Archie Greene und das Buch der Nacht (Band 3) - D. D. Everest - E-Book + Hörbuch

Archie Greene und das Buch der Nacht (Band 3) E-Book und Hörbuch

D. D. Everest

4,0

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Beschreibung

Archie Greene will gerade einen neuen Zauberspruch aufschreiben, da erscheint eine schwarze Flamme auf dem Papier und löscht seinen Spruch einfach weg. Was steckt bloß dahinter? Auch im Rat der Ältesten herrscht große Aufregung, denn ein gefährliches magisches Buch wurde gestohlen. Gibt es gar einen Zusammenhang zwischen der schwarzen Flamme und dem gestohlenen Buch? Archie und seine Freunde müssen all ihren Mut zusammen nehmen, um gegen die schwarze Magie zu kämpfen und die Welt der Zauberei zu retten. Fantastische Kinderbuch-Reihe für Mädchen und Jungen ab 11 Jahren, die Magie, Spannung und Abenteuer lieben. Im Mittelpunkt der originellen Geschichte von Debütautor D. D. Everest stehen magische Bücher und ein sympathischer Protagonist, der sich plötzlich in einer Schule der Buchbinderei wiederfindet und zusammen mit seinen neuen Freunden auf echte Zauberbücher aufpassen muss. "Archie Greene und das Buch der Nacht" ist der dritte Band einer Buchreihe. Die beiden Vorgängertitel lauten "Archie Greene und der Fluch der Zaubertinte" und "Archie Greene und die Bibliothek der Magie".

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Seitenzahl: 382

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Zeit:4 Std. 57 min

Sprecher:Peter Kaempfe
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Für Sara, Dan und Erin

Einleitung

Eine schwarze Flamme flackerte über ein aufgeschlagenes Buch im Skriptorium des Museums für Magiekunde. Die Buchstaben des Zauberspruchs zuckten und wanden sich in dem dunklen Feuer, bis von ihnen nichts als Asche übrig war. Ein Hauch fauliger Luft trug die verkohlten Überreste davon; zurück blieb nur ein Brandfleck, der zeigte, wo die finstere Flamme gewütet hatte.

Kapitel 1:

Würmer zum Abendessen

Archie Greene starrte in den düsteren Raum. Ein einsamer Sonnenstrahl fiel durch ein schmales Fenster und spendete sparsames Licht. Möbel gab es keine, nur einen Haufen Lumpen in einer der Ecken und eine schwere Eisenkette.

Am Fenster erschien ein Rabe, der kurz die Sonne verdeckte, bevor er seine Schwingen anlegte und durch die enge Öffnung schlüpfte. Plötzlich kam Bewegung in den Lumpenhaufen und in der Dunkelheit leuchteten zwei Augen auf – die Kette, die Archie schon bemerkt hatte, fesselte einen Mann an die Mauer.

»Hallo, mein alter Freund«, krächzte er. »Was bringst du mir heute?«

Der Rabe öffnete den Schnabel und ein dicker, fetter Wurm fiel zu Boden, den der Mann dankbar aufhob und hungrig verschlang.

»Ein Festmahl für einen König!« Er lachte bitter. »Dann will ich dir noch einmal meine Geschichte erzählen, damit du sie an deine Kinder und Kindeskinder weitergibst. Denn eines Tages werden die Raben die Warnung verbreiten.«

Der Rabe neigte den Kopf zur Seite und lauschte. Der Mann keuchte. Archie konnte sehen, dass er jung war, obwohl eine weiße Strähne sein schwarzes Haar durchzog.

»Es war einmal ein törichter Alchemist namens Fabian Grey …«, begann er.

»Archie, wach auf!«, sagte Bramble Foxe. »Ich war nur schnell Bücher holen und du pennst hier einfach weg!«

Erst wusste Archie nicht, wo er war. Als ihm das Aroma von altem Pergament in die Nase strömte, wurde ihm klar, dass er auf dem aufgeschlagenen Buch lag, an dem er gearbeitet hatte. Er musste eingeschlafen sein. Träge öffnete er die Augen und blickte ins Skriptorium, den Raum im Museum für Magiekunde, der dem Schreiben von Magie vorbehalten war.

Archie und Bramble waren beide Lehrlinge in der Mottenkugel – wie die Kinder das Museum nannten –, wo die meisten magischen Bücher der Welt aufbewahrt wurden. Der uralte Bau versteckte sich unter der Bodleian Bibliothek in Oxford.

Bramble war mit einem Stapel dicker Wälzer beladen, doch etwas stimmte nicht. Sie war ganz grün im Gesicht. Genau genommen hatte alles einen komischen Grünstich. Archie runzelte die Stirn. Dann dämmerte ihm, dass er durch das Smaragdauge schaute, den Talisman, den ihm der Geist des Magiers John Dee geschenkt hatte und der direkt vor ihm auf der Seite ruhte.

Erleichtert setzte Archie sich auf und schob den Anhänger zurück an seinen Platz unter seinem T-Shirt. Die goldene Feder, mit der er Magie schrieb, lag neben dem Buch auf dem Pult – sie musste ihm beim Einnicken aus den Fingern geglitten sein. Sobald er sie berührte, spürte er, wie ein Schub magischer Energie ihn durchströmte. Früher hatte sie dem Alchemisten Fabian Grey gehört, einem Vorfahren von Archie aus dem siebzehnten Jahrhundert.

Archie war inzwischen fast dreizehn und hatte mausbraunes, abstehendes Haar. Im Grunde sah er aus wie jeder andere Junge in seinem Alter. Allein seine Augen verrieten, dass an ihm etwas Außergewöhnliches, etwas Magisches war, denn sie hatten unterschiedliche Farben. Eines war grün, das andere grau, was gemeinhin als »Magieraugen« bekannt war. Weniger auffällig waren die beiden Zeichen in der Innenfläche seiner rechten Hand, die man für Tätowierungen hätte halten können. In Wahrheit aber waren es Feuermale. Sie zeigten, welche magischen Lehren Archie bereits begonnen hatte: Das erste hatte die Form von Nadel und Faden und war das Feuermal, das er zu Beginn seiner Ausbildung zum magischen Buchbinder erhalten hatte. Das zweite ähnelte einem Drachen, der sich selbst in den Schwanz biss, und war sogar noch seltener als das Mal der Buchbinder, denn es kennzeichnete Archie als einen Schreiber von Magie.

Archie rieb sich die Augen.

»Vorsicht mit der Tinte!«, rief Bramble und deutete auf ein gläsernes Tintenfässchen, das gefährlich nahe an Archies Ellbogen stand. »Wir haben kaum noch was übrig.«

In der Tinte befand sich eine wertvolle magische Substanz, die man Azoth nannte – mit ihr verfassten sie die Zaubersprüche. Sie herzustellen, war ungeheuer schwierig. Archie und seinen Freunden war es nur dank einer Formel gelungen, die sie in Fabian Greys Tagebuch gefunden hatten. Aber ihr Vorrat war klein.

Bramble stellte ihren Bücherstapel ab. »Das ist schon das zweite Mal in dieser Woche, dass du einfach so einschläfst. Dabei haben wir das alles noch vor uns!« Sie zeigte auf den enormen Turm aus dicken Wälzern.

Bramble war Archies zwei Jahre ältere Cousine. Sie warf sich das lange dunkle Haar in den Nacken und deutete auf die Uhr an der Wand. »Es ist gleich acht und auf eine weitere Nachtschicht kann ich verzichten.«

Die Arbeit im Museum war aufregend, aber in letzter Zeit hatten sie oft noch sehr spät geschuftet. Archie reckte sich gähnend. Irgendwie war er andauernd müde. Sicher lag das an den vielen Überstunden im Skriptorium.

Außer ihnen gab es noch drei weitere Lehrlinge, die Magie erschaffen konnten: Archies jüngerer Cousin Thistle und ihre gemeinsamen Freunde Rupert Trevallen und Arabella Ripley. Sie nannten sich »Der Club der Alchemisten« – nach dem ursprünglichen Club von Fabian Grey. Nur waren es zuletzt ausschließlich Archie, Bramble und Thistle gewesen.

»Morgen kommt Arabella nach Hause, das sollte helfen«, sagte Bramble. »Hoffentlich hatte sie mit ihren Eltern in Prag eine gute Zeit.«

»Mir fehlt Rupert.« Archie seufzte. »Solange er da war, konnten wir wenigstens auch mal Pause machen.«

Bis vor einem Monat hatte Rupert in der Mythischen Menagerie der Museumsabteilung für Naturmagie gearbeitet. Doch da er ein Stückchen älter war als die übrigen Lehrlinge, hatte er seine Ausbildung bereits abgeschlossen und war nun bei der Gesellschaft für Magie Ihrer Majestät in London angestellt. Die Gesellschaft Ihrer Majestät kontrollierte sämtliche Magie in ganz Großbritannien und war der Magischen Liga untergeordnet, der internationalen Behörde für Magie. Allzu gut kannte Archie sich mit der Gesellschaft Ihrer Majestät nicht aus, er wusste nur, dass sie einen jahrhundertealten Vorrat an wertvollem Azoth bunkerte.

»Wie läuft es bei Rupert überhaupt?«, fragte Archie, der wusste, dass Bramble regelmäßig Kontakt mit ihm hatte.

»Er arbeitet für Orpheus Gloom«, berichtete sie. Gloom war ein Magiewünschelgänger, der eine Weile in der Mottenkugel beschäftigt gewesen war. »Die Gesellschaft Ihrer Majestät experimentiert mit neuen Möglichkeiten, aus Stoffen magischer Wesen Azoth herzustellen. Gloom hat Rupert ausgesucht, weil er durch die Menagerie schon so viel Erfahrung mit Fabeltieren hat.«

»Und wer übernimmt jetzt seine alte Stelle dort?«, wollte Archie wissen.

»Steht noch nicht fest. Thistle hat sich beworben, aber er weiß nicht, ob er den Job bekommt«, antwortete Bramble. »Dabei fällt mir ein: Edith Drew hat mir erzählt, dass es in der Menagerie Probleme gibt. Ein paar von den Schnufflern sind angeblich verschollen.«

Schnuffler waren kleine Tiere, die ein bisschen wie Meerschweinchen aussahen und magische Enzyme herstellten, durch die sie sich bei Gefahr unsichtbar machen konnten.

»Woher will man denn wissen, dass sie weg sind?«, meinte Archie. »Vielleicht verstecken sie sich nur.«

»Schnuffler können sich nur für einige Sekunden am Stück unsichtbar machen, nicht wochenlang wie die Vermissten. Außerdem sind es nicht nur die Schnuffler – einige Tiere sind krank. Simon, der Rotbauchsalamander, hat seit Ewigkeiten nicht mehr die Farbe gewechselt!«

Normalerweise veränderten Salamander ihre Farbe je nach Stimmung. Da Simon ein sehr aufbrausendes Temperament hatte, machte er das für gewöhnlich sogar mehrmals am Tag.

»Vielleicht braucht er eine Pause?«, überlegte Archie optimistisch.

Bramble schüttelte den Kopf. »Nein, irgendwas stimmt da nicht. Er hat keinen Appetit – und du weißt ja, wie gerne Drachen fressen. Wenn du mich fragst, hat er Sehnsucht nach Rupert.«

Archie lächelte in sich hinein. Manchmal konnte er es immer noch nicht fassen, dass er solche Gespräche führte – über Drachen und magische Tinte. Sein Leben war nicht immer so aufregend gewesen.

Die ersten zwölf Jahre hatte er gemächlich in einer kleinen Stadt am Meer bei seiner Großmutter verbracht, nachdem seine Eltern und seine Schwester verschwunden waren, als er noch ein Baby war. Doch vergangenen Sommer hatte sich für Archie einfach alles verändert – er hatte seine Verwandten kennengelernt und herausgefunden, dass er von den Flammenhütern Alexandrias abstammte, einer geheimen Gemeinschaft, die die uralte, magische Flamme von Pharos bewachte und sich dem Aufspüren und Retten magischer Bücher verschrieben hatte.

Als Archie als Lehrling am Museum angefangen hatte, entdeckte er an sich eine seltene Gabe, die ihm ermöglichte, mit Büchern zu sprechen. Diesem magischen Talent hatte er es zu verdanken, dass er den Plan vereiteln konnte, den bösen Hexenmeister Barzak aus dem Buch der Seelen zu befreien – einem der Bestialischen Bände, den sieben gefährlichsten Zauberbüchern aller Zeiten.

Danach war Archie gleich ins zweite turbulente Abenteuer geraten, bei dem ein anderer der Bestialischen Bände eine Rolle spielte, nämlich DasGrausige Grimoire, das Fabian Grey und die ursprünglichen Mitglieder des Clubs der Alchemisten mit einem Fluch belegt hatte. Auch das Leben von Archie und seinen Freunden aus dem neu gegründeten Club der Alchemisten schwebte in großer Gefahr, bis es Archie gelungen war, das Grimoire zu besiegen und den Fluch, der auf seinen Freunden lastete, aufzuheben.

Drei Monate waren seitdem vergangen, in denen die fünf fleißig das Erschaffen von Magie geübt hatten. Unter der Anleitung von Gideon Hawke, dem Leiter der Abteilung für Verlorene Bücher, hatten sie sich der Aufgabe gewidmet, die verblassenden Sprüche der Museumsbücher neu zu schreiben – allerdings ohne das Wissen der magischen Aufsichtsbehörden.

Archie fiel auf, dass Bramble ihn fragend musterte. »Hör mal – als ich reinkam, hast du im Schlaf gemurmelt. Schlecht geträumt?«

Archie dachte an seinen merkwürdigen Traum. »Ja, von Fabian Grey im Tower von London«, berichtete er und betrachtete dabei den goldenen Federkiel in seiner Hand.

Bramble hob die Augenbrauen. »Der schon wieder!«

Grey spukte in letzter Zeit durch viele von Archies Träumen. Nachdem der Alchemist zu seinen Lebzeiten aus Versehen den großen Brand von London ausgelöst hatte, war er im Tower-Gefängnis gelandet.

Bramble machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass es bei Dads neuem Auftrag auch irgendwie um Grey geht«, sagte sie. »Neulich bin ich dazugestoßen, als er und Mom sich unterhalten haben, und sie hat eindeutig seinen Namen fallen lassen.«

Archies Onkel, Woodbine Foxe, spürte als Finder magische Bücher auf. Die meiste Zeit verbrachte Woodbine damit, Buchantiquariate zu durchstöbern und verschiedenen Hinweisen nachzugehen. Hin und wieder holte er auch im Auftrag des Museums ein verschollen geglaubtes Buch ab. In letzter Zeit war er mit seinen Gedanken ständig woanders und die Kinder hegten den Verdacht, dass Woodbine mit einem geheimen Auftrag beschäftigt war.

Obwohl sie ganz allein im Zimmer waren, flüsterte Bramble, als sie weitersprach: »Außerdem glaube ich, dass es etwas mit den Gierern zu tun hat. Dad meint, sie würden immer dreister werden.«

Gierer waren die Todfeinde der Flammenhüter – sie waren es auch, die hinter den Verschwörungen um Das Buch der Seelen und Das Grausige Grimoire gesteckt hatten. In der Öffentlichkeit traten die meisten Gierer als aufrichtige Mitglieder der magischen Gemeinschaft auf, doch im Geheimen übten sie Schwarze Magie aus und gierten nach den Zauberkräften von Büchern. Archie war aufgefallen, dass die Museumsältesten reichlich nervös wirkten – umtriebigere Gierer wären eine Erklärung dafür. Bramble unterbrach seine Gedanken.

»Was ist denn passiert in deinem Traum?«

»Grey war im Tower angekettet«, erzählte Archie. »Er hat sich mit einem Raben unterhalten.«

Bramble blickte ihn forschend an. »Hat der Rabe etwas gesagt?«

Raben waren für die Freunde nichts Neues. Vor einigen Monaten hatte ein sprechender Rabe Archie den Goldring Fabian Greys überbracht. Dieser Ring hatte ihnen einige Rätsel aufgegeben, bis Archie herausgefunden hatte, dass es sich dabei eigentlich um den magischen Federkiel von Grey handelte, und dieser nur als Ring getarnt war. Nun trug Archie ihn am Finger, wenn er nicht gerade Sprüche damit verfasste.

»Nein, er hat ihm nur einen Wurm zum Essen gebracht«, antwortete Archie und schnitt beim Gedanken daran eine angewiderte Grimasse. »Grey meinte, irgendwann einmal würden die Raben eine Warnung verbreiten.«

»Was für eine Warnung?«

Archie zuckte mit den Schultern. »Bevor ich das rausfinden konnte, hast du mich geweckt.«

»Na ja, du kannst heute Nacht zu Ende träumen. Jetzt haben wir zu tun.« Bramble schaute auf das aufgeschlagene Buch auf dem Pult. »Warum brauchst du eigentlich so lange? Normalerweise bist du immer so schnell, aber an dem Spruch da arbeitest du schon seit Stunden.«

»Er ist fertig«, verteidigte Archie sich. »Da steht er doch.« Er betrachtete den Spruch, den er verfasst hatte. »Also, zumindest war er …«

Eine schwarze Flamme erschien auf der Seite. Vor ihren Augen entzündeten sich die sorgfältig gezogenen Buchstaben, fingen an zu zucken und wanden sich, bis sie zu schwarzer Asche zerfielen. Ein fauliger Lufthauch trug sie davon und von dem Spruch blieb nichts außer einer dunklen Schmauchspur.

Bramble wurde blass. »Was um alles in der Welt …?!«

Kapitel 2:

Das gestohlene Buch

In dieser Nacht lag Archie lange wach und dachte über die schwarze Flamme und den verschwundenen Spruch nach. Zu so später Stunde hatten sie im Museum niemanden mehr gefunden, den sie um Rat fragen konnten. Daher wollte Archie gleich am nächsten Morgen dem Alten Zeb davon erzählen. Erst spät fiel er in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von einem Raben, der ans Fenster klopfte. Im Schnabel trug er eine Botschaft, nur konnte Archie das Fenster nicht öffnen, um ihn hereinzulassen.

Ruckartig wachte er auf. Archie hörte ein Gemurmel von Stimmen. Kurz überlegte er, ob er noch träumte, doch als er die Augen öffnete, fand er sich in dem Zimmer wieder, das er sich mit Thistle teilte. Die Stimmen kamen von unten.

Seine Tante Loretta redete mit Woodbine! Archies Onkel war einige Tage fort gewesen – scheinbar war er im Lauf der Nacht nach Hause gekommen. Archie linste zum Wecker auf seinem Nachttisch: sechs Uhr morgens. Wenn Woodbine so spät heimkehrte, schlief er sich in aller Regel erst einmal aus. Also warum war er um diese Zeit auf den Beinen?

Archie schlüpfte aus dem Bett und ging zur Tür. Er streckte den Kopf zum Gang hinaus und spitzte die Ohren. Mit Woodbine im Haus fühlte Archie sich für gewöhnlich sicherer. Doch jetzt fiel ihm sofort auf, dass die Stimmen seines Onkels und seiner Tante nicht den gewohnt fröhlichen Ton hatten. Sie unterhielten sich ernst und gedämpft.

Archie trat auf den Flur. Zwar konnte er nicht jedes einzelne Wort verstehen, aber er war sicher, dass Loretta sagte: »Stillhalten, sonst machst du es nur schlimmer.« Sie klang angespannt.

Es folgte ein gegrunzter Schmerzenslaut von Woodbine.

»Pass doch auf, das brennt!«

Etwas stimmte nicht. Plötzlich spürte Archie eine Hand auf der Schulter. Vor Schreck wäre ihm fast das Herz in die Hose gerutscht.

Als er sich umdrehte, entdeckte er hinter sich Thistle. Sein Cousin war nur wenige Monate jünger als er, hatte jede Menge Sommersprossen und dunkles Wuschelhaar, das ihm nach dem Schlafen wirr vom Kopf abstand.

»Was ist los?«, fragte Thistle und unterdrückte ein Gähnen.

»Psst!«, wisperte Archie. »Hör zu.«

Gedämpft redeten die Erwachsenen weiter. Thistle beugte sich mit hoch konzentrierter Miene an Archie vorbei über das Geländer der Galerie.

»Dad ist zurück«, sagte er. »Er hat was für Gideon Hawke erledigt.«

Archie nickte. »Weiß ich, aber irgendwas ist nicht in Ordnung. Komm mit.«

Gemeinsam tappten sie auf Zehenspitzen über die Galerie und die Treppe hinunter, wobei sie die knarrenden Stufen ausließen, um niemanden aufzuschrecken. Die Stimmen drangen aus der Küche, doch die Tür war geschlossen.

Die Jungen schlichen durch den Flur zu dem kleinen Esszimmer, als sie Bramble flüstern hörten.

»Was treibt ihr da?«

Sie stand oben an der Treppe, den Morgenmantel eng um sich geschlungen.

Archie legte einen Finger auf die Lippen und zeigte auf die geschlossene Küchentür. Bramble nickte und kam leise zu ihnen. Mit Archie an der Spitze schlichen sie ins Esszimmer, wo die kleine Tür der Durchreiche zur Küche einen Spaltbreit offen stand. Auf diese Art hatte Archie schon mehrmals Gespräche belauscht. Kurz meldete sich sein schlechtes Gewissen, weil sie die Erwachsenen natürlich nicht bespitzeln sollten. Andererseits war es ungeheuer nervig, wenn Woodbine und Loretta die Wahrheit vor ihnen versteckten. Manchmal blieb den Kindern also gar nichts anderes übrig, wenn sie herausfinden wollten, was wirklich vor sich ging. Sie drängten sich um die Durchreiche und spähten durch den Spalt.

Was sie sahen, verschlug ihnen den Atem. Woodbine hockte zusammengesunken am Küchentisch, war aber kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht war übersät mit Schnitten und ein Auge war so dick angeschwollen, dass er fast nichts mehr sehen konnte.

Loretta saß ihm gegenüber, mit dem Rücken zu den Kindern, und tupfte mit einem Wattebausch über Woodbines Verletzungen. Sobald sie eine der offenen Wunden berührte, zuckte Woodbine vor Schmerz zusammen.

»Wir hatten keine Chance«, murmelte er, bevor er erneut das Gesicht verzog. »Wir waren um acht da, weil wir dachten, da wäre es noch ruhig. Wie besprochen haben wir das Buch abgeholt, aber da haben sie draußen längst in einem Hinterhalt auf uns gelauert. Sie haben uns mit einem Lähmungszauber außer Gefecht gesetzt, und als wir uns sowieso nicht mehr wehren konnten, haben sie mit einem Prügelspruch nachgelegt. Wolfus war der Erste, der zur Tür raus ist, deshalb hat es ihn am schlimmsten erwischt. Du solltest sein Gesicht sehen!«

»Ihr könnt von Glück reden, dass ihr mit einer Tracht Prügel davongekommen seid«, meinte Loretta. »Ihr hättet sterben können!«

Woodbine zuckte mit den Schultern. »Wir hätten es ihnen nicht so leicht machen dürfen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Nur ging alles so schnell. Gideon wird schäumen vor Wut. Er war schon sauer, weil die Gesellschaft Ihrer Majestät das Buch all die Jahre klammheimlich gebunkert hat. Alle dachten, es sei verloren, dabei hatten die es die ganze Zeit lang!«

Loretta tupfte über sein geschwollenes Auge. »Das Buch«, sagte sie. »Was ist nun damit?«

»Weg«, knurrte Woodbine. »Sie haben es sich geholt. Sie wussten genau, dass und wann wir kommen würden. Jemand hat uns verraten.«

»Aber die Gesellschaft für Magie Ihrer Majestät!«, keuchte Loretta. »Ich kann nicht glauben, dass sie sich getraut haben, es von dort zu stehlen!«

»Und wie die sich getraut haben«, grummelte Woodbine düster. »Die Gierer wissen, dass inzwischen ein anderer Wind weht – sehr zu ihren Gunsten. Glaub mir, das ist nur der Anfang. Sie bündeln ihre Kräfte – und sie haben Leute in hohen Positionen.«

»Wie kommst du auf so was?«, fragte Loretta, eine Spur von Angst in der Stimme.

Woodbine berührte sein dickes Auge und zuckte zusammen. »Arthur Ripley«, sagte er. »Seit vier Monaten hat man nichts mehr von ihm gesehen. Jemand hält ihn versteckt – verwischt seine Spuren.«

Arthur Ripley war Arabellas Großvater und allgemein als Gierer bekannt und verrufen. Er war der Strippenzieher hinter dem perfiden Plan gewesen, den Hexenmeister Barzak zu befreien, und hatte auch die zweite Verschwörung rund um den Fluch der Alchemisten und Das Grausige Grimoire angezettelt. Archie wusste außerdem, dass Ripley mit dem Verschwinden seines Vaters zu tun hatte, seit Das Grausige Grimoire angedeutet hatte, dass Ripley Alex Greene in einem magischen Buch eingesperrt hatte. Archie vermutete, dass Ripley zudem für das Verschwinden seiner Mutter und seiner Schwester verantwortlich war, da sich alle zum selben Zeitpunkt in Luft aufgelöst zu haben schienen.

Jede freie Sekunde hatte Archie versucht, herauszufinden, was genau ihnen zugestoßen war, daher war es kein Wunder, dass er hellhörig wurde, als Ripleys Name fiel. Gideon Hawke hatte Archie versprochen, dass sie gemeinsam aufdecken würden, was Ripley über seine Familie wusste – sobald man den Flüchtigen schnappte.

»Aber warum sollte jemand Ripley schützen wollen, nach allem, was er verbrochen hat?«, fragte Loretta fassungslos.

Woodbines Miene verfinsterte sich. »In der magischen Welt gibt es genug, die Ripleys Vorhaben unterstützen. Sie haben keine Hemmungen, schwarze Magie einzusetzen, und sie würden Ripley blind folgen, sollte er an die Macht kommen.«

Hinter der Durchreiche tauschten die drei Kinder nervöse Blicke.

»Und jetzt haben sie das Buch«, sagte Woodbine.

Archie spürte ein Kribbeln in der Hand und blickte kurz auf die kleinen Feuermale.

Woodbine fuhr fort. »Unsere Obrigkeit muss etwas unternehmen, und zwar schnell.« Er machte eine Pause. »Falls es den Gierern gelingt, es zu öffnen …«

Er verstummte und schien ein Stückchen weiter in sich zusammenzusacken.

»Genug davon, Woodbine«, fuhr Loretta ihn an. Sie bemühte sich um einen tapferen Gesichtsausdruck, aber ihre Stimme zitterte. »Die Kinder werden bald nach unten kommen.«

Die drei Freunde nutzten das als Stichwort, sich davonzumachen. Leise stahlen sie sich nach oben, zogen sich schnell an und polterten mit viel Lärm zum zweiten Mal die Treppe hinunter, um sich anzukündigen.

Sobald sie die Küche betraten, trug Woodbine eine Sonnenbrille, die sein blaues Auge verdeckte.

»Ihr seid aber früh auf den Beinen«, meinte Loretta mit einem wenig überzeugenden Lächeln.

Die drei Freunde nahmen am Tisch Platz.

»Wie geht’s, wie steht’s, meine Grünschnäbel?«, empfing Woodbine sie und gab sich Mühe, so gut gelaunt wie sonst zu klingen.

»Wie ist es bei dir gelaufen?«, fragte Bramble und beobachtete ihn aufmerksam. »Ich meine deine Mission.«

Woodbine wandte den Blick ab. »Darüber darf ich nicht reden.«

Gedankenverloren betastete er seine geprellte Wange.

Loretta warf ihm einen warnenden Blick zu. »Ja, tja, vergessen wir das. Was haltet ihr von Kuchen mit Ei zum Frühstück?«

Loretta war im Haushalt der Foxes berüchtigt für ihre ungewöhnlichen Rezepte. Sie hatte ein ganzes Regal voll Kochbücher – gut gemeinte Geschenke von Freunden und Verwandten –, doch sie warf grundsätzlich nie einen Blick hinein. Loretta erfand viel lieber ihre eigenen, höchst exotischen Gerichte. Am Anfang hatte Archie das noch komisch gefunden, doch inzwischen hatte er sich schon beinahe daran gewöhnt.

»Was macht eigentlich Rupert?«, fragte Loretta kurz darauf. Sie war gerade dabei, ein Spiegelei auf eine große Scheibe Napfkuchen pflatschen zu lassen, bevor sie den Teller Bramble reichte. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass er von der Gesellschaft Ihrer Majestät extra angefragt worden ist. Seine Eltern müssen ungeheuer stolz sein. Gefällt es ihm?«

»Glaube schon«, antwortete Bramble. »Aber er vermisst die Tiere aus der Menagerie.«

»War klar.« Woodbine nickte verständnisvoll, den Mund halb voll mit Kuchen und Ei. Nachdem er die letzten Krümel seines »Eier-Kuchens« mit der Gabel zusammengekratzt hatte, schob er sie sich in den Mund. Leider hatte er nicht daran gedacht, wie angeschwollen seine Lippen waren, und er verzog vor Schmerz das Gesicht.

Archie stach mit dem Messer in sein Ei und sah zu, wie das flüssige Eigelb im Kuchen versickerte. Nur für alle Fälle klatschte er noch etwas Ketchup oben drauf und nahm dann einen zögerlichen Bissen. Die Mischung aus süß und herzhaft schmeckte überraschend lecker.

Wenig später machten sich die drei Kinder mit vollem Magen auf den Weg zur Mottenkugel. Zum Unterrichtsbeginn nach den Ferien fand ein erstes Treffen statt und sie wollten nicht zu spät kommen.

Es war ein heller Frühlingsmorgen. Warm schien ihnen die Sonne auf den Rücken, während sie vom Haus der Familie Foxe in der Säbelzahnstraße ins Zentrum von Oxford liefen.

Obwohl Archie nun Magie schreiben durfte, war er noch immer der Lehrling des Alten Zeb, des Buchbinders im magischen Buchladen »Der Bücherhafen«. Das Geschäft lag am Rand eines kleinen Innenhofs, der von einem größeren Platz nahe der Bodleian Bibliothek abging. Der Bücherhafen diente dem Aussortieren magischer Werke von all den übrigen Büchern, die Leute dort zum Ankauf vorbeibrachten. Es war der einzige Abschnitt des Museums, der auch Unreifen – Menschen, die nichts von Magie wussten – zugänglich war.

Der Hauptteil des Gebäudes befand sich auf der anderen Seite des Hofs und war für die nicht-magische Welt strengstens verboten. Um dorthin zu gelangen, musste man durch Quills Kaffee- & Schokoladenhaus, was nun auch das Ziel der drei Freunde war.

Als sie das Quills erreichten, stand Pink, die Kellnerin, gerade an der Bar. Die große schlanke Frau mit den gepiercten Augenbrauen und den vielen Tattoos kontrollierte den Türstrahl, den geheimen Zugang, der das Vorderhaus des Quills, den Teil, in den jeder konnte, mit dem Hinterhaus verband, in dem sich Lehrlinge, Angestellte und Besucher trafen, bevor sie das eigentliche Museum betraten.

Zwischen den beiden Seiten lag eine magische Barriere, der sogenannte Befugniswall, der das Hinterhaus durch einen Zauber für die Unreifen unsichtbar machte.

»Beeilt euch«, rief Pink, während sie die Kinder durch den Türstrahl winkte. »Die Versammlung geht in fünf Minuten los.«

Das Hinterhaus war von aufgeregtem Schnattern erfüllt. Archie, Bramble und Thistle hatten die Osterferien in Oxford verbracht, doch einige der anderen waren in den Urlaub gefahren und hatten ihre Freunde eine Weile nicht gesehen, weshalb man jetzt natürlich eine Menge Neuigkeiten auszutauschen hatte.

Arabella, die sie bald gefunden hatten, berichtete ihnen von ihrem Aufenthalt in Prag.

»Im Schloss gibt es einen Bereich, den sie Alchemisten-Viertel nennen«, erzählte sie. »Meine Eltern haben darauf bestanden, dass wir hingehen. Sie wollten den Buchladen sehen, den die Gierer letztes Jahr überfallen haben.«

Die Erinnerung daran ließ Archie schaudern. Ein Gierer namens Amos Roach hatte ein älteres Ehepaar, die Krones, im Auftrag ihrer Adoptivtochter Katerina Krone umgebracht. Katerina war eine Nachfahrin der Familie Nightshade, zu deren Vorfahren auch die Hexe Hecate gehörte, die das Grausige Grimoire verfasst hat. Arthur Ripley hatte Katerina heimlich geschrieben und ihr nicht nur verraten, dass sich das Buch im Finsterarchiv des Museums befand, sondern auch, dass es ihr Erbe sei. Als Katerina Archie zwingen wollte, den Unvollendeten Zauber von Hecate zu vollenden, um an deren Kräfte zu gelangen, hatte das Grimoire Katerina mit einem Fluch belegt, unter dessen Bann sie noch immer stand.

Archie und der Club der Alchemisten hatten Katerinas Plan durchkreuzt und Katerina selbst war schließlich in eine Heilanstalt für magisch Kranke eingeliefert worden. Amos Roach allerdings war, genau wie Arthur Ripley, noch auf freiem Fuß.

Bramble erzählte Arabella von der schwarzen Flamme und dem verbrannten Zauberspruch.

»Das ist ja merkwürdig«, sagte Arabella. »Ich habe noch nie davon gehört, dass Sprüche auf diese Art verschwinden. Was das wohl bedeutet? Habt ihr es schon den Ältesten gesagt?«

Archie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Der Alte Zeb wird es gleich nach dem Treffen erfahren. Er weiß bestimmt, was los ist.«

In diesem Moment klatschte Thedora Graves, die Leiterin der Abteilung für Übernatürliche Magie, in die Hände und schnitt ihnen das Wort ab.

»Ich heiße euch herzlich willkommen am Museum für Magiekunde«, begann Graves in typisch geschwollenem Tonfall. »Wenn ihr bitte Platz nehmen würdet, wir haben euch einige höchst wichtige Mitteilungen zu machen.«

Arabella, Bramble, Thistle und Archie gesellten sich zu den übrigen Lehrlingen, die sich zum Veranstaltungsraum im Hinterhaus begaben, wo die Versammlung stattfand.

Die vier setzten sich nebeneinander und hielten aus purer Gewohnheit einen Stuhl frei, bis ihnen einfiel, dass Rupert diesmal nicht kommen würde, weil er ja in London war. Archie wurde ein wenig wehmütig zumute, als er an die gute alte Zeit dachte, in der sie grundsätzlich zu fünft unterwegs gewesen waren. Er wusste, dass Rupert sich auf die Arbeit bei der Gesellschaft Ihrer Majestät gefreut hatte, nur half das auch nicht, wenn er seinen Freund – wie jetzt – vermisste.

Wie üblich hatten die Museumsältesten auf der kleinen Bühne am Kopfende des Raums Platz genommen. Dr. Motley Brown, der Leiter der Abteilung für Natürliche Magie, ein kleiner Mann in einem Tweedjackett, redete mit Gideon Hawke, dem Abteilungsleiter für Verlorene Bücher. Seine Abteilung hatte die Aufgabe, gefährliche magische Werke ausfindig zu machen. Brown und Hawke unterhielten sich angeregt. Wahrscheinlich ging es um Woodbines fehlgeschlagene Mission. Brown schüttelte den Kopf und Archie schnappte einige Brocken ihres Gesprächs auf.

»Es ist ein Jammer, Gideon, aber du hättest es auch wirklich persönlich abholen sollen. Du meine Güte … von allen Büchern, die man dir unter der Nase hätte wegschnappen können, ausgerechnet dieses …!«

»Jemand hat uns verraten«, sagte Hawke.

Archie nahm Hawke genauer in Augenschein. Der Abteilungsleiter war mittelgroß, hatte dunkles Haar und trug ein braunes Jackett. Unter den Lehrlingen war es kein Geheimnis, dass er der Museumsälteste mit den größten magischen Fähigkeiten war. Archie war schon mehrmals dabei gewesen, wenn Hawke Zauber gewirkt hatte. Wenn man ihn vor sich sah, verriet kaum etwas seine magische Gabe, nur seine Augen waren wie die von Archie zweifarbig: Eins war blau, das andere grau. Schon oft hatte Archie sich gefragt, wie alt Hawke sein mochte – aber diese Frage zu beantworten schien unmöglich.

In diesem Moment bemerkte Archie neben Gideon Hawke einen hochgewachsenen Mann mit langen grauen Haaren und einem Bart, der von Weiß durchzogen war. Er trug eine Anzugjacke aus nachtblauem Samt und dazu spitze Schuhe mit silbernen Schnallen. Der Unbekannte hörte den anderen beiden konzentriert zu. Auf seinem Gesicht lag ein leicht amüsierter Ausdruck, als wüsste er etwas, was sonst keiner ahnte. Die tiefen Falten in seinem Gesicht ließen ihn alt erscheinen, doch das Funkeln in seinen Augen war ausgesprochen jugendlich.

Mit besorgter Miene nahm Graves ihren Platz inmitten der Ältesten ein. Sie stellte sich aufrecht und erhob die Stimme, um das Gewirr an plaudernden Lehrlingen zu übertönen. »Bitte setzt euch, damit wir anfangen können.« Sie bedachte die Versammelten mit strengem Blick.

»Zunächst möchte ich euch Faustus Gaunt vorstellen«, begann sie und deutete auf den großen Bärtigen. »Faustus ist Experte für magische Prophezeiungen. Er wird die Abteilung für Verlorene Bücher bei einigen Forschungsprojekten unterstützen, und wir sind hocherfreut, dass er außerdem die freie Stelle der Leitung über die Vergängliche Magie übernimmt.«

Als sein Name fiel, nickte Gaunt leicht zum Gruß.

Graves legte eine kurze Pause ein und atmete durch.

»Außerdem habe ich wichtige Neuigkeiten«, fuhr sie fort und runzelte die Stirn. »Der Gesellschaft für Magie Ihrer Majestät wurde ein höchst gefährliches Buch entwendet. Falls ihr oder jemand, den ihr kennt, Informationen über das vermisste Werk habt, müsst ihr die Ältesten umgehend davon in Kenntnis setzen!«

Während sie sprach, fiel ihr Blick auf die vier Mitglieder des Alchemistenclubs und schien vor allem an Arabella länger hängen zu bleiben. »Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir dieses Buch wiederfinden. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Die Lehrlinge strömten aus der Versammlung und unterhielten sich angeregt über das gestohlene Buch.

»Es muss dasselbe sein, von dem Dad geredet hat«, meinte Thistle, sobald die vier Freunde unter sich waren. »Die Ältesten scheinen sich ja echt Sorgen zu machen. So zappelig hab ich sie noch nie erlebt.«

»Woodbine meinte, dass die Behörden schleunigst etwas unternehmen müssen«, sagte Archie. »Bevor die Gierer es öffnen. Welches Buch wird das sein?«

»Es kann eigentlich nur der letzte der Bestialischen Bände sein«, überlegte Arabella. »Nichts anderes würde sie so in Aufruhr versetzen.«

Insgesamt gab es sieben Bestialische Bände. Bei Archies erstem Besuch in der Mottenkugel waren die ersten vier längst gefunden und befanden sich hinter Schloss und Riegel in einem Raum des Museums, den man die Krypta nannte. Dank Archie und dem Club der Alchemisten waren inzwischen zwei weitere dieser Bände unter Verschluss, Das Buch der Seelen und Das Grausige Grimoire. Damit blieb nur eines übrig.

»Der siebte Band …«, murmelte Bramble.

»Ja, aber was genau ist er?«, wollte Archie wissen.

Darauf hatte keiner von ihnen eine Antwort, doch Archie kam eine Idee. »Woodbine meinte doch, das Buch wurde kurz nach acht Uhr gestohlen. Das war, als du mich im Skriptorium geweckt hast – und direkt danach ist der Zauberspruch verschwunden. Glaubt ihr, das könnte zusammenhängen?«

Bramble schaute ihn besorgt an. »Möglich«, sagte sie. »Ein Grund mehr, den Alten Zeb nach der schwarzen Flamme zu fragen.«

Kapitel 3:

Das Mal der Offenbarung

Unter lautem Glockengebimmel öffnete Archie die Tür zum Bücherhafen und betrat den Laden. Er ging an den dunklen Holzregalen vorbei zum Kassentresen am hinteren Ende des Geschäfts. Die Schränke waren voll von alten Büchern, doch die magischen wurden hinter einem Samtvorhang versteckt, wo sie darauf warteten, restauriert oder zur Klassifizierung ins Museum gebracht zu werden.

Hinter dem Tresen stand wie gewöhnlich Geoffrey Screech, der Inhaber: ein Mann mit schmalen Schultern und einem Ziegenbärtchen, der eine grüne Weste mit gelber Fliege trug. Seine Aufgabe war es, jedes Buch, das in seinen Laden kam, daraufhin zu überprüfen, ob es magische Kräfte hatte.

»Hallo, Archie«, grüßte er mit einem freundlichen Lächeln, als er aufblickte.

»Ist der Alte Zeb schon da?«, fragte Archie geradeheraus.

»Er ist unten. Stimmt etwas nicht?«

Doch Archie war bereits hinter dem Vorhang verschwunden, wo er im Vorbeigehen einen raschen Blick ins Regal warf. Heute standen hier eine ganze Menge restaurierter magischer Werke.

»Hallo, Archie«, ertönte eine Papierstimme.

Ein ganzer Chor raschelnder Stimmchen fiel mit ein. Archie hatte noch lange nicht vollends begriffen, was es bedeutete, ein Buchflüsterer zu sein – vor allem, da er der Einzige war –, trotzdem ging ihm jedes Mal ein aufgeregtes Kribbeln durch und durch, wenn ein Buch ihn ansprach. Leider hatte er heute keine Zeit zu verschwenden.

»Tut mir leid, ich kann mich leider gerade nicht mit euch unterhalten«, entschuldigte er sich. »Ich hab’s eilig.«

»Schade«, raschelte eine andere Papierstimme. »Es ist so schön, sich mit jemandem zu unterhalten, der kein Buch ist.«

»Das stimmt«, dröhnte eine tiefere Stimme, die einem großen Wälzer mit rotem Ledereinband gehörte. »Wir kommen nicht viel raus.«

Archie lächelte. »Na gut. Aber nur kurz.«

Er betrachtete den Rücken des Buchs. Der Titel darauf lautete: Magische Mysterien. Er erinnerte sich daran, es vor einigen Tagen selbst repariert zu haben.

»Zerfledderte Bindung und ein kleiner Riss im Einband?«, fragte er.

»Ganz recht«, antwortete das Buch. »Doch dank dir bin ich wie neu.«

Archie schaute sich die übrigen Werke an.

»Du warst wegen einer kaputten Schnalle bei uns«, sagte er zum ersten. »Und dein Rücken war verbogen«, wandte er sich ans nächste. »Und du«, er berührte den Einband des vierten Buchs, »… lass mich überlegen. Hmmmmm. Nein, sag nichts … Du hast einen neuen Schutzumschlag gebraucht, weil der alte in echt schlechtem Zustand war!«

»Genau!«, rief das Buch. »Du hast mir diesen schicken neuen ganz in Blau gegeben.«

»Du hast uns alle geheilt«, sagte das große rote Buch, »und wir würden dir gerne unseren Dank erweisen.« Seine ohnehin hauchige, tiefe Stimme wurde noch leiser. »Wir haben gehört, dass dein Vater in einem Buch gefangen ist – vielleicht können wir dir dabei helfen, herauszufinden, welches es ist?«

»Im Ernst?« Mit einem Mal war Archie ganz Ohr.

»Rätsel zu lösen, macht uns Spaß«, tönte die tiefe Stimme. »Sobald wir im Museum sind, werden wir uns umhören. Eins der Bücher dort weiß bestimmt etwas.«

»Das wäre genial, vielen Dank! Jetzt muss ich mich aber wirklich beeilen. Ich muss dringend zum Alten Zeb.«

Ein raschelnder Chor wünschte ihm viel Glück und versprach, in Verbindung zu bleiben.

Am Ende der Treppe betrat Archie einen langen dunklen Gang, der von flackernden Fackeln erleuchtet wurde.

Drei Bogentüren gab es hier. Die erste war grün und ein magisches Portal, das der Alte Zeb den »Atemberaubenden Auftritt« nannte. Der Buchbinder hatte Archie gezeigt, wie man ihn benutzte, um in andere verzauberte Gebäude zu gelangen. Die zweite Tür war blau und führte zur Eishöhle der Buchstützen-Bestien, der Steingreifen, die früher die Große Bibliothek von Alexandria bewacht hatten. Beide ließ Archie hinter sich, denn die Reparaturwerkstatt lag hinter der dritten, der roten Tür. Streng genommen befand sich weiter hinten im Gang, wo sich der Weg in Schatten verlor, eine vierte, schwarze und geheime Tür – der Zugang zum geheimen Labor von Fabian Grey. Dort fanden die Sitzungen des Alchemistenclubs statt, doch da Arabella im Urlaub und Rupert in London gewesen waren, hatten sie seit Wochen keine Versammlung mehr gehabt.

Nun stürmte Archie durch den roten Eingang und betrat die Werkstatt.

Die Wortschmiede, der Brennofen, in dem die Flamme von Pharos loderte, stand offen – davor grübelte der Buchbindemeister. Durch sein wirres weißes Haar, das in Büscheln abstand, ähnelte er einem verrückten Professor. Auf der Werkbank lag ein beachtlicher Berg beschädigter Bücher, die von dem Alten instand gesetzt werden wollten.

»Morgen, Archie«, keuchte der Alte Zeb. »So früh hab ich nicht mit dir gerechnet. Solltest du nicht bei der Veranstaltung im Quills sein?«

»Schon vorbei«, antwortete Archie.

»Das ging ja schnell! Ich dachte, du würdest noch mit deinen Freunden über die Ferien plaudern.«

»Hab ich, danke. Aber noch viel dringender will ich Sie etwas fragen.«

»Ah, Wissensdurst!« Die Augen des Alten leuchteten erfreut. »Das gefällt mir. Braver Junge. Sei so gut und mach uns Wasser heiß, ja?«

Der Alte Zeb unternahm grundsätzlich nichts, ohne sich vorher eine Tasse Tee zu gönnen. Seit Archie die Lehre bei ihm angetreten hatte, waren der alte Mann und seine schrullige Art ihm mehr und mehr ans Herz gewachsen.

Archie füllte Wasser in den Kupferkessel und stellte ihn auf die Wortschmiede. Dabei spürte er erneut das Kribbeln in seiner Hand. Kurz überlegte er mit Unbehagen, ob dies vielleicht Anzeichen für ein neues Feuermal waren. Sobald die Flamme von Pharos entschied, dass es für die Lehrlinge an der Zeit war, eine neue magische Fähigkeit zu erlernen, versah sie die Kinder mit einem neuen Mal. Doch als Archie zuletzt ein neues Zeichen erhalten hatte, hatte es für das Museum nichts Gutes bedeutet.

Der Alte Zeb bemerkte, wie er sich an der Hand kratzte. »Wolltest du mich deswegen fragen?«

»Nein, es geht um was anderes«, sagte Archie und gab sich Mühe, den Juckreiz zu ignorieren. Nachdem er den Tee aufgebrüht hatte, setzte er sich gemeinsam mit Zeb auf zwei Hocker an die Werkbank und nippte an seiner gesprungenen Tasse.

»Na dann …«, meinte der Alte nach einer Weile. »Spuck’s aus! Was bedrückt dich?«

Archie seufzte. »Wie kann ein Zauberspruch einfach so aus einem Buch verschwinden?«

»Du meinst, wenn ein alter Spruch verblasst?«, hakte der Alte Zeb nach.

Archie schüttelte den Kopf. »Nein, ein neuer Spruch, der ganz frisch mit Azoth aufgeschrieben wurde.«

»Gar nicht!«, sagte der Alte Zeb. »Wenn der Spruch ordentlich verfasst wurde, kann er nicht verschwinden!«

Archie zuckte mit den Schultern. »Dachte ich auch, aber es ist trotzdem passiert!«

Der Alte machte ein ernstes Gesicht und schürzte nachdenklich die Lippen. »Um einen frisch erschaffenen Zauber einfach so auszulöschen, bräuchte es wahrhaft mächtige Magie.«

Aus der Wortschmiede ertönte ein Knacken und die Flamme von Pharos schien zu flackern. Der Alte Zeb spähte in den Ofen.

»Was ist los, altes Mädchen?«, sagte er liebevoll und betrachtete die Flamme voller Sorge.

»Alles in Ordnung?«, fragte Archie nervös. »Sie sieht aus, als würde sie gleich ausgehen.«

»Wahrscheinlich hat sie einfach Hunger«, meinte der Alte. »Magische Flammen verlöschen nicht so leicht. Es gibt nur zwei Dinge, die das schaffen: Greifenatem und Drachenblut, und heutzutage tummeln sich in Oxford reichlich wenig Greifen und Drachen«, fügte er mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen hinzu.

Archie wusste aus eigener Erfahrung, dass der Atem eines Greifen so kalt war, dass man daran sterben konnte. Er hatte die Eishöhle der beiden uralten Steingreifen, der Buchstützen-Bestien, hinter der blauen Tür mit eigenen Augen gesehen. Außerdem wusste er, dass Drachen außergewöhnliche Zauberkräfte hatten, weil … tja, weil sie nun mal Drachen waren. Er selbst besaß einen Beutel aus Drachenleder, der die Zauberkraft von Gegenständen, die man hineinpackte, eindämmte.

Der Buchbinder nahm ein Scheit Holz vom Stapel und warf es in den Ofen. Augenblicklich brannte die Flamme heller. Als er die Klappe schließen wollte, schoss ein glühender Funke heraus und explodierte in der Luft, sodass der ganze Raum in Glanz getaucht wurde. Archie und dem Alten Zeb stockte der Atem.

Schon fühlte Archie das vertraute Kitzeln in der Innenfläche seiner Hand. Langsam öffnete er sie und starrte darauf.

Ein neues Feuermal war erschienen, geformt wie ein offenes Auge, aus dem drei rote Tränen rannen.

»Lass mal sehen«, sagte der Buchbinder freundlich. Er nahm Archies Hand und betrachtete das Zeichen. »Wie ungewöhnlich«, murmelte er. »Drei Feuermale so kurz nacheinander. Von so was habe ich ja noch nie geh –« Er stockte. »Oh«, hauchte er mit weit aufgerissenen Augen, »das Feuermal der Offenbarung. Der Letzte, der das erhalten hat, war Wolfus Bone, und das vor fünfunddreißig Jahren! Seltsam, dass es ausgerechnet jetzt erscheint, wo Wolfus verletzt ist! Andererseits hat Gideon schon damit gerechnet, dass einer unserer Lehrlinge bald eins bekommen würde – weil das Letzte vor so langer Zeit vergeben wurde, verstehst du?«

»Was bedeutet es?« Gebannt schaute Archie auf seine Hand. »Was muss ich jetzt machen?«

Der alte Mann lächelte. »Keine Bange, das ist nichts, worüber man sich sorgen muss.« Er sah Archie in die Augen. »Allerdings bedeutet es, dass du eine neue Lehre anfängst. Du musst dich heute Nachmittag in der Abteilung für Verlorene Bücher melden.«

»Aber ich habe doch noch so viel übers Buchbinden zu lernen!«, protestierte Archie. Er liebte es, mit dem alten Mann zusammenzuarbeiten, und wollte nicht gehen.

Wieder lächelte der Alte. »Nein«, sagte er entschieden. »Es ist an der Zeit. Ich wollte es dir sowieso schon sagen. Steht alles hier drin.« Er reichte Archie eine Schriftrolle, die mit einem roten Band zugebunden war. »Trau dich, lies es!«

Archie schob das Band von der Rolle und öffnete sie. Zu seiner großen Überraschung war es ein Zeugnis.

Hiermit wird bestätigt, dass Archie Greene seine Lehre zum magischen Buchbinder abgeschlossen und mit Bravour bestanden hat!

Darunter prangte die Unterschrift:

Zebediah Alluitious Perret,

Buchbindermeister am Museum für Magiekunde

»Siehst du«, sagte der Alte strahlend. »Ich hab’s dir ja gesagt, du bist ein Naturtalent!«

Archie war sprachlos. Während er sein Zeugnis betrachtete, kamen die unterschiedlichsten Gefühle in ihm hoch: großer Stolz, dass er die hohen Erwartungen des Alten Zeb erfüllt hatte, gleichzeitig aber auch Traurigkeit darüber, dass sich ihre gemeinsame Zeit dem Ende zuneigte.

Der alte Mann schien seine Gedanken zu erraten. Gutmütig tätschelte er Archies Schulter.

»Ich kann mich gut an den Tag erinnern, als ich deinem Vater sein Zeugnis überreicht habe«, sagte er mit einem wehmütigen Lächeln. »Ich sehe ihn noch vor mir – er stand genau da, wo du jetzt stehst. Ich wünschte, er könnte heute hier sein. Er wäre sehr stolz. Und wie! Ungeheuer stolz!«

Archie wünschte ebenfalls, sein Vater wäre da, und seine Mutter, und seine Schwester. Wenn die reparierten Bücher doch nur herausfinden könnten, wo sie steckten …

Archie schüttelte die Hand des Alten. »Es war mir eine Freude, dich zu unterrichten«, sagte der Alte Zeb. »Jetzt bist du so weit, dass du deine neue Ausbildung bei den Verlorenen Büchern anfängst.« Zeb machte eine bedächtige Pause. »Die Flamme hat einen Plan für dich, Archie«, sagte er dann. »Hatte sie schon immer!«

Als Archie sich in der Mittagspause mit Bramble und Thistle traf, brannte er förmlich darauf, ihnen die Neuigkeiten zu erzählen. Er zeigte ihnen sein Buchbinder-Zeugnis und das neue Feuermal.

»Wow!« Thistle staunte. »Das Zeichen da hab ich ja noch nie gesehen!«

»Der Letzte, der es bekommen hat, ist Wolfus Bone«, berichtete Archie. »Ich soll mich noch heute Nachmittag bei den Verlorenen Büchern melden.«

»Das geht ja schnell!«, rief Bramble. »Wie aufregend!«

»Ja, aber ehrlich gesagt habe ich ganz schön Bammel«, gab Archie zu. »Gideon Hawke ist ja echt nett, aber auch ziemlich einschüchternd. Was, wenn ich es nicht gebacken kriege?«

»Du machst das schon«, ermutigte ihn Bramble. »Du lernst schnell. Und Verlorene Bücher ist echt ein toller Arbeitsplatz – es ist die wichtigste Abteilung im Haus, weil dort sämtliche neu entdeckten Werke landen, um klassifiziert zu werden.«

»Verlorene Bücher?«, ertönte eine Stimme. »Warum bekommst du immer die lockeren Jobs? Das ist unfair!«

Als sie aufschauten, entdeckten sie das rundliche Gesicht von Peter Quiggley. Er hatte seine Lehre gleichzeitig mit Archie und Arabella begonnen. Allerdings hatte seine Karriere am Museum einen eher unglücklichen Anfang genommen. An seinem ersten Tag hatten Gierer ihn mit Archie verwechselt und gekidnappt, weil sie ihn für den angekündigten Buchflüsterer hielten.

Als Quiggleys Entführer ihren Irrtum bemerkten, hatten sie ihn wenige Stunden später wieder freigelassen, aber der Junge war deswegen noch immer wütend – auch wenn nicht ganz klar war, ob er sich mehr darüber ärgerte, überhaupt verschleppt worden zu sein, oder darüber, dass man ihn offenbar für nicht magisch genug befunden hatte, um ihn zu behalten.

Jedenfalls war er seitdem angefressen und schien vor allem Archie auf dem Kieker zu haben. Er ließ keine Gelegenheit aus, ihm oder seinen Verwandten eins auszuwischen. Quiggley hatte den Ruf, faul zu sein, und er hatte seine Freude daran, den Mitgliedern des Alchemistenclubs das Leben schwer zu machen, wo er nur konnte.

»Kümmer dich um deinen eigenen Kram, Quiggley«, schnauzte Bramble. »Wir haben dich nicht nach deiner Meinung gefragt.«

»Kann schon sein«, entgegnete Quiggley, »aber ihr Typen werdet nicht immer die besten Jobs bekommen.« Mit einem arroganten Lächeln zog er ab.

»Ich würde zu gern wissen, worüber er sich so freut«, sagte Thistle.

»Der ist es doch gar nicht wert, dass man sich über ihn den Kopf zerbricht«, meinte Bramble. »Also los, Archie, die Verlorenen Bücher rufen! Holen wir uns eine Runde Schwungtrunk.«

Ein Schwungtrunk war ein Anti-Schwerkraft-Trank, den man brauchte, um mit den Lehrstühlen zu reisen – den fliegenden Sitzgelegenheiten, mit denen man ins unterirdische Museum gelangte.

»Alles klar bei euch, Arch, Bram, Thistle? Was kann ich euch heute anbieten?«, fragte Pink, als sie an die Bar traten. Sie war für die Zubereitung des Schwungtrunks zuständig.

»Für mich das Übliche«, bestellte Bramble.

Pink lächelte. »Sollst du haben – einmal Schuss ins Dunkel. Mit Schokolade?«

»Ja, bitte!«, antwortete Bramble und leckte sich über die Lippen.

Man konnte den Schwungtrunk in einer Menge verschiedener Geschmacksrichtungen bekommen, außerdem konnten die Lehrlinge zwischen heißer Schokolade und Fruchtsaft wählen. Ein Schuss ins Dunkel schmeckte nach Waldfrüchten und Zitrone.

»Und du, Arch?«, fragte Pink.

»Er fängt heute in der Abteilung für Verlorene Bücher an!«, platzte Thistle aufgeregt heraus.

»Verlorene Bücher!«, wiederholte Pink. »Dann brauen wir dir besser was Besonderes. Wie wär’s mit einem Gewissen Extra?«

Archie überflog die Getränketafel, die hinter der Bar an der Wand hing. Das Gewisse Extra war eine Mischung aus Erdbeeren, Banane und Blaubeeren mit »extra Wusch«.

»Was ist denn extra Wusch?«, wollte er wissen.

Pink zwinkerte ihm zu. »Das ist das gewisse Extra – dadurch wird die Fahrt einen Tick schneller. Ist absolut sicher – ich benutze ihn andauernd.«

»Na schön«, sagte Archie. »Dann nehme ich Das Gewisse Extra.«

»Für mich auch«, schloss Thistle sich an und rieb sich gespannt die Hände.

»Ein Schuss ins Dunkel und zweimal Das Gewisse Extra – kommt sofort!«, rief Pink. »Und welche Lehrstühle wollt ihr nehmen?«

»Die Logenplätze«, beschloss Bramble.

Jeder Lehrstuhl hatte seine eigene Geschichte. Mit einigen, wie zum Beispiel mit den Logenplätzen, konnten mehrere Passagiere gleichzeitig reisen.