Apostelwasser - Regina Ramstetter - E-Book

Apostelwasser E-Book

Regina Ramstetter

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Beschreibung

Eine Dreifachkreuzigung am Ufer der Ilz erschüttert ganz Passau. Ist es das Werk eines Irren? Kriminalhauptkommissar Kroner macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Doch jemand ist nicht an der Aufdeckung der Morde interessiert, und das Dickicht aus Schweigen und Scheinheiligkeit, durch das sich Kroner kämpfen muss, scheint undurchdringlich . . .Eine Geschichte von Martyrium, Schweigen und Vergeltung, behutsam und eindringlich erzählt.

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Regina Ramstetter wurde 1972 in Niederbayern geboren. Bereits im Grundschulalter machte sie aus ihren Abenteuern kleine Geschichten und verlegte sich später aufs Gedichteschreiben. Nach einem Au-pair-Aufenthalt in England, BWL-Studium, Auslandssemester in Nordirland, Diplom und dem ersten Job als Redakteurin der Mitarbeiterzeitschrift eines großen Konzerns verschlug es sie zurück in die niederbayerische Heimat, wo sie ihren ersten Roman schrieb.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Ausnahmen: Barbara Dorsch, Frau von Quast, Dan Grigoreanu, Karl Köck senior, Gerlinde Feicht, Ludwig Boxleitner, Susi Köck, Karl Köck junior, Christiane Öttl, Lisa Wahlandt und Andrea Hermenau.   Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler, München.

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: unvollkommenschoen Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Susanne Bartel eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-002-7 Niederbayern Krimi Originalausgabe

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Bahnhof Etterzhausen, September 1965

Das Herz springt zickzack. Die kleinen Finger schwitzen im kräftigen Griff der Mutterhände. Er will, dass es so bleibt. Sie soll nicht loslassen. Nicht schon.

Doch die Trillerpfeife des Eisenbahners wütet unbarmherzig durch seinen Kopf, reißt ihm die Haut in Fetzen vom mageren Leib. Er hat Angst. Und trotzdem lässt die Mutter seine Hand los, beugt sich über ihn, küsst ihm die Stirn. Ein letztes Mal. »Du bist ein großer Junge. Reiß dich zusammen«, atmet sie in sein Ohr und steigt in den Zug, ohne die Tränen fortzuwischen, wie sie es sonst tut.

Energisch schließt der Mann in Uniform mit einer Hand die Tür hinter dem steifen geblümten Rock und schiebt mit der anderen den blonden Jungen von den Gleisen fort. Die Eisenräder quietschen. Nur widerwillig setzt sich die Lok in Bewegung, und doch zerrt sie das Liebste auf der Welt am Ende mit sich fort.

Dann ist er allein auf dem Bahnsteig. Mutterseelenallein. Er hört nicht die Vögel, er sieht nicht die Wolken am Himmel. In ihm und um ihn herum ist alles leer.

Und totenstill.

Eine Melodie flattert ihm zu, will ihn aufmuntern, ihm Mut machen. Töne erobern die schluchzende Kehle, summen und singen abwechselnd den Schmerz hinaus. »Ein gute Nacht und guten Tag geb dir, der alle Ding vermag.« Es ist der Gesang der Mutter, der ihn seit acht Jahren beim Einschlafen begleitet. »Ach Jesus, Herre mein, behüt dies Kindelein.«

Singen. Musik. Das liebt er. Darauf wenigstens freut er sich. Es wird schon alles gut werden. Bestimmt. Alle sagen das. Er solle froh sein, dürfe stolz sein. Es sei eine solche Ehre! Für ihn, für die Mutter. Und für den toten Vater ganz besonders.

Der Bub schaut in den Himmel hinauf. Sie werden ihm beistehen. Der Vater und der liebe Gott. Da ist er sich gewiss, darauf vertraut er. Tief zieht er die Luft in seine Lungen, und schon hüpft das Liedchen heiterer aus seinem Mund.

Lange Schritte tragen einen schneidigen Burschen über den Bahnsteig direkt auf ihn zu. Wie ausgemacht.

Es wird schon werden. Mit Gottes Hilfe. Das hofft er.

Ein letztes Mal dreht er sich um, findet die roten Lichter des Zuges, die in der Ferne allmählich zerfallen.

Mama.

Dienstag, 9.Juni 2015

»SUCH’SPLATZI! Such ’s Platzi!«

Herr Bozzi schickte einen beleidigten Blick nach oben und spreizte sich trotz Gehbehinderung überaus renitent gegen Halsband und Leine.

»Zenalle!* [* siehe Überlebenshilfe für Preußen und andere Ahnungslose hinten] Jetz such halt ’s Platzi!« Das Übergangsfrauli schnaufte. Barbara Dorsch, auch genannt »die Ilzige«, weil sie hieß wie ein Fisch, der nur im Meer schwamm, aber am Fluss wohnte, ging normalerweise nicht derart früh raus. Wenn sie nicht schlafen konnte, stand sie lieber in ihrem lindgrünen Haus in der Freyunger Straße am Fenster und sinnierte vor sich hin. Doch der kernige Kerl zu ihren Füßen, den sie immer dann sittete, wenn die Frau von Quast in Urlaub war, hatte davon nichts wissen wollen und so lange an der Schlafzimmertür gebosert, bis das Ersatzfrauchen sich aus den Federn wälzte, um seinen Wünschen nachzukommen. Das arme Hundi musste raus, wenn die Natur danach verlangte. Mein Gott.

»Wuff. Wuff.«

Seinem Anliegen Nachdruck verleihen, das beherrschte Herr Bozzi seit frühesten Welpentagen aus dem Effeff, und selbiges tat er nun in der morgendämmernden Ilzstadt, obwohl sich unter seinen Pfoten bereits ein recht gut geeignetes Stück Wiese befand und die Hundekottüte einsatzfreudig raschelte. »Wuff. Wuff. Wuff. Wuff.« In anschwellender Lautstärke, versteht sich.

»Suchst jetz ned gleich ’s Platzi!«, hielt der Dorschens brachiale Stimme dagegen, dass es jedes gestandene Mannsbild zusammengefaltet hätte wie nix.

Doch der Bozzi schickte nur ein gänzlich unbeeindrucktes »Wuffwuff!« hinterher.

»Hund, jetz her aaf! Du sollst jetz amal aafhern! Bellst mir ja de ganz Nachbarschaft zam.«

Noch ein lapidares »Wuffwuff!«, das folgte.

Barbara Dorsch rupfte zwei-, dreimal herzhaft an der Leine– letzter Versuch quasi– und blickte wehmütig zu ihrer Haustür auf der anderen Straßenseite hinüber. Der schwindsüchtige Grünstreifen direkt neben der Litfaßsäule diesseits war dem Herrn Bozzi offensichtlich nicht genehm. Anscheinend wollte er partout zu seinem Lieblingsgaggiplatzi, zur einstigen Rossschwemme an der Stromlänge. Ein kleines Stück die Ilz rauf nur, aber um halb fünf Uhr in der Früh? Im Nachthemd, in Clogs und ohne sich wenigstens notdürftig restauriert zu haben? Aber kein normaler Mensch war um diese Zeit unterwegs, oder? Nicht einmal die Vögel zwitscherten, bloß die Ilz plätscherte müde vor sich hin. Also marschierten Hund und Mensch los, und mit dem Belfern ward endlich Ruh.

Keine fünf Minuten später landete die Dorsch allerdings auf dem Hosenboden. Zur Rossschwemme am Ilzufer führte ein schmaler Pfad hinab. Nicht sehr steil, aber so früh am Morgen ein bisserl feucht und glitschig.

Wumm! Autsch. »Zenalle! Hundsviech, greislichs!«

Denn selbstverständlich pressierte es dem Herrn Bozzi jetzt mit dem Platzisuchen, alles war auf einmal überaus brisant, hier, wo er sich wohlfühlte, und die Dorsch hing an der Leine wie an einem Schleppliftbügel, wenn man noch nicht bereit war. Da haut’s einen aus der Spur. Und wie.

Nach erlittener Schmach stemmte sich die Ilzige mühsam hoch, fischte ihre Clogs aus den Büschen und stülpte das Nachtgewand zurück, wo es hingehörte. Wenigstens der Hundskrippel schien endlich selig. In Hockstellung kreiselte er über den Sand, bis endlich, endlich…

Doch wie das Würschtl fiel, sollte die Dorsch gar nicht mehr mitbekommen. Sie sah etwas anderes. Etwas ganz und gar Entsetzliches. Ihre Augen wurden groß, die Kinnlade fiel runter.

»Ja, Kruzinesen!«

GEKREUZIGT, GESTORBEN UND BEGRABEN. Seit Kroner den Tatort betreten hatte, huschte die Zeile des Glaubensbekenntnisses durch seinen Kopf wie ein Geist, der keine Ruhe findet. In dreißig Jahren Dienst hatte der Erste Kriminalhauptkommissar Passaus noch nie etwas Derartiges zu Gesicht bekommen. Er räusperte das Würgen weg, schloss die Augen. Die Kollegen hatten nicht übertrieben.

Kein bisschen.

Er atmete tief durch, brauchte einen Moment, um seine Schutzschilde erneut hochzufahren. Eigentlich hatte er angenommen, dass das ausgeweidete Mädchen, das vor zwei Jahren mit dem Juni-Hochwasser vor dem Scharfrichterhaus angeschwemmt worden war, mit Abstand der Negativ-Höhepunkt in seiner Karriere als Kommissar gewesen wäre, doch anscheinend…

»Servus, Chef.«

Kroner wandte sich um.

Oberkommissar Bruhan stolperte den schmalen Pfad herunter, musste sich an den Zweigen festhalten, um nicht auszurutschen. Kroner hegte einen unterschwelligen Groll gegen den jungen Mann, weil der vor einem Jahr verbotenerweise mit seiner Nachbarin angebandelt hatte. Mit der durchgeknallten, rebellischen Valli. Die vielleicht seine Tochter war.

Vielleicht!

Das sagte schon alles. Eine Geschichte, die Kroner fast zwei Drittel seines Lebens wie ein Dorn im Fleisch saß, ihm aber erst seit dem letzten Sommer so richtig das Blut vergiftete. Wenn er in absehbarer Zeit kein Magengeschwür bekommen wollte, musste er für Klarheit sorgen. Irgendwie.

»Was haben wir?«, fragte Ben Bruhan, der von den möglichen und unmöglichen Verwandtschaftsverhältnissen nichts wusste, und stellte sich neben seinen Chef.

»Eine Kreuzigung.« Kroner schluckte den Hader hinunter, atmete und omte sich mühsam in eine Art tiefenentspannten Zustand und nickte in Richtung gegenüberliegendes Ilzufer. Dort wuselten die Spurensicherer in ihren weißen Anzügen herum wie Aliens. Überall blinkten rote und blaue Lichter, Flatterbänder umfingen die bizarre Szenerie, schlossen den Rest der Welt aus. Die Morgensonne mühte sich vergebens, dem Alptraum eine mildere Note zu verpassen.

»Drei Männer unterschiedlichen Alters. Mitte dreißig? Um die fünfzig? Siebzig?« Kroner hob die Schultern. »Jeder mit einem Kruzifix in der Brust.«

Ben nickte. In seinem glatt rasierten Gesicht zuckte kein Muskel. Nicht der kleinste. »Papiere?«

»Nein. Keinerlei Anhaltspunkte für die Identität der Opfer bis auf ihr Aussehen. Deutsch. Österreichisch. Irgendwas Europäisches.«

Ben prägte sich die Auffindesituation genau ein. Abgesehen von drei identischen Lendenschurzen waren die Männer nackt. Neben den zur Schau gestellten Körpern führten links und rechts betonierte Stufen auf eine Wiese, die zum Gelände des Ilzstädter Kanuvereins gehörte. Eine alte Bootsanlegestelle. Eindeutig. Dahinter Zeltplatz, Wäschespinne und Sanitärhaus mit Aufenthaltsraum für Kanufahrer, die mehrtägige Wandertouren unternahmen. Einladend und neu renoviert, weil das Hochwasser vor zwei Jahren die alte Anlage quasi weggespült hatte. Ein idyllisches Fleckchen Erde, wenn nicht…

»Das Herz durchbohrt. Hände und Füße in den Boden genagelt.« Den Hirn-Scan vom Tatort würde Kroner garantiert nie mehr loswerden. Sein ganzes Leben nicht. Die drei Toten lagen– oder besser lehnten– nebeneinander an der steilen Böschung. Es sah aus, als stünden sie dort. »Die Kruzifixe, die ausgebreiteten Arme, die übereinandergelegten Füße. Wie Jesus am Kreuz.«

Schrecklich.

»Eine Inszenierung?« Ben blinzelte nun doch.

Natürlich war es eine Inszenierung. Ein Symbol. Eine Warnung. Die kranke Tat eines Psychopathen.

»Was haben wir sonst?«, drängte Ben, als Kroner keine Anstalten machte, zu antworten.

»Der oder die Täter kamen ziemlich sicher nicht über den Landweg. Schwer zugängliches Gelände, Zufahrt nur über die Halser Straße, massenhaft Anwohner, nirgends Reifenspuren. Und drei Männerleichen so weit zu tragen? Kann ich mir nicht vorstellen.« Letzteres musste dasK3 zwar erst überprüfen, doch Kroner hatte keine Zweifel. »Die kamen übers Wasser. Garantiert.«

Als er vor einer halben Stunde hier eingetroffen war, hatten die Spusi-Leute ihre Arbeit unterbrochen, um dem Chef ein bisschen Zeit zu geben, sich alles anzusehen. Jetzt herrschte wieder Hochbetrieb. Jedes Fleckchen Erde wurde unter die Lupe genommen, jedes Staubkorn umgedreht. Wie Kroner scannten auch die Spezialisten vom Landeskriminalamt den Fundort, nur nicht mit den Augen, sondern mit dem Laser, der gerade alle Oberflächen im Umkreis von nicht ganz zweihundert Metern abtastete. Von verschiedenen Standpunkten aus, damit nichts unentdeckt blieb. Dazu wurden Panoramaaufnahmen in höchster Auflösung mit der Scene-Kamera gemacht. Achtzig Megapixel, wenn sich Kroner recht erinnerte. Scans und Bilder– am Superrechner kombiniert– ergaben einen 3D-Tatort, den die Ermittler jederzeit erneut betreten könnten. Deshalb war der Chef ans andere Ufer geschickt worden: Damit sein Konterfei nicht überall drauf war.

Ein Hoch auf die neueste Technik!

Denn der Anfang allen Übels war ein schlechter »Erster Angriff«. Alles, was an einem Fund- oder möglichen Tatort übersehen oder vergeigt wurde, konnte nie wiedergutgemacht werden. Das Schlimmste dabei: Nicht selten führte Schlamperei oder besser gesagt fehlende Akribie zu falschen Schlüssen. Und falsche Schlüsse führten Ermittlungen in falsche Richtungen.

In Sackgassen.

Das musste der Oberbefehlshaber vomK1 jetzt nicht unbedingt haben. Nicht bei einer Kreuzigung in der Ilzstadt.

Kroner versuchte, die Hektik, die an jedem Leichenfundort herrschte, von sich fernzuhalten. Alles lief nach Plan. Om. Ein Notruf war eingegangen. Om. Die Kollegen von der Polizeiinspektion waren hergefahren. Om. Hatten Notarzt und Kripo verständigt. Om. Kroner höchstselbst hatte die Staatsanwaltschaft informiert und darauf gedrängt, dass sowohl Rechtsmedizin als auch Scanner und Scene-Kamera mitsamt einem dafür geschulten Team aus München anrückten. Om. Die Grenzfahndung lief.

Alles nach Plan.

Der bemitleidenswerte Notarzt hatte den Tod der Männer festgestellt und war hinterher völlig aufgelöst vom Fundort geflüchtet, natürlich nicht, ohne diesen ordentlich zu kontaminieren. Kroner hatte bei seiner Ankunft gerade noch gesehen, wie der Ärmste zweimal die Wiese gedüngt hatte. Auch die Arbeit als Mediziner bereitete eben nicht auf einen solchen Anblick vor.

Professor Dr.Kammerlocher von der Rechtsmedizin in München war da schon ein anderes Kaliber. Er kannte auch die grässlichsten Facetten des Todes, hatte so ziemlich jede Abscheulichkeit schon auf dem Tisch gehabt. Normalerweise kam der Guru nie persönlich, sondern schickte eine Mannschaft, die die Gegebenheiten vor Ort aus rechtsmedizinischer Sicht durcharbeitete, damit ja nichts übersehen wurde und jedes vordergründig unwichtige Detail des Todes Beachtung fand. Doch heute hatte er sich selbst angekündigt. Eine absolute Seltenheit.

»Angenommen, deine Übers-Wasser-Theorie trifft zu: Wie viele Stellen gibt es wohl, an denen man ungestört drei Leichen in ein Boot laden kann?« Ben kratzte sich an der Schulter.

Kroner überlegte. »Drei Flüsse. Inn, Donau und Ilz. Der Bereich wird wahrscheinlich begrenzt durch das Wasserkraftwerk Jochenstein donauabwärts, durch Kachlet donauaufwärts, Ingling innaufwärts und ein sehr seichtes Flussbett ilzaufwärts.«

»Also ein überschaubares Gebiet?« Ben wohnte und arbeitete schon seit zwei Jahren in Passau, trotzdem verließ er sich für eine solche Einschätzung lieber auf den Chef, der sein ganzes Leben hier verbracht hatte und deshalb das Qualitätssiegel »Hiesiger« trug.

»Wenn wir die Ilz außen vor lassen, dann ja. Ab der Brücke nach dem Durchbruch den Fluss rauf dürfen Motorboote nämlich nicht mehr fahren. Aber ›dürfen‹ und ›trotzdem tun‹ sind natürlich zwei Paar Stiefel.« Kroner zupfte an seinem Hemd. »Weiter oben kann man um diese Jahreszeit außerdem höchstens mit der Luftmatratze aufs Wasser. Wir müssen abwarten, ob von den Anwohnern jemand was gehört oder gesehen hat.«

Ben tippte gleich mal eine Notiz in sein Handy.

»Allerdings gibt es jede Menge sogenannte Einsetzstellen, zumindest am Inn und an der Donau«, fuhr der Chef fort und steckte die Fäuste in die Taschen seiner Jeans. »Die Flussufer sind vielerorts leicht zugänglich. Und Umsetzstellen sind meines Wissens ebenfalls vor und nach jedem der Kraftwerke vorhanden. Dadurch vergrößert sich das Gebiet wieder. Theoretisch.«

»Wäre trotzdem ein enormes Risiko.« Ben wusste, was eine Umsetzstelle war. Es hatte mal eine Zeit in seinem Leben gegeben, in der er jede freie Minute auf dem Wasser verbracht hatte. »Wenn man unentdeckt bleiben will, vielleicht nicht die Methode erster Wahl, oder?«

Kroner spielte das Szenario im Kopf durch. Eines der Kraftwerke zu umgehen, also Boot samt drei Leichen aus dem Wasser zu holen und alles ein Stück über Land zu karren, das kam eigentlich nicht in Frage. Oder doch?

»Wir sollten möglichst schnell herausfinden, wo die Fahrt auf dem Wasser begann, wenn sie denn stattgefunden hat.«

Der Jungspund sprach dem Chef aus der Seele. »Und wir dürfen nicht automatisch davon ausgehen, dass Start- gleich Endpunkt ist. Rein theoretisch könnten die Täter mit einem Boot auch von weiter her gekommen sein.«

»Zwei.«

»Allein mit drei Leichen? Das müsste schon ein sehr kräftiges Kerlchen sein.« Kroner nickte über das Wasser Richtung Auffindeort. »Ich hoffe, wir erwischen diese kranken Schweine. Und zwar bald.«

Die Maschinerie setzte sich gerade erst in Gang, aber die verschiedenen Abteilungen der Kriminalpolizei arbeiteten hervorragend zusammen. Ein Rädchen griff ins andere, der Motor schnurrte, und trotzdem blieben Verbrechen ungesühnt.

Manchmal.

KRONER HÜSTELTE GEISTESGEGENWÄRTIG die Bestürzung weg, als er die Schiebetür des Polizeibusses öffnete, hinter der die Dame, die im Morgengrauen die Leichen entdeckt hatte, auf ihn wartete. Mann, sah die derangiert aus.

Leckst mich fett!

Kroner fand das durchaus nachvollziehbar– nach so einer Aufregung–, und dennoch erschütterte ihn ihr Anblick tief, was aber nicht an dem Nachthemd oder den Clogs und schon gar nicht an den platt gedätschten Haaren lag, nein, es waren die knallig roten Lippen inmitten einer recht ausgeprägten Physiognomie, die ihn verwirrten.

Barbara Dorsch zuckte mit den Schultern, als wüsste sie genau, was dem Kommissar durch den Kopf geisterte. »Wenn ich schon im Nachthemd hier herumsitzen muss, dann doch wenigstens mit etwas Pep.« Sie schürzte die Lippen.

Und er, der Erste Kriminalhauptkommissar Passaus, fühlte sich sogleich ertappt und lief rot an. Diese Frau schaute bis in sein Innerstes. Unterzog ihn einer Seelenkoloskopie, wenn man den Vergleich mit einer Darmspiegelung heranziehen wollte. So jedenfalls fühlte es sich an. Da blieb nichts unentdeckt. Intensivster Blickkontakt! Etwas, das Kroner gar nicht gut vertrug. Und dazu diese Stimme! Ein Feldwebel bei der Rekrutenausbildung war ein Dreck dagegen. Kroners Selbstbewusstsein verflüchtigte sich in der morgendlichen Windstille wie eine Puderwolke im Orkan, und dass ihm gerade aufging, mit wem er es zu tun hatte, machte die Sache nicht besser. Die Dorsch war eine Institution in Passau. Kabarettistin, Pianistin, Sängerin, Komödiantin und Schauspielerin. Bekannt wie ein bunter Hund. Ein Original und außerdem ein Mordsdrum Weiberleid. Vor solchen fürchtete sich Kroner schon sein Leben lang.

»So ein Farbtupfer verleiht einem zumindest etwas Würde«, sagte die Dorsch erhaben, stellte sich vor und entschuldigte sich für das Schlafzimmer-Outfit mit einem Lächeln.

Erst jetzt bemerkte Kroner den Hund, der es sich auf der Rückbank des Busses gemütlich gemacht hatte. »Wegen ihm waren Sie also so früh draußen?«

»Ja. Der Herr Bozzi hatte ein dringendes Bedürfnis.«

»Wann genau?« Routinefragen. Rettungsanker. Obwohl die Antworten längst die Kollegen bei der Vernehmung aufgenommen hatten.

»Viertel nach vier.«

»Und wann haben Sie die Polizei verständigt?«

»Um halb fünf.«

»Sie hatten also ein Handy dabei?« Irgendwie wunderte Kroner das.

Barbara Dorsch hielt ihm eine Tasche mit weiß-blauem Karomuster unter die Nase. »Die ist immer dabei, wenn ich rausgehe. Da sind der Lippenstift, das Mobiltelefon und mein Kalender drin, falls ich einen Veranstalter treffe, der einen Termin mit mir ausmachen will.«

»Morgens zwischen vier und fünf?«

»Sie täten sich wundern. Gerade da trifft man die interessantesten Leut.«

»Aha.« Kroner wies auf die andere Straßenseite. »Sie wohnen doch gleich da drüben. Wieso haben Sie sich nicht schnell umgezogen?« Er sah auf die Uhr. »Immerhin ist es fast acht.«

»Die junge Kollegin hier meinte, ich müsse warten, bis Sie mit mir gesprochen haben.«

Kroner verdrehte die Augen. Natürlich ließ man keine Zeugen heimfahren, bevor der leitende Ermittler ein paar Worte mit ihnen gewechselt hatte, aber wenn man quasi direkt vor der Haustür stand…? »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Bevor oder nachdem Sie die Leichen entdeckt haben?«

Darüber hatte die Dorsch anscheinend bereits gründlich nachgedacht, denn ihre Antwort kam prompt. »Wissen S’, eigentlich sind wir ja nur kurz raus, der Hund und ich, aber dann wollt der Bozzi unbedingt zu seinem Lieblingsgaggiplatzi an der Rossschwemme… Ich hab weder links noch rechts gschaut, obwohl ich sonst wirklich alles mitbekomm, was in der Ilzstadt passiert.«

Lieblingsgaggiplatzi! Weil so ein Köter ein Lieblingsgaggiplatzi hatte. Wer’s glaubt. Kroner tränten die Augen vor Scham. Er wusste ja, dass gerade Künstler oft einen Hau hatten, dafür aber mit viel offeneren Augen und Ansichten durch die Welt stolperten als normale Menschen. Die sogen Details auf wie trockene Schwämme Feuchtigkeit und verurteilten nicht jedes Anderssein. Umso größer war seine Enttäuschung, dass der Ilzigen bis auf Bozzis Präferenz anscheinend nichts aufgefallen war.

»Oiso, wenn S’ mich jetzt gfragt hätten: ›Wia vui kostn zurzeit ’s Gramm‹«, wechselte die Dorsch kurz ins Bayerische, »ja, dann hätt ich Ihnen das verraten können. Ich kenn nämlich alle Schichten. Die Asozialen genauso wie die Herren Direktoren. Aber heut in der Früh–«

»Die Drogennester in der Ilzstadt wollen wir gerade nicht ausheben«, grätschte Kroner lieber gleich dazwischen. Dass es da einige gab, wusste er natürlich, nur dingfest ließen sich diese Grattler nicht so leicht machen. Außerdem war an den kleinen Fischen niemand sonderlich interessiert. Er hatte einen Dreifachmord aufzuklären. Nur deshalb war er hier. »Kennen Sie zufällig die Leute vom Kanuverein?« Die Kollegen von der Streife hatten Kroner berichtet, dass sie auf der Anlage niemanden angetroffen hatten. Weder Übernachtungsgäste noch den Hausmeister.

»Nein«, stellte die Dorsch klar. »Wir warn seinerzeit die Schwimmer, mia ham mit de Bootsleit nix zu tun ghabt.« Ihr Daumen wies durch die getönte Scheibe auf den kleinen Park hinter dem VW-Bus. »Das war mal ein Schwimmbad, des wissen S’ schon noch, oder? Da hab ich als jung’s Madl meinen Leistungsschwimmer gmacht. Einen Sprungturm gab’s auch. Wunderschön.«

Leistungsschwimmer? Echt? Kroner stellte sich das gerade bildlich vor. Hui. Aber als Bub war er selbst oft in die Ilzstadt oder ins Schneider-Bad in der Stromlänge zum Baden geradelt. Und an die Bürgerinitiative zum Erhalt des Bschütt-Bades konnte er sich auch erinnern. Bei einer Demo hatte sich Joja, Vallis Mum, erstmals irgendwo angekettet. Aber es hatte nichts gebracht, solch hirnlose Aktionen halfen nie. Wer wusste das besser als er? Das Passauer Erlebnisbad, kurz Peb, war wie geplant in Kohlbruck gebaut worden, und statt des Schwimmbades in der Ilzstadt gab es jetzt einen Park.

That’s life.

»Aber ich kenn den Pächter des Bootshauses von de Ruderer«, holte die Dorsch den Kommissar zurück ins Hier und Jetzt. »Der Dan war mal Klavierschüler bei mir.«

Kroner nahm an, dass Barbara Dorsch von Dan Grigoreanu sprach, der das Vereinslokal des Passauer Rudervereins in Ingling betrieb. Früher war er selbst öfter dort gewesen, hatte bei einer dieser Kneipenregatten seinen etwas anders gearteten und überaus peinlichen Freischwimmer gemacht. Zig Jahre her.

»Der Dan kennt einen Haufen Leut. Und grad die, die mitm Wasser was am Hut haben. Mit dem sollten S’ unbedingt mal reden.«

Keine dumme Idee, fand Kroner.

»Und erst recht mit dem Köck. Das ist a echter Eiza, außerdem Apostelfischer. Der kennt an jeden, der in Passau mit dem Boot unterwegs is.«

A echter Eiza! Kroner musste schmunzeln. Einer also, der in der Ilzstadt geboren und aufgewachsen war. Genau so einen brauchte die Polizei jetzt, und vielleicht konnte Karl Köck, der letzte Berufsfischer in Passau, dessen Elternhaus direkt an der Ilzmündung lag, ihnen ja tatsächlich weiterhelfen. Wenn jemand wusste, wer dort mit Zille oder Boot aus und ein fuhr, dann er. »Danke für den Tipp, Frau Dorsch. Noch was ganz anderes.« Kroner drehte sich um und streckte seinen Arm in Richtung der Häuser aus, die oberhalb des Kanuvereins auf einer Anhöhe standen. Zwar beeinträchtigte ein Gehölz die Sicht, aber eventuell hatte dort oben dennoch jemand etwas beobachtet. Seine Leute würden der Reihe nach alle Anwohner befragen, aber falls es eine besonders aussichtsreiche Adresse gab, wollte Kroner das sofort erfahren. Und da die Dorsch sich so gut auskannte… »Wer von denen, die da oben wohnen, könnte denn am ehesten was wissen?«

Barbara Dorsch brauchte einen Moment, ehe der Groschen fiel. »Die Neugierigsten, meinen S’?«

»Oder jemanden, der schlecht schläft.« Kroner wurde schon wieder rot.

Die Dorsch lachte ihn aus. »Wir von der Freyunger Straß ham wenig Kontakt zu de Bschütterer, aber ich würd’s bei der Hollriegl probiern. Bei der kommt beides zam. Die Sensationsgier und der schlechte Schlaf. Sie hat’s mit de Bandscheiben.«

Kroner notierte fleißig ins schwarze Büchlein, bedankte sich artig und drückte der Dorsch seine Visitenkarte in die Hand. Augenkontakt vermied er, nicht dass sie ihm gleich eine zweite Seelenspiegelung verpasste. »Rufen Sie mich bitte an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«

»Is recht.« Das Kärtchen wanderte in die blau-weiß karierte Tasche und die Babsi Dorsch samt Bozzi über die Straße.

PROFESSOR DR.KAMMERLOCHER stand breitbeinig in Anzug und Gummistiefeln– selbstverständlich vorschriftsmäßig steril verpackt– neben einer der Leichen und überprüfte der Reihe nach alle von Spurensicherung und Notarzt aufgenommenen Daten. Wie immer, wenn der Professor von seiner Arbeit aufsah, schob er seine Brille auf die Stirn. Kroner erinnerte er manchmal an einen netten Clown. Die obligatorische, katastrophal gemusterte Fliege, der wirre Haarkranz direkt unterhalb der weitläufigen Glatze, die überaus wachen Augen im sonst faltigen Gesicht. So gesehen bediente Kammerlocher jedes vorstellbare Klischee. Kauz und Koryphäe in Personalunion. Eine Begegnung mit ihm war immer ein Kuriosum.

»Todesursache?«

Kammerlocher drehte den Kopf. »Wie lange bin ich jetzt hier? Zwei Minuten?«

»Und der Todeszeitpunkt?«, fragte Kroner präpotent hinterher, obwohl er genau wusste, wie schwierig präzise Schätzungen waren.

»Nur die Ruhe, meine Herren. Nur die Ruhe.« Kammerlocher hielt den Kommissaren das Gerät zur Messung der Rektaltemperatur unter die Nase. »Postmortales Temperaturplateau. Keine signifikante Abkühlung, das heißt, weniger als drei Stunden.«

»Wie bitte?« Kroner drehte sein Handgelenk und blickte auf den Chronografen. »Das hatten wir lautK3 vor zweieinhalb Stunden schon, aber da waren die mindestens eine Stunde tot. Jetzt ist es Viertel nach acht! Das geht sich nie und nimmer aus. Die müssten doch schon viel länger…?«

Kammerlocher kippte die Augengläser zurück auf die Nase, ignorierte Kroners Einwand. »Die Angleichung der Körperkern- an die Umgebungstemperatur ist abhängig von vier Mechanismen.« Er sah die Herren Kommissare über den Rand seiner Brille an wie ein Lehrer Schulbuben, die sich nicht richtig auf die Unterrichtsstunde vorbereitet haben.

Doch der Bruhan-Streber hatte seine Hausaufgaben gemacht. »Konduktion, Konvektion, Strahlung und Wasserverdunstung.«

Überraschung erhellte des Professors Antlitz. Er nickte anerkennend. »Nach Eintritt des Todes baut sich vom Körperkern zur Körperoberfläche ein radiales Temperaturgefälle auf, demnach hinkt das Absinken der Körpertemperatur der Auskühlung der Körperoberfläche hinterher.«

»Aber…«, wollte Kroner dazwischenfunken, doch der Professor bat per Fingerzeig um Geduld.

»Eine ungewöhnlich laue Nacht und kaum Wind.« Kammerlocher wiegte für einen Moment den Kopf. Anscheinend irritierte auch ihn etwas. »Nur wenige Wolken. In der Tat erstaunlich.«

Kroner seufzte. Er kannte den Hang des Professors, sich ab und an in Fachsimpelei zu verlieren.

»Dem postmortalen Temperaturplateau folgt die Abkühlung in Exponentialfunktion gemäß dem Newtonschen Abkühlungsgesetz. Außerdem–«

»Demnach müsste die Temperatur aber bereits gesunken sein«, warf Bruhans blitzgescheites Gehirn aus, ehe Kammerlocher sämtliche Standardwerke der rechtsmedizinischen Lehre bemühen konnte. »Das ist es, was Hauptkommissar Kroner sagen wollte. Die neuerlichen Messergebnisse passen nicht zu den Daten, die dasK3 erhoben hat.«

In Kroners Ohren setzte ein Summen ein. Sämtliche Haare stellten sich auf. Schon die Kollegen von der Spurensicherung hatten ihm gesagt, dass die Tötungen nicht sehr lange zurückliegen konnten. Aber das war vor drei Stunden gewesen.

Drei Stunden!

»Die Abkühlgeschwindigkeit hängt sehr stark von individuellen Gegebenheiten ab.« Kammerlochers gummiüberzogener Zeigefinger bohrte sich in den Bauch desjenigen Toten, zu dem die zuletzt gemessene Rektaltemperatur gehörte. »Zum Beispiel vom Vorliegen einer hochgradigen Adipositas.«

Kroner atmete auf. »Ich verstehe. Fett isoliert, also dauert das Abkühlen länger. Das Ergebnis fällt aus der Norm. Richtig?«

»Im Großen und Ganzen korrekt.«

»Was ist mit dem Dürren da?« Kroner deutete auf den Toten in der Mitte, dem einer der Gehilfen des Professors gerade zwischen die Beine griff.

»Das kommt schon eher hin«, merkte der Doktor an, als er vom wenig später dargereichten Display die Temperatur ablas.

Kroner verschwammen die Ziffern vor den Augen, er starrte auf den Fühler des Messgerätes, ein spitzer, langer Nagel mit einem schwarzen Kunststoffgriff. Schnell konzentrierte er sich auf das Ergebnis und überschlug die Zeiten im Kopf. »Trotzdem. Es sieht so aus, als hätten diese Männer noch gelebt, sehr kurz bevor sie gefunden wurden.«

»Du meinst, es wäre möglich, dass sie selbst in ein Boot gestiegen sind, das sie hergebracht hat?« Ben verschränkte die Arme vor der Brust und klemmte die Hände unter den Achseln ein. »Das würde alles sehr viel komplizierter machen.«

»Oder sie waren betäubt«, merkte der Professor an.

Kroners Magen rebellierte, eine Gänsehaut lief ihm über die Arme. Schon wieder. »Bitte messen Sie beim dritten Opfer auch noch mal nach«, wandte er sich direkt an den Hiwi.

Als dieser den Stift des Messgerätes in den After des Toten einführte, entwich aus dem Mund des Mannes ein kaum wahrnehmbares Zischen. Zwei Wimpernschläge später zuckte sein rechtes Bein.

»Mein Gott! Er lebt!«

»WIE KONNTE DAS PASSIEREN?«, wetterte Staatsanwältin Dr.Dorothee Michels, die– vom Bereitschaftsdienst benachrichtigt– ihr Bonzenbüro am Domplatz angesichts einer so medienträchtigen Tat eiligst mit dem Kabuff in der Nibelungenstraße getauscht hatte. »Warum haben die uns so einen Stümper geschickt?«

»Keinen Stümper. Einen Menschen. Und Menschen machen Fehler. Sie wissen doch am besten, dass den Tod feststellenden Ärzten oft die notwendigen rechtsmedizinischen Kenntnisse zur sicheren Beurteilung der vielfältigen Leichenerscheinungen fehlen. Seit Jahren plädieren Sie dafür, dass nur noch entsprechend geschulte Ärzte zu Tatorten gerufen werden.« Kroner fuhr mit beiden Mittelfingern über seine drahtigen Augenbrauen. Normalerweise war es sein Part, im Kabuff– wie das Besprechungszimmer desK1 genannt wurde– auf den Tisch zu hauen. Normalerweise flippte er aus, nicht die Michels. Die hatte zwar mordsmäßig Pfeffer im Hintern, war aber sonst eine Staatsanwältin, wie man sie sich als Leiter des Kommissariats für Leib und Leben nur wünschen konnte. Nichts brachte ihre Contenance ins Wanken. An gewöhnlichen Tagen.

Heute schon.

Heute war Ausnahmezustand. In jeder Beziehung. Und da fielen nicht nur Staatsanwältinnen aus der Rolle, sondern wurden auch mehr Fehler gemacht als sonst. Das kannte Kroner zur Genüge.

»Um rechtsmedizinische Details ging es zu diesem Zeitpunkt doch noch gar nicht. Er hätte nur den Puls fühlen müssen. Das würde sogar ich hinkriegen. Verdammt!« Madam konnte sich einfach nicht beruhigen. Ihre bombastische Oberweite hob und senkte sich in ihrem Zorn so dramatisch, dass die halbe männliche Belegschaft rhythmisch mitnickte. Bei einem solchen Anblick schnalzte eine Y-Chromosom-Zunge ganz automatisch. Alles rund und drall, und auch Kroner wäre an einem anderen Tag vor dem Anblick der überwältigenden Pracht nicht gefeit gewesen, aber heute blockierte der Hirn-Scan seine sonst kaum zu unterdrückenden männlichen Urinstinkte. »Eine Kreuzigung, Frau Doktor! Nein, drei Kreu-zi-gung-en! So was sieht man als Allgemeinmediziner nicht alle Tage.«

»Als Rechtsmediziner definitiv auch nicht«, warf Kriminaloberkommissar Bernd Waffenschmidt ein, der von allen K1ern das loseste Mundwerk hatte.

Endlich setzte sich die Michels, warf die Beine übereinander und pustete sich eine Haarsträhne ihres neuerdings superglatten Bobs aus dem Gesicht. »Vielleicht hätte…«

Ja. Vielleicht hätte eine sofort begonnene medizinische Versorgung die Überlebenschancen des Mannes signifikant erhöht. Und vielleicht hätten sie dann auch schon einen entscheidenden Hinweis auf den oder die Täter.

Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.

Doch bis in eine Klinik hatte es der jüngste der drei Männer beinahe nicht mehr lebendig geschafft. Nicht mal bis in einen Krankenwagen. Gerade als die Sanitäter mit Hilfe von Kammerlocher und dessen Hiwis ihn samt Kruzifix vom Boden lösen wollten, hörte das Herz auf zu schlagen. Die Reanimation holte ihn zwar zurück, nur für wie lange, das konnte niemand mit Gewissheit sagen. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, rechnete Kroner mit dem Schlimmsten.

»Aber wieso ist niemandem vomK3 etwas aufgefallen?« Hauptkommissarin Leo Weißenbeck störte dieser Punkt schon die ganze Zeit.

»Viel mehr als Rektaltemperatur gemessen und auf mechanische Reizbarkeit getestet haben wir nicht gemacht«, rechtfertigte sich Adrian Conners, Leiter der Spurensicherung. »Dass alle drei Männer tot sind, stand für uns außer Frage. Sie können sich das gerne schwarz auf weiß ansehen, Frau Dr.Michels.« Er wedelte mit der Todesbescheinigung durch die Luft. »Wir wussten, dass Professor Kammerlocher höchstselbst aus München anreisen würde, und er schätzt es nun mal nicht sonderlich, wenn man ihm seine Leichen unnötig vorbehandelt.«

»Über ›unnötig‹ ließe sich in diesem Fall wohl streiten«, erwiderte die Michels säuerlich und ignorierte das dargebotene Beweisstück.

»Nach jetzigem Stand der Ermittlungen müssen die Opfer auf irgendeine Weise betäubt worden sein«, fuhr Conners fort. »Deshalb vermutlich auch die deutlich herabgesetzten Vitalzeichen des jüngeren.«

Kroner seufzte. Er war selbst am Tatort gewesen, und ihm wäre im Traum nicht eingefallen, dass einer der Männer noch leben könnte. Mit einem durch den Brustkorb gerammten Kruzifix! Mit festgenagelten Armen und Beinen. Völlig regungslos.

Himmel!

Hoffentlich bekam die Presse von dieser Panne keinen Wind. Denn je höher die Sonne an diesem Morgen in den Himmel gestiegen war, umso mehr Neugierige hatten sich hinter den Flatterbändern versammelt.

Kroner schob die dramatischen Augenblicke, die sich nach der Entdeckung, dass einer der Gekreuzigten lebte, am Fundort zugetragen hatten, beiseite. Sie mussten weiterkommen. »Wie schaut’s mit der Identifizierung aus?«

»Schlecht.« Willi Paulus’ asthmatischer Atem erfüllte den Raum. »Keine Vermisstenfälle, die passen könnten.«

Herrschaftszeiten! Kroner stand auf. Im Grunde war es Ziel jeder polizeilichen Ermittlung in seinem Ressort, die Anonymität von Tätern und Opfern zu überwinden. Dass die Täter das zu verhindern suchten? Verständlich. Aber bezüglich der Opfer hatte Kroner gerne Klarheit. Von Anfang an.

»Der Termin für die Leichenöffnungen ist für heute Nachmittag angesetzt.« Paulus hielt einen Zettel mit der genauen Uhrzeit zwischen Zeige- und Mittelfinger. »Wer ist dran?«

Zwei Schritte, und Kroner schnappte nach dem Stück Papier. »Das übernehme ich.«

Ein Raunen lief durch die Reihen, sogar die Michels japste überrascht.

»Du kippst doch schon um, wenn du beim Blutabnehmen zuschauen musst. Wie in Gottes Namen willst du–« Paulus hielt inne.

Kroners Brauen spreizten sich in schwindelerregende Höhen auf. Für seine Leute ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass es jetzt besser war, den Mund zu halten und sich zu ducken. Und wäre es nicht Paulus gewesen, der sich erdreistet hatte auszusprechen, was sowieso alle dachten, dann hätte Kroner eventuell ein paar derbe bayerische Kraftausdrücke bemüht, um seine Position als Leitrüde wieder mal klarzumachen.

Na ja.

Aber Willi Paulus hatte schon für Kroners Vater gearbeitet, und Empfindlichkeiten sollte man sich vor allem dann nicht leisten, wenn einem die Wahrheit um die Ohren flog. Eine Weisheit, die im Kroner-Haus von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Außerdem fuhr er nicht ganz ohne Hintergedanken nach München. Eventuell ließ sich bei der Gelegenheit die Valli-Tochter-Geschichte klären. Ihm wurde ganz flau im Magen, wenn er nur daran dachte.

Ben hob die Hand, als wollte er in einem Auktionshaus ein Gebot abgeben. »Steht inzwischen fest, dass Täter samt Opfer auf dem Wasserweg zum Fundort gelangt sind?«

Conners räusperte sich. »Die Spurenlage stellt sich uns in dieser Hinsicht recht eindeutig dar. Aber natürlich hätte ein Helfer von der Landseite aus mit anpacken können, und da es sich bei dem Stück Wiese um öffentlich zugängliches Gelände handelt, wird es schwer sein, zu differenzieren.«

»Noch einen Fehler sollten wir uns nicht erlauben«, merkte Kroner flapsig an, woraufhin der Leiter der Spurensicherung wenig amüsiert den Mund verzog.

Der Chef ignorierte die Empfindlichkeit routiniert. »Durch die Übers-Wasser-Theorie gehen uns jede Menge Spuren verloren, dennoch könnte uns das in die Hände spielen, denn sie reduziert im Vergleich zu einer Auto-Variante automatisch die Möglichkeiten.« Er nickte Ömer Arslan zu. »Zeig her, was du vorbereitet hast.«

»Der Türke« im Team kümmerte sich um alles, was einen Stecker oder eine Platine hatte. Er weckte seinen Laptop aus dem Halbschlaf, knipste den Beamer an und zoomte auf Google Earth den Leichenfundort heran. »Wo kamen Täter und Opfer her? Das ist doch die Frage.« Arslan wechselte per Mausklick zu einer Übersichtskarte von Passau. »Da gibt es zum einen das Ilzufer bis hinauf zum Friedhof an der Achatiusstraße. Das ist nur ein kleines Stück. Weiter oben ist das Wasser zu seicht für ein Boot mit drei Körpern an Bord. Da hätte man sie schon per Luftmatratze transportieren müssen, und das scheidet meiner Meinung nach aus.«

»Okay.« Kroner gab Leo einen Wink, damit sie das Wichtigste am Whiteboard festhielt.

»Zum anderen müssen wir uns Inn und Donau bis zu den drei Kraftwerken ansehen.« Arslan flog für die Anwesenden einmal an den entsprechenden Ufern entlang. »Da kommen einige Kilometer zusammen. Die Wasserschutzpolizei ist bereits informiert, die unterstützen uns mit Booten. Vielleicht gibt es irgendwo Auffälligkeiten, Hinweise.«

Leo runzelte die Stirn. »Woran genau denkst du? Das Boot? Ein bisschen Blut? Eine besonders schöne Reifenspur? Brotkrumen à la Hänsel und Gretel?«

»Würden uns Mantrailer weiterbringen?«, gab Ben sein nächstes Gebot ab, ehe Arslan zurückbeißen konnte.

»Personensuchhunde?« Leo warf den blauen Marker von einer Hand in die andere wie eine schlecht gelaunte Lehrerin die Kreide.

»Ja.« Ben stand auf. »Ich hatte erst vor Kurzem ein echt interessantes Gespräch mit einem Kollegen von der Diensthundestaffel Münch–«

»Stopp!«, unterbrach Kollegin Weißenbeck und rieb sich das Kinn. »Ist es nicht so, dass man Hunde nur darauf trainieren kann, anzuzeigen, wo die Spur hinführt, nicht, woher sie kommt?«

»Stimmt«, gab Ben ihr recht.

Kroner kam nicht mit. »Wo, bitte, soll da der Unterschied liegen?«

Bruhan lachte. »Es steckt einfach zu viel Wolf im domestizierten Hund. Die Vergangenheit interessiert auch den Vertreter der neueren Art null. Die Vierbeiner sind auf Beute aus. Nur das treibt sie an. Deshalb werden Mantrailer hauptsächlich zur Vermisstensuche eingesetzt, also im Vorwärtstrail, nicht in der Backtrailsuche.«

»Backtrailsuche?« Der Chef schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Komm zum Punkt, Bruhan!« Er hoffte sehr, dass sie bis zum Abend wenigstens einen klitzekleinen Anhaltspunkt hatten. Einen Namen. Ein Motiv. Irgendetwas.

»Mit einem in der Backtrailsuche ausgebildeten Hund könnten wir den Uferabschnitt finden, wo die Fahrt auf dem Wasser begann.«

»Ach, auf einmal doch?« Natürlich kam der Querschuss von Leo.

»Die Ausbildung ist um ein Vielfaches schwieriger, ja, aber es ist möglich.«

»Wieso sagst du das nicht gleich?« Allmählich gefiel Kroner die Idee. Hauptsache, es würde sich damit die Distanz zwischen Polizei und Täter verringern. »Probieren wir es.« Auch Staatsanwältin Michels nickte.

»Es gibt nur ein Problem.« Ben duckte sich etwas, als er das sagte. »Die Bayerische Polizei verfügt meines Wissens nicht über Hunde, die für die Backtrailsuche ausgebildet sind.«

»Na bravo! Ganz toll! Wieso fängst du dann überhaupt damit an und vergeudest unsere Zeit?«

»Ich könnte in Österreich nachfragen oder bei den Rettungshundestaffeln des Roten Kreuzes.«

»Dann tu das!«, knurrte Kroner, der jetzt endlich weitermachen wollte. Er öffnete eins der Kabufffenster. »Gibt’s Neuigkeiten von Grenz- und Ringalarmfahndung?«

»Es war früh am Morgen. Bis etwa sechs Uhr dreißig hielt sich die Menge der aufgenommenen Personalien im Rahmen«, berichtete Leo. »Sonst keine besonderen Auffälligkeiten, und der Presseaufruf nach Zeugen und sonstigen Hinweisen ist auch schon raus.«

»Die Pressekonferenz ist für heute Abend siebzehn Uhr angesetzt«, informierte die Michels die Kollegen. »Da der werte Herr Kroner einen Ausflug in die Rechtsmedizin macht, wird mir wohl neben Kriminalrat Dr.Wendlandt Kriminalhauptkommissarin Weißenbeck beistehen müssen.« Sie nickte Leo zu.

Die verzog den Mund. Den Kontakt mit den Zeitungsheinis vermied sie sonst tunlichst. Schnell wechselte sie das Thema. »Was hat eigentlich die Befragung der Anwohner ergeben?«

Kriminaloberkommissar Mario Kutscher zückte seinen Notizblock. Was das betraf, liefen alle Infos bei ihm zusammen. »Nichts wirklich Hilfreiches. An der Stromlänge war jemand zu tatrelevanter Zeit wach, aber gesehen hat niemand was Konkretes.«

Kroner tanzte sofort das Bild von einer Zeugin im Nachthemd durchs Hirn. »Die einzige Person, die heute beim Anblick der Gekreuzigten ziemlich entspannt geblieben ist, ist die werte Frau Dorsch«, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinen Leuten. »Entweder hat sie den Beruf verfehlt, oder sie–«

»Ach woher!«, widersprach Paulus, der in der Ilzstadt wohnte und die Dorsch selbstredend besser kannte. »Doch nicht die Babsi. Die ist Schauspielerin. Wenn jemand einen richtigen Schock überspielen kann, dann sie. Wetten, dass sie die nächsten zwanzig Jahre von nichts anderem mehr träumt?«

Konnte schon sein. Kroner murrte. Eigentlich glaubte er ja selbst nicht daran, dass die Dorsch und der Bozzi irgendetwas mit diesen Morden… Obwohl! Für Publicity nahm so mancher Künstler allerhand auf sich.

Stopp!

Seine Gedanken verhedderten sich. Kroner ließ die Schultern kreisen, irgendwie war er heute verspannt. Er holte tief Luft. »Und die Hollriegl von der Halser Straße? Hat die was mitbekommen oder gesehen?« Den Geheimtipp von der Ilzigen musste er schon noch abfragen, ehe er nach München fuhr.

Kutscher blätterte in seinen Unterlagen. »Fehlanzeige. ›Wie kommen S’ denn darauf, dass ich eins von diesen neugierigen Weibern wär?‹, hat die Dame sich empört– und wie!«

»Da hab ich aber was anderes gehört«, sagte der Chef und verabschiedete sich.

KRONER STARRTE DURCH DAS GLAS und schloss die Finger seiner rechten Hand um die beiden Polypropylengefäße in seiner Hosentasche. Jenseits der Scheibe entfernten vier Männer in OP-Kitteln soeben den blauen Sack von der Leiche des dicken Mannes und hoben diese auf die Liege des Computertomografen. Vom Kruzifix ragte nur noch ein etwa zehn Zentimeter langer Rest aus der Brust des Toten.

»Wir mussten das Kreuz für den Transport absägen«, erklärte Professor Kammerlocher, der in diesem Moment neben seinen Besucher an das Sichtfenster zum CT-Raum trat und ihm die Hand reichte.

Kroner ließ die Röhrchen los, zog die Rechte aus der Tasche. »Gut, dass wir das gleich heute erledigen können.«

»Ich habe alle Termine abgesagt.«

Seit dem Morgen standen die Telefone nicht mehr still. Fernsehen, Radio, Presse. Der Himmel über Passau verdunkelte sich, ganze Heerscharen von Journalistengeiern harrten ihrer Chance auf exklusive erste Informationen zu den Kreuzigungen in der Ilzstadt. Kroner war heilfroh, dass ihm die Pressekonferenz erspart blieb.

»Lassen sich die Medien in Schach halten?«, wollte der Doktor wissen. Sogar bei ihm in der Rechtsmedizin hatten sich einige Übereifrige gemeldet.

»Rasende Reporter sind wie Pferde, die in Panik geraten. Äußerst schwer zu bändigen.«

»Lebt er?« Kammerlocher starrte wie sein Besucher durchs Glas.

»Ja. Die Ärzte sagen, der Metalldorn hat das Herz nur knapp verfehlt, aber wichtige Blutgefäße und die Lunge wurden verletzt. Sein Zustand ist kritisch.«

»Haben Sie mit dem Notarzt gesprochen?« Der Professor räusperte sich, so als schämte er sich für seinen Berufsstand.

»Kollegin Weißenbeck hat das übernommen.«

»Aha. Und?«

»Hm.«

Manchmal brauchte es nicht mehr. Kammerlocher nickte in Richtung des beigefarbenen Apparates, der wie eine überdimensionale rundliche Kunststoffperle aussah. In das Loch des CTs, durch das bei der kleineren Version ein Kettchen oder eine Schnur passte, wurde der Tote gerade auf Schienen eingefahren. Einer der Kittelträger pumpte per Schlauch farblose Flüssigkeit in die Adern der Leiche. »Unser Mann hier bekommt nun eine Dosis Röntgenstrahlen verabreicht, die ein Lebender nur äußerst schlecht verkraften würde«, erklärte der Professor.

Kroner erinnerten die dreidimensionalen Bilder, die das Computerprogramm aus der unterschiedlichen Dichte des Gewebes im Körper berechnete, immer an Gunther von Hagens’ Plastinate. Knochen grau, Weichteile rot. Zum Hineingreifen echt. Puh! Sofort ploppte Schweiß auf die Stirn des Kommissars, sein Magen rebellierte.

»Sie sind früh dran.« Der Professor zog eine Uhr aus der Brusttasche seines OP-Kittels. »Die Sektionen sind erst für vierzehn Uhr angesetzt.«

Kroners Wahrnehmung wechselte beim Anblick der altertümlichen Zeiger ungefragt in eine Art Superzeitlupe.

Tick. Tack. Tick. Tack.

Seine Rechte flüchtete zurück in seine Hosentasche, umschloss krampfhaft die beiden Eppendorfgefäße. In einem steckte ein Mundschleimhautabstrich von ihm, im anderen ein Haar von Valli.

»Geht es Ihnen gut?« Kammerlocher schob seine Brille nach oben.

»Mir ist nur etwas heiß.«

Eine steile Falte bildete sich auf des Professors Stirn. In den Räumlichkeiten der Rechtsmedizin war es immer angenehm kühl.

»Ähm… also…« Kroner zog die Faust aus der Tasche. »Machen Sie eigentlich auch Vaterschaftstests für Privatpersonen?«

Kammerlochers Stirnfalte wurde noch steiler.

»Ein Bekannter von mir will das wissen, ähm, und ich musste versprechen, äh, nachzufragen.«

»Ein Bekannter? Soso.«

Kroner hätte dem Herrn Doktor seine kleinen, wachen Augen am liebsten mit Pflastern zugeklebt. Ganze Schweißbäche rannen ihm inzwischen den Rücken hinunter in den Hosenbund. »Ja. Ein Bekannter.« Er lachte gekünstelt. »Sie können sich gar nicht vorstellen, auf welche Ideen die Leute kommen, wenn sie mal jemanden bei der Polizei kennen.«

»Soso.«

Soso? »Ja, da soll man Strafzettel zurücknehmen, Bußgeldbescheide aufheben und jetzt auch noch diesen hirnrissigen Test organisieren. Er würde selbstverständlich dafür bezahlen–«

»Ihr Bekannter kann sich vertrauensvoll an die entsprechende Stelle im Institut wenden. Kostet vierhundertfünfzig Euro inklusive Mehrwertsteuer.«

Vierhundertfünfzig Euro! »Und was wäre dafür nötig?« Kroner räusperte sich. »Sicher wird er, der Bekannte, das wissen wollen.«

Kammerlocher sah Kroner streng an. »Sie kennen das doch. Mundschleimhautabstrich mit einem speziellen Wattestäbchen bei Vater, Mutter und Kind.«

»Bei der Mutter auch?«, platzte es aus Kroner heraus. »Ich dachte–«

»Es stimmt, die Untersuchung der Mutter ist nicht zwingend erforderlich«, betete Kammerlocher die Fakten herunter. »Allerdings ist sie unbedingt anzustreben, weil sich die Zuverlässigkeit des Ergebnisses durch sie stark erhöht. Wenn das Kind minderjährig ist und ein gemeinsames oder alleiniges Sorgerecht der Mutter vorliegt, muss diese sowieso ihr Einverständnis geben.«

Kroner wurde schwindelig. »Aber das Kind ist volljährig.«

»Dann genügt die Einverständniserklärung des erwachsenen Kindes. Trotzdem empfiehlt es sich, auch einen Abstrich der Mutter–« Der Professor brach ab. »Sie sind ja ganz käsig im Gesicht. Geht es Ihnen wirklich gut?«

Das Einverständnis des Kindes! Kroner stützte sich an der Wand ab. »Nur die Hitze. Das wird schon wieder.«

»Wenn Sie meinen.« Der Doktor blieb skeptisch, kam vorsorglich einen Schritt näher. »Der Abstrich wird entweder bei uns im Haus gemacht, oder wir senden die entsprechende Anzahl der Entnahmesets direkt an den entnehmenden Arzt.«

»Und wenn dieser Bekannte das Hinzuziehen einer dritten Partei lieber vermeiden will? Sie verstehen?«

»Dann hat er bei uns keine Chance. Die objektive Feststellung der Identität der zu untersuchenden Personen ist unverzichtbarer Bestandteil–«

»Aber wenn genau das nicht möglich ist, weil es sich um eine, na ja, delikate Angelegenheit handelt?« Immer raus damit! Hopp, hopp.

Kammerlocher packte Kroner am Arm, ehe ihm dieser noch zusammensackte. »In diesem speziellen Fall muss der Bekannte ein anderes Labor beauftragen. Im Internet finden Sie… also, findet Ihr Bekannter jede Menge davon.«

»Ein anderes Labor. Im Internet. Natürlich.« Das wusste er selbst. Aber er vertraute diesen Labors nicht, wo jeder seine Spucke hinschicken konnte, wie er wollte, und man dann ein Abstammungsgutachten bekam, das nicht mal hundert Euro kostete. Da konnten diese Anbieter tausendmal auf ihren Webseiten versichern, gemäß ISO-Norm tausendsoundsoviel zertifiziert zu sein. Er wollte ein Ergebnis, dem er vertrauen konnte.

Punkt.

GUTEINESTUNDESPÄTER erfüllte die Schweißattacke schlussendlich ihr primäres Ziel. Sie kühlte Kroners Körper im Sektionssaal ab, und zwar so stark, dass er fror. Das nasse Hemd klebte an seinem breiten Kreuz, er würde sich todsicher erkälten.

»Wir haben die Gewebe- und Blutproben sofort zur Untersuchung weitergeleitet. Die Kollegen von der forensischen Toxikologie arbeiten bereits daran«, plapperte Professor Kammerlocher, während er die Gummihandschuhe überzog. »Das Fehlen von Abwehrverletzungen legt nahe, dass ein Betäubungsmittel im Spiel war.«

Kroner war ganz seiner Meinung. Wer würde sich schon ein Kruzifix durch die Brust jagen lassen, ohne sich zu wehren? Auch eine vorgehaltene Pistole richtete da nicht viel aus, oder?

»Die Schädelverletzungen hier«, der Professor wies Kroner mit seinen Latexfingern die Richtung, »sind nur oberflächlich.«

»Verursacht mit welcher Waffe?«

Der Professor überlegte. »Keine Waffe im klassischen Sinn, würde ich sagen. Eher etwas Ringähnliches.«

»Ein Schlagring?«

Kammerlochers tadelnder Blick streifte den Kommissar. »Ein Schlagring wäre ja eine Waffe, doch dafür ist das Profil zu schmal. Der Gegenstand muss dünner gewesen sein.«

Kroner nickte verständnislos, er fühlte sich schwummrig.

»Die Auswertung der Scans wird sicher eine Aussage über seine tatsächliche Dicke und den Radius zulassen. Ähnliche Verletzungen finden sich im Übrigen an der Schläfe des zweiten Toten. Das heißt, dass wir es hier definitiv nicht mit einem versehentlichen Kopfstoßen zu tun haben.«

Kroner musste das Gehörte kurz in seinen Hirnschrank einsortieren. Seine Zähne klapperten. Husch.

»Die Verletzungen sind nicht frisch. Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich darauf tippen, dass sie von gestern stammen.«

»Also nicht direkt vor dem Tod beigebracht?«

»Nein.«

»Das heißt aber doch«, Kroner schnaufte durch, »dass diese Männer wenigstens ein paar Stunden lang in der Gewalt des oder der Täter waren?«

Kammerlocher nickte leicht. Er schätzte Fakten, hielt sich mit Mutmaßungen in der Regel zurück. »Zu dieser Theorie passen auch die Klebebandreste an Hand- und Fußgelenken und in den Gesichtern.«

»Aber das müsste doch jemandem aufgefallen sein. Jeder Mensch hat Familie oder Freunde, die ihn vermissen würden.« Oder etwa nicht?

Kammerlocher wandte sich der Leiche zu und überließ Kroner das weite Feld der Spekulationen und Assoziationen. In einer Schale auf dem Nebentisch lagen vier Nägel. Vorsichtig nahm Kroner einen davon in die Hand.

»Handgeschmiedet«, sagte Kammerlocher, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.

»Alt oder nachgemacht?«

»Alt, aber Genaueres wissen wir noch nicht.«

Kroner zitterte. Über seine Arme kroch eine Gänsehaut.

»Der Radiologe hat mich auf etwas Interessantes hingewiesen, während Sie…« Der Professor hielt kurz inne und sah Kroner forschend an. Das Ergebnis der virtuellen Autopsie, kurz Virtopsie genannt, hatte der eigens angereiste Kommissar verpasst, weil er mit einem Becher Kaffee in der Hand und von einer jungen Studentin bewacht in einer Personalküche darauf hatte warten müssen, dass sein Kreislauf die Systeme wieder hochfuhr.

»Und das wäre?« Kroners letzte Obduktion lag viele Jahre zurück. Schon damals hatte er es schlecht verkraftet, mit anzusehen, wie ein menschliches Wesen aufgeschnitten und zerpflückt wurde. Fortschreitendes Dienstalter stumpfte einen da anscheinend kein bisschen ab, deshalb hatten die Sektionsassistenten ohne Kroners Beisein alle Vorarbeiten erledigen und die Checkliste abarbeiten müssen. Jetzt wartete im Aufnahmegerät jedes Detail nur noch darauf, von einer Schreibkraft protokollarisch festgehalten zu werden.

»Beide Tote haben etwas im Magen. Zumindest sah das auf den pmMSCT-Scans so aus.« Professor Kammerlocher wischte mit dem Ärmel des Kittels über seine Stirn und nahm ein Skalpell in die Hand.

PmMSCT-Scans? Kroner überlegte. Damit konnten eigentlich nur die Bilder gemeint sein, die der postmortale Mehrschichten-Computertomograf nach getaner Arbeit ausspuckte. Er schloss die Augen, ahnte bereits, was der Obduzent gleich tun würde. Angesichts der schier unendlichen Palette schmatzender Geräusche, die folgte, hätte er sich am liebsten die Finger in die Ohren gestopft. Dann endlich hörte er den Wasserhahn, wagte es demzufolge, durch die Lider zu spähen, und sah, wie Kammerlocher ein etwa walnussgroßes Ding unter den Strahl hielt, das aussah wie ein… kleines Plastiksackerl? Er löste den Gummi von der Tüte. »Schaut aus wie herkömmliche Haushaltsware.«

In der Tat. Ein Gummi, wie man ihn für alles Mögliche benutzte. Eine Tüte, wie sie jede Hausfrau in der Schublade hatte. Kroner versuchte, die aufgeschnittene Leiche in seinem Rücken auszublenden, als der Doktor ein dünnes mehlweißes Papier zum Vorschein brachte. Der Hauptkommissar wusste sofort, was es war. Die Seite eines alten Gotteslobs. Zigmal gefaltet.

Schweigend und sehr vorsichtig zog Kammerlocher das Papier auseinander.

Kroner stand von seinem Drehhocker auf, sah ihm über die Schulter. Ein Satz stach sofort ins Auge, er war mit roter Tinte umkreist.

Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.

»Frakturschrift«, merkte Kammerlocher trocken an.

Kroner schwieg, er kannte sich mit alten Schrifttypen nicht aus.

»Wurde von den Nationalsozialisten im Januar 1941 verboten, weil Hitler und seine sogenannten Gelehrten fälschlicherweise annahmen, dass diese Drucktype von Juden entwickelt wurde.«

Kammerlochers Steckenpferd war der Nationalsozialismus und dessen mannigfaltige Irrungen. Kroner hatte mit dieser Leidenschaft schon des Öfteren Bekanntschaft gemacht.

»Dabei durften Juden gemäß den strengen Zunftgesetzen nicht einmal in einer Druckerei arbeiten, geschweige denn eine solche erwerben.«

Bla, bla, bla. Kroner blendete die Ausführungen des Doktors aus und holte seine Brille aus der Hemdtasche. »Die Seite eines Gotteslobs«, sagte er nachdenklich. Am oberen linken Rand stand die Zahl »2«. Daneben: »Hauptgebete des katholischen Christen«. Kroner entzifferte die ungewohnten Lettern einigermaßen flüssig. Darunter war das Ave-Maria abgedruckt, zwei Buchstaben im umkreisten Satz markierte ein kräftiger roter Strich. DasS von »Sünder« und das erste kleinea von »Maria«. »›Sa‹ oder ›as‹?«

Kammerlocher wandte sich zu dem anderen Sektionstisch um. »Sind Sie so weit?«, fragte er.

Der Obduzent, der die andere Leichenöffnung parallel durchführte, nickte und trat mit einem fast identischen Plastiksäckchen, das er kurz unter den Wasserhahn gehalten und abgetrocknet hatte, zu Kroner und Kammerlocher. »Hier.«

Der Gerichtsmediziner öffnete die kleine Tüte und förderte ein recht ähnliches Papier zutage. »Aha. Diesmal in Hitlers neuer Schrift. In der, mit der er zur Weltmacht aufsteigen wollte.« Sarkasmus pur troff aus seiner Stimme. »Antiqua.«

Kroner ignorierte Kammerlochers neuerliches Abschweifen. Auf dem zweiten dünnen Druckpapier war der letzte Satz des Ave-Maria wie auf dem ersten rot umrandet, aber zwei andere Buchstaben waren unterstrichen. Das u aus »Mutter« und das m aus »Amen«.

»›Saum‹!« Kroner sah die Herren Doktoren an. »›Saum‹?« Er legte die Stirn in Falten. »Setzt man die Buchstaben zusammen und den einzigen Großbuchstaben an den Wortanfang, gibt es keine andere vernünftige Möglichkeit, oder?«

»›Suam‹? ›Smau‹?« Kammerlocher holte einen Zettel und einen Stift aus einer Schublade. »Maus, wenn man Groß- und Kleinschreibung außer Acht lässt.«

»›Maus‹?« Kroner konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das zu bedeuten hatte, als ihn die Erkenntnis durchfuhr wie ein Blitz, der in einen Baum einschlägt.

Das dritte Opfer!

PROMINUTEVERLIERTEINMENSCH bis zu vierzigtausend Hautzellen. Sie umgeben ihn wie eine Wolke und segeln je nach Wind und Wetter früher oder später zu Boden. In Hundenasendimensionen übersetzt hinterlässt er also eine Geruchspartikelschneise, manchmal so breit wie eine vierspurige Autobahn. Für den Menschen ist nichts davon wahrnehmbar. Zweihundertzwanzig Millionen Riechzellen versus fünf Millionen; nicht nur in dieser Hinsicht ist der Hund dem Homo sapiens weit überlegen.

Ben Bruhan hatte die Fakten auf einer Internetseite nachgelesen und beobachtete jetzt fasziniert, wie der Bayerische Gebirgsschweißhund sein Frauchen anhimmelte. Das goldbraun glänzende Tier mit der schwarzen Gesichtsmaske hatte nur Augen für das adrette brünette Fräulein Inspektor im Polizeioverall von der hilfsbereiten österreichischen Gendarmerie, welches– sogar in Bens Gedanken– schlicht und ergreifend als Polizeihundeführerin aus dem Nachbarland zu bezeichnen wäre, wozu er sich aber nicht durchringen konnte, weil es sich nicht so schön altmodisch vertrauenserweckend anhören würde. Tja. Bens Versuche, sich mit dem Hund bekannt zu machen, scheiterten kläglich. Der vierbeinige Schleimer ignorierte ihn einfach, wollte einzig und allein seinem Menschen gefallen.

»Toffi ist einer von ganz wenigen Hunden in Österreich, die auf Backtrail trainiert sind«, erklärte die Hundeführerin dem Kollegen von der Wasserschutzpolizei nicht ohne Stolz, während er ihr half, über eine Planke auf den Anleger gegenüber der Fritz-Schäffer-Promenade zu steigen.

Der Motor des Bootes verstummte. Am anderen Ufer direkt vor dem Rathaus machte gerade die »Sissi« zwischen der »River Princess« und der »Maximilian« fest. Touristen standen dicht gedrängt auf dem Deck des Ausflugsschiffes, konnten es offensichtlich kaum erwarten, ihren spätnachmittäglichen Landgang in Passau anzutreten. Flusskreuzfahrten über Wien, Budapest, Bratislava, Krems oder Linz erfreuten sich großer Beliebtheit– gerade beim älteren Publikum. Ben fand, diese Art von Tourismus hatte etwas Urzeitliches.

Der Personensuchhund kam ebenfalls aus Wien, war aber selbstredend nicht mit dem Dampfer angereist. Er und sein Frauchen hatten nach ihrer Ankunft in Passau sofort damit begonnen, den Fundort und die Ilzufer abzusuchen. Die Kriminaltechniker hatten, wie zu erwarten gewesen war, keinen Bockmist erzählt. Vom Ort der Kreuzigungen führte die Rückwärts-Duftspur der Opfer eindeutig aufs Wasser hinaus. Toffi zog es in Richtung Fluss und nicht auf das Gelände des Kanuvereins oder ins Bootshaus. Der Hund war in seinem Überschwang sogar in die Ilz gesprungen und einige Meter mit der Strömung Richtung Donaumündung gestrampelt, nur um dann ausgelaugt und verwirrt zu seinem Menschen zurückzukehren.

Nun ließ sich Ben samt Mantrailer und Fräulein Inspektor seit gut einer Stunde am Donauufer entlangschippern, wo sich auch kleinste Hautabriebe im Laub verfangen haben oder am Boden haften geblieben sein könnten, sollten die Opfer dort an Land gewesen sein. Sie machten nur halt an Stellen, wo es möglich schien, entweder drei bewusstlose Männer zu verladen oder sie mit vorgehaltener Waffe dazu zu zwingen, in ein Boot zu steigen. Oder waren sie freiwillig mitgefahren, weil sie den oder die Täter gekannt hatten?

Am Anlegeplatz am Anger, direkt unter der B12 und ganz in der Nähe der Luitpoldbrücke, herrschte zwar viel Verkehr, und vom anderen Ufer hätte ein Beobachter freie Sicht auf das, was hier passierte, aber bei Nacht und mit der nötigen Portion Kaltschnäuzigkeit war so gut wie alles möglich.

Ben sah sich um. Die Sonne stand tief, hatte aber noch Kraft. Die hellen Schirme auf dem Rathausplatz sandten eine Brise Urlaubsflair herüber. Sogar das berühmte Scharfrichterhaus direkt neben seiner eigenen Wohnung in der Milchgasse konnte er von hier aus sehen. Eine lange Bank in seinem Rücken lud zum Faulenzen ein. Kopfsteinpflaster und ein Poller mit abgerissenem Stahlseil hätten naiv romantisch wirken können, wären da nicht die Graffitis an der Betonmauer und den Wänden in der Straßenunterführung gewesen. Dort roch es nach Urin, und trübes Wasser tropfte von der Decke. Wie in einer S-Bahn-Unterführung in den Outskirts der bayerischen Landeshauptstadt.

Die Brünette ließ Toffi sitzen und lächelte Bruhan schüchtern an. »Sollen wir weitermachen?«

»Ich bitte darum«, antwortete er galant. Sie war ungefähr in seinem Alter und auf ihre eigene Art reizend. Ein schönes Lächeln, sportliche Figur. Gehobene Mittelklasse. Die Katalogisierungsautomatismen liefen noch immer in Bens Hirn ab. Beim Anblick jeder halbwegs attraktiven Frau zwinkerten seine Augen wie von selbst, spuckte sein Mund ungefragt irgendeinen bescheuerten flirty Satz aus, und die Mädels sprangen jedes Mal darauf an. Ben war ein Womanizer. Er sah David Beckham zum Verwechseln ähnlich, was in Kombination mit dem jungenhaften Charme sogar Staatsanwältin Michels in eine Midlife-Crisis gestürzt hatte. Sie fraß ihm aus der Hand. Doch Ben wollte das alles nicht mehr, denn auf den Tag genau seit einem Jahr war er mit Kroners Nachbarin zusammen.

Mit Valli.

Vom Typ her nicht gerade der Traum seiner schlaflosen Nächte. Viel zu burschikos. Viel zu vorlaut. Viel zu gammlig. Schon der Name klang irgendwie ordinär. Eigentlich. Und trotzdem fand er sie hinreißend. Und trotzdem liebte er sie. Wie wahnsinnig sogar. Und das hatte er vorher noch nie getan. Den Verstand verloren vor so viel Gefühl.

Mann!

Doch am strahlend blauen Himmel über Valli und Ben zogen Wolken auf– gefährliche Wolken. Ben ballte die Hände zu Fäusten, als er an das letzte Wochenende dachte.

»In welche Richtung?«, riss ihn die Brünette aus den trüben Gedanken.

Er wandte den Kopf. »Egal.« Geistesabwesend sah er zu, wie Marina Traxler ihrem Hund das Suchgeschirr anlegte und Toffi die Tüte mit dem Geruchsträger zum Schnüffeln hinhielt. Es war ein Stück des Lendenschurzes des dünneren der drei Opfer, das ein Kurier zusammen mit Proben von den beiden anderen aus der Rechtsmedizin München gebracht hatte. Zum Glück haftete dem Stoff aufgrund der sehr kurzen Liegezeit noch kein Verwesungsgeruch an, sonst hätten sie die Sache mit dem Personensuchhund gleich wieder abblasen können.

Einen Moment lang setzte das Gewedel der Rute aus, und Toffi wurde ganz ruhig, so als konzentrierte er sich auf das Einprägen des Geruchs. Angst roch man. Klar. Panik erst recht. Sogar mit nur fünf Millionen Riechzellen. Und Todesangst?

Es brauchte kein Kommando, um Toffi auf den Trail zu schicken. Als die Brünette die Tüte wegzog, begann das Schwanzwedeln erneut, durchschnitt die Rute die Luft wie eine Peitsche. Der Hund hielt die Nase in den Wind, und das Fräulein Inspektor ließ die Fünf-Meter-Leine fallen.

ESDÄMMERTEBEREITS, als der fleißige Toffi nach einer längeren Pause einen letzten Versuch startete. Ben fluchte innerlich, als er mit Marina Traxler und ihrem Hund das Gelände des Ruderclubs betrat. Alles dauerte viel zu lange. Kurzerhand hatte er beschlossen, wenigstens das Bootshaus mit den dazugehörigen Gebäuden heute noch dranzunehmen. Kroner hatte den Tipp der Dorsch natürlich an ihn weitergegeben. Vielleicht hatten der oder die Täter ihre Opfer zwar nicht hier am Strand verladen, aber womöglich das dafür genutzte Boot zurückgebracht und in der Bootshalle verstaut, wo es hingehörte.

Dan Grigoreanu, der Pächter des Ruderclubs, schob die großen Tore der Halle auf. Da im Vereinslokal des Bootshauses jeden Tag außer samstags ab fünf etwas los war, hatte Ben nicht erst zig Leute anrufen müssen, um so spät am Abend noch Zutritt zum Bootslager zu bekommen.

»Alles Ruderboote«, sagte Dan, knipste das Licht an und zeigte auf die bunten Bootskörper in den Regalen.

Vor Ben öffnete sich eine Welt, von der er vergessen hatte, dass es sie für ihn einmal gegeben hatte.

Auslage– und ab!

»Was genau suchen Sie hier eigentlich?« Grigoreanu trug Jeans und ein weißes Hemd mit ärmelloser Anzugweste darüber. In seinem Mund steckte eine Pfeife, seine Stimme klang tief und brummig. Hinter seinen langen Beinen versteckten sich ein Junge und ein Mädchen. Höchstens zwei oder drei Jahre alt. Zwillinge vielleicht?

Volle Länge!

Ben musste an seine Schwester denken. Sie war tot. Missbraucht und ermordet. Vor vielen Jahren. Von einem vorzeitig entlassenen Sexualstraftäter. Sonst hätte er wahrscheinlich eine glanzvollere Laufbahn eingeschlagen. Als Anwalt. Oder Arzt. So wie sein Vater das eigentlich für ihn geplant hatte.

Steuerbord– über!