Archie Greene und der Fluch der Zaubertinte (Band 2) - D. D. Everest - E-Book

Archie Greene und der Fluch der Zaubertinte (Band 2) E-Book

D. D. Everest

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Beschreibung

Für Buchflüsterer Archie Greene beginnt das zweite Lehrjahr in der magischen Bibliothek mit einem düsteren Vorzeichen. Ein geheimnisvolles Feuermal erscheint auf der Handfläche einiger Lehrlinge und die Schutzzauber der Bibliothek versagen. Das kann nur eines bedeuten: Das Buch der Macht, in dem die Zauber geschrieben stehen, verblasst. Nur ein Magieschreiber könnte die Sprüche erneuern. Doch jemanden mit einem solchen Talent hat es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben ... Fantastische Kinderbuch-Reihe für Mädchen und Jungen ab 11 Jahren, die Magie, Spannung und Abenteuer lieben. Im Mittelpunkt der originellen Geschichte von Debütautor D. D. Everest stehen magische Bücher und ein sympathischer Protagonist, der sich plötzlich in einer Schule der Buchbinderei wiederfindet und zusammen mit seinen neuen Freunden auf echte Zauberbücher aufpassen muss. "Archie Greene und der Fluch der Zaubertinte" ist der zweite Band einer Buchreihe. Der Titel des ersten Bandes lautet "Archie Greene und die Bibliothek der Magie".

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Für Lindsay, Mittagspausengefährtin und Waldbummlerin der Extraklasse.

Im Innern des Museums für Magiekunde bedeckte ein Laken eine uralte Plakette aus Holz an der Wand. Darauf waren die Namen der fünf begabtesten und berüchtigtsten Lehrlinge aller Zeiten geschrieben.

Der Club der Alchemisten, gegründet 1662

Fabian Grey

Braxton Foxe

Felicia Nightshade

Angelica Ripley

Roderick Trevallan

Die Lehre von den Magischen Tabus

1666 wurde beim Großen Brand von London die halbe Stadt von den Flammen aufgefressen, die durch einen magischen Unfall im Keller einer Bäckerei in der Pudding Lane entfacht worden waren. Um zu vermeiden, dass unter den Bewohnern Londons Panik ausbricht, schob man die Schuld dem königlichen Hofbäcker Thomas Farrinor zu. Eben jene Version der Geschichte wird bis heute an den Schulen der Unreifen gelehrt. Doch der König von England, CharlesII, wusste durchaus, dass der Brand einem waghalsigen magischen Experiment geschuldet war. Er bestand darauf, Schritte einzuleiten, die eine zweite magische Katastrophe ausschließen sollten.

Von diesem Tag an mussten sich Magier bei der Ausübung von Zauberei an strenge Regeln halten, die man als die Lehre von den Magischen Tabus kennt. Ursprünglich sollten die Tabus nur vorübergehend in Kraft treten, doch bis zum heutigen Tag haben sie ihre Geltung nicht verloren. Viele Bewohner des magischen Reichs vertreten die Meinung, man sollte die Tabus aufheben und Magie wieder frei praktizieren dürfen, doch die Entscheidungsträger widersetzen sich solchen Forderungen beständig.

Erste Lehre: Sämtliche magische Bücher und Artefakte müssen dem Museum für Magiekunde übergeben werden, wo man sie untersucht und klassifiziert. (Man teilt sie ein in Stufe eins, zwei oder drei magischer Kraft.)

Zweite Lehre: Magische Bücher und Artefakte dürfen nicht benutzt, gekauft oder verkauft werden, solange sie nicht ordnungsgemäß identifiziert und klassifiziert worden sind.

Dritte Lehre: Der unerlaubte Gebrauch von Magie außerhalb magischer Räumlichkeiten ist untersagt.

Vierte Lehre: Das private Horten von magischen Büchern und Artefakten, um zu größerer Macht zu gelangen, ist gemäß dem Erlass zu gefährlichen Praktiken untersagt.

Fünfte Lehre:

  1  

Ein Obstkuchen auf Abwegen

Auf dem Dach der Bodleian Bibliothek in Oxford hockte ein Rabe, so still, dass man hätte meinen können, er wäre aus Stein gemeißelt. Seine harten schwarzen Augen beobachteten einen Jungen, der unter ihm vorbeilief. Der Name des Jungen war Archie Greene.

Archie spürte auf einmal ein Kribbeln und Kitzeln in seiner rechten Handfläche und linste zu dem kleinen Mal in Form von Nadel und Faden, das man auch für eine Tätowierung hätte halten können. Es war das Feuermal, das er zu Beginn seiner Lehre zum magischen Buchbinder erhalten hatte. Normalerweise machte es sich nicht bemerkbar, doch heute juckte es.

Archie war zwölf, hatte struppiges braunes Haar und war für sein Alter ziemlich klein, ansonsten sah er aber völlig normal aus. Der einzige Hinweis darauf, dass an ihm etwas ungewöhnlich war – abgesehen von dem Feuermal auf seiner Hand –, war die Farbe seiner Augen. Eines war smaragdgrün, das andere silbergrau – ein Zeichen für magische Fähigkeiten.

Das Ende der Sommerferien stand unmittelbar bevor, daher wimmelte es in Oxford nur so von Eltern, die Schuluniformen für ihre Sprösslinge besorgten. Nachdem Archie selbst weder eine Mutter noch einen Vater hatte, konnte er es sich nicht verkneifen, das Treiben neugierig zu verfolgen.

Als Archie den Blick durch die Hauptstraße schweifen ließ, entdeckte er einen weiteren verräterischen Hinweis: ein Mädchen mit Zöpfen, das mit einem nagelneuen Stiftemäppchen aus einem Schreibwarenladen trat. Bald würde die Schule beginnen – in der Vergangenheit hätte Archie um diese Jahreszeit mit seiner Oma billige Uniformen aus zweiter Hand gekauft.

Doch nicht in diesem Jahr! Dieser Sommer hatte für Archie alles verändert. Er hatte Verwandte kennengelernt, von deren Existenz er bis dahin nicht einmal gewusst hatte. Und er hatte herausgefunden, dass er ein Nachfahre der Flammenhüter von Alexandria war, einer geheimen Gemeinschaft, die sich dem Aufspüren und Bewahren magischer Bücher verschrieben hatte.

In diesem Herbst würde Archie einen Unterricht der ganz anderen Art besuchen, nämlich als Lehrling am Museum für Magiekunde, dem bestgehüteten Geheimnis Oxfords. Es lag verborgen unter der Bodleian Bibliothek.

Den Sommer über hatte der Alte Zeb, der Buchbinder des Museums, Archie beigebracht, wie man magische Bücher restaurierte.

Im anstehenden Schuljahr würde Archie Buchbinden für Fortgeschrittene erlernen, einschließlich der Kunst, wie man Zauber wirkte. Sobald er dann sein zweites Feuermal erhalten hätte, würde Archie eine der beiden weiterführenden magischen Ausbildungen beginnen: Finden oder Bewahren.

Die Zauberbücher übten eine unwiderstehliche Faszination auf Archie aus. Gran hatte schon immer behauptet, Bücher lägen ihm im Blut – was genau sie damit meinte, hatte er in den vergangenen Monaten erfahren. Denn zu Beginn seiner Lehre hatte sich bei ihm ein äußerst seltenes Talent bemerkbar gemacht: Er war ein Buchflüsterer, was bedeutete, dass er mit magischen Werken sprechen konnte. Archie begriff zwar nicht, wie das Buchflüstern funktionierte oder was er mit dieser ungewöhnlichen Begabung anstellen sollte, trotzdem genoss er seine Ausbildung im Museum, umgeben von Büchern und Freunden, in vollen Zügen.

»Woher das selbstzufriedene Grinsen?«, fragte Bramble Foxe, Archies Cousine, die neben Archie stehen geblieben war, um gemeinsam mit ihm ein Schaufenster zu betrachten. Bramble war fast fünfzehn, hatte grüne Augen und lange dunkle Locken. Sie durchlief im Museum bereits den zweiten Teil ihrer Ausbildung – als Bewahrer, nachdem sie die Lehre zum Finder abgeschlossen und ihr zweites Feuermal erhalten hatte.

»Ich musste nur gerade daran denken, was alles passiert ist, seitdem ich nach Oxford gekommen bin«, antwortete er grinsend. Passiert war tatsächlich eine Menge.

Ein Zauberbuch, das man ihm zu seinem zwölften Geburtstag zugeschickt hatte, hatte sich als Das Buch der Seelen entpuppt, ein Werk Schwarzer Magie, geschrieben von einem Hexer namens Barzak. Der Bestialische Band war eines der sieben gefährlichsten Zauberbücher, die je verfasst worden waren. Zum Glück war es Archie gelungen, Barzaks Plan, die Schwarze Magie im Innern zu entfesseln, zu durchkreuzen und den Hexenmeister im Buch der Seelen einzusperren.

Seitdem waren erst wenige Wochen vergangen und noch immer lief es Archie kalt den Rücken hinunter, wenn er daran dachte. Es war verflixt knapp gewesen. Aber auch verflixt aufregend!

»Ich kann’s kaum erwarten, endlich zu lernen, wie man zaubert«, meinte Archie und wandte sich Bramble zu.

»Nur einer der vielen Vorteile, wenn man Lehrling in der Mottenkugel ist.« Bramble lächelte.

»Mottenkugel« war der Spitzname, den die Lehrlinge dem Museum gegeben hatten – weil es dort nach altem Pergament und Mottenkugeln roch. Sie verwendeten den Namen, um diesen Ort vor den Unreifen geheim zu halten – Menschen, die von Magie nichts ahnten. Nur diejenigen, die aus magischen Familien stammten, waren eingeweiht und wussten, dass Magie existierte.

Archie und Bramble waren unterwegs zum Museum und gespannt, herauszufinden, was im anstehenden Schuljahr auf dem Stundenplan stand.

»Kaum zu glauben«, sagte Archie, als sie die Hauptstraße verließen und eine abgelegene Gasse aus Pflastersteinen betraten. »Wenn Thistle seinen Flammentest besteht, fängt er ebenfalls eine Lehre an.«

Thistle Foxe war Archies Cousin und morgen war sein zwölfter Geburtstag, was bedeutete, dass er von der Flamme von Pharos’ auf die Probe gestellt werden würde.

»Ich weiß. Ich kann’s selbst noch nicht fassen, dass mein kleiner Bruder schon so erwachsen ist«, meinte Bramble.

Archie war Lehrling in einem magischen Buchladen, dem Bücherhafen, der an das Museum anschloss. Schon sahen Archie und Bramble das Geschäft vor sich, als sie in einen Innenhof bogen. Es war ein kleines, unscheinbar wirkendes Gebäude mit einer grünen Eingangstür, über der ein Schild hing, auf dem in abblätternder weiß-goldener Schrift stand: DER BÜCHERHAFEN: LIEFERANT SELTENER BÜCHER. EIGENTÜMER: GEOFFREY SCREECH.

Der Laden diente dazu, aus all den Büchern, die »normale« Leute zum Ankauf vorbeibrachten, unbemerkt die magischen auszusortieren. Er war der einzige Teil des Museums, der Unreifen zugänglich war.

Vor dem Bücherhafen verabschiedete Archie sich von Bramble, die im Hauptteil der Mottenkugel auf der anderen Seite des Hofs arbeitete, einem Bereich, der für die nicht-magische Welt streng verboten war. Lehrlinge betraten ihn durch einen geheimen Zugang in Quills Kaffee- & Schokoladenhaus.

Archie öffnete die Tür des Buchladens, woraufhin eine Glocke lautstark seine Ankunft verkündete. Der Bücherhafen war größer, als es von außen den Anschein hatte. Reihen von Bücherschränken aus dunklem Holz teilten das Geschäft in mehrere Gänge ein. Die Regale quollen vor alten Büchern nahezu über, die magischen allerdings verbargen sich hinter einem Samtvorhang im hinteren Teil, wo sie darauf warteten, repariert oder ins Museum geschickt zu werden, damit man sie klassifizierte.

Das Geschäft wurde von flackerndem Kerzenlicht erhellt. Die Luft war muffig und roch nach Wachs, Spinnweben und altem Papier.

Geoffrey Screech, der Besitzer, stand hinter der Ladentheke und notierte in seiner fein säuberlichen Handschrift etwas im Bestandsbuch. Screech war ein dünner Mann mit schütterem grauen Haar und einem Ziegenbärtchen, er trug eine grüne Weste und eine gelbe Fliege. Ihm kam die Aufgabe zu, aus den Werken, die man zu ihm brachte, die magischen ausfindig zu machen.

»Morgen, Archie«, grüßte Screech und sah auf.

In einer Pappschachtel auf der Theke lag ein Buch. »Neuzugang?«, fragte Archie.

»Kam gestern an«, erklärte Screech. »Ein Unreifer hat seinen Dachboden entrümpelt. Natürlich hatte er keine Ahnung, dass es ein Zauberbuch ist. Jedenfalls muss es runter zum Alten Zeb.«

Archie betrachtete den dünnen Band. Der Umschlag zeigte ein Muster aus roten, grünen und schwarzen Rauten. Es war mit einer dicken Paketschnur verschlossen.

Archie erhaschte einen Blick auf Screechs Assistentin, Margaret Gudge, die in einem der Gänge Bücher in die Schränke räumte. Die kleine Frau mit den dicken Brillengläsern war für die nicht-magischen Werke zuständig.

Mit der Schachtel unter dem Arm eilte Archie durch den schwarzen Samtvorhang am hinteren Ende des Ladens in Richtung der Reparaturwerkstatt des Alten Zeb. Im Vorbeigehen linste er zu dem Regal hinter dem Vorhang, in dem bereits restaurierte Zauberbücher darauf warteten, ins Museum geschafft zu werden.

»Guten Morgen, Archie«, knisterte eine Stimme wie von raschelndem Pergament.

»Hallo«, erwiderte Archie, einem alten Wälzer über Zaubertränke zugewandt. »Wie geht es Ihnen heute?«

»Viel besser, jetzt, da der Riss in meinem Umschlag geflickt ist«, antwortete das Buch dankbar.

Ein Chor aus weiteren Papierstimmchen meldete sich, wünschte Archie einen guten Morgen und erkundigte sich nach seinem Befinden.

Archie lächelte. Dies war zu seiner täglichen Routine geworden. Die Bücher sprachen mit ihm, weil er der Einzige war, der sie verstand.

»Einen schönen guten Morgen, euch allen«, sagte er. »Ich bedaure, heute habe ich leider keine Zeit zum Plaudern. Ich muss runter in die Werkstatt.«

Als Archie den Gang hinablief, drang aus dem Karton in seinen Armen ein Rascheln an sein Ohr.

»Du kannst mit Büchern reden?«, wollte ein neugieriges magisches Werk wissen, das noch niemals einem Buchflüsterer begegnet war. »Wohin bringst du mich?«

»Zum Alten Zeb, dem Buchbinder«, erklärte Archie.

»Jemand hat mich mit dieser grässlichen Schnur zugebunden«, beklagte sich die Stimme. »Sie sitzt zu fest. Ich kann nicht atmen. Würdest du sie bitte abnehmen?«

Archie lächelte. Nicht allen magischen Büchern konnte man trauen. Und er war schon einmal aufs Glatteis geführt worden.

»Warten wir erst mal ab, was der Alte Zeb sagt«, meinte er.

Das Buch schwieg, während Archie durch einen Flur bis zu einer Wendeltreppe ging, die abwärts führte.

Aus einem Regal holte Archie eine Laterne, balancierte sie auf seiner Fracht und trat damit den Weg in die Tiefe an. Am Ende der Treppe kam er in einen langen dunklen Korridor, der von flackernden Fackeln beleuchtet wurde. Hier unten roch die Luft feucht und erdig.

In dem Korridor befanden sich drei Bogentüren, die je eine andere Farbe hatten. Die erste war grün, die zweite blau und beide ließ Archie hinter sich. Die Werkstatt lag hinter der dritten Tür, der roten. Zwar erstreckte sich der Korridor noch weiter, verlor sich aber in dunklen Schatten – jedoch hatte Archie hin und wieder den Eindruck, als könnte er eine vierte, eine schwarze Tür erkennen. Aber es war viel zu finster, um sicher zu sein.

Er wusste, dass es keine gute Idee wäre, hier unten auf Entdeckungsjagd zu gehen. Seine Neugier hatte ihn schon in genug Schwierigkeiten gebracht. Einmal hatte er merkwürdige Geräusche hinter der zweiten Tür gehört und klammheimlich in den Raum dahinter gespäht, nur um festzustellen, dass der Eingang von einer wilden magischen Kreatur – einem Greif aus Stein, einer sogenannten Buchstützen-Bestie – bewacht wurde.

Archie öffnete die rote Tür und trat ein. Die Reparaturwerkstatt war ein großer Raum, in dessen Mitte eine Werkbank stand. Darauf verstreut lagen alle möglichen Buchbindewerkzeuge. In einer der Wände war die Wortschmiede eingelassen und an Regalen hingen weitere Werkzeuge.

Neben der Wortschmiede, in deren kleinem Brennofen hell die Flamme von Pharos loderte, stand der Alte Zeb. Mit einer Körpergröße von knapp einem Meter war er ein winziger alter Mann, dessen weiße Haare in Büscheln abstanden. In seinem Gesicht prangten eine Hakennase und hinreißend grüne Augen. In der kurzen Zeit, die Archie den alten Buchbinder kannte, war er ihm bereits sehr ans Herz gewachsen.

Auf der Werkbank stapelten sich kaputte Bücher, die es zu reparieren galt, und Archies Aufgabe war es, dem Buchbinder zur Hand zu gehen, um die gesammelten Schriften anschließend zum Katalogisieren ins Museum zu bringen.

»Ah, Morgen, Archie«, keuchte der Alte Zeb. »Was bringst du denn da Feines?«

»Neuzugang«, antwortete Archie. »Sieht nach einem zerbrochenen Verschluss aus.«

»Guter Junge. Na, dann leg es mal auf die Werkbank«, meinte der Alte mit funkelnden Augen. »Wir kümmern uns später darum. Jetzt willst du wahrscheinlich erst mal dein Zeugnis von mir bekommen und außerdem wissen, was du als Nächstes lernst, oder?«

Archie nickte.

»Dacht ich’s mir«, sagte der alte Mann, »aber eins nach dem anderen. Margaret hat uns was gebacken, um den Beginn des neuen Schuljahrs zu feiern.« Lächelnd deutete er auf einen großen Obstkuchen in einer runden Backform. »Sei so gut und setz schon mal Wasser auf, ja?«

Der Alte Zeb tat grundsätzlich nichts, ohne zuvor eine Tasse Tee zu trinken. Archie füllte den Kupferkessel und stellte ihn auf die Wortschmiede. Dabei spürte er schon wieder das Kitzeln in der Hand. Das Jucken wurde schlimmer. So heftig hatte es sich bisher noch nie bemerkbar gemacht, nicht einmal als das Feuermal noch frisch gewesen war.

»Mmmmmm, Margarets Obstkuchen ist einfach unschlagbar«, meinte der Alte Zeb etwas später, als er die erste Gabel zum Mund geführt hatte und mit einem großen Schluck Tee nachspülte.

Dann reichte er Archie eine Schriftrolle. »Dein Zeugnis«, sagte er feierlich. »Na los, mach es auf!«

Archie öffnete das Pergament und las.

Archie ist ein liebenswerter, aufgeweckter Junge. Er ist ein talentierter Buchbinder mit echtem Gespür für die Sache, was ihm in der magischen Welt gute Dienste leisten dürfte. Seine Pünktlichkeit lässt noch etwas zu wünschen übrig, dafür kocht er großartigen Tee. Alles in allem ein prächtiger Anfang – gut gemacht, Archie!

Der Alte Zeb strahlte ihn an. »Du bist ein Naturtalent – genau wie dein Dad!«

Archie war richtig stolz. Auch sein Vater war beim Alten Zeb in die Lehre gegangen, damals während seiner Ausbildung im Museum. Archie hatte seine Eltern nie wirklich kennengelernt. Seine Mutter, sein Vater und seine ältere Schwester waren verschwunden, als er noch ein Baby gewesen war. Seine Gran, Oma Greene, hatte ihm erzählt, ihre Fähre sei im Ärmelkanal gesunken und man habe sie für verschollen erklärt.

Der Alte Zeb wandte sich noch einmal in seiner hohen, kratzigen Stimme an Archie: »Bisher hast du die verschiedenen Typen magischer Werke studiert. Die Plopper wirst du nicht so schnell vergessen, was?« Er warf Archie einen amüsierten Blick zu.

Plopper waren magische Bücher, in denen Zauber verankert waren, die herausploppten, sobald man sie öffnete. Zu Anfang seiner Ausbildung hatte Archie ein solches Exemplar aufgeschlagen und einen Ritter namens Sir Konrad der Kühne entfesselt – obwohl der Alte Zeb ihn ausdrücklich davor gewarnt hatte, irgendetwas ohne Aufsicht anzurühren. Zum Glück hatte der Buchbinder die Sache mit Humor genommen, sodass Archie nun beim Gedanken daran ebenfalls lächeln konnte.

Der Alte Zeb fuhr fort. »Dieses Schuljahr habe ich einige schwierigere Übungen für dich vorbereitet. Ich werde dich in den drei Arten der Magie unterrichten.«

Für jeden der drei Zweige der Magie gab es im Museum eine eigene Abteilung. Natürliche Magie stammte von magischen Wesen und Pflanzen aus der Natur, von der Sonne, den Sternen und den Meeren. Vergängliche Magie war von Menschen ausgeübte Magie und beinhaltete unter anderem magische Instrumente, die man Astroskope nannte. Die dritte Form war die Übernatürliche Magie, die sich der Macht von Geistern und anderen übernatürlichen Wesen bediente.

»Außerdem werde ich dir ein paar praktische kleine Zauber beibringen!«, sagte der Alte Zeb.

Archie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Darauf hatte er sich schon lange gefreut. Er würde wahre Magie erlernen!

»Und dann werden wir uns einige faule Tricks und Fallen vornehmen, in die unvorsichtige Lehrlinge gerne tappen.«

Der Buchbinder rieb sich die Hände. »Wo wir schon bei Tricks und Fallen sind, hier hätten wir eine besonders interessante«, sagte er und griff nach dem Buch, das Archie aus dem Laden mitgebracht hatte. »Wenn ich mich nicht sehr täusche, haben wir es hier mit einem Grapscher zu tun! Die größeren können richtig gefährlich werden, doch selbst so ein kleiner wie der hier kann eine echte Plage sein.«

Archie betrachtete neugierig das Buch.

»Trau dich ruhig, schau’s dir näher an«, forderte der Alte ihn auf. »Aber nimm dich in Acht. Das Band hält es aus gutem Grund verschlossen. Oft sind Grapscher verantwortlich, wenn in den Haushalten der Unreifen auf mysteriöse Weise Gegenstände verloren gehen. Socken und Schlüssel mögen sie besonders gerne.«

Die Schnur war auffallend fest gebunden und mehrfach verknotet.

Der Alte Zeb kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Schätze, das Beste wird sein, wenn du es zuhältst, während ich einen neuen Verschluss anbringe.«

»Bereit?«, fragte der alte Buchbinder, als Archie in Position stand. Archie nickte.

»Eins, zwei, drei. Jetzt!«

Archie stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht auf das Buch, während Zeb das Band mit einem Messer durchschnitt und abstreifte.

»Sehr gut.« Der Alte lächelte. »Jetzt bloß nicht locker lassen!«

Archie kam sich leicht dämlich vor, wie er da so mit aller Kraft ein Buch zudrückte, doch der Alte Zeb wusste für gewöhnlich, was er tat. Seit Jahren reparierte er Zauberbücher. Wie lange genau, konnte Archie sich nicht annähernd ausmalen. Soweit er wusste, konnten es Jahrhunderte sein!

In der Zwischenzeit kramte der Alte Zeb eine Art riesige Lupe hervor, die er sich vors Auge hielt. Es handelte sich um eine Traumlupe, ein magisches Instrument, das die Vorstellungskraft desjenigen verstärkte, der hindurchsah – sehr hilfreich, wenn man Dinge aus einem frischen Blickwinkel oder ein Problem in neuem Licht betrachten wollte.

Der Buchbinder lächelte. »Du hast recht, der Verschluss ist kaputt. Das haben wir im Handumdrehen repariert.«

Archie freute sich. Er wurde zunehmend selbstsicherer im Gebrauch seiner neuen Buchbindefähigkeiten.

»So, wo steckt nur dieser Verschluss von neulich …?«, murmelte der Alte. »Hab mir schon gedacht, dass der noch nützlich sein könnte.« Er stöberte in einer verschlissenen alten Werkzeugtasche herum, bis er schließlich siegreich eine Schnalle mit einem silbernen Schlüssel in die Höhe hielt.

»Da«, sagte er, während er bereits mit flinken Fingern das alte Schloss gegen das neue austauschte. Der Schlüssel lag in seiner Hand bereit. »Jetzt noch absperren …«

In diesem Moment versetzte etwas Archie von unten einen festen Stoß, so unerwartet, dass er das Gleichgewicht verlor. Unter lautem Gelächter flog der Buchdeckel auf und eine kleine Gestalt sprang heraus.

Sie war nicht größer als eine Puppe, trug ein buntes Harlekinkostüm und dazu eine schwarze Maske. In Windeseile flitzte sie über die Werkbank und schnappte sich die Reste des Obstkuchens.

»Hey!«, rief Archie und stürzte auf die Kuchenform zu. »Finger weg!«

Doch es war zu spät. Bevor Archie oder der Alte Zeb etwas unternehmen konnten, wurde das Wesen mit dem halb gegessenen Kuchen von den Seiten verschluckt.

Der Alte Zeb ließ den Verschluss einrasten und sperrte mit dem Schlüssel ab, woraufhin das schallende Lachen abrupt verstummte und das Buch in einer beeindruckenden Rauchwolke verschwand.

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Hach, da waren wir wohl zu langsam. Der Kuchen ist futsch«, sagte er zerknirscht. »Das ist der Jammer mit Grapschern – sie sind einfach so verflixt schnell. Magier setzen sie mit Vorliebe ein, um sich gegenseitig zu bestehlen«, erklärte er. »Na ja, hätte schlimmer kommen können. Immerhin hat er meine Traumlupe dagelassen. Um einen neuen Obstkuchen können wir Margaret jederzeit bitten.«

Archie schmunzelte. »Das nennt man dann wohl einen Happen für unterwegs.«

Ein breites Grinsen überzog das Gesicht des Alten Zeb und beide kicherten.

Auf einmal spürte Archie wieder das Jucken in der Hand und fing an, sich zu kratzen. Das Kitzeln wurde immer schlimmer.

Der Alte Zeb warf seinem Lehrling einen wissenden Blick zu. »Es macht sich bemerkbar, was?«

Archie nickte.

»Zeig mal her.« Der alte Buchbinder untersuchte Archies Hand, dort, wo das Nadel-und-Faden-Symbol saß. »Dein zweites Feuermal wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.«

»Aber ich habe doch noch so viel über das Buchbinden zu lernen«, meinte Archie überrascht.

»Mag schon sein, doch die Flamme hat andere Pläne mit dir«, sagte der Alte Zeb.

Er streifte einen dicken Lederhandschuh über und öffnete die Tür der Wortschmiede. Im Schein des Feuers leuchteten seine Augen.

»Im Herzen der Schmiede befinden sich die Geister der uralten Magister – der alten Schreiber der Magie. Als sie gestorben sind, wurden sie in der Flamme verbrannt. Der letzte Magister hat die Flamme schließlich nach Oxford gebracht. Solange sie brennt, wird die Magie leben.«

Archie starrte auf die leckenden Feuerzungen, die ihren zeitlosen, ewig wandelbaren Tanz aufführten. Doch plötzlich änderte die Flamme ihre Farbe und wurde strahlend silbrig.

»Um Himmels willen«, murmelte der Alte Zeb mit einem verdutzten Ausdruck im Gesicht. »Das hat sie ja noch nie gemacht.«

Im selben Moment, etwa achtzig Kilometer weit entfernt, saß Horace Catchpole im Londoner Büro von Folly & Catchpole, der ältesten und verschwiegensten Anwaltskanzlei Englands, an einem auf Hochglanz polierten Schreibtisch aus Walnussholz. Ihm gegenüber hatte Prudence Folly – Horaces Boss – Platz genommen und beäugte ihn wie ein Bussard ein Kaninchen.

»Und das ist sie?«, fragte Prudence, den Blick auf einen Goldring im Innern einer kleinen Schachtel auf dem Tisch gerichtet. »Die zweite Anweisung für Archie Greene?«

Horace nickte. »Steht alles hier im Bestandsbuch«, bestätigte er und deutete auf einen massigen Wälzer auf seinem Schoß.

In den Kellergewölben unter dem Büro von Folly & Catchpole, nahe der Fleet Street, lagen Hunderte von Paketen voller Geheimnisse. Zu jedem gab es im Kundenverzeichnis einen entsprechenden Eintrag, der exakt erklärte, wann und wohin das Paket überbracht werden musste.

»Verstehe.« Prudence hob eine Augenbraue. »Und was genau steht da?«

Horace schlug das Buch auf und fuhr mit dem Finger über die Seite, bis er den Vermerk gefunden hatte. Die Pendeluhr in der Ecke des Zimmers tickte ungeduldig.

»Nun?«, drängte Prudence.

Horace spähte durch seine Hornbrille auf die krakelige Handschrift. Sie war blass, aber Teile davon konnte er entziffern. »Ein Goldring für Archie Greene, abzuliefern im Museum für Magiekunde.«

Prudence nahm den Ring und musterte ihn gründlich. Er bestand aus einem goldenen Band in Form eines Drachen, der sich in den eigenen Schwanz biss.

Nachdenklich runzelte sie die Stirn. »Als Sie mir von einer zweiten Anweisung berichteten, nahm ich an, es würde sich um ein weiteres magisches Buch handeln, wie beim ersten Mal.« Sie schürzte die Lippen. »Und Sie sind sich ganz sicher, dass diesmal nichts anderes dazugehört? Etwas, das uns entgangen sein könnte?«

Verlegen rutschte Horace auf seinem Stuhl hin und her. Als er zuletzt eine Lieferung an Archie Greene zugestellt hatte, hatte er eine Schriftrolle vergessen, die gleichzeitig hätte überbracht werden sollen. Am Ende war noch einmal alles gut gegangen, dennoch hatte Prudence nicht das geringste Interesse daran, solch einen Fehler zu wiederholen.

Folly & Catchpole war seit über neunhundert Jahren die Kanzlei erster Wahl für die magische Gesellschaft Großbritanniens. Ihr guter Ruf beruhte auf zwei Prinzipien: sich ausschließlich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern und keine Fehler zu begehen. Prudence hatte es sich auf die Fahne geschrieben, daran nicht zu rütteln.

»Nur der Ring«, bestätigte Horace, nachdem er nochmals das Bestandsbuch konsultiert hatte.

»Kennen wir diesmal den Auftraggeber?«, fragte Prudence.

»Zumindest seine Initialen«, berichtete Horace und betrachtete angestrengt den Eintrag. »Der erste Buchstabe scheint ein F zu sein, doch der zweite ist undeutlich. Die Tinte ist verschmiert.«

Prudence schnalzte ungnädig mit der Zunge. »Schlampige Buchführung!«, tadelte sie. »Wann ist es fällig?«

»›Wenn das Feuermal erscheint‹«, las Horace vor. »Und die Liefermethode ist etwas ungewöhnlich …«

  2  

Das seltsame Feuermal

Am nächsten Morgen schreckte Archie aus dem Schlaf hoch. Jemand schüttelte ihn. Archie brauchte einen Moment, bis ihm einfiel, wo er war. Das sommersprossige Gesicht seines Cousins ragte über ihm auf. Da erst wurde Archie klar, dass er sich in dem Zimmer befand, das er und Thistle sich im Haus der Foxes in der Säbelzahnstraße Nummer32 teilten.

»Aufgewacht, die Sonne lacht!«, flötete Thistle etwas überdreht. »Ich hab Geburtstag und nicht vor, auch nur eine Sekunde davon zu verpassen. Man wird ja schließlich nur einmal zwölf!«

Archie streckte sich gähnend. »Alles Gute zum Geburtstag!«

Nachdem sie in ihre Klamotten geschlüpft waren, eilten die beiden nach unten in die Küche, wo Loretta Foxe, Archies Tante, einen großen Geburtstagskuchen mit Zuckerguss versah. Ihre ungewöhnlichen Essenskombinationen waren im Haushalt der Foxes berüchtigt. Archies Geburtstagskuchen hatte aus Schokolade und Marshmallows bestanden – mit Sardinenfüllung. Dieser hier roch ebenfalls verdächtig nach Fisch.

Als Loretta sie entdeckte, fingen ihre türkisen Augen an zu strahlen.

»Alles Gute zum Geburtstag!«, rief sie und schlang die Arme um Thistle.

Der warf Archie einen genervten Blick zu, obwohl ihm anzusehen war, dass er sich insgeheim freute.

»Ich mache Omelette«, teilte Loretta ihnen mit. »Was wollt ihr dazu – Marmelade oder Mus?«

Thistle lächelte. »Ich glaube, heute probier ich’s mal mit Käse.«

Loretta hob die Augenbrauen. »Käse?« Sie zog eine Grimasse. »Mit Omelett? Bist du sicher?«

Thistle nickte. »Jupp. Weil heute mein Geburtstag ist, will ich was Neues versuchen.«

»Und du, Archie?«, fragte Loretta.

»Klar, warum nicht?«, meinte Archie voller Vorfreude.

Loretta wirkte enttäuscht.

»Bitte schön«, sagte sie wenige Minuten später, als sie ihrem Sohn einen Teller reichte. »Ein Käseomelett. Und hier ein Käseomelett für dich, Archie.«

Endlich bekam Archie im Haus der Foxes mal etwas Normales vorgesetzt. Allein bei dem Gedanken daran lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er hatte bereits die Gabel am Mund, als Loretta ihm etwas ins Ohr flüsterte.

»Keine Sorge, ich habe etwas Mus dazugegeben, um den Käsegeschmack zu überdecken!« Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Archie zwinkerte höflich zurück, merkte jedoch im gleichen Moment, wie sein Appetit sich verabschiedete. Auf einem Regal über dem Herd setzte eine Reihe von Kochbüchern Staub an. Loretta bevorzugte es, »nach Instinkt« zu kochen.

Da trottete Woodbine Foxe in die Küche. Archies Onkel war ein schmaler Mann mit einem Schopf strohiger Haare, dank derer er Ähnlichkeit mit einer Vogelscheuche hatte. Unter seinen Augen lagen Tränensäcke und die Furchen in seinem Gesicht wirkten tiefer als sonst. Woodbine arbeitete als Buchfinder. Seine Aufgabe war es, magische Werke aufzuspüren, die im Museum noch nicht verzeichnet waren. Den Hauptteil seiner Zeit verbrachte er damit, Geschäfte zu durchkämmen, die gebrauchte Bücher verkauften, und magischen Spuren nachzugehen.

Hin und wieder schickte das Museum ihn auch ins Ausland, um gezielt ein verschollenes Buch aufzuspüren. Von diesen Reisen brachte er seinen Kindern manchmal Geschenke mit. Die vergangene Woche etwa hatte er in der Tschechischen Republik verbracht.

»Wie geht’s, wie steht’s?«, rief er fröhlich und setzte sich an den Tisch. »Alles Gute zum Geburtstag, Jungchen!«

»Danke, Dad«, nuschelte Thistle zwischen einigen Brocken Omelett. »Wann bist du zurückgekommen?«

»In aller Frühe heute Morgen«, berichtete Woodbine. »Deinen Geburtstag konnte ich ja schlecht verpassen!«

»Wie war Prag?«, wollte Archie wissen.

»Die reinste Katastrophe«, antwortete Woodbine. »Wir hatten Hinweise auf ein Buch in einem Teil der alten Innenstadt erhalten, den man Alchemisten-Viertel nennt. Gideon Hawke hat mich in einen Buchladen geschickt, um es abzuholen. Aber jemand kam mir zuvor.«

»Gierer?«, fragte Loretta mit sorgenvoller Miene.

Woodbine nickte. Die Gierer waren die eingeschworenen Feinde der Flammenhüter. Ihren Namen verdankten sie ihrer Gier nach magischen Werken – um sie an sich zu reißen, war ihnen jedes Mittel recht.

Woodbine fuhr fort. »Sie haben den Ladenbesitzer und seine Frau gefoltert, weil sie aus ihnen herauspressen wollten, wo sich das Buch befindet. Das ist schon der zweite Übergriff in diesem Monat.«

»Ich dachte, die Gierer-Attacken würden aufhören, nachdem man Arthur Ripley eingesperrt hat?«, meinte Loretta. Arthur Ripley war verantwortlich für das Gierer-Komplott mit Barzak gewesen, das Archie vereitelt hatte. Inzwischen hatte man Ripley in ein Heim für magisch Kranke gesperrt.

»Zumindest nahmen das alle an«, murmelte Woodbine kopfschüttelnd. »Aber die Fäden hält irgendein anderer in der Hand. Und zwar jemand, der sehr gut darin ist, seine Spuren zu verwischen.«

Gierer gingen für gewöhnlich im Verborgenen vor und gaben ihre wahre Identität nur selten preis. Nach außen hin erschienen viele wie angesehene Mitglieder der magischen Gesellschaft. Doch hinter verschlossenen Türen praktizierten sie Schwarze Magie.

Woodbine kniff die Augen zusammen. »Vor seinem Tod flüsterte der Besitzer des Buchladens einen Namen: Amos Roach.«

»Lasst uns über etwas Freudigeres reden«, unterbrach Loretta und rang sich ein Lächeln ab. »Immerhin kommt es nicht jeden Tag vor, dass einer der Foxes zwölf wird!«

»Happy Birthday, Thistle«, sagte Bramble, die eben dazukam und sich zu den anderen an den Tisch setzte.

»Na schön«, sagte Loretta, als sie den Frühstückstisch abräumten. »Uns bleibt gerade noch genug Zeit, um ein paar Geschenke auszupacken, bevor dein Flammentest ansteht.«

Thistles erster Gang an diesem Tag würde ihn zum Bücherhafen führen, wo er sein Feuermal erhalten sollte.

»Welches Feuermal wäre dir am liebsten?«, wollte Archie wissen.

»Dad hat mit seinem Finden–Mal angefangen, das fände ich also ganz okay«, meinte Thistle nachdenklich. »Andererseits haben wir in der Familie alle drei gehabt. Mum war zuerst ein Bewahrer und Onkel Alex hat wie du als Binder angefangen. Also, um ehrlich zu sein, ist es mir egal. Ich will die Prüfung nur hinter mich bringen!«

Loretta verschwand in der begehbaren Speisekammer und kehrte mit drei Geschenken zurück.

»Dieses hier ist von Oma Greene«, sagte sie. Oma Greene hatte Archie als Baby bei sich aufgenommen und großgezogen und in all der Zeit hatte sie weder seine Verwandten noch das Museum erwähnt. Erst als an Archies zwölftem Geburtstag ein geheimnisvolles Buch aufgetaucht war, hatte er von seinem magischen Erbe erfahren. Es war Grans Idee gewesen, dass Archie zu den Foxes nach Oxford zog.

Ohne Archies Wissen hatte sie seinen Verwandten regelmäßig geschrieben und ihnen an Geburtstagen und Weihnachten Geschenke geschickt. Seit Archie bei ihnen lebte, kamen sogar noch mehr Briefe als sonst an.

Thistle öffnete einen weißen Umschlag, der an das Paket geklebt war.

Lieber Thistle,

alles Gute zum Geburtstag!

Ich wünschte, ich könnte dabei sein, wenn du deinen ersten Tag im Museum antrittst. Ganz bestimmt wird es ein voller Erfolg und wir alle werden sehr stolz auf dich sein. Hier kommt eine Kleinigkeit, die dir dabei helfen wird, deinen Weg zu finden.

Alles Liebe

Oma Greene

PS: Grüße Archie und Bramble von mir

Als Thistle das Päckchen aufriss, kam ein altes Buch zum Vorschein. »Magische Sehenswürdigkeiten«, las er den Titel vor. »Genial!«

»Es hat deinem Großvater gehört«, erklärte Loretta mit einem Anflug von Wehmut in der Stimme. »Ich erkenne es wieder. Dad hat es geliebt, auf Entdeckungsreise zu gehen. Ohne Zweifel hast du das von ihm geerbt, Thistle.«

»Da steht ein Name drin«, sagte Thistle. »Vagabund Greene?«

»Das war der Spitzname deines Opas«, erklärte Loretta lächelnd.

Auf der Rückseite des Buchs prangte ein dreiseitiges Symbol, das wie ein Knoten in einem Kreis aussah.

Daneben war in deutlichen schwarzen Buchstaben eine Nachricht aufgedruckt: Dieses Buch wurde als sicher eingestuft kraft des Museums für Magiekunde, Oxford, England.

Alle neu entdeckten magischen Werke mussten dem Museum überreicht werden, damit man sie dort auf Schäden untersuchen konnte. Dann wurden sie klassifiziert und den Stufen eins, zwei oder drei magischer Kraft zugeteilt. Die gefährlicheren unter ihnen – Stufe drei – durften das Museum nicht mehr verlassen. Doch die Stufen eins und zwei traten ihren Weg zurück in die magische Öffentlichkeit an.

Thistle blätterte in den Seiten. »Hier gibt es einen Eintrag über Quills«, sagte er. »›Quills Kaffee- & Schokoladenhaus wurde 1657 von Jacob Quill in London gegründet. 1667 zog Quill nach Oxford um, nachdem das ursprüngliche Café beim Großen Brand von London zerstört worden war. Seitdem hat das Quills Oxford nicht mehr verlassen.‹«

»Und hier ist eine Kleinigkeit von deinem Vater und mir«, sagte Loretta, während sie ihrem Sohn das zweite Päckchen reichte.

Nachdem Thistle es aufgerissen hatte, fand er darin eine kleine Schachtel. Er öffnete sie und holte einen Silberring mit einem orangen Edelstein heraus.

»Wir dachten, das würde einen schönen Glücksbringer für dich abgeben«, sagte Woodbine. »Er hat meinem Vater gehört, ist aber schon seit Generationen in der Foxe-Familie.«

Es gehörte zur Tradition, neuen Lehrlingen zum Schutz gegen Schwarze Magie ein Schmuckstück zu schenken, das mit einem Zauber belegt war. Brambles Talisman war ein Armband und Archies ein magischer Anhänger, der einmal dem berühmten Magier John Dee gehört hatte.

»Danke, Dad!«, sagte Thistle, während er den Ring bewundernd in der Hand drehte.

»Er ist mit einem Schutzzauber belegt«, erklärte Woodbine. »Der Edelstein fängt an zu glühen, sobald du in die Nähe Schwarzer Magie gerätst.«

»Und zum guten Schluss …«, Loretta händigte ihm das letzte Geschenk aus. »Das kannst du brauchen. Es ist dein Snuch, dein Einstands-Buch – bring es zu Geoffrey Screech, wenn du im Bücherhafen bist.«

Im Museum war es Brauch, dass jeder neue Lehrling an seinem ersten Tag ein magisches Buch mitbrachte, um zu beweisen, dass er aus einer Familie der Flammenhüter stammte.

»Es lag zwischen einigen alten Familienpapieren. Ich habe es auf der Suche nach dem Ring gefunden. Es hat keinen Stempel«, berichtete Woodbine. »Also sag Geoffrey, dass er vorsichtig damit umgehen soll.«

»Auf dein Geschenk von uns musst du noch warten«, meinte Archie. »Bramble und ich wollen dir etwas auf dem Bücherfest besorgen.«

Das Internationale Magische Bücherfest fand alle fünf Jahre statt und diesmal war der Veranstaltungsort Quills Schokohaus in Oxford. Seit Wochen redeten die Lehrlinge über nichts anderes mehr. Dieser magische Jahrmarkt zog Angehörige der magischen Gemeinschaft aus England und der ganzen Welt an, einschließlich Magier und Seher. Außerdem wurden dort alle möglichen magischen Geschenke und andere Dinge zum Kauf angeboten.

»Ich kann es noch gar nicht fassen, dass es am Wochenende schon so weit ist«, sagte Thistle.

»Und ich kann nicht glauben, dass du heute deine Lehre anfängst! Du bist schon so groß und erwachsen.« Loretta wischte sich verstohlen die Augen. »Und jetzt«, sagte sie betont fröhlich, »bleibt uns gerade noch genug Zeit für ein Stückchen Kuchen, bevor ihr losmüsst!«

Die drei Kinder machten sich gemeinsam zu dem halbstündigen Fußmarsch ins Zentrum von Oxford auf. Als sie sich nach und nach dem Bücherhafen näherten, verlangsamte Thistle merklich seinen Schritt und fing an, auffallend träge dahinzuschlurfen.

Archie linste zu seinem Cousin hinüber und überlegte, was ihm durch den Kopf gehen mochte.

»Alles klar bei dir, Thistle?« Er boxte seinem Cousin leicht in den Arm.

Thistle schluckte und lächelte nervös. »Aber klar doch«, sagte er wenig überzeugend. »Ging mir nie besser. Ich freue mich schon mein ganzes Leben lang auf diesen Moment.«

Da Archie in der Reparaturwerkstatt arbeitete, hatte er schon mehrere Lehrlinge an ihrem ersten Tag erlebt. Die meisten von ihnen waren vor dem Flammentest etwas angespannt und seinen großen Worten zum Trotz war Thistle anzumerken, dass es ihm da kein Stück besser ging.

Archie öffnete die Tür zum Laden. Wie üblich stand Geoffrey Screech hinter der Theke und wie so oft balancierte er seine kleine runde Brille gefährlich weit unten, auf der äußersten Spitze seiner langen schmalen Nase. Er trug seine beste grüne Fliege, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er einen neuen Lehrling erwartete. Beim Läuten der Glocke blickte Screech auf und musterte die drei Kinder über den Rand seiner Brille hinweg. Er lächelte freundlich und zeigte seine kleinen Zähne.

»Morgen, Archie, Bramble und … Thistle, richtig?«

Thistle schluckte schwer, bevor er nickte.

Screech schlug ein dickes Buch auf, das auf der Ladentheke lag, und fuhr mit dem Finger über die Einträge.

»Ah ja, hier haben wir es: Thistle Foxe.« Er blickte auf. »Scheint alles seine Richtigkeit zu haben.«

Bramble versetzte ihrem Bruder einen Schubs. »Na, mach schon«, sagte sie. »Er beißt nicht.«

Aufmunternd drückte sie Thistles Arm. »Nachher gibt es im Schokohaus eine Versammlung zum Schulstart. Wir können alle zusammen hin. Ich treff dich dann draußen. Viel Glück und viel Spaß!«

Bramble öffnete die Tür und verließ den Bücherhafen.

Thistle gab Screech sein Snuch. »Mein Dad meinte, ich soll Ihnen sagen, dass es keinen Stempel hat«, nuschelte er.

»Ausgezeichnet«, sagte Screech und nahm das Buch entgegen. »Sieht wie ein altes Kartografiehandbuch aus. Oft bekommt man die nicht zu sehen. Ich kümmere mich darum, dass es untersucht und ordentlich klassifiziert wird. Aber jetzt bringen wir dich erst einmal zum Alten Zeb.«

Thistle schluckte nervös, während Screech über die Schulter nach seiner Assistentin rief: »Margaret!«

Schon kam Margaret Gudge hinter dem Samtvorhang hervorgeeilt.

»Ah, da bist du ja, Margaret. Würdest du ein Auge auf den Laden haben, solange ich den neuen Lehrling in die Werkstatt begleite?«

Screech war dafür zuständig, die Ergebnisse des Flammentests aufzuzeichnen. Seit dreißig Jahren schon führte er in seiner gestochen scharfen Handschrift Buch darüber.

»Selbstverständlich, MrScreech«, sagte Margaret und lächelte Thistle zu. »Viel Glück!«

Archie hielt für Thistle und Screech den Vorhang hinter sich auf und ging anschließend voraus in den Flur, an dessen Ende er eine Laterne aus dem Regal nahm, um den beiden den Weg hinab in den unteren Korridor zu erleuchten.

»Thistle Foxe!«, empfing sie der Alte Zeb, als sie die Reparaturwerkstatt betraten. »Ich erinnere mich noch an damals, als du ein kleines Baby warst … Loretta ist mit dir immer mal in den Laden gekommen. Du hast keine Sekunde stillsitzen können. Immer auf Entdeckungsreise. Wie geht es Loretta denn?«

Bevor Thistle antworten konnte, wurde das Gesicht des Alten ernst. »Wir haben gehört, was Woodbine in Prag mitgemacht hat. Schlimme Sache.«

Zeb schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Wo soll das mit der Welt noch enden, wenn nicht mal mehr die Buchläden sicher sind? Gut, dass es bei uns ein paar Extra-Sicherheitsvorkehrungen gibt«, murmelte er.

Archie vermutete, er spielte auf die Buchstützen-Bestien hinter der zweiten Tür an. Einmal mehr fragte er sich, was hinter der grünen Tür verborgen sein mochte – und ob in den Schatten am hinteren Ende des Korridors tatsächlich eine schwarze Tür lag.

Screech hüstelte, um das Thema zu wechseln. »Nun denn. Wir sind ja nicht hier, um uns über Prag zu unterhalten. Wir sind hier wegen Thistles Flammentest«, erinnerte er den Alten Zeb.

»Ja, ja. Natürlich«, meinte der Buchbinder und verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. »Dann wollen wir mal sehen, was die Flamme für dich vorgesehen hat.«

Der alte Mann öffnete die Tür zum Brennofen. Das Feuer zischte und spuckte eine Wolke aus dickem weißem Rauch aus.