ATLAN Sternensplitter 2: Das Flexion - Bernhard Kempen - E-Book

ATLAN Sternensplitter 2: Das Flexion E-Book

Bernhard Kempen

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Beschreibung

Nach Jahren stößt die Solare Abwehr endlich auf neue Hinweise über die mysteriösen Sternensplitter. Solarmarschall Galbraith Deighton informiert sofort Lordadmiral Atlan, von dessen USO-Spezialisten auf dem Planeten Skagsram die erste Spur der Sternensplitter entdeckt wurde. Justician Khorolev, einer der fähigsten Agenten der SolAb, hat auf Brox einen Fund gemacht, der Licht in das Dunkel bringen könnte. Daher nimmt Atlan die Fährte auf und fliegt mit Khorolev und Decaree Farou zur Freihandelswelt Brox, einem Treffpunkt für Händler, Glücksritter und Piraten. Zur gleichen Zeit sind ertrusische Soldaten und Forscher längst mit der Erforschung der Sternensplitter beschäftigt. Denn das Triumvirat des Carsualschen Bundes erhofft sich eine schlagkräftige Waffe gegen Terra... Folgende Romane sind Teil der Sternensplitter-Trilogie: 1. "Taucher im Lavastrom" on Oliver Fröhlich 2. "Das Flexion" von Bernhard Kempen 3. "Geheimplan Quinto-Center" von Michelle Stern

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Zweiter Band der Sternensplitter-Trilogie

Das Flexion

von Bernhard Kempen

Kleines Who is Who

Atlan – der Lordadmiral der USO muss sich auf Gefühle verlassen

Bin Ka – eine Agentin geht mit ihrem Chef schwimmen

Corat Senay – eine ertrusische Psychologin verzweifelt

Decaree Farou – die USO-Kordinatorin lässt ihren Schreibtisch im Stich

Dina Manolia – ein hübscher Fähnrich ortet Gefahr

Erana Oberunt – eine Wartungstechnikerin ergreift ihre Chance

das Flexion – das Wesen aus einer fremden Welt hat eine Schwäche für Eis

Galbraith Deighton – der Gefühlsmechaniker leiht einen seiner besten Agenten aus

Golon Duratz – ein Ortungsoffizier sorgt für Durchblick

Jean Patissier – ein Koch serviert kleine Rochen

Justician Khorolev – ein Agent der Solaren Abwehr spricht über seine Gefühle

Karoma Hountz – ein ertrusischer Kommandant versucht dem Wahnsinn zu entgehen

Kersom – der Ordonnanzoffizier darf auf eine Beförderung hoffen

Olivier Levasseur – der Freie Pirat liebt Familienzusammenführungen

Malé Malé – ein Händler bleibt nicht auf dem Teppich

Máximo Gómez Báez – der Comandante bestellt schöne Grüße von der Piratenhexe

Moto Darknam – ein Positronikspezialist wird mehrmals erleuchtet

Perry Rhodan – der Großadministrator des Solaren Imperiums verhält sich diplomatisch

Terser Frascati – der dritte Mann im Triumvirat wird ungeduldig

Tino Cassati – nicht nurder Ordonnanzoffizier kennt sich in Imperium-Alpha aus

Toro Aikta – ein ertrusischer Wissenschaftsoffizier spielt mit einem besonderen Gummiball

das Unal – ein Wesen gerät in eine unvorstellbar fremdartige Welt

Xililiitsch – ein Blue handelt nicht nur mit Blumen

Zelani – eine Ara will ihrem Ex eins auswischen

Zenoch Uniel –

1. Teil

Prolog

Kugelsternhaufen NGC 4833, Schwerer Kreuzer GARETH

18. September 3107

Das größte Problem in der wissenschaftlichen Forschung ist die Frage nach dem Stellenwert der Wahrnehmung. Alles, was wir über die sogenannte Wirklichkeit zu wissen glauben, wird uns über unsere Sinne vermittelt. Selbst das ausgeklügeltste technische Messinstrument liefert nicht mehr als bloße Daten, die von einem Intelligenzwesen registriert und interpretiert werden. Es gibt keine »objektive« Erkenntnis! Bei der Beobachtung und Deutung der Welt steht der Wissenschaftler sich selbst im Weg. Dabei ist die Lösung dieses Dilemmas denkbar einfach: Hier stehe ich und schaue hinaus in die Welt, und gleichzeitig bin ich Teil dieser Welt!

Zenoch Uniel, »Kritik der praktischen und theoretischen Realitäten«, herausgegeben vom Verlag des Instituts für Alternative Wissenschaften, Utopolis 3125.

»Oooommmmm…«

Moto versetzte sich in Trance und wurde eins mit der Welt. Er bemühte sich, nicht mehr bewusst zu agieren, sondern es geschehen zu lassen. Es kam darauf an, sich nicht gegen den Strom zu stemmen, sondern die Dynamik der Ereignisse auszunutzen. Er musste nur ein wenig die Richtung der Kräfte ändern, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Als er die Faust auf sich zukommen sah, wusste er genau, was er zu tun hatte. Er wich ein wenig zur Seite aus und schätzte den günstigsten Winkel für den Gegenangriff ein. Er zielte auf den Unterarm, um die Bewegung der Faust abzulenken. Ein leichter seitlicher Druck würde genügen, um dem Bewegungsimpuls eine andere Richtung zu geben. Dann musste er nur noch den Oberarm als Hebel benutzen, damit der Angriff ins Leere ging. Wenn er es geschickt anstellte, würde er den gegnerischen Körper aus dem Gleichgewicht bringen und vielleicht sogar zu Boden werfen …

Ein heftiger Schmerz fuhr durch seinen Arm, als er mit der Handkante gegen die steinharten Muskeln des Oberarms schlug. Offenbar hatte er die Geschwindigkeit des Angriffs unterschätzt. Er durfte nicht zulassen, dass sich die Kraft gegen ihn wandte. Er musste …

Ein noch heftigerer Schmerz breitete sich in seiner Magengrube aus. Die linke Faust bohrte sich gnadenlos unter seinen Brustkorb und riss ihn hoch. Moto spürte, wie seine Füße den Bodenkontakt verloren. Während er sich in der Luft krümmte, krachte die Faust auf seine Schulter.

»…mmmrrraaaahhh…« Das Mantra ging in einen brüllenden Schmerzensschrei über.

Im kurzen Moment der Schwerelosigkeit nahm Motos Körper Embryonalhaltung ein, dann raste er senkrecht dem Boden entgegen. Er landete gleichzeitig auf den Knien, den angewinkelten Ellbogen und der Stirn.

»…hhhrrrmmmm!« Mit der Wucht einer explosiven Dekompression wurde ihm die Luft aus den Lungen getrieben.

»Ach, mein Kleiner! Du wirst es nie lernen.«

Moto löste die Stirn vom Boden des Trainingsraums und drehte den Kopf. Sein Blick wanderte die stämmigen Säulenbeine hinauf, über das ausladende Becken und die mächtigen Brüste bis zum Kopf, der von einer hohen Sichelkammfrisur und einem breiten Grinsen geziert wurde.

»Ich hätte es fast geschafft«, stieß Moto keuchend hervor, »den Kanth-Yrrhh-Hebel anzusetzen …«

»Quatsch mit Sahnesoße!«, schnaufte Erana voller Verachtung und blickte mitleidig auf ihn herab. »Was nützt dir dieser esoterische Blödsinn, wenn du meinen zweiten Faustschlag glattweg übersiehst?« Sie schüttelte den Kopf, beugte sich vor, griff mit beiden Händen unter Motos Achselhöhlen und zog ihn mit einem Ruck auf die Beine.

Mit einer Punktmeditation von nur einer halben Sekunde vertrieb Moto das Schwindelgefühl und unterdrückte sein Schmerzempfinden. Dann blickte er zu seiner Sparringspartnerin auf. Obwohl sie einen guten Kopf größer war als er, wollte er sich nicht von ihr unterkriegen lassen. Er würde ihr schon noch beweisen, dass sich geistige Disziplin gegen rohe Körpergewalt durchsetzen konnte. Sobald er das Kanth-Yrrh tatsächlich verinnerlicht hatte …

»Aber du musst zugeben, dass ich diesmal einen Tick schneller reagiert habe als beim letzten Mal!«

Erana zuckte mit den breiten Schultern. »Mag sein«, erwiderte sie abfällig. »Doch für mich zählt nur, dass du am Ende wieder mal auf die Schnauze geflogen bist.«

»Lass es uns noch einmal probieren!« Moto lockerte seinen geschundenen Körper und nahm Kampfhaltung ein. Die Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß abgeklungen. Außerdem verbot ihm seine Kampfphilosophie, sich von körperlichen Unzulänglichkeiten beirren zu lassen.

»Geh lieber in die Bordkantine und gönn dir ein anständiges Rinderviertelchen, damit du groß und stark wirst, Kleiner!«

»Du weißt genau, dass die Schule des Kreit-Dagor eine streng vegetarische Ernährungsweise vorschreibt.«

»Dann wirst du wohl damit leben müssen, für immer ein magerer Zwerg zu bleiben.«

Moto schloss die Augen und atmete tief durch. Er durfte sich nicht kränken lassen, wenn er auf seine unterdurchschnittliche Körpergröße angesprochen wurde. Mit seinen 2,12 Metern war er in der Tat ungewöhnlich klein geraten, während Erana mit glatten 2,50 Metern das ertrusische Gardemaß verkörperte.

»Der Geist hat die Kraft, jedes materielle Hindernis zu überwinden.«

»Wenn du damit so etwas wie eine Philosophie des Starrsinns meinst, muss ich dir recht geben«, erwiderte Erana mit einem süffisanten Grinsen. »Es ist wirklich erstaunlich, wie hartnäckig du es immer wieder versuchst, obwohl dir völlig klar sein müsste, dass ein Zwerg wie du gegen mich nicht den Hauch einer Chance hast.«

Moto erkannte, was seine Gegnerin beabsichtigte. Sie wollte ihn provozieren, damit er sich zu einer unbedachten Reaktion hinreißen ließ. Er spürte, wie sich tief in ihm Wut regte. Aber auch das konnte er zu seinem Vorteil nutzen. Er musste die Kraft des Zorns kanalisieren und gegen Erana richten. Er sammelte sich, lenkte die Energie in seine Muskeln und trat mit dem rechten Fuß einen Schritt vor …

Eranas Schlag traf ihn völlig unvorbereitet an der linken Schulter, die noch von der letzten Kampfrunde geschwächt war. Außerdem hatte er bereits den rechten Arm zum Angriff gehoben und die linke Körperseite zurückgedreht. Eranas Hieb verstärkte die Drehung, so dass er herumgewirbelt wurde und das Gleichgewicht verlor.

Bevor er sich fangen konnte, erwischte Eranas Fußtritt ihn von hinten in der rechten Kniekehle. Moto klappte zusammen und krachte auf allen Vieren zu Boden.

Benommen schüttelte er den Kopf. Was machte er nur falsch? Er musste sich viel mehr konzentrieren, um durch die Kampftrance einen höheren Bewusstseinszustand zu erreichen. Es gelang ihm immer noch nicht, so sehr mit seiner Umwelt eins zu werden, dass er die Angriffe seiner Gegnerin voraussah. Stattdessen hatte sie seine Schwächen ausgenutzt und gegen ihn eingesetzt.

»Mir scheint, dass du bereits einiges von mir gelernt hat«, musste er einräumen, ohne sich zu Erana umzublicken. »Das war eine recht wirksame Umsetzung des Kanth-Yrrhh-Prinzips.«

»Das war ein ganz simpler Trick, den ich schon bei meinen ersten Schulhofraufereien gelernt habe«, stellte Erana richtig. »Die Regel lautet: Immer da draufhauen, wo es dem Gegner am meisten wehtut.«

»Ich meinte, wie du meine leichte Körperdrehung ausgenutzt hast, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.«

»Kommt aufs selbe raus«, sagte Erana. »War doch klar wie Kloßkraftbrühe, dass du von rechts angreifst, nachdem ich dir vorhin was auf die linke Schulter gegeben habe. Vergiss diesen Dagor-Quatsch und sei ein Ertruser! Lerne, wie man richtig kämpft!«

»Das ist kein Quatsch! Kreit-Dagor ist eine Kombination aus uralter arkonidischer Kampfphilosophie und den wichtigsten Grundsätzen ertrusischer Kampfschulen. Von der Eisenfaust und den Melbarsöhnen …«

»… bist du mangels Masse nicht angenommen worden«, fiel Erana ihm ins Wort. »Deshalb hast du dir ein paar Trainingsholos angesehen und das Ganze mit etwas Arkon-Esoterik verrührt und nennst das Ergebnis hochtrabend Kreit-Dagor!« Sie steigerte sich immer mehr in eine ihrer berüchtigten Tiraden hinein. »Fehlt nur noch, dass du das Ganze im Vereinsregister von Ertrus als Sekte eintragen lässt! Mit dir als Guru, Vorsitzendem, Schriftführer und Kassenwart – und einzigem Mitglied! Nachdem du es in deinem Leben bereits zum kleinsten Ertruser aller Zeiten und zum einzigen Vegetarier im großen, weiten Sternenreich des Carsualschen Bundes gebracht hast! Wann lernst du es endlich, deine Vorstellungen ein bisschen mehr an der Realität zu orientieren, Moto Darknam?«

Er kauerte immer noch auf allen vieren am Boden, während er die Schimpfkanonade der Ertruserin reglos über sich ergehen ließ. Sie versuchte immer wieder, ihn mit solchen oder ähnlichen Vorwürfen aus dem mentalen Gleichgewicht zu bringen.

Oder war es möglich, dass ein Fünkchen Wahrheit in ihren Worten steckte?

Sich auf die Realität einzulassen war schließlich einer der Grundsätze seiner Weltanschauung. Wie konnte er es anstellen, alle Aspekte seiner subjektiven Realität mit den objektiven Fakten in Einklang zu bringen? Die Tatsache, dass er dazu verdammt war, den Kopf in den Nacken zu legen, wenn er seinen ertrusischen Artgenossen in die Augen sehen wollte? Die Tatsache, dass sein Metabolismus allergisch auf fleischliche Nahrung reagierte, ganz zu schweigen von Motos ethischen Bedenken gegen das Töten von Tieren – und das in einer Gesellschaft, die glaubte, ihrem Wahlspruch »Werde satt und dick!« nur durch die massenhafte Zufuhr tierischer Proteine gerecht werden zu können?

Wie sollte er es schaffen, von seinen Mitmenschen akzeptiert zu werden, wenn sie alles ablehnten, was er war – und woran er nichts ändern konnte?

Moto schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Wie ließ sich dieses Dilemma lösen?

Plötzlich kam ihm ein völlig neuer Gedanke. Vielleicht ging es darum, zunächst sich selbst zu akzeptieren – so, wie er war, mit all seinen Schwächen. Ohne sich zu bemühen, etwas anderes zu sein. Ohne um Anerkennung zu kämpfen …

Diese Vorstellung löste ein seltsames Gefühl in Moto aus. Eine derartige … Schicksalsergebenheit widersprach allen Überzeugungen, die er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hatte. Obwohl die arkonidischen Weisen des Da ebenso wie die terranischen Schulen des Zen oder Dao genau das seit Jahrtausenden lehrten. Sich nicht gegen das Unvermeidliche stemmen. Den Gang der Dinge bejahen …

Moto spürte ein eigenartiges Kribbeln, das sich in seinem Körper ausbreitete. Es ging nicht darum, jedem Kampf aus dem Weg zu gehen. Es war lediglich falsch, sich um jeden Preis durchsetzen zu wollen. Denn scheinbare Niederlagen waren in Wirklichkeit ein Gewinn. Wenn man annehmen konnte, was das Schicksal für einen vorgesehen hatte, hielt man am Ende den Triumph der Erkenntnis in den Händen.

Unwillkürlich stöhnte Moto. Das Kribbeln verstärkte sich zu einem Vibrieren. So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt. War die Macht seiner Erkenntnis so stark, dass sie nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche Ebene erfasste? Er hatte davon gelesen, dass eine Erleuchtung – der Wechsel auf eine höhere Bewusstseinsebene, ein Satori-Erlebnis – selbst die tiefsten Fasern der Existenz ergreifen konnte.

Das Vibrieren wurde schwächer, während er sich gleichzeitig immer leichter fühlte. Die Macht des Geistes war in der Lage, die Fesseln der Materie zu überwinden!

Moto fasste den Entschluss, sich zur Seite zu drehen, und schon geschah es. Es war kaum mehr als ein Muskelzucken nötig, um die Bewegung auszuführen. Sein bloßer Wille war in der Lage, Einfluss auf die materielle Welt zu nehmen.

Er fühlte sich wie schwerelos, als er um die eigene Körperachse rotierte und Erana wieder in sein Blickfeld geriet.

Die Ertruserin schien sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt zu haben. Mit erstauntem Gesichtsausdruck starrte sie auf Moto. Spürte sogar sie, dass ihr Trainingspartner eine neue Stufe des Bewusstseins erreicht hatte?

»Was zum …?«, begann sie – und mit einem Mal passierte alles rasend schnell.

Moto spürte einen leichten Luftzug, dann schoss Erana auf ihn zu. Ungläubig beobachtete er, wie seine Füße ihren Brustkorb rammten. Oder war es andersherum? Erst jetzt wurde ihm klar, dass er tatsächlich gute anderthalb Meter über dem Boden schwebte.

Er konnte den Aufprall mühelos mit den Beinen abfedern. Erana jedoch bekam die volle Wucht des Schlages ab und wurde nach hinten geschleudert. Sie schoss quer durch den Raum, überschlug sich in der Luft und knallte schließlich gegen die Wand. Doch dann rutschte sie nicht etwa zu Boden, sondern prallte einfach davon ab und flog zurück in Motos Richtung.

Bevor sie zusammenstoßen konnten, schien der Boden des Trainingsraums plötzlich in die Höhe zu schnellen. Moto landete unsanft auf dem Hintern. Erana hatte weniger Glück – sie kam mit den Schultern auf. Mit einem lauten Knall schlug ihr Hinterkopf auf den Boden.

Stöhnend rappelte sie sich auf und schüttelte den Kopf. »Was zum Sternenhenker ist hier los?«, vervollständigte Erana den angefangenen Satz.

Moto wurde klar, dass der Auslöser seines Satori-Erlebnisses ein simpler Ausfall der Schwerkraftgeneratoren gewesen war. Als er wieder den vollen 3,4 Gravos der ertrusischen Standardgravitation ausgesetzt war, spürte er, dass die seltsamen Vibrationen eindeutig vom Boden ausgingen.

»Vielleicht wurde die GARETH angegriffen …«, mutmaßte Erana.

Die Vibrationen verstärkten sich, bis sie die Ausmaße eines ertrusischen Erdbebens erreichten. Moto hüpfte auf und ab, während es schien, als würden Riesenkräfte das Raumschiff durchschütteln.

Wieder fiel die künstliche Schwerkraft abrupt aus. Moto und Erana hingen für einen Moment in der Luft, dann krachten sie erneut zu Boden. Moto rieb sich den schmerzenden Ellbogen. Er dankte den Schicksalsgöttern, dass er als umweltangepasster Ertruser auf die Welt gekommen war. Wäre er wie ein gewöhnlicher Terraner gebaut, hätte er sich bei einem solchen Sturz sämtliche Knochen gebrochen.

Die Sirenen heulten auf – ein Ton in gleichbleibender Stärke.

»Technischer Alarm«, stellte Moto fest. Bei einem Kampfalarm wäre ein regelmäßig an- und abschwellendes Signal zu hören gewesen.

Erana runzelte die Stirn. »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Wer weiß, ob die Automatik im Ernstfall das korrekte Alarmsignal schaltet?«

Die Leuchtelemente an der Decke flackerten. Dann wurde es schlagartig stockfinster. Doch schon im nächsten Moment wurde es wieder hell – viel heller als sonst. Oder lag es nur daran, dass Motos Augen empfindlicher auf die wieder einsetzende Beleuchtung reagierten?

Mit einem knisternden Geräusch und einem leisen Knall erlosch eine Deckenleute. Eine zweite und dritte gaben ebenfalls den Geist auf. Danach glommen die überlebenden Leuchtelemente nur noch mit halber Lichtstärke.

»Was sollen wir jetzt machen?«, wollte Moto wissen. »Warum gibt es keine Durchsage?«

»Wahrscheinlich hat die Kommandobande in der Zentrale andere Sorgen«, murmelte Erana. »Oder die Idioten haben einfach mal wieder vergessen, dass dieses Schiff auch noch eine Besatzung hat.«

Vorsichtig erhob sie sich vom Boden und stand einen Moment lang abwartend da. Vorläufig hatten sich die Vibrationen abgeschwächt. Breitbeinig setzte Erana einen Fuß vor den anderen und schaffte es ohne Komplikationen bis zum Interkom neben der Eingangstür, dem einzigen Einrichtungsgegenstand des ansonsten völlig leeren Trainingsraums.

»Hallo, kann mich jemand hören? Was ist los?« Sie probierte sämtliche Kanäle der Bordkommunikation durch.

Als Antwort erhielt sie nur Rauschen in unterschiedlicher Lautstärke.

»Nichts«, stellte sie überflüssigerweise fest. »Wir sollten …« Weiter kam sie nicht.

Ächzend ging Erana in Knie.

Moto schnappte verzweifelt nach Luft, als er plötzlich zu Boden gedrückt wurde. Ein tonnenschweres Gewicht schien auf ihm zu lasten.

Mindestens 20 Gravos, schätzte er, das Sechsfache der ertrusischen Standardschwerkraft. Einen solchen Wert würde er über einen längeren Zeitraum ohne körperliche Schäden überstehen. Nur war er praktisch zur Bewegungslosigkeit verdammt, weil er sich kaum von der Stelle rühren könnte. Große Sorge machte ihm, dass der Druck weiter zunahm. Waren es bereits 30 Gravos? Moto konnte es nicht mehr einschätzen. Allmählich erreichten die Schmerzen eine Intensität, die er nicht mehr ignorieren konnte. Wo lag der Grenzwert, bei dem selbst ein ertrusischer Körper zerquetscht wurde wie eine Fliege unter einem Stiefelabsatz?

Moto schrie, als er das Gefühl hatte, zerrissen zu werden. Mit dem letzten Rest seines aktiven Bewusstseins wurde ihm klar, dass er durchgeschüttelt wurde. Sein Körper wurde zu Boden gepresst und musste gleichzeitig ungeordnete seitliche Bewegungen aushalten.

Schlagartig ließ der Druck nach. Keuchend schnappte Moto nach Luft. Ein brennender Schmerz fuhr durch seine geschundenen Lungen. Moto schrie. Der Schmerz in seinen Atemwegen wurde unerträglich. Er riss sich zusammen und verstummte.

Ruhig bleiben, sagte er sich. Nicht dagegen ankämpfen. Alles, was du tust, macht es nur schlimmer.

Moto zwang sich zu vorsichtigen, möglichst flachen Atemzügen. Allmählich wurde das Rauschen in seinen Ohren schwächer, und das weiße Flimmern vor seinen Augen ließ nach. Auch die Schmerzen waren bereits spürbar abgeklungen. Dafür machte ihm ein zunehmendes Übelkeitsgefühl zu schaffen.

Als er vorsichtig die Augen öffnete, wurde ihm der Grund klar. Er sah, wie sich der Trainingsraum langsam um ihn drehte.

Er trieb schwerelos in der Luft.

Erana kam wieder in sein Blickfeld. Die Ertruserin hielt sich mit einer Hand an einer Wandstrebe neben der Tür fest und betastete mit der anderen ihren blutenden Hinterkopf.

»Alles in Ordnung mit dir?«, stieß Moto krächzend hervor.

»Nein«, antwortete Erana mit gleicher Stimmlage. »Aber ich glaube, ich habe es überlebt.«

»Besser könnte ich meinen Zustand auch nicht in Worte fassen.«

»Gut«, sagte Erana. »Wie es scheint, sind die Schwerkraftgeneratoren jetzt endgültig ausgefallen. Solche Extrembelastungen halten die Maschinen nicht lange aus.«

»Bist du dir sicher, dass die Generatoren verrückt gespielt haben?«

»Theoretisch lässt sich die Gravitationswirkung – ob künstlich oder natürlich – nicht von Beschleunigungskräften unterscheiden, solange man sich wie wir in einem geschlossenen Raum befindet«, erklärte Erana. »Aber dieser Affentanz vorhin hat sich angefühlt, als hätte jemand an den Kontrollen der Generatoren herumgespielt, bis die Dinger durchgebrannt sind.«

»Warum sollte jemand so etwas tun?«

»Mich würde viel mehr interessieren, wer so etwas tut«, erwiderte Erana. »Weil ich dann wüsste, welchem Idioten ich ein paar kräftige Schläge auf die Nase geben kann.«

»Schadenfreude verträgt sich nicht mit den Grundsätzen des Kreit-Dagor. Aber in diesem Fall werde ich eine Ausnahme machen und dir sogar helfen, den Übeltäter zu finden, damit ich mich an seinem Leid ergötzen kann, wenn du ihm eine Abreibung verpasst.«

»Das freut mich«, sagte Erana. »Aber damit gibt es ein kleines Problem. Beziehungsweise zwei Probleme, wenn man es ganz genau nimmt.«

»Ich höre.«

Erana zeigte auf die Tür. »Das Ding geht nicht mehr auf. Entweder ist der Öffnungsmechanismus hin, oder die Wände haben sich unter der Extremgravitation verzogen. Ich würde auf beides tippen. Und hier im Trainingsraum gibt es kein Werkzeug und keine Waffen, mit denen wir die Tür aufbrechen könnten.«

»Und das zweite Problem?«

»Wenn du mir irgendwie behilflich sein willst, dürfte es schätzungsweise eine knappe Stunde dauern, bis du in der Schwerelosigkeit zur gegenüberliegenden Wand gedriftet bist. Deine Eigenbewegung ist minimal. Ohne Zuhilfenahme künstlicher Hilfsmittel kannst du dich nicht schneller von der Stelle bewegen.«

Moto überlegte. »Ich könnte meine Kleidung ablegen und von mir stoßen. Das würde mir einen zusätzlichen Bewegungsimpuls geben.«

Erana schüttelte den Kopf. »Den Anblick deines unbekleideten jämmerlichen Zwergenkörpers möchte ich mir ersparen. Deshalb schlage ich einen fairen Handel vor. Ich helfe dir, und dafür hilfst du mir.«

»Was hast du vor?«

Erana antwortete nicht, sondern brachte sich an der Wand in Position. Dann stieß sie sich ab und trieb genau auf Moto zu. Mit ausgebreiteten Armen fing sie ihn in der Luft auf. Danach trieben sie mit kombiniertem Bewegungsimpuls auf die gegenüberliegende Wand zu.

»Halt dich irgendwo fest!«, wies Erana ihn an.

Moto griff nach einer Strebe und schaffte es, seinen umhertorkelnden Körper zu fixieren.

Erana verankerte sich zwischen zwei Streben. »Jetzt machen wir es folgendermaßen«, sagte sie. »Die Tür da drüben ist kein Panzerschott, sondern höchstens drei Zentimeter dick. Das bisschen Stahl müsste sich knacken lassen. Du bringst dich vor mir in Position, deine Fußsohlen auf meinen, damit ich dir den nötigen Schwung verpassen kann. Es wäre gut, wenn du dich ebenfalls mit den Beinen abstößt, aber pass auf, dass du dabei nicht die Bewegungsrichtung veränderst.«

Moto starrte sie entgeistert an. »Du willst mich als lebende Kanonenkugel benutzen, um die Tür zu sprengen?«

»Genau!« Erana grinste zufrieden. »Leg die Arme um den Kopf, roll dich zusammen und mach dich möglichst klein. Damit erhöht sich deine Durchschlagkraft.«

»Wir könnten es doch auch umgekehrt machen. Müsste es nicht auf dasselbe hinauslaufen, wenn Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist?«

»Theoretisch ja, aber praktisch gehe ich davon aus, dass ich dich zielgenauer schubsen kann als du mich. Außerdem hast du den Vorteil, dass du kleiner bist als ich. Das heißt, beim Aufprall entwickelst du mehr Kraft pro Quadratzentimeter.«

»Na toll! Das bedeutet gleichzeitig mehr Schmerz pro Quadratzentimeter! Danke, davon hatte ich heute bereits genug.«

»Willst du lieber abwarten, bis sich jemand bequemt, die Tür aufzubrechen oder aufzuschweißen? Stell dich nicht so an!«

Moto runzelte die Stirn. Außerdem hast du den Vorteil, dass du kleiner bist als ich. Erana hatte tatsächlich die optimale Lösung für ihr Problem gefunden. Sie hatte die Dinge so akzeptiert, wie sie waren, und handelte im Einklang mit den Gegebenheiten. Und das, was er zuvor als Schwäche gesehen hatte, war nun ein Vorteil, den sie zu ihren Gunsten nutzen konnten.

Er griff nach Eranas Beinen, hangelte sich bis zu ihren Füßen vor, legte seine Sohlen an ihre und krümmte sich zusammen.

Dann schloss Moto die Augen und konzentrierte sich, um eins mit der Welt zu werden.

Moto rieb sich den schmerzenden Schädel. Bis vor zwei Sekunden hatte alles wunderbar funktioniert. Erana hatte so gut gezielt, dass er mit dem gekrümmten Rücken ohne Verletzungen gegen die Tür gekracht war und sie aus der Verankerung gerissen hatte. Das Dumme war nur, dass im Korridor dahinter ausgerechnet in diesem Moment ein schwereloser Getränkeautomat hatte vorbeitreiben müssen. Obwohl Moto sich die Arme um den Kopf gelegt hatte, war die scharfe vordere Oberkante des Automaten mit dem hinteren linken Teil seiner Schädeldecke zusammengestoßen.

Er hielt sich benommen an der Maschine fest. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Erana durch den nun offenen Eingang zum Trainingsraum geflogen kam und sich am Türrahmen festhielt.

»Du musst dir keinen kompletten Getränkeautomaten zur Brust nehmen, wenn du einen kräftigenden Schluck brauchst«, bemerkte Erana grinsend. »Ein Becher hätte es auch getan. Obwohl in der Schwerelosigkeit eine gewisse Vorsicht beim Umgang mit offenen Flüssigkeiten angebracht wäre. Andererseits bezweifle ich, dass die Kiste überhaupt noch …«

»Könntest du bitte mal kurz deinen Sprechdurchfall unterdrücken!«, fiel Moto ihr mit ungewöhnlich ernstem Tonfall ins Wort. »Wenigstens für die Dauer einer Gedenksekunde.«

»Was …?«, setzte Erana an, dann verstummte sie.

Erschüttert starrte sie auf die Leiche des Ertrusers, die ein Stück weiter im Korridor hing und von einer Wolke aus roten Blutstropfen umkreist wurde.

»Was ist denn hier passiert?«, keuchte sie.

»Wie es scheint, haben wir beide verdammt großes Glück gehabt.« Er drehte sich zu ihr um. »Sollten wir versuchen, uns zu den Rettungsbooten durchzuschlagen?«

Erana legte den Kopf schief, als würde sie auf etwas horchen. »Ich glaube nicht, dass es noch schlimmer wird. Im Schiff ist es ungewöhnlich still geworden. Die meisten Aggregate sind offenbar ausgefallen oder abgeschaltet worden. Ich würde mich lieber zur Zentrale durchkämpfen. Wenn wir mehr wissen, können wir entscheiden, ob es besser ist, an Bord zu bleiben oder uns abzusetzen.«

Moto nickte. »Gut. Ich vertraue dem untrüglichen Instinkt einer erfahrenen Energietechnikerin.« Er stieß sich vom Getränkeautomaten ab und ließ sich durch den Korridor treiben. Dabei versuchte er, dem toten Ertruser auszuweichen, so gut es ging.

Sie kamen nur mühsam voran. Überall bot sich ein Bild der Verwüstung. Unterwegs stießen sie auf weitere Opfer. Für viele kam jede Rettung zu spät, und die meisten Verletzten hatten sich bereits selbst Erste Hilfe geleistet.

Erana hatte sich inzwischen mit einem schweren Kombistrahler bewaffnet. Wo sie nicht weiterkamen, brannte sie ein Loch in verklemmte oder verbogene Türen und Schotte.

Wenig später standen sie vor einem riesigen Trümmerhaufen. Der Korridor war auf mehreren Metern Länge von unvorstellbaren Kräften zusammengedrückt worden. Erana legte mit dem Strahler an und suchte nach der günstigsten Stelle für einen Durchbruch. Doch dann hielt Moto sie zurück.

Nun hörte auch Erana das Stöhnen, das aus dem Gewirr aus verbogenem Metall kam.

Gemeinsam packten sie an und entfernten die Trümmer. Vorsichtig setzte Erana den Desintegratorstrahl ihrer Waffe ein, wenn die Bauelemente und Maschinenteile selbst ihren Ertruserkräften trotzten.

Schließlich hatten sie ihren Kollegen freigelegt. Er war übel zugerichtet. Seine Knochenbrüche konnten sie nur notdürftig versorgen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass sich fähige Medotechniker um ihn kümmerten. Er war kaum in der Lage, sich zu bewegen, aber wenigstens schien er nicht in Lebensgefahr zu schweben.

Auch er hatte keine Ahnung, welche Art von Katastrophe die GARETH heimgesucht hatte. Er war auf dem Weg zur Freizeitabteilung gewesen und genauso davon überrascht worden wie Moto und Erana.

Hinter den weggeräumten Trümmern öffnete sich ein aufgerissenes Loch, durch das sie ins nächsthöhere Deck gelangten. Damit waren sie der Zentrale bereits ein gutes Stück nähergekommen.

Die GARETH war ein Kugelraumer der ERTRUS-Klasse mit einem Durchmesser von 200 Metern. Ursprünglich war das Schiff als Schwerer Kreuzer der TERRA-Klasse vom Stapel gelaufen und hatte unter dem Namen EX-8374 in der Explorerflotte des Solaren Imperiums gedient. Nachdem Threndor Carsual jr. im Jahr 2651 einen Staatstreich initiiert und die von Ertrusern besiedelten Welten die Unabhängigkeit vom Sternenreich ihrer terranischen Vorfahren erklärt hatten, waren auch zahlreiche Raumschiffe des Solaren Imperiums vom Carsualschen Bund konfisziert worden – vor allem solche, die bereits zuvor unter ertrusischem Kommando gestanden hatten. Im Zuge dieser Neuordnungen war auch der ungeliebte alte Begriff »TERRA-Klasse« durch eine den neuen politischen Verhältnissen angemessenere Typenbezeichnung ersetzt worden.

Um das genaue Baujahr der GARETH in Erfahrung zu bringen, hätte man sich lediglich an die Verwaltung der Explorerflotte auf Terra wenden müssen, aber ein Kontakt mit den verhassten »terranischen Zwergen« kam natürlich nicht in Frage. Fest stand nur, dass die Kugelhülle des Schiffs bereits mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel hatte. Etwa die Hälfte der technischen Einrichtung war nach und nach modernisiert worden, doch die Herkunft war nicht zu verleugnen. Insbesondere dann, wenn der Schriftzug »GARETH« wieder einmal abblätterte und darunter die Kennung »EX-8374« durchschimmerte.

Auch hinsichtlich der Mission war das Schiff seiner ursprünglichen Bestimmung treu geblieben. Im Auftrag des herrschenden Triumvirats auf Ertrus hatte sich die GARETH über die Grenzen des Carsualschen Bundes hinausgewagt, um einen bislang kaum beachteten Sternenhaufen zu erkunden. Es ging um die Suche nach geeigneten Siedlungswelten und nach Rohstoffen, in erster Linie Schwingquarze mit hyperphysikalischen Eigenschaften, die dringend für Lineartriebwerke, Hyperfunk und andere überlichtschnell arbeitende technische Geräte benötigt wurden. Die Jagd nach Ressourcen war gerade in der aktuellen Situation von entscheidender Bedeutung, in der die Machtbündnisse der Arkoniden, Akonen und Terraner sowie ihrer Abkömmlinge in der Milchstraße um die Vorherrschaft konkurrierten.

Bislang war die Expedition reine Routine gewesen. Sie hatten ein Sonnensystem nach dem anderen angeflogen, die Planeten kartographiert und mit aufwendigen Ortungsmethoden nach besonderen Rohstoffvorkommen gesucht – offenbar ohne nennenswerte Erfolge. Moto und Erana hatten von alldem kaum etwas mitbekommen. Sie war für die Wartung der internen Energieversorgung des Schiffs zuständig, er für den reibungslosen Betrieb der positronischen Steuerelemente. Bei verschiedenen Reparatureinsätzen waren sie sich immer wieder begegnet, bis sie ihr gemeinsames Reizthema gefunden und begonnen hatten, hitzige Diskussionen über den Wert von Kampfsportarten zu führen. Seitdem verband sie eine Art platonische Hassliebe, die sie beim geistigen und körperlichen Sparring auslebten.

Ihr Beruf brachte es mit sich, dass sie sich selbst in den abgelegenen Ecken und Winkeln der GARETH recht gut auskannten. So kamen sie trotz zahlreicher Hindernisse und Verwüstungen recht zügig voran. Wenn der direkte Weg durch die Korridore und Antigravschächte versperrt war, schnitten sie sich durch Wände, Böden oder Decken und nutzten Lager- oder Maschinenräume als Abkürzung.

Schließlich erreichten sie das offenstehende Schott zur Zentrale und traten hindurch.

»Was bei den Sternenhenkern ist das?«, keuchte Erana.

Im Raum drängten sich mindestens hundert Ertruser, über die Hälfte der Gesamtbesatzung. Auch hier gab es einige Tote und Verletzte, doch die meisten Besatzungsmitglieder starrten nur gebannt auf den großen Hauptbildschirm, der die Zentrale des Schweren Kreuzers dominierte.

»Es ist unglaublich schön …«, flüsterte Erana.

Moto riss sich vom Anblick des irritierenden Glitzerns los, das den Bildschirm erfüllte, und fuhr zu Erana herum. »Was ist plötzlich mit dir los?«

Erana antwortete nicht. Sie starrte genauso reglos wie die anderen Ertruser auf das Schauspiel. Auf ihrem breiten Gesicht lag ein Ausdruck der Verzückung, den Moto niemals zuvor an ihr gesehen hatte. Nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem triumphierenden Grinsen, wenn er von ihr wieder einmal auf die Matte geschickt worden war.

Er packte ihre Schultern und rüttelte sie durch. »Reiß dich zusammen! Du musst mir helfen!«

Die Ertruserin drückte ihn mit einem verhältnismäßig sanften Schubs weg und drehte sich wieder zum Bildschirm um.

Moto erkannte, was los war. Er verstand nicht, was es genau war oder warum es geschah, aber er wusste, wie er damit umgehen musste.

Auch er hatte den verlockenden Impuls verspürt, den das unerklärliche Glitzern auszuüben schien. Aber er zwang sich, ihm zu widerstehen. Hier ging irgendetwas Rätselhaftes vor, das einen unerklärlichen Einfluss auf die Besatzung der GARETH ausübte. Irgendjemand musste einen klaren Kopf behalten. Offenbar war er, der die Meditationstechniken des Da studiert hatte, der einzige, der sich diesem Einfluss entziehen konnte.

Er schloss kurz die Augen, versetzte sich in Konzentrationstrance und wiederholte im Geist unablässig das Mantra: Ich darf nicht zum Bildschirm blicken. Ich darf nicht zum Bildschirm blicken …

Moto öffnete die Augen und schaute sich in der Zentrale um, ohne den Bildschirm anzusehen. Auch hier hatte es schwere Schäden gegeben. Die Wände waren eingedellt, die Sitze für die Zentralebesatzung waren aus den Verankerungen gerissen, und einige der Konsolen schienen den Geist aufgegeben zu haben.

… nicht zum Bildschirm blicken …

Die Kontrolllampen der Triebwerkssteuerung und des Waffenleitstands waren erloschen. Die Lebenserhaltung und die Hauptpositronik schienen noch in Betrieb zu sein. Wenigstens etwas, das noch funktionierte.

Moto hangelte sich zwischen mehreren apathischen Ertrusern hindurch, um zur Kontrollkonsole der Positronik zu gelangen. Er versuchte einen Statusbericht abzurufen, aber der Bordrechner reagierte nicht. Offenbar war der Zugriff auf alle oder zumindest die meisten Funktionen durch einen Überrangbefehl gesperrt worden. Nur ein paar Werte mit fragwürdigem Informationsgehalt ließen sich abfragen. So erfuhr Moto überflüssigerweise, dass an Bord eine Temperatur von 27 Grad Celsius und eine Schwerkraft von null Gravos herrschten.

Es wäre für ihn kein allzu großes Problem gewesen, die Positronik in den Griff zu bekommen. Dazu musste er nur seinen Werkzeugkoffer holen, den Kasten auseinanderschrauben und die Systeme wieder auf die Standardwerte zurücksetzen. Aber diese Arbeit konnte durchaus mehrere Stunden beanspruchen, je nach dem, wie umfangreich die Sperren waren. Darum würde er sich vielleicht später kümmern.

Als Erstes ging es darum, das Schiff zu retten und der Besatzung zu helfen.

Hilfe … Das war das Stichwort.

Er verließ die Positronik und arbeitete sich zur Funkkonsole vor.

Ich darf nicht zum Bildschirm blicken …

Nach einigen Versuchen stand fest, dass auch die Funksteuerung gesperrt war. Aber in diesem Fall ließ sich das Problem einfacher lösen.

Moto schnappte sich ein herumfliegendes Metallstück, zwängte sich hinter die Konsole und setzte sein behelfsmäßiges Werkzeug als Hebel an. Die Verkleidung löste sich. Dann griff er zielsicher hinein und zog den Hauptstecker der Energieversorgung. Er wartete drei Sekunden ab und drückte ihn wieder in die Fassung.

Er wandte sich den Kontrollelementen zu und wartete ab, während sich die Funksteuerung automatisch reaktivierte. Durch die Unterbrechung waren alle vorherigen Befehle gelöscht worden und wurden nun durch die Standardwerte ersetzt.

Moto drückte drei Sekunden lang die Notruftaste.

Auf der Anzeige der Funkkonsole erschien eine Meldung: Befehl wird ausgeführt, sobald das System vollständig betriebsbereit ist. Bitte warten …

Moto zerbiss einen nicht druckreifen ertrusischen Fluch zwischen den Zähnen. Er konnte nur hoffen, dass der Kasten es schaffte, wieder den Betrieb aufzunehmen. Und dass der Hyperfunksender nichts abbekommen hatte …

Moto sah sich um.

… nicht zum Bildschirm blicken. Ich darf nicht …

Plötzlich wurde ihm klar, wie er der Besatzung helfen konnte. Er hatte das Mantra so sehr verinnerlicht, dass er die naheliegende Lösung völlig verdrängt hatte. Mit geschlossenen Augen wühlte er sich durch die Masse der Ertruser und näherte sich der Kontrollkonsole für den Hauptbildschirm.

Er musste ein paar Mal den Kurs korrigieren, doch irgendwann hatte er es geschafft. Blind tastete er über die Kontrollen und fand den Schalter, mit dem sich der große Bildschirm in der Zentrale desaktivieren ließ.

Vorsichtig öffnete Moto die Augen. Ein funkelndes, atemberaubendes, überirdisches Lichterspiel drang auf ihn ein. Ganz schnell presste er die Lider wieder zusammen.

Verdammt! Auch diese Konsole reagierte nicht mehr.

Also blieb ihm nur noch die Möglichkeit, irgendwie die Energiezufuhr für den Hauptbildschirm zu unterbrechen. Dazu musste er sich hinter die Konsole … nein, wenn er unmittelbar unter dem Bildschirm die Wandverkleidung aufbrach, gelangte er viel einfacher an die Energieleitung.

Mit noch immer geschlossenen Augen zog Moto sich über die Konsole und schätzte die Richtung ein, in die er sich bewegen musste. Er stieß sich ab und ließ sich im freien Fall treiben.

Plötzlich traf ihn ein heftiger Schlag ins Gesicht. Moto riss die Augen auf. Vor ihm hing ein Ertruser in der Luft. Der Mann ruderte mit den Armen, um die Besatzungsmitglieder zur Seite zu schieben, die ihm den Blick auf den Hauptbildschirm versperrten.

Moto drehte sich, und ein unglaublich schönes Schauspiel füllte sein gesamtes Blickfeld aus.

… nicht zum Bildschirm …

Ein Glitzern wie von tausend Glassplittern, im phantastischen Widerschein einer anderen Welt schimmernd.

Wie hatte er sich dem wunderbaren Anblick nur entziehen können? In diesem Licht lag die Antwort auf alle Fragen seines Daseins. Es versetzte ihn in einen wahrhaft höheren Bewusstseinszustand. Es war die Erfüllung all seiner Sehnsüchte, das Ziel all seines Strebens. Endlich hatte er es erreicht!

Satori …

Kapitel 1

Terrania, Imperium-Alpha

6. Februar 3122

Neben den wissenschaftlich dokumentierten Psi-Fähigkeiten der vorwiegend terranischen Mutanten gibt es eine Art von »alltäglichen« übersinnlichen Erscheinungen, die sich nach wie vor einer wissenschaftlichen Erforschung entziehen – die Ahnung des Todes eines nahen Verwandten oder das unerklärliche Vorwissen, welche Worte jemand als Nächstes sprechen wird. Diese Psi-Wahrnehmungen von »Nicht-Mutanten« ereignen sich unberechenbar und nur dann, wenn ein persönlicher Bezug zum Wahrgenommenen gegeben ist. Seit dem Auftreten der Mutanten, deren Psi-Fähigkeiten zuverlässig funktionieren, ist diese andere Art von parapsychologischen Phänomenen völlig aus dem Blickfeld der Wissenschaft gerückt.

Zenoch Uniel, »Gesammelte Aufsätze und Notizen«, herausgegeben vom Verlag des Instituts für Alternative Wissenschaften, Utopolis 3127.

»Verdammt!«

Wütend warf Decaree den Lippenstift gegen den Badezimmerspiegel. Doch das reflektierende Kunststoffmaterial zersprang nicht wie Glas in tausend Splitter. Auch der Hightech-Stift, der ein präzises Auftragen unterschiedlichster Farbnuancen ermöglichte, blieb ganz.

Decaree hätte sich gewünscht, dass wenigstens irgendetwas in diesem Hochsicherheitsbadezimmer zu Bruch gegangen wäre.

Mit einem Fluch hob sie den fingerlangen Stift vom Boden auf. Sie stellte ihn auf farblos und entfernte den orangefarbenen Strich, der über die Begrenzung der Lippen hinausging. Ihre Hand zitterte immer noch. Sie musste mehrmals ansetzen, bis sie den letzten Rest Farbe entfernt hatte. Besondere Schwierigkeiten machte das kleine Fältchen, das sich vom Mundwinkel nach unten zog und ihrem Gesicht einen grimmigen Ausdruck verlieh.

Nicht grimmig, sondern alt!

Kritisch musterte sie sich im Spiegel. Eigentlich sah sie immer noch recht attraktiv aus. Die schwarzen Haare trug sie im jugendlichen Modestil kurz geschnitten. Niemand ahnte, dass die ersten grauen Strähnchen nachgefärbt waren. Ihre Wechselkontaktlinsen, die normalerweise in unvorhersehbaren Abständen die Farbe änderten, hatten sie fest auf Bernsteingelb programmiert. Dieser Ton passte viel besser als ihre natürliche grüne Augenfarbe zu den irisierenden Rotnuancen ihres hautengen Techsuits. Das Stück hatte sie ein kleines Vermögen gekostet, da es nicht nur schick aussah, sondern tatsächlich als leichter Kampfanzug konstruiert war. Leider brachte die Montur ihre weiblichen Formen nicht besonders gut zur Geltung. Vor allem die ohnehin nicht sehr großen Brüste wurden flach an den Körper gepresst.

Ihr Blick konzentrierte sich wieder auf ihr Gesicht. Trotz der jugendlichen Frisur, der hellen, klaren Augen und der vollen Lippen waren die Spuren, die das Leben in ihren Zügen hinterlassen hatte, nicht zu übersehen. Die winzigen Fältchen in den Mundwinkeln, die ersten Ansätze von Krähenfüßen zwischen Augen und Schläfen, die leichten Grübelfalten über der Nasenwurzel …

»Ich bin 64 Jahre alt!«, sagte sie niedergeschlagen zu ihrem Spiegelbild.

Noch vor gut tausend Jahren waren die Menschen mit Mitte sechzig in den Ruhestand gegangen, um ihren Lebensabend zu genießen. Im 32. Jahrhundert konnten Terraner dank enormer medizinischer Fortschritte damit rechnen, ein Alter von 140 bis 150 Jahren zu erreichen. Das hieß, dass Decaree noch nicht einmal die Hälfte ihres Lebens hinter sich hatte. Ihr blieb noch ein halbes Jahrhundert Zeit, bis sie vielleicht den ersten Gedanken daran verschwenden konnte, die Pensionierung zu beantragen. Sie war eine Frau in der Blüte ihres Lebens.

»Ich bin 64 Jahre jung!«, antwortete ihr Spiegelbild trotzig.

Aber ging es ihr wirklich darum, möglichst lange zu leben? Warum war sie ausgerechnet in die USO eingetreten? Warum hatte sie sich vor drei Jahren sogar dem Risiko ausgesetzt, bei einem Außeneinsatz vorzeitig ins Gras zu beißen? Den größten Teil ihrer Dienstzeit hatte es hinter dem Schreibtisch verbracht. Sie hatte sich darauf spezialisiert, die Einsätze anderer Agenten zu organisieren und koordinieren, statt sich selbst in Gefahr zu begeben. Doch in letzter Zeit spürte sie eine zunehmende Unruhe. Sie wollte wieder aktiv sein.

Wurde sie unruhig, weil sie spürte, dass ihr nicht mehr allzu viel Zeit blieb?

Unsinn! Sie war nicht alt! Erst recht nicht im Vergleich zu Atlan, dem Arkonidenhäuptling, der bereits über 11.000 Jahre auf dem Buckel hatte. Und der ihr immer wieder deutlich gezeigt hatte, dass sie eine begehrenswerte Frau war.

Der Gedanke an den Lordadmiral versetzte ihr einen spürbaren Stich. Denn sein Interesse an ihr war nur die eine Seite der Medaille.

Dank seines lebenserhaltenden Zellaktivators war Atlans Körper in einem biologischen Alter von 43 Erdjahren »eingefroren« worden. Das bedeutete andersherum betrachtet, dass Atlan nur halb so alt war wie sie.

Und in zehn oder zwanzig oder fünfzig Jahren würde Atlan immer noch wie 43 aussehen …

Würde er sie noch begehren, wenn sie eine alte Frau war? Würde sie es an der Seite eines »jugendlichen« Liebhabers aushalten?

Ihre letzte Begegnung lag bereits über ein Jahr zurück. Schon da hatte er sie kaum beachtet. Allerdings war es um einen verpatzten Agenteneinsatz gegangen, der eine schnelle Reaktion erfordert hatte. Ihnen war überhaupt keine Zeit geblieben, sich auf privater Ebene näherzukommen.

Trotzdem spürte Decaree eine tiefe Verunsicherung. Wie würde es diesmal sein? Befanden sie sich wieder in einer der vielen Pausen ihrer langjährigen Affäre, oder war die Angelegenheit bereits beendet, ohne dass es einer von ihnen beiden ausgesprochen hatte? War sie für Atlan tatsächlich noch begehrenswert?

»Reiß dich gefälligst zusammen!«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Du bist nicht alt! Im Gegenteil: Du jammerst rum wie ein dummes sechzehnjähriges Schulmädchen!«

Darüber musste ihr Spiegelbild laut lachen. Plötzlich blitzte wieder die Lebensfreude einer unglaublich jungen Deca durch die bernsteingelben Kontaktlinsen. Sie warf den Kopf zurück, und das Haar schwang mit jugendlicher Straffheit vor und zurück. Die Fältchen in den Augen- und Mundwinkeln gaben ihrem Lachen etwas Schalkhaftes. Sie reckte die Schultern, und ihre festen Brüste zeichneten sich unter dem engen Techsuit ab.

»Wir schaffen das!«, sagte sie zuversichtlich.

Schließlich hatte Atlan in seiner Nachricht darauf bestanden, dass Decaree aktiv an diesem Einsatz teilnahm. Er war nicht auf nähere Einzelheiten eingegangen, aber er hatte durchblicken lassen, dass die Sache schwierig vorauszuplanen war. Er brauchte jemanden, der vor Ort qualifizierte Entscheidungen treffen konnte. Und dafür war sie genau die Richtige, wie er am Ende ausdrücklich betont hatte.

Sie setzte noch einmal den Lippenstift an. Zufrieden betrachtete sie das Ergebnis und nickte selbstbewusst ihrem Spiegelbild zu. »Auf in den Kampf!«

Decaree war kaum auf den Korridor vor ihrem kleinen Privatquartier getreten, als im nächsten Moment ein junger Mann mit zügigen Schritten auf sie zukam. Unwillkürlich griff sie an ihre Seite, bis sie sich erinnerte, dass sie unbewaffnet war. Bei den mehrfachen Sicherheitsüberprüfungen auf dem Weg ins Allerheiligste von Imperium-Alpha hatte sie alles abgeben müssen, was einem Menschen auch nur ansatzweise gefährlich werden konnte.

Übertreib’s nicht mit der Kampfbereitschaft, dachte sie. Trotz einer nicht zu leugnenden Rivalität befindest du dich hier nicht auf feindlichem Territorium. Wenigstens schien sie immer noch über gute Reflexe zu verfügen, obwohl sie die letzten paar Monate ausschließlich an ihrem Schreibtisch verbracht hatte.

»Miss Farou«, sprach der Mann in SolAb-Uniform sie an. »Ich bin Leutnant Tino Cassati, Ordonnanzoffizier von Solarmarschall Deighton. Ich soll Sie zur Besprechung mit dem Lordadmiral und dem Großadministrator bringen.«

Sie begrüßte ihn mit einem knappen Nicken. »Das wäre nicht nötig gewesen. Ich finde mich sehr gut im Labyrinth von Imperium-Alpha zurecht.«

»Der Solarmarschall hat darauf bestanden. Gehen wir.« Ohne auf Decarees Einverständnis zu warten, marschierte der Leutnant los.

Mit einem Schulterzucken folgte sie ihm. Als er an der nächsten Korridorkreuzung links abbog, blieb sie irritiert stehen. »Zum Besprechungsraum geht es in diese Richtung«, sagte sie und zeigte nach rechts.

Cassati sah sie über die Schulter an. »Ihr Orientierungssinn ist in der Tat bemerkenswert. In Ihrer Akte findet sich kein Hinweis, dass Sie Imperium-Alpha schon einmal besucht haben. Selbst langjährige Mitarbeiter der Solaren Abwehr verirren sich immer wieder in den zwölf Tiefetagen des Komplexes.«

»Sie vergessen, dass ich bestens mit Quinto-Center vertraut bin. Die dortigen Anlagen sind um ein Vielfaches größer als Imperium-Alpha. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass beide Kommandozentralen im 22. Jahrhundert errichtet wurden – fast zeitgleich und im Wesentlichen nach den gleichen Prinzipien. Selbst die kryptischen Orientierungssymbole an den Wänden sind dieselben.«

Sie biss sich auf die Zunge. Wollte sie als Nächstes die galaktischen Koordinaten des streng geheimen Hauptquartiers der USO ausplaudern? Ein Mitarbeiter der Solaren Abwehr war zweifellos vertrauenswürdig, aber eine Geheimagentin durfte sich einen solchen Lapsus eigentlich nicht erlauben.

»Ich verstehe.« Cassati deutete in den nach links führenden Gang. »Trotzdem bestehe ich auf diesem kleinen Umweg, da mein Auftrag lautet, die komplette USO-Delegation zu eskortieren. Ich müsste mit einer Verbannung in die Oort’sche Wolke rechnen, wenn ich den Lordadmiral vergessen würde.«

Atlan … Decaree wurde sich bewusst, dass sie insgeheim gehofft hatte, die Begegnung mit ihrem unmittelbaren Vorgesetzen und gelegentlichen Liebhaber so lange wie möglich hinauszuzögern. Hör auf, dich wie ein Schulmädchen zu benehmen! Du bist eine erwachsene Frau! Sie reckte die Schultern, nickte dem Ordonnanzoffizier zu und setzte sich in Bewegung. »Selbstverständlich, Leutnant.«

Kurz darauf hielt Cassati vor einer Tür an und betätigte den Summer.

Decaree verlangsamte ihre Schritte, blieb stehen und bemühte sich, eine möglichst entspannte Haltung anzunehmen.

Die Tür glitt auf, und ein Mann mit langen weißen Haaren und roten Augen blickte in den Korridor hinaus. »Ah, das Empfangskomitee!«

Atlan verließ sein Quartier und erwiderte lässig den militärischen Gruß der Ordonnanz. Dann ging er auf Decaree zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es freut mich, dass du meinem Ruf gefolgt bist und rechtzeitig nach Terrania kommen konntest. Gehen wir!«

Ohne auf eine Antwort von ihr zu warten, blickte er den Leutnant auffordernd an.

»Hier entlang.« Cassati zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und marschierte los.

Decaree fiel es mit einem Mal ungewöhnlich schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Nach wenigen Schritten drehte sich Atlan zu ihr um und wartete, bis sie ihn eingeholt hatte. »Alles in Ordnung?«, fragte er mit leicht gerunzelter Stirn.

»Natürlich … vielleicht bin ich nur ein bisschen eingerostet«, antwortete sie stockend. »In letzter Zeit habe ich kaum mein Büro in Quinto-Center verlassen.«

Atlan warf ihr einen gut gelaunten Seitenblick zu. »Könnte sein, dass du schon bald die Gelegenheit erhältst, die schlaff gewordenen Muskeln zu trainieren.«

»Entschuldige …« Decaree wandte sich ab und täuschte einen Niesanfall vor. Währenddessen rasten ihre Gedanken. Zuerst begrüßt er mich mit einer zaghaften Berührung und ein paar lapidaren Worten, und jetzt spielt er auf meinen gealterten Körper an! Deutlicher hätte er mir nicht sagen können, dass er nicht mehr an mir interessiert ist!

»Was ist los?«, erkundigte sich Atlan, wieder mit Sorgenfalten auf der Stirn.

»Nichts … es ist gleich vorbei.« Sie atmete einmal tief durch. »Offenbar irgendetwas in dieser Planetenatmosphäre, das mir in der Nase kitzelt.«

Reiß dich zusammen! Sonst kommt er noch auf die Idee, dich an deinen Schreibtisch zurückzuschicken. Oder dir eine vorzeitige Pensionierung vorzuschlagen …

Sie reckte die Schultern und zog mit energischen Schritten an ihm vorbei. »Worauf wartest du? Die anderen sind bestimmt schon ungeduldig.«

Decaree betrat den kleinen Konferenzraum als Letzte und blickte sich um. Fünf mal vier Meter, ein Tisch, knapp anderthalb Meter breit, zwei Meter lang, vier Stühle, kahle Wände, sonst nichts. Ein ungewöhnlich schlichtes Ambiente für eine Zusammenkunft von dieser Größenordnung.