Auf Skipalón: neue Islandgeschichten Nonnis - Jón Svensson - E-Book

Auf Skipalón: neue Islandgeschichten Nonnis E-Book

Jón Svensson

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Beschreibung

Es ist eine wilde Welt, die den Menschen auf Island alles abverlangt. Nonni wächst auf dem elterlichen Hof Mödruvellir in Nord-Island auf, doch schon der Weihnachtsbesuch auf Skipalón wird zu einem Abenteuer. Den Angriff zweier Eisbären wehren Nonni und sein Freund Baldur nur mit Hilfe des starken Gudmund ab. Und das ist nur der Anfang zahlreicher Ereignisse.ZUM AUTOR:Jón Stefán Sveinsson (1857 – 1944) war durch seine Nonni-Bücher einer der in Deutschland bekanntesten isländischen Schriftsteller. Er veröffentlichte seine Werke weltweit unter dem Namen Jón Svensson. Im Jahr 1870 verließ er Island. In Frankreich – nach dem deutsch-französischen Krieg - nahm er den katholischen Glauben an und trat in den Jesuitenorden ein. Seit 1906 schrieb er die 12 "Nonni-Bücher" über seine Jugend auf Island und sein späteres Leben und Wirken in Europa, USA und Japan in deutscher Sprache. Sie wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. -

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Jón Svensson

Auf Skipalón

Neue Islandgeschichten Nonnis

Saga

Der Weihnachtsbesuch auf Skipalón

Es war am Vormittag des 24. Dezember auf meinem elterlichen Hofe Mödruvellir in Nord-Island.

Ich sass in der kleinen Wohnstube und plauderte mit meinem kleinen Bruder Manni über Wind und Wetter und allerhand wichtige Dinge.

Da auf einmal hörten wir von draussen her ein dumpfes Geräusch.

Bum! Bum! Bum! dröhnte es an der Aussentür des Hofes....

„Ein Reisender!“ rief Manni aus und klatschte vor Freude in die Hände.

„Du hast recht, Manni“, sagte ich. „Es ist sicher ein Reisender, der angeklopft hat.“

Es musste in der Tat ein Fremder an den Hof gekommen sein, denn überall in Island ist es Brauch, dass ein fremder Gast sich durch drei kräftige Schläge mit seinem langen Reisestock an der hölzernen Giebelwand der Höfe nahe bei der Eingangstür anmeldet.

Ich sprang auf und lief nach der Türe des anstossenden Zimmers, wo meine Mutter und meine Schwester Bogga zusammensassen, um ihnen das merkwürdige Ereignis zu melden.

„Es ist ein Fremder da!“ rief ich in das Zimmer hinein.

„Ja, Nonni“, erwiderte meine Mutter, die schon aufgestanden war, „wir haben auch die Schläge gehört.“

„Mutter“, bat ich, „darf ich nicht mit Manni hinauslaufen, um zu sehen, wer angekommen ist?“

„Gewiss, Nonni“, antwortete freundlich die Mutter, „geht nur beide hinaus und führt den Gast in die Stube hinein. Ich werde ihn dort empfangen.“

Das liess ich mir nicht zweimal sagen.

„Manni“, rief ich meinem kleinen Bruder zu, „komm mit hinaus! Wir wollen den Gast in die Stube führen.“

Jubelnd sprang der Kleine zu mir hin. Ich nahm ihn bei der Hand, und so begaben wir uns beide zusammen in den dunkeln, leeren Gang, der nach aussen führte.

Es war aber draussen grimmig kalt, und gewaltige Mengen Schnee waren in den letzten Tagen von den grauen Wolken heruntergefallen.

Unsere stattlichen Hofgebäude waren schon zur Hälfte im Schnee begraben. Von den untern Fenstern unserer Wohnstube hatten die Schneemassen weggeschaufelt werden müssen.

Die Schneedecke wurde mit jedem Tage dicker, so dass man kaum mehr anders als auf Skiern eine Reise machen konnte. Deshalb waren wir auch so erstaunt, dass ein Reisender gerade jetzt an den Hof kommen konnte.

Während wir durch den Gang gingen, sagte ich zu meinem kleinen Bruder:

„Wer kann das doch sein, der bei einem solchen Wetter zu uns kommt?“

„Ja, wer könnte es wohl sein?“ antwortete Manni. „Draussen ist es so kalt, und es liegt soviel Schnee. Ich möchte nicht in dieser Kälte auf Reisen sein.“ Und im nächsten Augenblick blieb er stehen, hielt mich zurück und flüsterte mir ganz leise zu:

„Wer weiss, vielleicht ist es ein Gespenst, Nonni...!“

Diese Worte meines kleinen Bruders draussen in dem dunkeln Gang machten mich zuerst stutzig. Denn es gab auf dem Hof Leute, die wirklich an Gespenster glaubten. Doch ich ermannte mich gleich wieder und sagte beruhigend:

„Sei doch nicht so abergläubisch, Manni. Es gibt ja keine Gespenster! Das hat uns die Mutter schon sooft gesagt.“

Der Kleine liess sich beruhigen, hielt sich aber doch ganz dicht an meiner Seite.

So gingen wir voran, bis wir den kleinen Vorraum unmittelbar an der Ausgangstür erreicht hatten.

Ich schob den Riegel zurück, der die äussere Türe von innen schloss, und machte auf.

Als wir in grösster Spannung hinausschauten, sahen wir den Gast oben auf dem harten, weissen Schnee vor dem Eingang stehen.

Es war ein kräftiger Junge von etwa vierzehn bis fünfzehn Jahren. In der linken Hand hielt er einen langen hölzernen Stab, der mit einer eisernen Spitze versehen war. Er trug schwarze Kniehosen und eine schwarze Jacke, die mit einer doppelten Reihe grosser gelber Messingknöpfe fest um den Leib zusammengeknöpft war.

Auf dem Kopfe hatte er eine dunkelbraune isländische Schneehaube, die er bis an die Schultern heruntergezogen hatte. Sie bedeckte fast sein ganzes Gesicht und liess nur die Augen und die Nase frei. Ein paar schneedichte Strümpfe aus weisser isländischer Wolle schützten die Beine gegen den kalten Schnee. Er hatte sie bis weit über die Kniee hinaufgezogen.

An den Füssen trug er kleine, enganschliessende Schaflederschuhe, die mit dünnen Lederriemen um die Knöchel befestigt waren. Neben ihm auf dem Schnee lagen seine Skier.

Einige Augenblicke genügten mir, um alle diese kleinen Beobachtungen zu machen. Aber ich konnte mir doch nicht denken, wer er sei, da seine Schneehaube ihm fast das ganze Gesicht bedeckte. Als er aber zu sprechen begann, fuhr ich freudig zusammen; denn an dem Laut seiner Stimme erkannte ich sofort in ihm einen meiner besten Freunde: Baldur von Skipalon.

„Guten Tag, Nonni!“ rief Baldur mir munter zu, „ich komme von Skipalon herüber, um dich zu besuchen.“

„Wie mich das aber freut, Baldur!“ rief ich meinem Freund entgegen, während ich die Stufen aus hartgefrorenem Schnee hinauflief, die draussen vor dem Eingang durch die hohen Schneemassen von den Knechten des Hofes mit Schaufeln und Spaten gemacht worden waren. Manni folgte nach.

Unterdessen hatte Baldur seine Schneehaube heruntergenommen, und als ich ihn oben erreichte, umarmten wir uns, wie es auf Island Sitte ist, wobei ich ihm herzlich den Willkomm bei uns wünschte.

„Aber, Baldur“, fügte ich dann hinzu, „ist es wahr, dass du bei einem solchen Wetter hieher kommst, nur um mich zu besuchen?“

„Ja, gewiss ist es wahr, Nonni“, sagte Baldur und lachte munter dabei. „Ich habe sogar noch etwas für dich in der Tasche.“

„Etwas für mich in der Tasche?“ rief ich gespannt aus.

„Ja, Nonni. Und kannst du wohl auch raten, was es ist?“

„Ich glaube, es sind Rosinen, Baldur.“

„Nein, Nonni.“

„Sind es vielleicht Feigen?“

„Nein.“

„Dann ist es Kuchen.“

„Auch nicht.“

„Dann sind es wohl Spielsachen und Bilder?“

„Nichts von alledem, Nonni. Es ist etwas noch viel Schöneres.“

„Noch viel Schöneres! Was kann das denn sein?“

„Nonni, jetzt gehen wir mit Baldur hinein. Es ist hier so kalt“, unterbrach uns der kleine Manni.

„Du hast recht, Manni“, erwiderte ich und bat Baldur, uns zu folgen.

Er hob seine Skier auf und folgte uns die Schneestufen hinunter. In dem kleinen Vorraum stellte er die belden Skier und den Stab gegen die Wand und schüttelte dann sorgfältig den losen Schnee von seinen Kleidern und seinen Füssen.

Schnell machte ich die Aussentür wieder zu. Manni und ich nahmen sodann Baldur in die Mitte, um ihn durch den langen Gang in die warme Wohnstube hineinzuführen.

Wer war aber dieser frische, tapfere Junge, unser Besuch?

Baldur war der jüngste Hirtenbub auf dem schön gelegenen Hofe Skipalon.

Dieser Hof lag nur einige Kilometer von meiner Wohnung, dem grossen Hof Mödruvellir, entfernt, jenseits des reissenden Flusses Hörgá, im Norden Islands, nahe dem Ufer des Atlantischen Ozeans.

Da der Hausherr und die Hausmutter dort zu dem Freundeskreis meiner Eltern gehörten, wurde ich oftmals nach dem schönen Skipalon eingeladen, und ich hielt mich dort manchmal tagelang auf.

Ich kannte alle Leute auf dem Hofe und war mit ihnen allen gut Freund geworden.

Die gute Hausmutter war mir ganz besonders zugetan, und sie behandelte mich immer mit einer mütterlichen Liebe und Freundlichkeit, wie wenn ich ihr eigenes Kind gewesen wäre. Auch ich ehrte, achtete und liebte sie fast wie eine Muter.

Da sie eine sehr gottesfürchtige und verständige Frau war, freuten meine Eltern sich über diese Freundschaft und begünstigten sie.

Doch der beste aller meiner Freunde auf Skipalon war der jüngste der dortigen Hirtenbuben, Baldur. Seine Eltern waren wohlhabende, angesehene Leute. Sie hatten ihn nach Skipalon geschickt, damit er dort die Landwirtschaft lerne. Baldur war ein ausserordentlich begabter und geweckter Knabe, sehr höflich und bescheiden in seinem Auftreten und von einer Frische und Fröhlichkeit, dass er der Liebling aller war, die ihn kannten.

Er war fast doppelt so alt als ich. Ich war damals erst in meinem achten Jahre, er aber schon zwischen vierzehn und fünfzehn.

Meine Eltern hatten auch nichts gegen meine Freundschaft mit ihm. Sie wussten, dass ich in seiner Gesellschaft in Sicherheit war. Er hatte mich lieb und besuchte mich auf Mödruvellir, sooft er nur eine Gelegenheit fand.

Und wenn er zu uns auf Besuch kam, brachte er mir gern kleine Geschenke mit: bunte Bilder, Feigen, Rosinen und süsses Backwerk, ja sogar hie und da einmal ein schönes Büchlein mit goldenem Schnitt.

Und wenn ich mich auf Skipalon aufhielt, sorgte er sehr für mich und machte mir den Aufenthalt auf dem herrlichen Hof am Meer so angenehm, dass ich immer in Gefahr kam, noch länger dort zu bleiben, als es mir von meinen Eltern erlaubt worden war....

Doch kehren wir jetzt wieder in den dunkeln Gang zurück, durch welchen wir drei Knaben Hand in Hand nach der Wohnstube wandelten.

Zuerst gingen wir schweigend nebeneinander her. Dann aber fragte ich unsern jungen Gast:

„Aber nun sage mir doch, Baldur, was du in deiner Tasche hast!“

Baldur lachte und erwiderte:

„Das werde ich dir sagen, wenn wir in der Stube sind.“

„Warum sagst du es mir nicht gleich?“

„Weil du viel mehr Freude haben wirst, wenn du etwas darauf warten musst.“

„Ach, Baldur, ich glaube, dass ich noch viel mehr Freude haben werde, wenn du es mir jetzt gleich sagst!“

Wieder brach Baldur in sein munteres Lachen aus, blieb stehen und sagte:

„Nun gut, Nonni, wenn du das meinst, so will ich dich nicht länger plagen.“

Dann fasste er mich am Arm, näherte sich bis ganz dicht an mein Ohr heran und flüsterte mir geheimnisvoll zu:

„Ich bringe einen Brief mit von dem Hausvater von Skipalon.“

„Einen Brief von dem Hausvater von Skipalon? Aber dann gib ihn her, Baldur.“

„Nein, Nonni. Noch nicht. Ich soll ihn deiner Mutter geben.“

„Warum nicht mir?“

„Weil der Name deiner Mutter auf der Adresse steht.“

Jetzt waren wir bis an die Türe zur Wohnstube gelangt, und wir gingen hinein.

Baldur trat zu meiner Mutter hin, machte eine Verbeugung, gab ihr die Hand und grüsste sie.

„Willkommen, mein lieber Baldur!“ sagte meine Mutter freundlich zu ihm.

Dann gab Baldur auch meiner Schwester Bogga die Hand und wurde auch von ihr willkommen geheissen.

Unterdessen stellte ich einen Stuhl neben den Tisch und bat Baldur, Platz zu nehmen.

Als er sich gesetzt hatte, fragte meine Mutter:

„Was führt dich heute zu uns, mein lieber Baldur?“

Baldur zog den Brief aus seiner Tasche, übergab ihn meiner Mutter und sagte: „Ich soll Ihnen diesen Brief überbringen.“

„Danke dir, mein lieber Freund“, erwiderte die Mutter. Dann legte sie den Brief auf den Tisch und sagte:

„Bevor ich ihn lese, will ich dir aber etwas zu essen holen. Es ist so kalt draussen. Du wirst sicher hungrig und müde sein.“

„O nein“, sagte Baldur. „Ich bin gar nicht müde. Ich habe den ganzen Weg auf meinen Skiern gemacht. Es ging auf dem glatten Schnee leicht voran.“

„Eine kleine Stärkung wird dir doch gut tun“, sagte meine Mutter und ging mit Bogga aus der Stube hinaus.

Bald kamen sie wieder zurück und setzten dem Hirtenbuben einige Erfrischungen vor.

Während Baldur bescheiden an den ihm vorgesetzten Speisen sich stärkte, öffnete meine Mutter den Brief und las ihn zuerst leise vor sich hin.

Dann legte sie ihn auf den Tisch zurück, wandte sich zu mir hin und fragte:

„Weisst du, von wem der Brief ist, Nonni?“

„Ja, Mutter. Baldur hat mir schon gesagt, er sei von dem Hausvater von Skipalon.“

„Weisst du auch, was darin steht?“

„Nein, Mutter. Aber Baldur hat mir gesagt, dass der Hausvater etwas über mich geschrieben habe.“

„Ja, das hat er auch. Ich will dir gleich das Ganze vorlesen.“

Man kann sich denken, wie ich die Ohren spitzte, als meine Mutter den Brief wieder in die Hand nahm und las:

„Es würde mich sehr freuen, wenn Nonni zu uns nach Skipalon kommen wollte, um während der Weihnachtstage bei uns zu bleiben. Ich schlage vor, dass er mit Baldur gleich herüberkommt. Baldur kennt den Weg und ist ein sicherer Führer. Der Schnee ist so hart geworden, dass Nonni leicht darüber zu Fuss gehen kann. Der Hörgáfluss macht auch keine Schwierigkeiten. Er ist fest gefroren. Ich hoffe, dass Sie Ja sagen werden und dass Baldur heute nachmittag nicht allein, sondern zusammen mit dem kleinen Nonni hierher zurückkehren wird.“

Ja, Baldur hatte recht gehabt, das war für mich eine überaus angenehme Nachricht.

„Was sagst du zu diesem Brief, Nonni?“ fragte lächelnd meine Mutter.

„O, es ist ein schöner Brief, Mutter.“

Und da sie mich immer noch lächelnd anschaute, sprang ich zu ihr hin, schlang meine Arme um ihren Hals und sagte:

„Nicht wahr, liebe Mutter, du wirst mich doch mit Baldur nach Skipalon gehen lassen?“

„Hast du wirklich so grosse Lust, Nonni?“

„O ja, Mutter.“

„Und vor der Kälte ist dir nicht bange?“

„Aber Mutter, nicht im mindesten. Ich ziehe meine wollene Schneehaube über den Kopf. Dann sind meine Ohren und mein Gesicht geschützt. Und dann ziehe ich auch noch meine langen Schneestrümpfe an. Dann bleiben mir die Füsse warm und trocken. — O Mutter, lass mich doch gehen mit Baldur!“

Meine Mutter strich mir mit der Hand über die Haare und schaute hinaus durchs Fenster.

Der Himmel war aschgrau, und die schweren Schneewolken hingen tief herunter.

„Das Wetter ist nicht so ganz sicher, mein liebes Kind. Wenn ein Schneesturm euch überraschen würde, was dann?“

„Das würde nicht soviel machen. Baldur kennt ja den Weg so gut. Sei doch nicht so bange, Mutter!“

Als die Mutter noch zu zögern schien, wandte ich mich an Baldur:

„Meinst du nicht auch, Baldur, dass du den Weg selbst in einem Schneesturm finden würdest?“

„Doch, Nonni. Wenigstens hoffe ich es.“

„Siehst du, Mutter! Baldur ist gar nicht bange und ich auch nicht. — Nicht wahr, du erlaubst mir doch, mit ihm die schöne Reise zu machen?“

So bat und flehte ich, bis meine gute Mutter schliesslich nachgab. Doch bestimmte sie, dass wir nicht allein gehen sollten. Unser Knecht Gudmund sollte uns bis nach Skipalon begleiten.

Ich kann nicht beschreiben, wie glücklich ich war. Ich warf mich meiner Mutter noch einmal um den Hals und dankte ihr herzlich.

„Bogga“, sagte sie, „geh hinaus und sage Gudmund, er solle in die Wohnstube hereinkommen.“

Bogga lief in die Schreinerwerkstatt hinaus, wo Gudmund beschäftigt war, und sagte ihm, er solle zur Mutter hineinkommen.

Kurz darauf klopfte Gudmund an die Türe.

Schnell wie der Wind lief ich hin und öffnete, worauf Gudmund mit seiner schwarzen Pelzmütze in die Stube hineintrat.

Gudmund war ein sehr grosser und starker Mann. Er trug einen rabenschwarzen Vollbart. Auch seine Haare und Augen waren rabenschwarz.

Er hatte eine ungewöhnlich tiefe und starke Bassstimme. Wenn er rufen musste oder in Erregung kam, dann klang sie geradezu wie ein Donnergetöse. Er war übrigens ein friedlicher, gutmütiger und treuer Mann und unter den Leuten sehr beliebt.

„Gudmund“, redete meine Mutter ihn an, „wollen Sie mit den beiden Knaben Baldur und Nonni heute nachmittag nach Skipalon gehen?“

„Gewiss, Frau“, antwortete Gudmund mit seiner Donnerstimme. „Mann sollen wir aufbrechen?“

„Am liebsten bald, etwa in einer Stunde, während das Wetter noch einigermassen gut ist.“

„Nach einer Stunde bin ich bereit.“

„Baldur ist auf den Skiern hierher gekommen. Am besten nehmen Sie wohl auch Skier mit.“

„Jawohl, Frau. Das wird sicher das beste sein.“

„Nonni muss zu Fuss gehen. Er würde auf seinen kleinen Skiern nicht schnell genug vorankommen können.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, Frau, so werde ich ihn am liebsten bis Skipalon tragen.“

„Können Sie das? Werden Sie nicht zu müde?“

„Von Müdigkeit wird keine Rede sein. Ich werde den Jungen auf meiner Schulter sitzen lassen.“

„Wenn Sie das wollen, dann ist es gut. Ich weiss, Gudmund, dass ich mich auf Sie verlassen kann und dass Sie für die beiden Knaben gut sorgen werden.“

Der biedere, treue Knecht grüsste und ging aus der Stube hinaus.

Meine Mutter bat Bogga, mir vor der Abreise noch etwas zu essen zu geben. Darauf zog sie mir warme, wollene Kleider an und gab mir einige Ermahnungen mit auf den Weg.

Zuletzt schrieb sie an den Hausherrn von Skipalon einen kleinen Brief, den sie Baldur anvertraute. Dann war auch schon die Stunde des Abschieds da.

Meine Skier musste ich zu Hause lassen. Aber meinen kleinen eisenbeschlagenen Reisestock nahm ich mit.

Meine Mutter und Bogga begleiteten uns aus dem Hof hinaus.

Als wir die Schneestufen vor dem Ausgang hinaufgestiegen waren, stand Gudmund schon reisefertig da.

Er war wie ein Goliath anzuschauen. In der Rechten trug er einen sechs Fuss langen, sehr kräftigen Reisestab, der mit einer starken Eisenspitze versehen war. Wie wir Knaben, so trug auch er lange Schneestrümpfe aus weisser Wolle. Er hatte sie bis weit über die Kniee hinaufgezogen. Seine übrigen Kleider waren schwarz. Auch seine Schneehaube war aus schwarzer Wolle. Um den Leib trug er einen breiten Gürtel aus braunem Leder.

Wie eine Maus neben einem Elefanten, so kam ich mir selber an der Seite des riesig grossen Mannes vor.

Ja, Gudmund sah aus wie ein nordischer Held aus alten Zeiten.

„Nonni litli! (Du kleiner Nonni!)“ rief er mir mit seiner Donnerstimme zu. „Ich glaube, ich setze dich gleich auf meine Schulter hinauf. Da sitzest du am besten. Meinst du nicht auch?“

„Ich weiss nicht recht, Gudmund“, gab ich zur Antwort. „Am liebsten möchte ich zu Fuss gehen. Ich werde versuchen, schnell voran zu kommen.“

„Gut, Kleiner“, donnerte es zu mir hinunter, „du kannst es ja zuerst einmal versuchen.“

Jetzt zog ich meine Schneehaube ein wenig vom Munde hinauf und gab meiner Mutter, Bogga und Manni den Abschiedskuss.

„Ich wünsche dir ein schönes Weihnachtsfest, Nonni!“ rief Bogga mir nach.

Dankend winkte ich mit der Hand zurück.

Dann schritt ich, so rasch ich konnte, zwischen Gudmund und Baldur auf Skipalon zu.

Es wurde mir nicht leicht, mit den beiden Skiläufern Schritt zu halten. Ich musste mich sehr anstrengen, um einigermassen mitzukommen.

Schon nach kurzer Zeit wurde ich müde. Gudmund merkte es und schlug mir wieder vor, mich auf seine Schulter zu setzen.

„Nonni“, sagte er, „du bist ja schon ganz müde, und doch gehen wir nur langsam voran.“

„Das kommt daher, weil er noch so kurze Beine hat“, bemerkte neckend mein Freund Baldur.

„Ja, daher kommt es“, sagte Gudmund. „Deshalb wäre es jetzt an der Zeit, dich etwas auszuruhen. Meinst du nicht auch, mein Kleiner?“

„Ja, Gudmund“, erwiderte ich. „Jetzt können Sie mich auf Ihre Schulter setzen, damit ich etwas ausruhe.“

Kaum hatte ich diesen Wunsch geäussert, da beugte sich Gudmund zu mir herunter, fasste mich mit seinen grossen, starken Händen, und bevor ich mich auch nur besinnen konnte, sass ich oben auf der breiten Schulter des kräftigen Mannes.

„So, Nonni“, sagte er mit seiner Donnerstimme, „jetzt sollst du sehen, wie wir vorwärts kommen.“

Und in der Tat, die beiden tüchtigen Skiläufer, der kleine Baldur und der grosse Gudmund, flogen leicht über die glatten Schneefelder hinweg.

Ich musste mich in acht nehmen, um nicht von meinem hohen Sitz hinunterzufallen, besonders wenn die Skier wegen der Härte des festgefrorenen Schnees nach der Seite ausglitten.

„Halte dich gut fest an meinem Kopf, Kleiner!“ rief mir Gudmund zu.

Das tat ich auch schon. Ich umfasste den grossen Kopf vor mir mit beiden Armen. Dann und wann tat ich auch einen festen Griff in die wollene Schneehaube Gudmunds.

Trotz alledem war ich doch nicht ganz sicher auf meinem beweglichen Sitz, weil die Schultern und der Oberkörper meines Trägers oft so heftig nach allen Seiten hin schwankten und schlingerten.

Ich wurde hin und her geschüttelt, wie wenn ich mitten in einem Orkan hoch oben auf einem Baum gesessen hätte.

„Festhalten, Nonni“, fuhr Gudmund fort, mir dann und wann aufmunternd zuzurufen.

„Ja, ja, Gudmund“, rief ich jedesmal zurück und klammerte mich aus allen Kräften an seinem Kopf fest.

Einmal aber, bei einer ungewöhnlich raschen Wendung Gudmunds, verlor ich den Halt und fiel mit dem Oberkörper rücklings herunter. Doch blitzesschnell fasste er mich beim rechten Fuss und rettete mich im letzten Augenblick vor einem Kopfsprung auf die eisig harte Schneekruste.

„Nonni, Nonni!“ sagte Gudmund, während er mich den Kopf nach unten mit ausgestrecktem Arm beim Fuss hielt, „das darf nicht mehr geschehen, sonst brichst du dir noch den Hals, mein kleiner Freund.“

Baldur eilte auf mich zu, fasste mich bei den Armen und stellte mich auf den Schnee hinunter. Wir rasteten ein wenig.

„Hast du dir weh getan, Nonni?“ fragte Baldur.

„Nicht im geringsten“, erwiderte ich munter. „Aber es ist so schwer, mich festzuhalten, weil Gudmund so stark schüttelt.“

„Das lässt sich nicht vermeiden. Kleiner“, sagte Gudmund. „Wir werden aber etwas langsamer vorangehen, dann wirst du dich leichter festhalten können.“

„Ja, ja, das wird wohl das beste sein“, sagte Baldur.

„Dennoch musst du dich aber gut festhalten“, mahnte mich Gudmund.

„Das will ich auch tun“, sagte ich; „es ginge aber besser, wenn meine Beine irgend einen Halt hätten.“

„Aber stecken Sie doch seine Beine in Ihre Brusttasche“, schlug Baldur vor. Wir mussten alle drei über diesen Einfall Baldurs lachen.

„Dein Vorschlag ist aber gar nicht dumm“, sagte Gudmund.

Dann untersuchte er die äussere Brusttasche seines Rockes. Sie war so breit und so tief, dass meine beiden Füsse bequem darin Platz finden konnten.

„Aber, das wird ja sehr gut gehen“, sagte er. „Wir wollen es sofort probieren.“

Er hob mich mit seinen starken Armen in die Höhe und setzte mich an meinen früheren Platz. Dann nahm er meine Füsse und steckte sie in seine Brusttasche. Sie sanken bis weit über die Knöchel in die tiefe, warme Tasche hinein. „Wie geht es jetzt, Nonni?“ fragte Gudmund.

„Es geht ausgezeichnet“, erwiderte ich voll Freude, denn ich fühlte, dass ich jetzt ganz fest im „Sattel“ sass.

„Ihr könnt jetzt so schnell voranlaufen, als ihr wollt“, rief ich meinen beiden Freunden zu, „ich werde nicht mehr herunterfallen.“

Sie setzten sich wieder in Bewegung, und nun ging es in dem winterlichen Halbdunkel weiter über die hügelige Schneelandschaft voran.

Diesmal hatte ich keine so grosse Mühe mehr, mich an meinem Platz festzuhalten.

Gudmund nahm sich auch sehr in acht, um mich nicht wieder abzuschütteln.

Die Fahrt ging gut vonstatten, und ich hatte eine grosse Freude an der eigentümlichen winterlichen Reise.

Bald kamen wir an einen grösseren Hügel heran. Die beiden tüchtigen Skiläufer stiegen von den Skiern ab und mussten den Hügel zu Fuss erklimmen. Auch ich bat Gudmund, mich von seiner Schulter herunterzunehmen, was er gleich tat. Um meine Beine wieder etwas zu bewegen, wollte ich auch mit ihnen den Hügel zu Fuss besteigen.

Baldur und Gudmund banden eine dünne Schnur vorn an ihren Skiern fest und zogen sie hinter sich den Hügel hinauf.

Als wir oben angekommen waren, machten wir eine kurze Rast.

Vor uns tief unten lag der breite, reissende Hörgáfluss, ganz mit Eis und Schnee zugedeckt. Gegen Osten sahen wir den Atlantischen Ozean in kurzer Entfernung.

Zwischen dem Fluss und dem Meeresstrande waren in der weiten Schneedecke einige kleine Erhöhungen zu schauen. Es waren die Hofgebäude von Skipalon.

„Siehst du, Nonni“, rief mir Gudmund zu, indem er mit der Hand auf die kleinen Erhöhungen deutete, „da ist das Ziel unserer Reise.“

Ich hatte noch nie den schönen Hof in einer solchen Gestalt gesehen.

Wir hatten nur noch die Anhöhe in sausender Fahrt auf den Skiern hinunterzugleiten, darauf eine kleine Ebene bis zum Fluss zu durchqueren, dann kam der Fluss selber und jenseits desselben die jetzt schneebedeckten Wiesen von Skipalon.

„In einer guten Viertelstunde werden wir in Skipalon sein“, meinte Baldur.

Gudmund sagte nichts. Er betrachtete mit aufmerksamer Miene das grosse Meer jenseits des Hofes. Auch Baldur warf jetzt aufmerksame Blicke nach dem Meere hin. Auf einmal rief er aus:

„Das ist aber merkwürdig, die Eisberge sind da!“

„So, kannst du sie auch sehen, Baldur?“ fragte Gudmund.

„Aber gewiss. Siehst du sie nicht auch, Nonni?“

Ich strengte daraufhin meine Augen an und sah nun auch durch den aschgrauen Meeresnebel etwas wie eine blendend weisse Hügellandschaft draussen mitten im Wasser. Sie schimmerte so seltsam durch den Nebel von der weiten Meeresoberfläche her.

„Bis jetzt haben wir auf Mödruvellir nichts von der Ankunft der Eisberge gehört“, bemerkte Gudmund.

„Es ist doch sonderbar“, sagte Baldur; „als ich heute morgen von Skipalon wegzog, waren sie noch nicht da.“

„Dann sind sie eben jetzt angekommen. Morgen wird der ganze Golf Eyjafjördur voll davon sein“, erwiderte Gudmund.

„Wie freut es mich doch“, rief ich entzückt aus, „dass die Eisberge nach Skipalon gekommen sind! Ich werde jeden Tag an den Strand gehen und auf die schönsten und höchsten von ihnen hinaufklettern!“

„Das lässt du lieber bleiben, mein kleiner Freund“, warnte mich Gudmund.

„Aber warum denn das?“ fragte ich enttäuscht.

„Weil Gefahren damit verbunden sind“, erwiderte er.

„Aber ich bin doch kein kleines Kind mehr, Gudmund. Ich bin nun doch schon über sieben Jahre alt.“

Gudmund und Baldur schauten mich freundlich an, mussten aber beide laut lachen. Ein klein wenig ärgerlich rief ich aus: „Ich bin gar nicht bange vor den Eisbergen.“

„Das will ich dir gern glauben, du kleiner siebenjähriger Held“, antwortete Gudmund. „Die Eisberge machen dich nicht bange. Aber die Tiere, welche auf den Eisbergen leben; hast du keine Furcht vor ihnen?“

„Was sind das für Tiere?“

„Das sind die Seelöwen, die Seehunde und die Eisbären. Was würdest du machen, wenn du auf dem Eise einem hungrigen Eisbären begegnetest?“

„Dann würde ich schnell nach Hause laufen.“

„Die Eisbären laufen aber auch schnell, Nonni. Ich rate dir, sorge lieber dafür, dass du ihnen nicht zu nahe kommst.“

Bei diesen warnenden Worten Gudmunds kamen mir einige Geschichten in den Sinn, die ich zu Haus von diesen gefährlichen Raubtieren gehört hatte: wie sie zuweilen ans Land kommen und alles in Stücke reissen, was ihnen begegnet, sowohl Menschen wie Tiere. — Ich erinnerte mich auch, gehört zu haben, dass sie mitunter schwimmend ans Land gekommen seien, bevor noch die Eisberge sich gezeigt hätten, soweit könnten sie durchs offene Meer schwimmen.

Ich wurde daher etwas kleinlauter und fragte: „Meinen Sie, Gudmund, dass auch jetzt Eisbären auf dem Eise sind?“

„Gewiss, Nonni, es sind fast immer welche da.“

„Dann werde ich mich aber in acht nehmen.“

„Daran wirst du gut tun, mein kleiner Freund. Mit den Eisbären ist nicht zu spassen.“

So standen wir noch eine kleine Weile da, ruhten etwas aus und sprachen von den Eisbären.

Warum wir gerade von Eisbären soviel miteinander sprachen, weiss ich nicht, aber das weiss ich mit Sicherheit, dass keiner von uns in diesem Augenblick daran dachte, wir könnten jetzt auf der kurzen Strecke, die uns noch von Skipalon trennte, diesen gefährlichen Raubtieren begegnen. Und hätte man uns vor diesen schrecklichen Tieren gewarnt, wir hätten sicher über solche Warnungen gelächelt.

Nach einer kleinen Weile machte Gudmund unsern Gesprächen ein Ende durch die Worte: „Jetzt wollen wir aber weitergehen. Ich muss noch heute abend nach Mödruvellir zurückkehren.“

Er nahm seinen Stab, den er in den Schnee gesteckt hatte, und bestieg wieder seine Skier. Baldur tat das gleiche.

Dann packte mich der starke Mann, wie wenn ich eine leichte Feder gewesen wäre, und setzte mich auf seine Schulter zurück. Ich steckte wieder die Füsse in seine Brusttasche hinein und hielt mich mit beiden Händen an seinem Kopfe fest.

„Jetzt wird es aber rasch gehen, Nonni“, rief Baldur zu mir hinauf.

Den langen Stab vorsichtig in beiden Händen haltend, setzten sich die Skiläufer wieder in Bewegung. Bald glitten die Skier blitzschnell den Hügel hinunter nach dem Flusse zu.

Der Luftdruck war so stark, dass ich beide Augen schliessen musste. Dabei hatte ich das Gefühl, als müsste ich durch das überaus schnelle Hinuntersausen ersticken.

Doch sehr bald waren wir den Hügelabhang hinuntergeschossen und auf der flachen Ebene vor dem Fluss angelangt. Wir behielten dort unten noch eine Zeit lang die schnelle Vorwärtsbewegung des Hinuntergleitens bei und hatten uns bald dem Flusse auf etwa zehn bis zwanzig Meter genähert — da auf einmal stiess Gudmund mit seiner Donnerstimme einen furchtbaren Schrei aus:

„Halt, Baldur! Halt!“ Gleichzeitig bremste er mit dem Stab und machte selber eine solche Anstrengung, um auf der Stelle halten zu können, dass ich beinahe heruntergefallen wäre.

Baldur, der einige Meter rechts von uns auf seinen leichten Skiern voranglitt, konnte nicht so schnell halten. Er schoss in rascher Fahrt bis zum Flussufer hin und glitt sofort in das zugefrorene Flussbett hinunter. Hier gelang es ihm endlich, haltzumachen.

Schnell bog Gudmund nach rechts auf Baldur zu und erreichte ihn einige Augenblicke später.