir keine 100.000 Stimmen zusammenkratzen, ich spätnachts erschöpft im Bett lag und meine Zweifel mich nicht schlafen ließen, dann brannte der Wunsch unerfüllt in meiner Brust.

Wie alles Schöne auf der Welt kostet das, was ich mir wünsche, nichts. Mein Wunsch ist einfach. Alltäglich. Ein bisschen kitschig sogar. Darum hütete ich ihn wie ein Geheimnis. Ich traute mich nicht, ihn auszusprechen, bis ich ihn selbst nicht mehr spürte. Mittlerweile denke ich aber, dass alle — irgendwo tief drinnen, dort, wo das Kind wohnt — diesen Wunsch haben: dass einen jemand in den Arm nimmt und sagt, dass alles wieder gut wird.

Generation Future    Meine Eltern wurden in den frühen 1960ern geboren. Mein Vater kommt aus dem Mostviertel in Niederösterreich, meine Mutter aus Saalfelden in Salzburg. Was dort so los war in den Sechzigern? Die wilde Hippiezeit war es jedenfalls nicht. Aus den Erzählungen weiß ich, dass die schlimmen Nachkriegsjahre gerade vorüber waren. Meine Großeltern gehören zu der Generation, die schwere Entbehrungen in Kauf genommen und Europa neu aufgebaut hat. Die Probleme der Zeit waren sehr konkret. Das neue Fahrrad meiner Oma wurde gegen einen Sack Kartoffeln getauscht, Essensmarken akribisch gesammelt und sparsam aufgeteilt. Wie man im nächsten Jahr über die Runden kommen sollte — solche Fragen betrafen jede und jeden ganz unmittelbar. Und trotz all der Schwierigkeiten konnte meine Oma später ihren Kindern versprechen, dass alles gut wird. Wenn sie fleißig lernten und brav arbeiteten, würde alles gut werden. Sie glaubten ihr. Und weil Mütter sowieso immer recht haben, wurde es auch besser.

Als ich dann irgendwann in den Neunzigern antanzte, sah die Zukunft vielversprechender aus denn je. Der Kalte Krieg war zu Ende, und die Europäische Union formte sich aus einer Friedensvision heraus. Was es heißt, unerfüllte Grundbedürfnisse zu haben, kann ich mir gar nicht vorstellen. Wenn es mir schlechtging, setzte sich meine Mutter zu mir, umarmte mich und versprach, dass alles gut wird. Ich glaubte ihr.

Uns hier in Österreich, in Europa geht es besser als allen Generationen vor uns. Vergleicht man den durchschnittlichen Lebensstandard von vor hundert Jahren mit dem heutigen, ist das Ergebnis eindeutig. Auch weltweit gibt es viele Erfolge im Kampf gegen Hunger, Kindersterblichkeit und Analphabetismus. Und das mit dem Klima? Ja, meine Güte. Warum verbreiten wir Jugendlichen da so eine »Panik«? Ein bisschen übertrieben ist das mit dieser schwedischen Greta-Göre ja schon. Nicht in die Schule gehen — was fällt denen ein? Das hätte es bei uns nicht gegeben, werden sich manche denken. Die sollen einmal lernen statt demonstrieren.

Nun, wir haben gelernt, und ziemlich schnell war klar: Wir rasen momentan auf eine Katastrophe zu, und niemand tut etwas dagegen. Im Gegenteil. Seit der Jahrtausendwende scheint alles aus dem Ruder zu laufen. Die Weltbevölkerung steigt rasant, unzählige Menschen verlieren durch Krieg und Hungersnöte ihre Heimat und müssen flüchten, politische Ausgrenzung erlebt einen Aufschwung, soziale Netzwerke spalten Gesellschaften, das reichste Prozent der Menschen besitzt mehr als fünfzig Prozent, also über die Hälfte des globalen Vermögens1, Naturkatastrophen werden häufiger und heftiger, und die Corona-Pandemie verschärft die Ungerechtigkeiten, wo man auch hinblickt. Im gemeinsamen Boot schließen die LenkerInnen der Welt die Augen, während wir auf einen tödlichen Wasserfall zurasen, und erhöhen dabei sogar noch das Tempo.

Wie kann das passieren, vor unser aller Augen? Vom Schulbuch bis zur Spitzenforschung sind sich alle einig: Der Mensch verursacht eine nie dagewesene Zerstörung. Artensterben, Übersäuerung der Meere, Überdüngung der Böden und die Veränderung des Klimas. Diese ökologischen Krisen bedrohen alle Lebensbereiche. Sie machen die Zukunft so ungewiss wie schon lange nicht mehr. Wenn wir so weitermachen, wartet keine bessere Welt auf unsere Kinder. Es wartet noch nicht einmal eine gute Welt auf sie. Wenn wir nämlich nichts ändern, dann ändert sich alles.

Viele junge Menschen haben genau das verstanden. Sie haben gelernt, dass man Geld nicht essen kann. Sie rudern mit aller Kraft gegen den mächtigen Strom, der uns täglich näher zur Klippe schwemmt.

Aber auch ohne Klippe würde sich der Gedanke lohnen, was denn eigentlich das Ziel ist, auf das wir unser Boot zusteuern. Was ist das große Ganze, der große Plan für das 21. Jahrhundert? Blenden Sie einmal alle tagespolitischen Geplänkel aus und stellen Sie sich vor, wie Österreich in zehn, in fünfzig, in hundert Jahren aussehen soll. Welche Gedanken kommen Ihnen in den Sinn?

Sie haben kein Bild im Kopf? Vermutlich weil kaum jemand einen Entwurf wagt, geschweige denn einen Plan vorlegt. Wir leben in einer Zeit der visionslosen Politik. Welches Ziel haben wir denn im Blick, um auch in Flauten und wilden Stürmen das gemeinsame Boot auf Kurs zu halten? Werden wir in hundert Jahren noch immer in einer Vierzig-Stunden-Woche Überstunden machen und danach blindlings Dinge kaufen, die nach einem Monat wieder kaputt sind, damit das darauffolgende Jahr ein paar Prozent Wirtschaftswachstum verzeichnet? Ist das unser großes Ziel: einfach mehr? Werden wir in hundert Jahren immer noch mehr Rendite wollen, mehr einkaufen, mehr, mehr, mehr? Die letzten Ressourcen aus uns und der Natur herausquetschen, bis alle der Erschöpfung erliegen? Werden wir immer noch die Ellbogen ausfahren, um andere Menschen und Regionen zu unterdrücken und auf ihre Kosten ein Leben im Luxus zu führen? Das ist weder eine gute Strategie noch ein würdiges Ziel. Ich habe genügend Menschen kennengelernt, um mit tiefer Überzeugung sagen zu können: So sind wir Menschen nicht! Wo bleiben also die Ideen und Visionen für ein 21. Jahrhundert, das uns Menschen würdig ist?

Mia und Finn    Sie haben sicherlich auch eine Vorstellung von der Zukunft. Etwas, wo Sie hinwollen. Bei mir sind die Zukunftsträume gefüllt mit Kinderlachen und einem Familiengefühl. Ich will Kinder haben. Mia und Finn heißen sie in meinem Kopf. Ich frage mich jedoch, ob ich sie einer Welt aussetzen will, in der kriegerische Konflikte und die Zerstörung der Natur ganz neue Ausmaße erreichen werden. Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie ich mit ihnen im Wienerwald spazieren gehen werde, so wie meine Mutter es mit mir getan hat. Vielleicht würde Finn auch eine Frotteezipfelmütze haben, aus zwei großen Dreiecken gebastelt und heiß geliebt. Vielleicht würde Mia auch ein Naturtagebuch führen, wo sie Blätter von Pflanzen einklebt, mit langen Namen, die ihr Knoten in die Zunge machen. Wenn wir dann abends gemeinsam das dicke Buch befüllen und die Farben der Natur bewundern, will ich beide in den Arm nehmen und ihnen mit ehrlicher Überzeugung sagen können, dass sie glücklich werden. Dass es dafür nur eine gesunde Portion an Neugierde und Mut braucht. Dass alles gut wird. Betrachte ich die Welt heute, dann wäre das eine Lüge. Wie sollte ich ihnen das versprechen, wenn wir die kleinen und großen Wunder, das Schöne in der Welt weiterhin und unwiederbringlich zerstören? Ich würde Mia und Finn keine Hoffnung geben können, dass sich alles zum Besseren wendet.

Als ich das 2016 erkannt hatte, änderte sich mein Leben. Ich beschloss, genau dafür zu kämpfen und mich ab sofort dem Naturschutz zu widmen. Als Biologiestreberin ist dieses Ziel nun keine große Sensation. Dennoch ließen sich mit dem Gipfel im Visier gewisse Wege sofort ausschließen und andere einschlagen. Ich änderte mein Studium, zog dafür nach England, sagte ein Forschungsprojekt in Madagaskar ab, bewarb mich für ein Praktikum bei den Vereinten Nationen, schrieb dem Bundespräsidenten eine E-Mail, plante Streiks und organisierte ein Volksbegehren. Wenn man das Ziel kennt, trifft man Entscheidungen leichter.

Je mehr ich über unsere Umwelt erfuhr, desto mehr wollte ich die Menschen verstehen. Als begeisterte Naturwissenschafterin fiel mir auf: Die größten Krisen der Natur verursachen wir im Moment selbst. Die Menschheit ist die bestimmende Naturgewalt. Deshalb ist es an uns, den Kurs anzupassen. Wir haben es in der Hand. Plötzlich diskutierte ich als Biologin über Wirtschaft, Politik und soziale Fragen. Das machte die Probleme interessanter, aber auch verdammt kompliziert. Beim Naturschutz prallt alles aufeinander: Geld und Armut, Gerechtigkeit und Macht, Grundbedürfnisse und Fortschritt. Und dabei scheinen jene Überzeugungen die Oberhand zu behalten, die den Menschen langfristig kein gutes Leben garantieren.

Man spürt sie ja selbst, diese wachsende Unzufriedenheit, die Verunsicherung, die aus den Jahrzehnten entstanden ist, wo wir aufgewiegelt, ausgenommen, provoziert und belogen wurden. Politik hält kaum mehr Versprechen, Fakten werden nicht anerkannt, das normale Leben wird immer teurer, und man muss sich jedes noch so kleine Recht erstreiten, weil es einem jemand wegnehmen will. Im Supermarkt findet man nur noch Mogelpackungen, und das Marketing verspricht einem immer mehr, obwohl das Gekaufte immer weniger kann. Man könnte sich die ganze Zeit darüber aufregen. Und klar sind viele wütend, wenn schöne Worte niemals zu Taten werden.

Ich selbst bin wütend über all die Ungerechtigkeit, die täglich irgendwo auf dieser Welt geschieht — oft genug auch in meiner direkten Umgebung, vor der eigenen Haustür. Sich dafür einsetzen? Wie soll sich das ausgehen, wenn man ständig dutzende Aufgaben gleichzeitig jonglieren muss und dann auch noch selbst dafür verantwortlich ist, bei jedem Einkauf und jeder Entscheidung das Klima, die heimischen Bergbäuerinnen und Bergbauern, den lokalen Einzelhandel und überhaupt die Menschheit zu retten? Das überfordert. Darum schaltet man irgendwann ab. Es sind zu viele Probleme, zu viel Getöse, zu viele Krisen.

Auch ich frage mich täglich: Kann das alles noch werden? Wird alles wieder gut? Doch die Frage ist nicht, ob das noch etwas werden kann, sondern was es werden soll. Wie ist denn eigentlich alles, wenn es gut ist? Ich will in diesem Buch eine Vision spinnen: Es geht darum, gemeinsam herauszufinden, in welcher Welt Sie und ich, wir als Menschen gemeinsam leben wollen.

Es geht um eine Politik, die sich den Menschen verschreibt. Nicht der Wirtschaft. Nicht der Arbeit. Diese Dinge sind wichtig, ja, aber wenn man über sie nachdenkt, haben die Menschen Vorrang. Wirtschaft und Arbeit müssen dem Wohl der Menschen folgen und nicht umgekehrt. Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut — das stimmt zurzeit nicht für alle, sondern nur für jene, denen es ohnehin schon gutgeht. Können wir es nicht umdrehen und das Wohlergehen der Menschen ins Zentrum unserer Wirtschaft setzen?

Es geht um ein gutes Leben, in dem wir die Grenzen unseres Planeten nicht überschreiten und gesellschaftliche Standards nicht unterschreiten. Beide Übertritte schaden langfristig dem Wohl der Menschheit. Es geht um eine Zukunft für alle, in der die Natur und die Menschen nicht ausgebeutet werden.

Die Politik hat eigentlich die Aufgabe, die Menschen mit solchen Visionen mitzunehmen und daran zu arbeiten, sie zur Wirklichkeit zu machen. Aber irgendwie sind andere Interessen in den Vordergrund gerückt. Die Politik wurde zum verlängerten Arm einer zügellosen Wirtschaft und egoistischer Interessen, anstatt daran festzuhalten, wofür sie da ist: die Interessen des Volkes zu vertreten und den Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Bildung, Teilhabe an der Gesellschaft, Kultur, Austausch, Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung, Gesundheitsversorgung, Zugang zu sauberer Mobilität und Energie, Umweltschutz — all das und noch viel mehr darf doch nicht zur Debatte stehen! Wie kann es überhaupt passieren, dass uns Menschen regieren, für die diese Dinge nebensächlich sind?

Gerade der Klimaschutz darf für keine Partei Verhandlungssache sein. Die Klimakrise bedroht unsere Freiheit und Demokratie, und sie, nicht der Klimaschutz, kostet viel — von Ernteausfällen bis Menschenleben. Wenn man in einem brennenden Haus sitzt, streitet man doch nicht darüber, ob das Löschen zu viel Geld kostet und ob neuartige Werkzeuge das verbrannte Haus sowieso wiederaufbauen werden. Man springt auf und macht, was notwendig ist, um sich und seine Liebsten zu retten. Und trotzdem müssen Millionen Schülerinnen und Schüler den Unterricht bestreiken und auf den Straßen dieser Welt das Notwendige einfordern — den Schutz unserer Zukunft.

Ich beschäftige mich seit ein paar Jahren täglich mit den kleinen und großen Desastern der Welt. Die überdüngten Äcker, die sterbenden Bienen und Wälder, die schmelzenden Gletscher, neue Krankheiten, verschwindende bedrohte Tierarten usw. Das klingt alles nach Weltuntergang und kann eigentlich niemand mehr hören. Manchmal verzweifle ich an diesen Gedanken. An anderen Tagen weiß ich, dass wir alle Anteil daran haben, wie unsere Geschichte ausgeht. Ich fokussiere mich darum gerne auf die Lösungen. Und da gibt es viele.

Dies ist ein Buch der Visionen. Es ist ein Buch der Chancen — gerade im Hinblick auf Österreich. Es ist ein wunderschönes, reiches Land mit allen Möglichkeiten. Was kann eine österreichische Wirtschaft zum Wohle der Menschen und der Umwelt bedeuten? Wie kann Arbeit aussehen? Für diese Vision werden wir neue Gesellschaftsbilder benötigen, neue Idole, neue Ziele. Die alten sind uns nicht mehr dienlich. Derzeit sind nämlich gerade jene Berufe angesehen, in denen ohne Rücksicht schnelles Geld gemacht wird, und nicht jene, die unsere Gesellschaft reicher machen, die unseren Kindern das Verstehen beibringen, die aufziehen und erziehen, die pflegen und Gemeinschaft erzeugen, die an der Zukunft bauen und die Natur erhalten, kurz die systemrelevanten Berufe.

Es geht also um eine Weichenstellung für unser Land und die ganze Welt. Es geht um einen großen Plan, wie Österreich eine Wirtschaft, eine Politik und eine Gesellschaft bauen kann, die dem 21. Jahrhundert gerecht wird. Wir wollen eine dieser Modellregionen werden, die von anderen Ländern studiert wird, ein Vorbild, das es wert ist, kopiert zu werden. Wir wollen diese gerechte Welt sein, die bei uns zu Hause beginnt und in alle Himmelsrichtungen ausstrahlt.

Wenn wir daran arbeiten, dann haben wir nicht nur auf Papiersackerl umgestellt oder Plastikstrohhalme abgeschafft, dann sind wir bei der Bewältigung der Klimakrise nicht nur mit einem blauen Auge davongekommen, sondern wir haben eine neue Welt gewonnen. Eine, in der es sich zu leben lohnt. Eine, auf die wir stolz sein können. Wenn das unser Ziel ist, dann kann ich Mia und Finn in ihre großen Augen schauen, sie in den Arm nehmen und ihnen voller Zuversicht versprechen, dass alles gut wird.

Kapitel 1

Die planetare Grenze Klimakrise

1. Wir sitzen alle im selben Boot

Das Schlauchboot treibt voran. Ich sitze gleich neben Ihnen. Sie und Ihre Familie genießen die schönen Wälder, durch die uns der Fluss bringt. Im selben Boot sitzen viele Kinder, nicht nur österreichische, sondern Kinder aus aller Welt. Sie sprechen verschiedene Sprachen mit ihren Eltern, die ebenfalls im Boot sitzen.

Eine kleine Gruppe von Leuten, die Anzüge tragen, tatsächlich nur eine Handvoll, hat plötzlich eine Idee. Sie wollen die Ruder einsetzen, um schneller zu fahren. Es spricht sich herum, dass man dann schneller am Ziel sei. Sie und Ihre Familie wundern sich. Wieso will man denn schneller vorankommen, wo es gerade so schön ist? Solange Sie die Aussicht genießen können, stört es Sie aber nicht. Außerdem wissen die sicher, was sie tun, und es kann ja auch nicht schaden, früher am Ziel zu sein.

»Wo wollen wir denn hin?«, fragen Sie den Herrn im Anzug, der Ihnen ein Ruder in die Hand drückt.

»Wir sind gleich da. Rudern Sie«, antwortet er.

Wir werden schneller. Es rudern vor allem die Herrschaften in den bequemen Sitzen hinten, die als Erste Paddel erhalten haben. Ihnen wird heiß vom Rudern. Ganz recht ist Ihnen die Anstrengung eigentlich nicht. Es war doch ein gemütlicher Ausflug geplant. Sie hoffen, dass Sie sich etwas ausruhen können, wenn erst einmal die vielen Leute vorne im Boot ein Paddel haben. Ihr Vater zeigt Ihnen, wie man das Paddel richtig hält. Sie verdrehen die Augen. Väter. Überall gleich auf dieser Welt. Ihre Mutter packt ein Jausenpaket aus und reicht zerquetschte Brötchen herum.

Als das Schlauchboot erneut beschleunigt, merken Sie, dass am Heck ein Motor tuckert. Die paar Leute, die ihn entdeckt und aufgedreht haben, freuen sich und staunen über das neue Tempo. Manche versuchen, die Leistung des Motors noch weiter zu verbessern. Bald haben sich auch starke Steuermänner gefunden, die den Motor und die Fahrtrichtung überwachen.

In unserer Nähe sitzt ein junges Mädchen mit Zöpfen. Es hat bisher wenig gesprochen. Jetzt zeigt es auf eine Frau, die mit gerunzelter Stirn das Wasser untersucht. Die Frau sieht besorgt aus. Sie klettert an den Insassen des Boots vorbei und bittet die Steuermänner, den Motor zu drosseln und ihr zuzuhören. Wegen des Motorenlärms hören wir nicht, was sie sagt. Sie glauben, das Wort »Strömung« gehört zu haben. Ein paarandere Leute schauen in den Fluss, manche nicken und rudern weiter. Selbst die Steuermänner am Motor erkennen die Strömung, aber versichern allen rundherum, dass alles in Ordnung sei — sie schicken dazu auch ihre Securitys aus. Einer der kräftigen Männer kommt zu uns und beruhigt uns, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe.

»Bewahren Sie Ruhe«, sagt er, »und rudern Sie einfach weiter, bis wir endlich da sind.«

Wir blicken uns um. Rechts hinter uns baut eine Gruppe Amerikaner gerade an einem weiteren, noch größeren Motor. Dafür benötigen sie aber einige der im Boot verbauten Gestänge. Auch vom wasserfesten Textil, aus dem das Boot besteht, schneiden sie sich dafür Stücke heraus.

»Was tun die denn da?«, fragen Sie Ihren Vater bestürzt. »Die können doch nicht einfach das Boot, in dem wir sitzen, auseinandernehmen!« Er wischt den Einwand mit einer Geste ins Nichts. Die wüssten schon, was sie täten.

Gegenüber sitzt ein chinesisches Ruderteam, das mit Sportpaddeln ins Wasser sticht. Sie feuern sich gegenseitig an, schneller als die anderen zu sein. Etwas seltsam erscheint Ihnen das schon. Wir sitzen doch alle im selben Boot?! Wie kann es da ein Gewinn sein, wenn eine Gruppe über die andere triumphiert?

Mittlerweile haben die vielen Menschen vorne im Boot Ruder bekommen. Die Kinder der asiatischen Großfamilie paddeln sogar mit den Händen, ebenso die anderen, die nur noch einen Platz am Boden ergattert haben. Weil es so viele sind, tut auch das seine Wirkung.

Weiter hinten gibt es einen Tumult. Da wird ausgelassen gefeiert, stellen Sie fest. Die Motoren rauschen, und im erfrischenden Fahrtwind wird laute Musik aufgedreht, um das Brummen zu übertönen. Die Korken knallen. Von jenen, die nun die großen Motoren steuern, macht sich niemand mehr die Hände dreckig. Sie sitzen in bequemen Polstersesseln, die aus dem Gummi des Schlauchboots gemacht wurden, und stoßen auf die Geschwindigkeit an. An manchen Stellen sieht das Boot wie geplündert aus, zerrissen und lädiert. Davon bekommen die hinten im Boot allerdings wenig mit.

Vorne am Bug zankt man sich indessen um ein altes Holzruder. Manchen der Beteiligten reicht es. Sie sind müde, das Wasser spritzt ihnen andauernd ins Gesicht, und sie haben Hunger. Die Feierlichkeiten hinten sind auch für sie nicht zu überhören. Sie machen sich auf den Weg, um zumindest einen kleinen Teil vom Buffet, das mittlerweile eröffnet wurde, zu ergattern.

»Nix da«, baut sich der kräftige Security vor ihnen auf. Er schickt sie zurück, wo sie seinen Worten nach hingehören, an den Bug. Als die Burschen bei uns vorbeikommen, geben Sie ihnen einen Teil von Ihrem Jausenbrot mit.

Die Zankerei vorne im Boot ist jetzt zu Gezerre und Geraufe ausgeartet. Manche Mädchen drohen dabei, in den Fluss gestoßen zu werden. Irgendwer müsste denen doch helfen, denken Sie. Warum tut denn niemand etwas? Sie blicken sich um. Keiner greift ein. Sich bei Streitenden einzumischen, das ist eine heikle Sache. Außerdem ist es trotz allem ein Urlaubstag. Wir haben uns doch extra frei genommen, um die Natur zu genießen. Das wollen Sie sich nicht mit ungemütlichem Zank ruinieren.

Mittlerweile bläst ein protziger Antrieb der chinesischen Gruppe Abgaswolken in die Luft, sodass man den Wald kaum noch sieht. Nein, ist das nicht …? Sie schauen genau, pressen die Augen zusammen. Kommen die Rauchwolken etwa vom Wald selbst? Hat er zu brennen begonnen?

Da ertönt ein gellender Schrei. Er fährt Ihnen durch Mark und Bein und lässt uns alle hochfahren. Wir blicken uns irritiert um; selbst Ihr Vater hat es mitbekommen, obwohl er schlecht hört. Es ist das junge Mädchen mit den Zöpfen. Es ist aufgestanden und zeigt mit einem Finger auf den Fluss vor uns. Wir folgen ihrem Finger, sehen aber nichts, was diese Aufregung rechtfertigt.

»Wasserfall!«, schreit sie. »Wir steuern auf einen Wasserfall zu! Reißt die Ruder rum. Alle. BITTE!«

Die besorgte Frau von vorhin stellt sich hinter sie und erklärt: »Derzeit haben wir eine Geschwindigkeit von vier Kilometern pro Stunde. In 420 Metern stürzen wir einen Wasserfall hinunter. Wir haben noch sechs Minuten, bevor wir alle in den Tod stürzen. Außerdem wird die Strömung immer stärker. Es ist sehr gut möglich, dass wir schon in vier Minuten die Kontrolle über das Boot verlieren. Wir müssen die Motoren abstellen und die Ruder gemeinsam herumreißen — sofort!«

Kinder überall im Boot beginnen sich zu wehren. Sie halten mit ihren kleinen Händen die Ruder fest, andere drücken voller Anstrengung mit bloßen Händen gegen die Strömung. Es sind vier Millionen Kinder, aber ihre Kraft reicht nicht aus. Sie bitten die Erwachsenen an Bord, nicht mehr weiterzurudern und stattdessen die Paddel querzustellen. Die Kinder flehen die Securitys an, sie zu den Steuermännern an den Motoren vorzulassen, sie rufen ihnen zu, die Triebwerke augenblicklich abzustellen.

»Hört ihr nicht den tosenden Wasserfall?«, schreien sie aus ihren kleinen Kehlen. Tatsächlich können Sie selbst schon das verhängnisvolle Brausen hören. Doch in der Nähe der Motoren hört man es nicht, auch nicht die Rufe der Kinder. Man feiert ausgelassen. Das Motorengeräusch und die Musik übertönen alles.

Da kommt die Beschwichtigung der Securitys wie eine Verhöhnung: »Die Herrschaften wissen sehr gut über den Wasserfall Bescheid. Dazu brauchen sie euch nicht, ihr Rotzgören! Seid also ruhig.« Und allen im Boot rufen sie zu: »Die Steuermänner versprechen Ihnen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um einen Absturz zu verhindern. Bald werden sie die Motoren drosseln und anfangen umzusteuern. Seien Sie unbesorgt und rudern Sie bitte weiter.« Hinter den Securitys, die den Weg versperren, sehen Sie die Steuermänner auf gemütlichen Liegen sonnenbaden. Sie lassen sich von Männern in Anzügen neue, viel bessere Motoren zeigen.

Jetzt ermahnt auch Ihr Nachbar die Kinder, ruhig zu sein. Bei so einem Lärm könne er beim Paddeln nicht die Aussicht genießen. Ihr Vater lehnt sich zu Ihnen und sagt: »Rotzgören, wirklich wahr. Wir fahren doch schon seit Stunden auf diesem Fluss. Wieso sollte ausgerechnet jetzt ein Wasserfall kommen?! Die sollen einmal ordentlich rudern lernen, bevor sie mir etwas vorschreiben.« Sie erinnern sich, dass Ihnen einer der Anzugträger beim Losfahren zugeflüstert hat, dass es in diesen Gewässern gar keine Wasserfälle gibt. Sie wissen nicht, wem Sie glauben sollen. Andererseits, selbst ohne Wasserfall wäre eine gemütliche Bootstour viel schöner als dieser anstrengende Wettkampf.

Soeben stecken überall im Boot neue Gruppierungen Motoren ins Wasser: Der indische Bereich hat plötzlich einen, der brasilianische hat einen, und viele weitere tun es ihnen gleich. Das finden Sie nun zugegeben etwas dreist. Haben die hinten im Boot nicht gerade eben gesagt, Sie würden sich mit aller Kraft darum kümmern umzudrehen? Sagten sie nicht klar und deutlich, sie würden die Motoren bald drosseln? Doch das Gegenteil ist der Fall.

Gleich mehrere Gruppen machen sich jetzt mit Messern an den Bootsgummi, um sich ihren Teil davon rauszuschneiden. Dem Boot geht zusehends die Luft aus. In manchen Bereichen steht sogar schon das Wasser, das die Wellen hereingeschwappt haben. Nein, nicht hereingeschwappt! Sie können es nicht fassen. Das Wasser stammt von einem Loch, das die amerikanische Truppe in den Boden geschnitten hat! Sind die noch zu retten!? Schwallartig sprudelt das Wasser dort drüben in unser Boot. Sie fühlen sich gar nicht mehr wohl. Sie bekommen es mit der Angst zu tun. Was, wenn …?

Wir legen noch einmal einen Zahn zu. Das chinesische Sportruderteam hat inzwischen Verstärkung erhalten, erhöht die Schlagzahl und dreht den Motor Made in China auf Maximalbetrieb. Der australischen Gruppe schlägt eine Rauchwolke aus dem brennenden Wald um uns herum entgegen, während sie schon knöcheltief im Wasser hockt. Sie setzen sich Masken auf und starten einen neuen Motor. Ein Brasilianer schwingt auf einmal eine Axt und schmettert sie — wumms! — in den Boden des Bootes. Sie spüren die Wucht des Stoßes bis zu Ihrem Sitz. Wasser sprudelt durch das neu geschlagene Leck herein. Der Brasilianer reißt das Gestänge heraus und nutzt es als provisorisches Ruder.

Der einst beschauliche Fluss ist zu einem wilden Gewässer geworden, wie das in der Nähe eines reißenden Wassersturzes eben der Fall ist. Das Schlauchboot schwankt bedrohlich bei immer extremerem Wellengang. Wasser sprüht ins Boot herein. Selbst wir bekommen einen Schwall ab. Sie wischen sich das Wasser aus dem Gesicht. Zumindest sitzen wir noch nicht im Wasser wie die Leute in der Nähe der Lecks.

»Klar bekommt man ein bisschen Wasser ab, wenn man Boot fährt«, sagt Ihr Vater und lacht wie ein Abenteurer aus einem Actionfilm. »Das war schon immer so.« Sie stimmen ihm entschieden nicht zu, aber mit ihm zu diskutieren hat noch nie etwas gebracht.

Da kann ich nicht länger stillsitzen.

Sie beobachten mich, wie ich aufstehe.

Einige andere in unserem Teil des Bootes tun es uns gleich. Wir reden mit Ihrem Vater und tausenden anderen, dass dieser Wellengang und diese Spritzer Vorboten des bevorstehenden Wasserfalls sind, dass wir aufhören müssen, unser eigenes Boot zu zerstören, denn es gibt weit und breit kein zweites. Manche erkennen die Gefahr und erheben sich, um uns zu helfen. Auch sie reden mit den Menschen, mit jenen, die sie kennen, und auch mit jenen, die sie nicht kennen. Die Kunde verbreitet sich. Schneller als zuvor. Bei vielen stößt sie auf verschlossene Ohren. Ihr Vater hört uns auch nicht zu. Das ist nicht seine Stärke, wissen Sie. Wenn er recht behalten will, kann niemand etwas an seiner Überzeugung ändern.

Kinder brechen in Tränen aus, selbst in unserem Bootsteil. Die Erwachsenen aus den Inselstaaten, die an der Spitze des Bootes als Erste dem Absturz zum Opfer fallen werden, haben die Paddel weggeworfen. Sie können den Wasserfall schon sehen. Darunter sind auch ein paar niederländische Insassen. Sie wappnen sich für den Notfall. Sie haben das Glück, Schwimmwesten zu besitzen, und schnüren diese jetzt fest. Den Westen sieht man an, dass sie aus Bootsgummi geflickt worden sind. Die Großfamilie aus Bangladesch am Bug hat keine Schwimmwesten. Sie waren zu schwer zu bekommen.

Um vor der Gefahr zu fliehen, drängen nun viele nach hinten. Als die Menschen zu uns vorstoßen, merken Sie, dass unsere Paddel viel größer sind als deren. Die Securitys werden ungehalten. Schimpfend verdonnern sie die Menschen zurück an die Spitze mit der Anweisung, erst einmal selbst einen Motor zu bauen, damit man schneller am Ziel sei.

»Wasserfall!«, brüllen sich die Leute heiser. Auch die Kinder und die Frau, die gar nicht mehr mit dem Rechnen hinterherkommt, stimmen ein. »WASSERFALL!«

Es wird genickt und beteuert, dass man schon alles unternehme, um einen Absturz zu verhindern. Einer der Steuermänner regt sich über die Kompromisslosigkeit der Kinder und der Frau auf. Man könne doch jetzt nicht darauf beharren, die Motoren abzuschalten. Vielleicht, unter Umständen, mit großem Aufwand, könne man die Beschleunigung für kurze Zeit gering halten. Aber bremsen und umdrehen?! Viel zu teuer. Keinesfalls! Das würde ja die Anstrengung zunichte machen, und die teuren Motoren würden sich nicht rentieren. Vielleicht ist der Wasserfall ja auch gar nicht so hoch, vielleicht existiert er ja gar nicht, dieser angebliche »Wasserfall«. Das ist doch wieder nur so ein Hype!

Indessen rühmen sich die anderen Steuermänner an den Motoren damit, den Absturz mit einer genialen Erfindung verhindern zu wollen. Sie bekommen von den Anzugträgern eingeflüstert, dass man ja Flügel aus dem Gummi-Material des Schlauchbootes basteln könnte. Ja, das würde maximal eine halbe Stunde dauern, kein Problem. Wenn man noch etwas mehr beschleunige, mit dem richtigen Motor nämlich, könne man dann beim Wasserfall problemlos abheben und wegfliegen. Sie fragen sich, wie man mit einem völlig zerstörten Boot irgendwo landen soll. Das überlege man sich dann, wenn es so weit ist, heißt es.

Alles versinkt im Chaos. Sie verlieren den Überblick. Es gibt verzweifelte Leute im Boot, die keine Hoffnung mehr haben. Ein paar schwangere Frauen schlagen vor, den Männern an den Motoren eins mit dem Ruder überzuziehen. Schließlich ginge es auch um ihre ungeborenen Kinder! Das missfällt Ihnen. Gewalt vom Zaun zu brechen, wo wir doch nur eine kleine Bootsfahrt machen wollten? Andererseits, man müsse ja wirklich etwas tun — gegen die Lecks, gegen das Wasser im Boot und vor allem gegen den Wasserfall!

Die schlaue Frau, die nach wie vor das Wasser und die Aussicht analysiert, berät sich eifrig mit ihren Kolleginnen und Kollegen überall im Boot. Dann verkündet sie gemeinsam mit sämtlichen Kindern, dass es alle im Boot hören können: »Wir haben jetzt ein Tempo von zwölf Kilometern pro Stunde. In 266 Metern stürzen wir einen Wasserfall von ungeahnter Höhe hinunter. Weniger als eineinhalb Minuten sind es noch, bevor das Boot diesen Kipppunkt erreicht. In fünfzehn Sekunden aber werden wir schon die Kontrolle über das Boot verlieren. Noch gibt es Hoffnung, die allerletzte Hoffnung, gemeinsam umzusteuern und unser Boot zu retten. Dafür müssen wir wirklich alle zusammenhelfen, jede Person mit dem, was sie am besten kann — jetzt SOFORT.«

Da komme ich zu Ihnen zurück. Sie erkennen mich wieder. Ich setze mich neben Sie, lächle Sie mit wässrigem Blick an. Wir schauen einander tief in die Augen. Und Sie verstehen. Nicht nur mit dem Kopf, mit Ihrem Herzen.

»Aber wie?«, fragen Sie.

Ich lege Ihnen ein Buch in die Hände. Es hat einen blitzgelben Umschlag mit einem roten Rufzeichen. Sie vergessen den ganzen Trubel, schlagen es auf und lesen einen einzigen Satz:

Ich setze viel Hoffnung in Sie.

2. Die Fakten

Die Frau im Boot war natürlich eine Wissenschafterin. Es könnte zum Beispiel Helga Kromp-Kolb sein, die renommierte österreichische Meteorologin und Klima-Expertin. Sie sagte mir einmal: »Ich komme mir schon vor wie eine hängengebliebene Schallplatte.« Schon lange bevor ihre Haare grau waren, hat sie die Wichtigkeit von Klimaschutz betont. Niemand weiß besser als sie, dass die Klimakrise seit mehr als dreißig Jahren ignoriert wird. »Die Politikerinnen und Politiker behielten ihren Kurs bei, obwohl die Auswirkungen immer deutlicher wurden.« Niemand drang zu den Steuermännern durch. Aber auch die Menschen im Boot, wir alle, haben den drohenden Wasserfall nicht ausreichend im Blick gehabt.

Unsere Schulbücher und Unterrichtsmaterialien, die Artikel und Berichte, unsere Filme und Dokumentationen, die Art, wie in Medien das Wetter präsentiert oder über Waldbrände und Überschwemmungen berichtet wird, sie alle schafften es nicht, die Klimakrise verständlich und greifbar zu machen. Und dennoch bestätigte Helga, was auch ich erlebt hatte: Viele trauen sich nicht mehr nachzufragen, wenn ihnen die Klimakrise unverständlich ist. Hingegen freut es mich immer, wenn jemand Interesse an etwas so Wichtigem zeigt und es besser verstehen will.

Ich beginne darum von vorne. Von ganz vorne. Bei der Klimakrise heißt das, wir beginnen beim Treibhauseffekt. Und der erste Schritt, diesen zu verstehen, ist einer in das Treibhaus hinein, um die Wärme des Effekts auf der eigenen Haut zu spüren.

Das Treibhaus

Die Tomaten gedeihen hier im Treibhaus prächtig, trotz der kalten Temperaturen draußen. Warum? Das Sonnenlicht scheint von außen herein. Seine Energie erwärmt zunächst den Boden und die Pflanzen hier drinnen, dann auch die Luft. Die Innentemperatur steigt. Die Wärme der Erde und der Pflanzen wird in Form von Infrarotstrahlung wieder abgestrahlt. Damit diese nicht in alle Richtungen verschwindet, gibt es das Glas. Für sichtbares Licht ist das Glas durchlässig — sonst könnten wir gar nicht durch die Scheiben durchsehen, und es könnte auch kein Sonnenlicht hereinkommen; für Infrarotstrahlung ist das Glas aber undurchlässig. Die Scheiben reflektieren die Infrarotstrahlung zurück nach innen, also zurück auf Erde und Pflanzen, die die Wärme wieder aufnehmen. So bleibt die Innentemperatur hoch — für das Gemüse ideal.

So wird der Treibhauseffekt üblicherweise erklärt. In der Atmosphäre funktioniert er auch tatsächlich so — im Glashaus spielt die Tatsache, dass das Glas den Wind abhält, eine noch wichtigere Rolle.

Der lebensnotwendige Treibhauseffekt

Um unseren Planeten haben wir offensichtlich keine Glasscheiben gebaut, sondern profitieren von der Atmosphäre. Sie ist ein Gemisch aus verschiedenen Gasen:

Stickstoff (N2):

ca. 78%

Sauerstoff (O2):

ca. 21%

Argon (Ar):

ca. 0,9%

Kohlendioxid (CO2) und andere:

ca. 0,04%

Gase wie Kohlendioxid absorbieren die Infrarotstrahlung der Erde, erwärmen sich und strahlen die Energie dann in alle Richtungen ab, teilweise auch zurück auf die Erde. Diese Gase nennt man deshalb Treibhausgase. Sie sind zentral in der Entstehung des Lebens auf der Erde gewesen. Ohne sie und ihren Treibhauseffekt hätte es auf der Erdoberfläche eine ungemütliche Durchschnittstemperatur von −18°C. Alles Wasser wäre gefroren.

Man kann die Atmosphäre im Grunde genommen mit einer Decke vergleichen. Wenn Ihnen kalt ist, decken Sie sich zu, damit Ihnen warm wird. Die Decke verhindert, dass die Wärme Ihres Körpers in den Raum abgestrahlt wird. Im Gegensatz zu einem Thermophor gibt die Decke selbst keine Wärme ab. Die Decke reflektiert jedoch einen Teil Ihrer eigenen Wärme zurück. Treibhausgase sind wie Decken um den Planeten herum. Wir brauchen sie in der Atmosphäre, damit wir nicht erfrieren.

Kreisläufe sind gut

Irgendwann haben die Menschen begonnen, Feuer zu machen. Sie haben Holz verbrannt. Bei der Verbrennung eines Holzscheits entsteht Kohlendioxid (CO2), das sich in der Atmosphäre verteilt. Das ist eine zusätzliche dünne Decke. Die wenige Wärme, die es noch durch die erste Decke geschafft hat, wird von der zweiten zurückgestrahlt. Je mehr Decken, das heißt je mehr Kohlendioxid, desto heißer wird es.

Zum Glück gibt es einen genialen natürlichen Prozess, der Kohlendioxid aus der Atmosphäre »saugt«: die Photosynthese von Pflanzen. Sie nutzen das CO2, Wasser und Sonnenlicht, um daraus Blätter und Holz wachsen zu lassen, und setzen in dem Prozess Sauerstoff frei, den wir wiederum zum Leben brauchen. Die zusätzliche Decke, die durch die Verbrennung von Holz dazugekommen ist, wird die Erde mit dem Wachstum eines neuen Baumes wieder los. Der Kreislauf ist im Gleichgewicht, solange gleich viele Pflanzen wachsen, wie gerade verbrannt werden.

Zu viel des Guten

Im 19. Jahrhundert begannen die Menschen, Kohle in großen Mengen zu verbrennen, dann Erdöl und Erdgas. Alle drei Brennstoffe entstanden vor Millionen von Jahren aus abgestorbenen Pflanzen. Bei Kohle waren es Bäume, bei Erdöl und Erdgas waren es Algen.

Während ihres Lebens saugten die Bäume und Algen das Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Sie verwerteten es zu eigenen Bestandteilen. Als sie abstarben, wurden sie von neuen Bodenschichten überdeckt, bis sie unter großem Druck und über lange Zeit zu den drei fossilen Energieträgern »zusammengequetscht« wurden. Wenn wir heute gigantische Mengen an Kohle, Öl und Gas verbrennen, setzen wir damit das Kohlendioxid frei, das über Millionen von Jahren langsam und langfristig unter der Erde gespeichert wurde. Das ist kein Kreislauf — zumindest nicht in den Zeitskalen, in denen wir Menschen denken. Jedes Mal, wenn wir mehr verbrennen, als gebunden werden kann, legt sich eine weitere dünne Decke über die Erde, sodass wir allmählich zu schwitzen beginnen. Wir beschleunigen die Erderhitzung wie mit einem großen Verbrennungsmotor. Das ist der menschengemachte Treibhauseffekt.

Allerhand Treibhausgase

Kohlendioxid (CO2) ist nicht das einzige Treibhausgas. Die Liste besteht aus vielen unaussprechlichen chemischen Verbindungen. CO2 hat als einzelnes Molekül sogar einen recht geringen Treibhauseffekt. Zur Berechnung der Treibhauswirkung eines Gases wird CO2 deshalb als Vergleichswert herangezogen.

Methan, das zum Beispiel natürlich bei der Verdauung von Kühen und in Mooren produziert wird, ist 28-mal so wirksam wie Kohlendioxid.1 Ein Kilogramm Methan hat denselben Treibhauseffekt wie 28 Kilogramm Kohlendioxid. Wissenschafterinnen und Wissenschafter sprechen darum in ihren Berechnungen häufig von CO2-Äquivalenten: Ein Kilogramm Kohlendioxid und ein Kilogramm Methan zusammen entsprechen 29 Kilogramm CO2-Äquivalenten. Ist Kohlendioxid eine dünne Baumwolldecke, dann wäre Methan eine dicke Winterdecke.

Doch wappnen Sie sich: Schwefelhexafluorid. Klingt gefährlich? Ist es auch. Das Gas wird als Isolations- oder Löschgas in Hochspannungsschaltanlagen oder als Ätzgas in der Halbleiterindustrie verwendet. Seine Treibhauswirkung ist 22.800-mal so stark wie die von Kohlendioxid. Bis zum Verbot 2007 wurde Schwefelhexafluorid auch als Reifenfüllgas verwendet.

Aber es klingen nicht alle Treibhausgase nach Chemiebaukasten. Den größten Anteil am natürlichen Treibhauseffekt hat Wasserdampf. Da sich sein Gehalt in der Atmosphäre ändert (Luftfeuchtigkeit), habe ich ihn zuvor nicht in den Bestandteilen der Atmosphäre gelistet, aber er beeinflusst sowohl Wetter als auch Klima. Müssen Sie sich deshalb Gedanken über die Klimakrise machen, wenn aus Ihrem Wasserkocher etwas entwischt? Nein, denn riesige Mengen natürlichen Wasserdampfs in der Atmosphäre machen die kleinen Beiträge aus dem Haushalt vernachlässigbar. Die Milliarden zusätzlichen Tonnen Kohlendioxid machen wegen der winzigen natürlichen Konzentration einen großen Unterschied. Lag die Konzentration in der vorindustriellen Zeit noch bei 0,028 Prozent, ist sie heute bereits auf über 0,041 Prozent gestiegen.2 Das ist der höchste Wert seit vierzehn Millionen Jahren.3

Erderhitzung

In unterschiedlichen Erdzeitaltern gab es schon häufig große Veränderungen des Klimas. Im Gegensatz zum Wetter, das durch kurzfristige Änderungen wie Tiefdruckgebiete und Niederschlag beeinflusst wird, beschreibt das Klima den langfristigen Zustand des Klimasystems bestehend aus Atmosphäre, Wasser und Eis, Erdkruste und sämtlichen Organismen.

Wir leben am Ende eines Erdzeitalters, das wir Holozän nennen. Das Holozän begann vor rund zehntausend Jahren und hielt das ideale Klima für uns Menschen bereit. Die angenehmen und stabilen klimatischen Bedingungen ermöglichten es den Menschen, sesshaft zu werden und von der Landwirtschaft zu leben.

Klimawandel ist für den Planeten also nichts Neues. Was allerdings neu ist, ist das immense Tempo der Veränderung. Während es normalerweise abertausende Jahre dauerte, in denen sich Pflanzen und Tiere langsam anpassen konnten, beobachten wir jetzt rapide Veränderungen in wenigen Jahren. Der rasante Klimawandel in den letzten Jahrzehnten deckt sich mit den Berechnungen der Klimawissenschaft und ist ausschließlich durch die zusätzlichen Emissionen von uns Menschen erklärbar.

Leider werden wir auch schon ZeugInnen der Konsequenzen: Die globale Erhitzung beträgt aktuell +1,2°C gegenüber der vorindustriellen Zeit, also bevor man begann, fossile Brennstoffe im großen Maßstab zu verbrennen.4 Für manche Regionen ist dieser Wert höher. In Österreich ist er beinahe doppelt so hoch und beläuft sich jetzt bereits auf mehr als +2°C.5

Das klingt nach nicht so viel? Denken Sie an Fieber. Bei 39°C sagt niemand: »Ach, die 2°C mehr machen doch nichts! Ich arbeite einfach weiter wie bisher.« In einem heiklen System, wie es die Alpenregionen sind, machen schon wenige Grad Temperaturanstieg einen gewaltigen Unterschied. Die Folgen kann niemand mehr leugnen: Unser Klima hat sich verändert. Und es verändert sich weiter — schneller denn je.

Damit katapultieren wir uns aus den günstigen Klimabedingungen des Holozäns hinaus in eine ungewisse Klimazukunft, an die sich irgendwann weder Menschen noch die meisten Ökosysteme anpassen können.

Darum verpflichteten sich 194 Staaten der Welt dazu, die globale Erhitzung deutlich unter +2°C zu halten und große Bemühungen anzustellen, sie auf +1,5°C zu beschränken. Das ist das Pariser Klimaziel, auf das man sich 2015 bei der UN-Klimakonferenz weltweit einigte. Und wir kommen dieser Grenze wie dem Wasserfall immer schneller näher, weil die Steuermänner ihren Kurs noch immer nicht geändert haben.

Die Folgen der Klimakrise

Schon jetzt erleben wir weltweit eine Häufung von Wetterextremen. Dürreperioden lösen historische Waldbrände wie jene in Skandinavien (2018), Brasilien (2019), Kalifornien (2019, 2020) und Australien (2020) aus. Gleichzeitig schwellen Regenfälle zu Überflutungen an, Taifune toben stärker, und Hitzesommer sind eine immer größere Belastung. Für Kleinkinder und alte Menschen ist die Hitze auch bei uns schon jetzt eine reale Lebensbedrohung geworden. In den letzten zwanzig Jahren hat sich weltweit die Zahl der Naturkatastrophen im Vergleich zu den vorhergehenden zwanzig Jahren auf 7348 verdoppelt.6 Das ist keine gemütliche Bootsfahrt mehr, das ist die Klimakrise.

Durch die Erderhitzung verschieben sich Klimazonen allmählich in Richtung der Polgebiete. Bei einer globalen Erhitzung von 2,6 bis 4,8°C wird der Gürtel zweitausend Kilometer nördlich und südlich des Äquators, also die größten Teile Südamerikas, Afrikas und Südostasiens, im Jahr 2100 für menschliches Leben ungeeignet sein. Bei Durchschnittstemperaturen von 40°C und Luftfeuchtigkeit ab siebzig Prozent endet menschliches Leben dort innerhalb von sechs Stunden im Freien.7 Das liegt daran, dass Schweißproduktion keinen Hitzeausgleich im menschlichen Körper mehr ermöglicht, weil die Umgebungsluft mit Feuchtigkeit gesättigt ist. Die Körpertemperatur von 37°C wird kritisch überschritten und führt unweigerlich zum Tod.

In diesem Worst-Case-Szenario verwandeln wir viele Teile der Erde in Todeszonen. Bis 2070 würden ein bis drei Milliarden Menschen dann ihren Lebensraum verlassen müssen, weil Durchschnittstemperaturen wie in der Sahara dort zur Normalität werden.8 Nicht Millionen. Milliarden. Also ein wesentlicher Anteil der Weltbevölkerung. Aber auch die wahrscheinlichsten Szenarien bedeuten Fluchtbewegungen wie nie zuvor.

Ihre Enkel werden das miterleben. Finn und Mia werden das mit ihren Familien in den Abendnachrichten hören. Sie werden am Sofa sitzen, ihre Kinder in die Arme nehmen und zweifeln, dass alles wieder gut wird. Ihre Enkel werden mit hunderten Millionen Menschen konfrontiert sein, die wegen des Klimas aus ihrer Heimat flüchten müssen. Schließlich werden diese nicht am Bug sitzen bleiben und wortlos den Wasserfall als Erste hinunterstürzen.

Die Erderhitzung lässt das Eis der Polkappen und unsere heimischen Gletscher schmelzen. Die Nordostpassage — der nördliche Seeweg von Europa über Sibirien bis nach Alaska — ist seit einigen Jahren aufgetaut und mittlerweile sogar ohne Eisbrecher schiffbar. Letztes Jahr ist in Island der erste Gletscher unwiederbringlich verlorengegangen. In Kapitel 4 werden wir uns die Auswirkungen der Klimakrise auf Österreich im Detail ansehen, denn auch hierzulande sterben in Hitzewellen bereits mehr Menschen als bei Verkehrsunfällen.

Das Wasser des geschmolzenen Festlandeises, aber auch die wärmebedingte Ausdehnung von Wasser lassen die Meeresspiegel steigen. Bis 2050 werden 340 Millionen Menschen durchschnittlich einmal pro Jahr mit Überflutungen konfrontiert sein. Unmittelbar bedroht sind Metropolen in Küstennähe mit Millionen von EinwohnerInnen wie New York (20 Millionen), Schanghai (23) und Tokio (30). Tiefliegende Staaten wie die Niederlande (17 Millionen EinwohnerInnen) und Bangladesch (165) wissen, was ihnen bevorsteht.9 Die wohlhabenden Niederlande investieren deshalb kräftig in Dämme und schwimmende Stadtteile als Vorkehrungen gegen die Wassermassen; Bangladesch kann sich das nicht leisten. Über 160 Millionen BengalInnen sitzen in der ersten Reihe im Kurs auf die Klimakatastrophe, ohne Schwimmwesten, ohne Sicherheitsnetz.

Inselstaaten wie die Malediven und Tuvalu drohen tatsächlich völlig zu versinken. Es waren Länder wie diese, die beim Weltklimarat (IPCC) vor ein paar Jahren eine Studie in Auftrag gaben. Sie wollten wissen, welchen Unterschied eine Erderhitzung von +1,5°C statt +2°C bis 2050 für ihre Heimat bedeutete. Als der Spezialbericht im Herbst 2018 erschien, waren seine Resultate selbst für die Wissenschafterinnen und Wissenschafter erschreckend. Wie im Boot wurden die Resultate weltweit verkündet, vor allem den Steuermännern, also den Regierungen aller Nationen der UN. Nicht zuletzt wegen der schockierenden Ergebnisse formte sich 2018 die globale Klimabewegung.

Zwei Szenarien im Vergleich

Der Bericht fasst sechstausend unabhängige Studien aus den Klimawissenschaften zusammen, und sein Ergebnis lautet: Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um unter +1,5°C Erderhitzung zu bleiben — schon eine Erhitzung um +2°C wäre katastrophal. Mit den Worten der Forscherinnen und Forscher: Eine Begrenzung der Erderwärmung auf +1,5°C gegenüber +2°C reduziert die herausfordernden Auswirkungen auf Ökosysteme, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen wesentlich. Ein Temperaturanstieg um 2°C verschärft extreme Wetterlagen, den Anstieg des Meeresspiegels, das Schmelzen des arktischen Eises, das Korallensterben und den Verlust von einzigartigen Ökosystemen. Auch wenn der Ton sehr sachlich bleibt, spricht die Liste der dramatischen Konsequenzen einer um 2°C heißeren Welt Bände:

Während bei +1,5°C jeder siebte Mensch auf der Erde von extremer Hitze betroffen ist, werden es bei +2°C mehr als jeder dritte sein. Das sind zirka 3,5 Milliarden Menschen.

Bei einer Erhitzung von 2°C werden weltweit 61 Millionen Menschen mehr von schweren Dürren betroffen sein.10 Reis, Mais und Weizen werden in vielen Regionen nur mehr schwer angebaut werden können. Das bedeutet Szenen von hungernden Familien im Fernsehen, während Mia und Finn am Teppich spielen.

Mias Lieblingsfarbe wird bunt sein. Sie wird mit großen Augen staunen, wenn ich ihr alte Videos von Korallenriffen zeige. Bei +1,5°C sterben siebzig bis neunzig Prozent aller heutigen Korallenriffe ab. Bei +2°C sind es 99 Prozent.

Finn wird aus seinem Eisbärpyjama tagelang nicht herauszubekommen sein. Leider wird Finn ein komplettes Abschmelzen des Nordpols im Sommer miterleben. Bei +2°C ist das zehnmal wahrscheinlicher als bei +1,5°C. Das bedeutet einen vollständigen Verlust des Lebensraums für seine geliebten Eisbären, aber auch für Seehunde und viele Seevögel.

Die enorme Hitze wird keine angenehmen Familienurlaube am Mittelmeer mehr zulassen. Bei +2°C Erhitzung wird der Mittelmeerraum zu trockenem Ödland verkommen — der Ursprung von Obst und Gemüse für ganz Europa versiegt.

Das sind nur fünf Fakten aus einem über 600-seitigen Bericht. Wer auch nur die 24-seitige Zusammenfassung gelesen hat, versteht, dass eine Erderhitzung um 2°C keine Option ist. Jedes Zehntelgrad spielt dabei eine Rolle, denn es könnte den Unterschied machen, ob eine weitere Million Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren wird. Wem das noch nicht überzeugend genug ist: Die Erhitzung auf 1,5°C zu beschränken, könnte unsere einzige Chance auf eine halbwegs stabile Zukunft sein. Bei jedem weiteren Anstieg steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir vollends die Kontrolle über das globale Klima verlieren, so wie jene über unser Boot kurz vor dem Wasserfall.

2015 haben die Staaten der Vereinten Nationen deshalb vertraglich zugesichert, das Pariser Klimaziel einzuhalten. Der Trend der weltweiten Emissionen ist jedoch nach wie vor steigend, als hätte niemand von den Entscheidungsträgerinnen und -trägern verstanden, worum es wirklich geht. Die Motoren tuckern weiter, als hätte schon das Bekenntnis, sie abzudrehen, das Problem gelöst.

Der IPCC-Bericht betont sehr deutlich, dass die Erreichung des 1,5- °C-Ziels möglich ist. Es braucht dafür aber massive Reduktionen beim Ausstoß von Treibhausgasen und rasche, weitreichende und beispiellose Veränderungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.11 Das klingt schwierig? Ja, es ist zweifellos die Herkulesaufgabe des 21. Jahrhunderts.

Es werden im Bericht deswegen verschiedene Pfade für die Erreichung des 1,5- °C-Ziels vorgestellt. Spätestens 2050 müssten wir global Nettonull erreichen, um weitere Erhitzung zu vermeiden. Nettonull heißt, nur so viel zu emittieren, wie auch wieder natürlich — durch Bäume, Wiesen oder Moore — gebunden werden kann. Es heißt, keine zusätzlichen Treibhausgase in die Atmosphäre auszustoßen. Das wiederum bedeutet, dass bis 2050 jeder Verbrenner, jeder Gasherd, jeder Heizkessel und jedes Flugzeug, jedes Kohlekraftwerk und jede Raffinerie durch erneuerbare Alternativen ersetzt sein muss. Das klingt politisch unmöglich? Nun, mit physikalischen Naturgesetzen lässt sich leider nicht verhandeln. Wir müssen es schaffen, und der Bericht zeigt, dass es gelingen kann.

Es reicht allerdings nicht, bis 2050 zu warten und dann alles gesammelt abzudrehen. Es ist von großer Bedeutung, wie viele Treibhausgase bis 2050 ausgestoßen werden. Wir haben nur mehr eine gewisse Menge — ein Budget — an Treibhausgasen zur Verfügung. Es ist wie bei einem Sparbuch mit einer gewissen Summe Geld drauf: Entweder Sie heben alles gleich am Anfang ab, verprassen das Geld und schauen dann den Rest des Monats durch die Finger; oder Sie teilen sich das Geld ein.

Der Bericht empfiehlt eine Einteilung. Eine jährliche Reduktion der Treibhausgase wird schrittweise die alte fossile Infrastruktur mit tauglichen Alternativen ersetzen. Eine so tiefgreifende Transformation ist nicht von heute auf morgen bewältigbar. Es müssen Zwischenziele definiert werden. Bis 2030 etwa müssten sich die globalen Emissionen laut IPCC halbieren. Je früher man abbremst und das Ruder dreht, desto sanfter wird die Kehrtwende.

Leider glauben viele Politikerinnen und Politiker, dass solche Veränderungen von einem Tag auf den anderen funktionieren — nämlich an einem ungewissen Tag in der Zukunft, wenn sie nicht mehr im Amt sind. Darum ist jahrzehntelang nichts passiert. Hätte man damals begonnen, als WissenschafterInnen wie Helga Kromp-Kolb das erste Mal vor der Klimakrise gewarnt haben, wäre das ein sanfter Richtungswechsel gewesen, der weder Panik noch Bestürzung hervorgerufen hätte. Jetzt, mehr als dreißig Jahre später, braucht es relativ tiefgreifende Maßnahmen, um nicht den Wasserfall hinunterzustürzen. Die verbleibende Distanz zur Kante, das ist die verbleibende Menge an Treibhausgasen, die die gesamte Menschheit noch zur Verfügung hat.

Das CO2-Budget der Menschheit

Der IPCC gab das Treibhausgasbudget der Welt ab 2018 noch mit 420 Milliarden Tonnen an. Als wir im Winter 2018 mit Fridays For Future in Wien starteten, betrug es nur mehr 380 Milliarden Tonnen für die Grenze von +1,5°C Erderhitzung. Derzeit werden weltweit jede Sekunde 1331 Tonnen ausgestoßen. Das ergibt im Jahr 42 Milliarden Tonnen CO2. Bei Erscheinen dieses Buches im Juli 2021 waren auf dem CO2-Konto der Menschheit darum nur noch 266 Milliarden Tonnen.12 Wissen Sie noch, was Sie 2018 zu Weihnachten gemacht haben? Seitdem haben wir ein Drittel des gesamten Kohlendioxids ausgestoßen, das uns für die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens zur Verfügung steht.

Wie lange bleibt uns dann noch, bis wir die beiden Grenzen von +1,5°C und +2°C überschritten haben? Wenn wir weiterhin solche Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre schleudern, haben wir in etwa 24 Jahren die absolut zu vermeidende +2- °C-Grenze erreicht.13 Das ist das Jahr 2045, also relativ weit weg. Ich selbst werde meinen 51. Geburtstag feiern. Mia oder Finn werden möglicherweise gerade zu arbeiten beginnen. Wie sieht das aber für +1,5°C Erderhitzung aus? Schon in etwa sechs Jahren, im Jahr 2027, ist diese Grenze erreicht. Finn und Mia werden vielleicht noch nicht einmal geboren sein, da ist das Schicksal der Erde schon besiegelt.