Beyond Light - Ins Licht - Martina Wilms - E-Book
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Beyond Light - Ins Licht E-Book

Martina Wilms

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Beschreibung

Das Leben kann so scheiße sein und doch so wunderschön - und wie so oft ist es beides zugleich. Und es ist kurz, vielleicht auch für Lucas, für mich … zu kurz, um es zu verschwenden. Wieder hat Lucas Mella verlassen, und mehr denn je muss sie sich fragen, ob sie ihren Wächter jemals richtig gekannt hat. War dieser Mistkerl irgendwann einmal ehrlich zu ihr? Und wie kann er es wagen, an der Seite des Mannes zu stehen, der angeblich sein Leben zerstörte - und auch nicht davor Halt macht, Mella und ihre Freunde zu jagen? In den Wirren von Kämpfen und Tod treffen sie sich wieder - auf gegnerischen Seiten …

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Copyright 2024 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Covergestaltung: Jaqueline Kropmanns

ISBN: 978-3-910615-48-9

Alle Rechte vorbehalten

Für alle, die mich lieben und die ich liebe.

Denn die Liebe ist die stärkste aller Superkräfte.

Inhalt

Triggerwarnung

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Danke.

Triggerwarnung

Dark Romantasy enthält sowohl Romance- als auch Erotikelemente, setzt sich zudem aber auch mit düsteren, schweren Themen wie Gewalt, Folter, (Selbst-) Mord, Trauer und tiefsten menschlichen Abgründen auseinander.

Sollten eines oder mehrere Themen dieser Liste bei dir Unwohlsein auslösen oder Traumata triggern, sei beim Lesen bitte vorsichtig..

1

Kühle Frische flutet meine Lungenflügel und es fühlt sich herrlich an. Als wüsste ich das Gefühl zu Atmen erst richtig zu schätzen, seit ich kein Mensch mehr bin.

Eine Windböe braust vom Meer herauf und zerrt an meinem Haar. Tief sauge ich die salzige Luft ein und schließe meine Augen. Herrlich. Wenn ich jetzt die Arme ausbreite und einen Schritt nach vorn mache, stürze ich vierzig Meter in die Tiefe. Freiheit und Endlichkeit. Und das war’s dann.

»Wird das heute noch was?« Der Wind zerreißt Toms Stimme in Fetzen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen drehe ich mich zu ihm um. In der prallen Sonne steht er da, mitten auf der Lichtung, die Knie ein wenig gebeugt. Vergeblich versucht der Wind, sein weizenfarbenes Haar zu greifen. Die Augen zusammengekniffen, winkt er mich mit beiden Händen zu sich. »Komm schon. Greif mich an.«

Aus dem Stand spurte ich los, schlage ein paar Haken, um ihn zu verwirren, ducke mich weg und ramme ihm meinen Kopf in den Bauch.

Nun ja.

Zumindest versuche ich das.

Im letzten Moment dreht Tom sich zur Seite und rutscht auf den Zehenspitzen ein paar Zentimeter zurück wie ein Tänzer.

Der Aufprall presst mir alle Luft aus der Lunge. Unbeeindruckt von meiner Meisterleistung singen und toben die Vögel in ihren Bäumen, weit über mir.

»Das muss besser werden.« Tom packt von hinten meinen Hosenbund und zieht mich hoch wie eine Puppe. »Du bist unkonzentriert, Mella.«

Ich lasse mich auf den Hintern plumpsen. »Wie soll ich mich auch konzentrieren, wenn dieser … dieser elende Scheißkerl …« Ich breche ab und fische mir Moosreste aus dem Haar.

Tom stemmt die Hände in die Hüften. »Du bist wohl immer noch sauer auf ihn.«

»Sauer?« Ich schnaube. »Das ist gar kein Ausdruck. Er stirbt, er kommt zurück, er sagt mir, dass er mich liebt, und dann verpisst er sich klammheimlich. Nein, ich bin nicht sauer. Ich bin stinkwütend!«

»Du bist verletzt, das verstehe ich.«

»Ich glaube nicht, dass du das verstehst.« Kaum merklich schüttele ich den Kopf, atme einmal tief durch. »Ich bin schon aus vielen Gründen verlassen worden, Tom. Die meisten davon trugen Frauennamen. Aber aus Liebe bin ich noch nie verlassen worden. Und ich akzeptiere es auch nicht.«

Tom streckt mir seine Hand hin. Ich greife sie und lasse mich von ihm auf die Füße ziehen, auch wenn meine linke Schulter vor Schmerz pulsiert.

»Hast du versucht ihn anzurufen?«

Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. »Du etwa nicht?«

Er seufzt. »An die hundert Mal, schätze ich.«

Vielsagend hebe ich die Augenbrauen. »So wie ich. Und jeder Anruf klingelt durch. Er hat keine meiner Nachrichten beantwortet.«

Tom zuckt mit den Schultern. »Wer weiß, ob er das Handy überhaupt noch hat.«

Wieder schnaube ich. »Wer weiß, ob er überhaupt noch irgendein Geschirrteil im Schrank hat!« Ich wende mich ab und gehe die paar Schritte zum Rand der Klippe zurück, schaue hinunter auf das tobende Meer. »Er liest sie, Tom. Jedes verfluchte einzelne Wort, immer erscheinen irgendwann diese blauen Häkchen. Aber er antwortet nicht.« Der Wind treibt mir die Tränen in die Augen und wütend wische ich sie weg. »Ich habe keine Ahnung, was in ihn gefahren ist.«

Tom tritt neben mich, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. »Vermutlich wollte er dich beschützen.«

»Er kann mich nicht schützen. Nicht auf diese Weise. Wir sind miteinander verbunden, so lange wir existieren – Wächter und Schützling, und genauso lange werden wir eine Gefahr füreinander sein.« Ich für sein Leben, er für mein Herz.

Tom sucht irgendetwas am Horizont. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Es wird sich alles aufklären.«

Ich lasse den Kopf sinken. Tief unter uns vermischt sich weißer Schaum mit blaugrauen Wellen, wild und weit und wunderbar. »Die Frage ist nur, wann, Tom. Jeden Tag diese Angst, dass Christopher nicht mehr da sein könnte. Jeden Tag aufs Neue die Hoffnung, Lucas könnte zurückkommen. Jede Nacht, wenn ich das Licht lösche, dieser Schmerz, dass er es nicht getan hat.«

Unvermittelt packt mich Tom bei den Schultern und dreht mich zu sich. »Dann nimm diese Wut und greif mich an.« Sein Blick ist tief und ernst, fast so, als wollte er mich hypnotisieren. »Komm schon, Mella. Du gibst doch nicht auf, oder? Jeder, aber nicht du!« Auf einmal ist er weg, sprintet quer über die Lichtung zu dem kleinen Waldsee und wartet im Schatten der hohen Bäume auf mich, drohend die Knie gebeugt.

Und wieder stürme ich los, sammle all das, was in mir brodelt und packe es in meine Muskeln, in meine Lunge. Wohin wird er diesmal ausweichen? Ich muss seine Schritte vorhersehen, seine Gedanken, um ihn erwischen zu können. Sein Gewicht ist auf dem rechten Fuß, also wird er in diese Richtung –

Er macht einen Satz in die exakt andere Richtung, verpasst mir einen leichten Klaps auf den Hinterkopf, und schlagartig ist alles um mich herum schwarz und ganz still. Die Vögel, das Rauschen der Blätter im Wind … alles ist verstummt. Als hätte jemand die Sonne ausgeknipst und sämtliches Leben ausgelöscht.

Mit weit ausgebreiteten Armen stehe ich da, versuche, den Schwindel abzuwehren, der mich zu überfallen droht. Wo zum Teufel bin ich? Wo ist Tom?

»Was, wenn ich dich jetzt angreife?« Wie durch Watte dringen Toms Worte an mein linkes Ohr. »Könntest du dich wehren?« Er versetzt mir einen leichten Schubs gegen die rechte Schulter, und ich keuche auf, fahre herum. Mit einem leichten Schmatzen versinken meine Schuhe in morastigem Boden. Ich rudere mit beiden Armen in der Luft und kann es nur mit Mühe verhindern, das Gleichgewicht zu verlieren.

»Noch ein bisschen und du liegst im See.« Er klingt viel zu amüsiert für meinen Geschmack.

Ich hole aus und greife ins Leere. »Verdammte Scheiße, das ist unfair, Tom! Du setzt deine Kräfte ein!«

»Erwarte nicht, dass Julians Leute fair spielen«, raunt er in mein rechtes Ohr. »Genau so wird es sein, wenn du nachts allein im Wald bist. Orientierungslos und verloren. Also konzentrier dich, Mella.«

Ich stöhne auf. »Nein, so wird es nicht sein, Tom. Ich bin in deinem Schatten, und du holst mich jetzt sofort da raus!«

»Mein Schatten ist in dir.« Wieder hat er auf die andere Seite gewechselt. Himmel, ich kann weder spüren, wo er ist, noch habe ich irgendeine Ahnung, was er vorhat. »Deshalb bist du blind und taub.«

»Dann hol ihn gefälligst aus mir raus, sonst verpasse ich dir einen Stromschlag, der sich gewaschen hat!«

»Wenn dich der Schatten eines anderen berührt, sind deine Kräfte auf Standby, Mella.« Er berührt meine Wange, und das Licht geht wieder an. Sein Blick ruht ernst auf mir. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du musst dich mehr anstrengen, sonst bist du Julians Leuten wehrlos ausgeliefert.«

Die Vögel kreischen auf ihren Ästen. Am liebsten würde ich sie da herunterschießen, einen nach dem anderen.

»Ich bin kein naives, hilfloses Baby, verdammt!« Bevor Tom auch nur über eine Antwort nachdenken kann, springe ich ihn an und reiße ihn um. Und dann sitze ich auf ihm, ein Knie in seinen Solarplexus gerammt, zwei Lichtbälle in meinen Händen. »Denkst du nicht?« Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Das ist … unfair …«, keucht er unter mir, die Hände über seinem Kopf wie ein Baby im Schlaf. Er weiß, wie sich meine Stromschläge anfühlen – daher widersteht er der Versuchung, mich zu berühren.

»Erwarte nicht, dass ich fair spiele, wenn es auch sonst niemand tut.« Die Energie versickert in meinem Körper wie Wasser auf heißem Sand. Jede meiner Zellen schwingt in einem angenehmen Rhythmus, strotzt vor Kraft. »Ich werde immer einen Weg finden.«

Tom rappelt sich unter mir auf. »Indem du wie ein fleischgewordenes Flutlicht durch die Dunkelheit rennst und ausnahmslos jede Aufmerksamkeit auf dich ziehst?«

Ich zucke mit den Schultern. »Würde sich dann jemand in meine Nähe wagen? Ich denke, ich …«

Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche, und Toms scheint in dieser Sekunde dasselbe zu tun. Nahezu gleichzeitig ziehen wir die Telefone hervor.

Eine Nachricht von Christopher. Großer Saal. SOFORT.

»Da ist etwas passiert.« Toms Blick ist zu geschockt, als dass ich ruhig bleiben könnte. »Er hätte es sonst mir überlassen, euch zu rufen.«

Ich springe auf und stelle mich in die pralle Sonne, gebe mich der Energie hin, die mich wärmt, erfüllt, die mich einspinnt in Fäden aus Licht und mit sich fortträgt, gerade in dem Moment, als Tom die Felsspalte erreicht, um dort mit seinen Schatten zu verschmelzen.

Ich manifestiere mich direkt neben der bunten Glastür, die von der Eingangshalle des Herrenhauses in den Park führt. Fast stoße ich mit Tom zusammen, der aus der kleinen Kammer unter der Treppe kommt – der Kammer, in der Lucas mich zum ersten Mal mit in die Schatten nahm.

Doch für Sentimentalitäten ist jetzt keine Zeit. Seite an Seite durchqueren wir die Eingangshalle und rennen den breiten Flur entlang, der in den Konferenzsaal mündet, und wie immer sackt mein Magen zehn Zentimeter in die Tiefe, als ich meinen Vater hinter dem breiten Holztisch sehe.

Er ist noch hier.

Lucas ist am Leben.

»Christopher, was …« Mit beiden Händen stützt Tom sich an der Lehne eines schweren Stuhls ab und versucht, wieder zu Atem zu kommen.

Christopher wartet nicht erst darauf, dass er weiterredet. »Sie haben sich Lisa geholt, Tom.«

»Lisa«, keucht Xaver zu meiner Linken. »Wie konnte das passieren?«

»Wie konnte das passieren! Wie konnte das passieren!«, donnert mein Vater. »Scheißegal, wie das passieren konnte! Wir haben es auf den Kameras, verflucht! Sie haben sie direkt aus der Tiefgarage gepflückt wie einen reifen Apfel.«

»Hat man gesehen, wer es war?« Tom scheint alle Strapazen vergessen zu haben.

»Ein Schattenwandler. Er hat sie in seine Schatten gezerrt, bevor sie auch nur Piep sagen konnte.« Mit einem tiefen Stöhnen fährt mein Vater sich durch die kinnlangen grauen Strähnen und schleppt sich zum Fenster. »Julian ist bereit zu verhandeln.«

Totenstill ist es im Konferenzsaal.

Tom starrt ihn an. »Du willst darauf eingehen?«

Christopher zuckt mit den Schultern, kraftlos. »Habe ich denn eine Wahl?«

Lautstark schiebt Olaf seinen Stuhl zurück. »Seit wann verhandeln wir mit dem Feind?«

»Willst du sie ihnen überlassen, oder was?« Xaver versetzt ihm einen Stoß gegen die Brust, so dass Olaf zwei Schritte zurücktaumelt. »Denk nach, Mann, sie ist eine von uns!«

»Was will er? Oder …« Tom verengt die Augen. »Wen?«

»Millner.« Christopher seufzt und schlurft zu seinem Stuhl am Kopfende des gewaltigen Tisches, ganz der alte Mann, der er eigentlich sein müsste.

»Millner!« Tom schüttelt den Kopf, einen fassungslosen Ausdruck auf dem Gesicht. »Du willst ihm seinen wichtigsten Taktiker zurückgeben? Den gefährlichsten in seiner Sammlung?«

Christopher windet sich auf seinem Stuhl. »Lisa ist unsere IT-Spezialistin. Es ist ein schlechter Witz, dass ausgerechnet das Überwachungssystem, das sie eingebaut hat, als erste Aufnahme ihre Entführung festhält. Wir brauchen sie, verdammt!« Er lässt den Blick durch die Runde schweifen. »Wir brauchen jeden von euch.«

Mit vor der Brust verschränkten Armen stellt sich Aaron an meine Seite. »Und wann soll das Ganze stattfinden?«

»In zwei Stunden.« Christopher atmet einmal tief durch. »Verflucht, ich hasse es, dass dieser Wichser mich ständig herumschubst!«

Kniehohe Gräser wiegen sich im Meereswind, glänzen im orangeroten Licht der untergehenden Sonne. Gebückt huschen wir durch die Dünen, nur begleitet von dem leisen Rascheln unserer Schuhsohlen auf dem feinen weißen Sand und dem vereinzelten Keuchen eines mehr als untrainierten Umbracoren.

Okay, vielleicht bin ich das auch selbst.

Tom schleicht vor uns her wie eine Katze, jeder Schritt sitzt, kein Straucheln, keine schnellen Bewegungen. Aaron ist ganz in meiner Nähe, und ich bin dankbar dafür. Mein Puls pocht in meinem Hals. Angst … immerzu Angst, vor allem, vor jedem.

Keine Ahnung, wie weit wir noch laufen müssen, bis wir endlich …

»Was tut ihr da?« Julians Stimme schnarrt durch die Dämmerung, direkt in unserem Rücken.

Ich fahre herum.

Gelassen steht er da, kaum fünfzig Meter von uns entfernt. Sachte weht der Wind vom Meer her, spielt mit seinem dunklen Trenchcoat. »Früher habe ich jedes Versteckspiel gewonnen, und ich würde behaupten, ich bin immer noch sehr gut darin. Im Gegensatz zu euch. Ihr scheint die Regeln nicht ganz verstanden zu haben.«

Langsam, wie in einem Albtraum, treten immer mehr seiner Leute hinter ihm hervor, bis der Horizont dunkel ist von Umbracoren. Vierzig, fünfzig – viel zu viele für uns. Ich spüre Aaron dicht neben mir, breit wie ein Baum, bereit, anzugreifen.

Mit dem letzten Licht der Dämmerung lasse ich zwei Lichtkugeln entstehen, und natürlich bemerkt Julian sie sofort. Seine kalten blauen Augen bohren sich in meine, und aus irgendeinem Grund sehe ich eine diebische Freude darin.

»Verstecken macht wenig Sinn, wenn es nichts gibt, hinter dem man sich verstecken kann.« Nervtötend langsam verschränkt er die Arme vor der Brust, die Lippen zu einem süffisanten Lächeln verzogen. »Oder jemanden.«

Er dreht sich um und zerrt einen Mann aus der gesichtslosen Masse seiner Anhänger nach vorn, postiert ihn halb vor sich wie einen Schutzschild. Und er hätte sich keinen Besseren dafür aussuchen können.

Verfluchte Scheiße …

Ich lasse meine Hände sinken. Die Lichtkugeln pulsieren noch ein, zwei Mal und verlöschen langsam.

Lucas.

»Verzeih, wenn ich meine eigenen Vorkehrungen getroffen habe, um mich speziell vor deinen kleinen Zaubertricks zu schützen, Mella.« Julian verengt die Augen und fixiert mich. »Möchtest du deine alten Freunde nicht begrüßen, Dewitt?«

Lucas bleibt stumm. Er sieht mich an, unbewegt, als ob er mich nicht kennen würde, und die Dunkelheit legt sich langsam über den Strand wie ein schwarzes Tuch. Die Energie in meinem Körper verhallt wie ein einsames Echo.

Tom schiebt sich durch unsere Reihen nach vorn. »Du hast uns herzitiert, Julian.« Wut vibriert in seiner Stimme. »Hier sind wir.«

Hoheitsvoll neigt Julian sein Haupt. »LeGris! Nun sei nicht so dramatisch. Ich habe euch hergebeten, und bin erfreut, wie viele meiner Einladung gefolgt sind. Obwohl …« Er stellt sich auf die Zehenspitzen, zählt durch, und am liebsten würde ich losheulen. »Sind das alle, die noch übrig sind?« Bedächtig legt er den Zeigefinger ans Kinn und lässt seinen Blick durch unsere Reihen schweifen.

Tom ballt die Hände zu Fäusten. »Lass das Mädchen gehen«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Oh, entschuldige, wenn meine unbedachte Frage dich in Rage versetzt haben sollte, LeGris!« Julian beugt sich ein wenig vor, lauernd und viel zu amüsiert. »Da wir das fröhliche Vorgeplänkel nun hinter uns gebracht haben, kommen wir zum Geschäft. Wo ist Millner?« Seine Stimme peitscht durch die Dämmerung.

Lucas steht immer noch halb vor ihm, regungslos, die Lippen fest aufeinandergepresst. Ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden, und er wagt es, mich die ganze Zeit über anzusehen. Kalt, ungerührt, wie ein emotionsloser Klon seiner Selbst.

»Hier.« Am Ärmel zieht Tom Julians Schoßhündchen nach vorn. Und dann – bevor wir es überhaupt registrieren können – taucht einer von Julians Schergen auf und zerrt Millner davon, wirbelt mit ihm in seine Schatten. Nur Sekundenbruchteile später bahnt er sich seinen Weg durch Julians Reihen, bis er neben seinem Meister steht und sich mit einem spöttischen Grinsen auf den fleischigen Lippen sein Revers zurechtrückt.

»Gut.« Tom lässt seinen Arm sinken. »Du hast bekommen, was du wolltest. Jetzt halte dein Versprechen. Gib uns Lisa!«

Lucas presst seine Kiefer noch härter aufeinander und senkt den Blick. Sofort stellen sich meine Nackenhaare auf. Etwas stimmt nicht.

»Tom …« Ich greife nach seinem Arm, doch er stößt ihn weg, völlig auf Julian konzentriert.

Der lächelt freundlich. »Aber natürlich, LeGris. Ich halte meine Versprechen, so wie du.« Er geht in die Knie und stellt ein Schraubglas in den Sand, behutsam und vorsichtig, als sei es ein rohes Ei. »Bitte sehr. Sie ist frei.«

Tom keucht. »Du elender Mistkerl.«

»Na, na, ich bitte dich, LeGris.« Missbilligend zieht Julian die Augenbrauen hoch. »Ich habe mein Wort gehalten. Ich sagte, ich gebe euch dieses Mädchen zurück, habe es sogar versprochen. Aber ich habe nicht gesagt, wie, wenn ich mich recht entsinne.«

Lucas blickt auf, direkt in meine Augen.

Alle Geräusche um mich verstummen.

Ich weiß, dass sich Tom und Julian eine hitzige Diskussion liefern, aber ich verstehe kein Wort. Ich höre nur meinen Atem und mein Herz, das hart und kräftig in meiner Brust pumpt. Ich sehe ihn an, wie er dasteht, groß und schmal und dunkel, direkt an der Seite des Mannes, der schon einmal versucht hat, ihn zu töten. Der seine Schwester auf dem Gewissen hat, seine Mutter und Gott weiß, wen noch alles!

Und er sieht mich an, nur mich.

Am liebsten würde ich ihn anschreien, ihm ins Gesicht schlagen und ihn schütteln, bis er wieder zur Besinnung kommt. Doch ich stehe hier vor ihm, zehn Meter entfernt, halte meinen Mund und versinke in seinen eisblauen Augen, die nichts von dem Wahnsinn zeigen, der in ihm wüten muss, tiefschwarz in diesem Licht und ohne jede Regung.

Wie in Trance spüre ich Aarons Hände auf meinen Schultern, spüre, wie ich herumgerissen werde, doch ich drehe meinen Kopf und sehe ihn an. Lucas. Fixiere ihn, bis er endlich seinen Blick abwendet und Toms Schatten über mir zusammenschlagen.

2

»Dieses Arschloch!« Tom schiebt mich von sich und prügelt mit der Faust auf den Lichtschalter ein. Aaron und ein paar der anderen sind schon da, stehen im Raum verteilt wie Schaufensterpuppen. Keiner sieht den anderen an, keiner redet.

Ich bleibe, wo ich bin, mitten in Toms Zimmer, zittere am ganzen Körper.

Es ist wahr.

Er ist einer von ihnen.

Die Badezimmertür wird mit einem Ruck aufgerissen und heraus schießt der kleine Grieche. »Wichser!«, brüllt Georgios los. »Alle miteinander! Und du …« Er stößt mit dem Zeigefinger nach mir. »Wie konntest du nur?«

Ich reiße die Augen auf und weiche vor ihm zurück.

»Wie konntest du Dewitt jemals an dich heranlassen? Er ist ein Verräter! Steckst mit ihm unter einer Decke, was, Prinzesschen?«

Langsam schüttele ich den Kopf, schaue ihn sprachlos an.

»Lass es gut sein, Georgios!« Mit zwei Schritten ist Aaron bei mir, legt beschützend einen Arm um meine Schultern. »Siehst du nicht, wie schlecht es ihr geht?«

Schlecht?

Beschissen geht es mir.

Habe ich das erwartet? Dass er so einen Scheiß macht?

Dankbar lehne ich mich an Aarons Schulter und schweige.

»Er ist ein mieses Stück Dreck, nichts weiter.« Georgios lässt nicht locker, und mir platzt der Kragen.

»Soweit ich mich erinnern kann, ist Julian das miese Stück Dreck.« Mit einem eiskalten Blick sehe ich Georgios in die immer halb geschlossenen, leicht gelblichen Augen.

Er schnaubt verächtlich. »Du willst dieses Arschloch von einem Überläufer auch noch in Schutz nehmen?« Schneller, als ich ihm zugetraut hätte, schießt sein Arm vor und schnappt sich das Marmeladenglas vom Couchtisch, schüttelt es so wild vor meiner Nase, dass ich fürchte, er will mich damit k. o. schlagen. Glitzernder Staub schwebt zwischen gläsernen Wänden. »Das hier war unsere Freundin Lisa, vielleicht erinnerst du dich an sie. Sie gehörte zu uns … ohne uns zu hintergehen.«

Aaron verstärkt seinen Griff und zieht mich an sich. »Jetzt hör auf durchzudrehen und lass sie in Ruhe!«

Geogios knallt das Schraubglas so fest auf den Tisch, dass ich Angst habe, es könnte zerspringen. »Ich soll sie in Ruhe lassen? Ausgerechnet sie, die sich bereitwillig vom größten Verräter in der Geschichte der Société hat vögeln lassen?« Bitter lacht er auf. »Wer weiß, was dieses Traumpaar wirklich treibt. Vielleicht machen sie gemeinsam …«

»Es reicht!« Tom brüllt lauter, als ich ihn je habe brüllen hören. »Reiß dich zusammen, reißt euch alle zusammen, verdammt nochmal! Wir haben etwas Besseres zu tun, als uns gegenseitig zu zerfleischen!«

»Aber du musst zugeben, dass der Gedanke nicht ganz abwegig ist«, knurrt Georgios und verschränkt die Arme vor der Brust.

Ruhig löse ich mich aus Aarons Umarmung und sehe dem Griechen fest in die Augen. »Soll ich gehen, damit du dich besser fühlst? Soll ich die Société verlassen, willst du das?«

»Niemand will das, verflucht!« Mit einem lauten Knurren wendet sich Tom von uns ab, und ich weiß nicht, ob er mit den Händen ringt oder irgendjemand Unsichtbares erwürgt.

Mir ist jedenfalls danach, etwas Sichtbares zu erwürgen – genauer gesagt dieses kleine, feiste Arschloch mit der Riesenklappe.

Triumphierend grinst er mich an. »Ich halte das schon für eine gute Idee, wenn du mich fragst.«

Die Energie kribbelt auf meiner Hautoberfläche wie Tausende von Ameisen, nervös zum Angriff bereit, wie ein Hund kurz vor der Attacke. Wenn mich jetzt irgendjemand anfasst, fliegt er drei Meter weit! Nein, ich werde mich nicht rechtfertigen. Und schon gar nicht werde ich hier vor den Augen der größten Idioten, die die Société zu bieten hat, losheulen, auch wenn ich nichts lieber täte als das.

»Dich fragt aber keiner!« Tom fährt herum, müde und wütend zugleich. »Verschwindet, alle miteinander«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und lasst euch erst wieder bei mir blicken, wenn ihr zur Vernunft gekommen seid!«

Heiser lacht Georgios auf, doch es ist mehr Angriff als Belustigung. Ohne ein weiteres Wort verschwindet er im Badezimmer und dort hoffentlich in seinen stinkenden Schatten.

Meine Beine fühlen sich an wie Gummi, und mein Körper schreit nach Schlaf, verzweifelt, möchte diesen furchtbaren Tag endlich hinter sich lassen und all das verarbeiten.

Aaron legt mir seine Hand in den Rücken und versucht sich an einem Lächeln. »Komm, Süße. Lass uns gehen.«

Schweigend läuft er neben mir her.

Ich werfe ihm einen Blick zu, mustere ihn von seinem blonden Hipster-Man-Bun bis zu seinen Hipster-Boots. »Ich brauche keinen Aufpasser. Ich bin kein hilfebedürftiges kleines Kind.«

»Jetzt sei nicht so bissig. Ich bin hier das Raubtier.« Aaron schmunzelt, und meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, ohne dass ich das wirklich will.

»Du bist ein Fuchs, Aaron. Füchse sind niedlich. Man druckt sie auf Tassen und stellt im Büro seine Stifte hinein.«

Er zuckt mit den Schultern. »Engel findet man noch häufiger.«

Meine Miene verdüstert sich. »Ich bin kein Engel.« Ich kann mit Lichtenergie foltern, quälen und töten, und dennoch bin ich so naiv wie seit jeher. Vielleicht sogar noch mehr. Ich lasse mich bereitwilliger von Männern hintergehen und belügen als ein Priester im Beichtstuhl.

»Ich dachte, du brauchst vielleicht Gesellschaft«, sagt er sanft. »Dieser Abend hatte es echt in sich … Glaub mir, ich weiß, wie du dich gerade fühlst.«

Der dicke Teppich schluckt jeden unserer Schritte. »Es geht mir super. Könnte gar nicht besser sein.« Ich kralle meine Finger um das Treppengeländer und schleppe mich hoch.

Warm legt sich seine Hand auf meinen Unterarm. Ich bleibe stehen, mit einem Seufzen, das lauter ist als beabsichtigt.

Er blickt mich an, lächelt traurig. »Geht es dir wirklich gut?«, fragt er leise, mit diesem Mitleid in der Stimme, bei dem ich am liebsten kotzen möchte.

Bam! Das hat gesessen.

Schwer hängen die Tränen in meiner Kehle, und in meinem Bauch prügeln sich Wut und Kummer um die Vorherrschaft. »Was denkst du denn.« Ich lasse den Kopf hängen. »So gut, wie es einem in dieser Situation eben gehen kann.«

»Hast du …« Er räuspert sich, als wüsste er nicht so recht, wie genau er sich ausdrücken soll. »Hast du damit gerechnet, dass er zu ihnen geht? Dass er einer von ihnen ist?«

Alles in mir bäumt sich bei seinen Worten auf, und am liebsten würde ich ihn anschreien. Ihm sagen, dass die Tatsache, dass Lucas Schulter an Schulter mit unserem schlimmsten Feind dastand, noch lange nicht bedeutet, dass er einer von ihnen ist, aber … ich weiß, dass es wahr ist. Es kann nicht anders sein.

»Nein«, hauche ich tonlos. »Ich dachte, er hätte sich zurückgezogen, um zu trauern, um zur Ruhe zu kommen.«

»Es ist furchtbar, so hintergangen zu werden.« Aaron schiebt sich beide Hände tief in die Taschen seiner Jeans. »Ich verstehe dich besser, als du dir vorstellen kannst.« Er zieht die Schultern hoch, ein ganz kleines bisschen nur, als wären ihm seine eigenen Worte mehr als unangenehm. »Als hätte man sie nicht wirklich gekannt, diese andere Person, oder? Und man fragt sich: Wieso hat man es nicht gemerkt? Wie konnte sie einem etwas so überzeugend vorspielen, einen von vorne bis hinten belügen, ohne dass man auch nur einen Moment an ihr gezweifelt hätte?« Er atmet tief aus und mustert seine Schuhe. Ein trauriger Zug umspielt seine Augen.

Das hätte ich nicht erwartet. Aaron ist ein Model, ein Typ, auf den sich die Frauen in Scharen stürzen. Einer, der sich mit Liebeskummer eigentlich nicht auskennen dürfte. »Eine Frau?«

Er nickt und blickt auf. »Leonora. Meine erste Freundin – und wenn es nach mir gegangen wäre, auch meine letzte.«

»Verliebtsein ist nichts anderes als Dummheit.« Bitter schmecken diese Worte in meiner Kehle, und etwas in Aarons Blick verändert sich, wird lebendig, kämpferisch. »Eine Schwäche, die uns auf der Suche nach Geborgenheit blind und taub macht.«

»Ach komm, das ist Bullshit, Mella!«

Sachte schüttele ich den Kopf. »Es fühlt sich genauso an.«

»Nein, Süße.« Aaron packt mich bei den Schultern. Tief taucht sein Blick in meinen. Ein weicher Duft weht mir in die Nase. Er riecht vertraut, warm und nach Pflegecreme, aber auf eine herbe, männliche Weise. Hatte einer meiner Ex-Freunde das gleiche Parfum?

»Lucas hat dich hintergangen, Mella. Hintergangen und belogen. Das ist keine Dummheit.« Schwer liegen seine Hände auf meinen Schultern, doch sie sind es nicht, die mich niederdrücken.

»Dann nenn es Naivität.« Es fällt mir schwer, den Schmerz in meiner Brust zu überspielen. »Ich habe mich von seiner Hundewelpen-Art einlullen lassen. Und dabei hätte ich es weiß Gott besser wissen müssen.«

Aaron blinzelt aus moosgrünen Augen. »Du kannst nicht jedem misstrauen, Mella. Das macht dich nur unglücklich!«

Ich lache auf. »Das macht einen unglücklich? Also, wenn du mich fragst, führen alle Wege früher oder später ins Unglück.« Ich klinge wie eine alte Omi, die im Schaukelstuhl sitzt, eine gehäkelte Decke auf den Knien, und ihren Enkel auf den Ernst des Lebens vorbereiten will, ohne die richtigen Worte dafür zu finden.

»Glaub mir, ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht meine Schuld war.« Seine Stimme ist ganz leise, doch seine Worte dröhnen in meinen Ohren. Schuld. Schuld und Schmerz. Wieder blickt er zu Boden, als sei es ihm peinlich, über seine Niederlage zu sprechen.

»Hat Leonora dich auch an deinen Feind verraten?« Widerlich, wie biestig ich klinge. Und so fühle ich mich auch. Im Moment hasse ich alles und jeden, einschließlich Aaron.

»Wie man es nimmt.« In seinem Blick streiten Wut und Schmerz. »Sie hat mir ein Kind untergejubelt.«

Ich starre ihn an. »Ernsthaft?«

Er verdreht die Augen und wendet sich ab, die Lippen aufeinandergepresst. »Nein, das habe ich gerade erfunden.« Wütend sieht er mich an. »Was denkst du dir eigentlich? Dass du alle Scheiße dieser Welt für dich gepachtet hast?«

Diesmal senke ich den Blick und halte meine Klappe.

»Ich weiß, er ist weg, und er ist nicht dort, wo du ihn vermutet hättest.« Aarons Worte treffen mich wie ein Pistolenschuss in die Eingeweide. »Aber egal, was ihr hattet oder was nicht: Dein Leben ist nicht zu Ende.«

Ich starre auf das bunte Muster in dem Teppich, der die Stufen hinunterfließt. »Mein Leben ist nie zu Ende.« Warme, erdige Farbtöne, die sich in einem mattschimmernden Flor über das dunkle Holz schlängeln und am Fuße der Treppe von einer angelaufenen, messingfarbenen Zierleiste verschluckt werden. Rot, überwiegend dunkelrot wie Blut, und ich muss aus irgendeinem Grund lachen. »Und es geht mir im Moment tierisch auf die Nerven.«

»Du solltest mit ihm reden.«

Ich pruste los. »Wie soll ich das machen? Meinst du, er trifft sich mit mir auf einen gemütlichen Plausch bei Kaffee und Kuchen, nachdem er zu dem Mann übergelaufen ist, der vor ein paar Monaten seine Schwester gekillt hat?« Und nach all den Nächten, die wir in tiefer Leidenschaft miteinander verbracht haben?

Aarons Kieferknochen mahlen. »Keine Ahnung, ich dachte nur, das würde dir vielleicht … Mir hat es geholfen, das mit Leonora zu klären. Es ging mir danach viel besser, wirklich.«

Ohne ihn anzusehen, schüttele ich den Kopf. »Selbst, wenn ich es wollte, könnte ich nicht. Ganz offensichtlich will er nicht gefunden werden.« Ein Schluchzen hängt schmerzhaft in meiner Kehle. »Nun ja, er wollte nicht gefunden werden. Bis heute.« Plötzlich besteht mein Körper aus Blei, und ich ziehe mich die Treppe hinauf, Stufe um Stufe, Aaron neben mir. »Aber wenn er irgendwann vor mir steht, eines Tages, dann trete ich ihm in den Arsch, dass er die Engel singen hört!«

Aarons Lächeln ist nicht wirklich amüsiert. »Du gibst ihm viel zu viel Macht über dich.« Leise schüttelt er den Kopf. »Warum hängst du so an dem Mistkerl, nach allem, was er dir angetan hat? Die ganzen Lügen, sein vorgetäuschter Tod - und jetzt das.«

Wie geschmeidig sich das dunkle Holz unter meinen Fingern anfühlt. Die Jahre haben die weichen Fasern herausgeschält und nur die harten zurückgelassen. Ganz weich und glatt fühlt es sich an, poliert von unzähligen Händen. Matt schimmert es unter dem gewaltigen Kronleuchter wie ein kostbarer Edelstein. »Du hast doch keine Ahnung.«

»Nein, natürlich nicht. Herauszufinden, dass das Kind der Frau, die ich über alles liebte, nicht von mir war, war total easy.« Sarkasmus strömt aus jeder seiner Poren, und ich weiß nichts mehr zu sagen.

Leise knarzen die Stufen unter unseren Füßen, eine ganze Weile lang das einzige Geräusch, das uns umgibt. Kraftlos ziehe mich auf die oberste Stufe, Aarons letzte Frage immer noch im Ohr. »Brauchst du dafür wirklich eine Erklärung?«

Nun ist es an ihm, zu seufzen. »Nein. Es ist wohl immer das Gleiche. Ich habe Jahre gebraucht, um über sie hinwegzukommen.«

Ein glockenhelles Lachen hallt durch die Eingangshalle. Am Fuße der Treppe tanzt ein Paar über den glänzenden Steinboden. Übermütig wirbelt der Mann die Frau herum, bis ihre langen blonden Haare fliegen, und zieht sie schließlich in einen Kuss, so tief, so innig … und so vertraut.

O Himmel, ich könnte im Strahl kotzen.

»Unglaublich.« Meine Knie geben unter mir nach. Im letzten Moment kann ich mich am Geländer festkrallen, bevor sie unter mir wegsacken wie durchgefaulte Holzpfosten in einer Hafenmole.

Aaron blickt mich an, in seinen Augen eine stumme Frage.

»Es ist alles so normal, wie immer. Als wäre alles in Ordnung.« Ich schüttele den Kopf. »Als würde unsere Welt nicht jeden Moment zusammenbrechen.«

Aaron mustert das Pärchen am Fuße der Treppe, immer noch wild knutschend. Bestimmt werden sie gleich wundervollen Sex haben … sofern sie nicht direkt hier vor unseren Augen übereinander herfallen. »Sie wissen es nicht. Sie haben keine Ahnung.«

Ich schnaube. »Unwissenheit ist ein Segen.«

»Vielleicht.« Aaron bietet mir seinen Arm an. Kurz zögere ich, dann hake ich mich bei ihm ein. »Aber genauso kann sie ein Fluch sein. Es ist wohl immer das besser, was man gerade nicht hat, oder?«

Stumm nicke ich und schlendere an seiner Seite den schummrigen Flur entlang. Er hat Recht. Unwissenheit ist der größte Fluch. Sie bringt einen dazu, zu vertrauen und leichtsinnig zu werden, vielleicht sogar naiv.

Wer ist er wirklich?

Lucas, der nach dem Mord an seiner Schwester durchgedreht ist, der mir seine Liebe gestanden hat in dieser Nacht und mich dann verlassen hat, um Mathildas Mörder zu folgen … er hat zugelassen, dass Lisa etwas geschieht. Er hat neben Julian gestanden wie eine willenlose Marionette.

Und vielleicht war er nie etwas anderes.

Vom Fenster bis zur Tür sind es sechs Schritte.

Sechs verdammte Schritte.

Wie oft ich sie schon gelaufen bin, von der Tür zum Fenster, vom Fenster zurück zur Tür, das weiß der Teufel. Schließlich gebe ich auf, hocke mich auf die Bettkante und starre den hölzernen Knauf meiner Nachttischschublade an.

Die Schublade starrt zurück.

Kurz zögere ich und ziehe sie schließlich auf. Sie ist nicht gerade überfüllt. Nur ein schmaler Stapel Papier liegt darin, beschwert von der leeren Schmuckschachtel meiner Onyx-Kette.

Kühl liegt der Anhänger auf meiner Brust. Ich streiche mit den Fingerspitzen über die feinen Facetten des Steins, zarte Linien mit geraden Flächen, die ihn erst richtig zum Funkeln bringen.

Warum trage ich ihn überhaupt noch?

Er ist nicht mehr als eine schlecht schmeckende Erinnerung an meine Mutter, eine Frau, für die ich nur ein Mittel zum Zweck war. Dieser Stein ist das einzige aus meinem menschlichen Leben, das Lucas mich behalten ließ, als ich eine Verbindung zu Resa suchte, als ich verzweifelt ein Stück meiner Menschlichkeit behalten wollte, nur um am Ende herauszufinden, dass ausgerechnet dieser Halbedelstein so gar nichts damit zu tun hat.

Ich sollte ihn verbrennen.

Unter dem Zettelwust in der linken Ecke der Schublade ragt eine gelbliche, gezackte Papierkante hervor, und mein Herz verwandelt sich in einen Klumpen aus Schlacke – unfähig, zu schlagen, unfähig, mich am Leben zu erhalten. Oh, ich weiß, wen dieses Foto zeigt und ich weiß auch, was das mit mir macht, aber dennoch …

Mit zitternden Fingern ziehe ich es hervor. Die großen, runden Augen scheinen ruhig in meine zu blicken, wie sie es heute noch tun. Unschuld und eine Spur von Trotz finden sich darin, und sie passen überhaupt nicht zu dem strengen Scheitel, der die lockigen Kleinkinderflusen auf seinem Köpfchen teilt.

O Lucas, was warst du für ein niedlicher kleiner Kerl!

Und plötzlich halte ich seinen Brief in der Hand.

Ich wollte ihn nie wieder lesen … Warum habe ich ihn überhaupt aufbewahrt?

Liebes,

ich habe noch nie etwas so Feiges getan wie das hier. Aber wenn du vor mir stündest, würde ich es nicht fertigbringen, dir zu sagen, was ich jetzt sagen muss.

Ich werde fortgehen. Es ist besser so. Es ist eine zu große Gefahr, mit dir zusammen zu sein. Nicht zuletzt deswegen ist eine Beziehung zwischen Wächter und Schützling, zwischen dir und mir, verboten. Ich sehe das jetzt ein.

Und, verfluchte Scheiße, ich bin wirklich nichts als ein widerlicher, elender Feigling. Denn eigentlich hast du es nicht verdient, dass ich irgendwelche dummen Gründe dafür zusammenlüge, warum ich dich verlasse.

Die Wahrheit ist: Ich habe schon zu viel verloren. Ich werde es nicht überleben, auch noch dich zu verlieren, und du weißt, dass ich das nicht nur wörtlich meine. Lieber würde ich sterben, als dich in Gefahr zu bringen, doch selbst das geht nicht. Ich kann mir nicht einmal aus purer Selbstsucht mein Leben nehmen, um dich aus der Schusslinie zu bringen, denn damit würde ich all das riskieren, für das wir bereits so lange kämpfen.

Bitte, Liebes, denk nicht schlecht von mir.

Lucas.

Was. Für. Eine. Scheiße.

Danke, Lucas, ehrlich.

Der Mülleimer ist der beste Ort, um diesen papiergewordenen Dünnschiss aufzubewahren. Zum hundertsten Mal zerknülle ich den Brief und pfeffere ihn quer durch das Zimmer, kilometerweit neben den Papierkorb.

Jetzt liegt er da, vor dem Fenster, als wäre er nur ein nichtssagendes Stück Papier. Ich sollte eine Lichtkugel verwenden, eine kleine nur, dann wäre dieser Brief Geschichte.

Und sein Verfasser vielleicht endlich auch.

Die Energie pulsiert über meiner geöffneten Hand, erstrahlt in hellem Weiß, und ich starre den Brief an, minutenlang, bis ich schließlich aufstehe, mit einem tiefen Seufzen, das zerknüllte Papier wieder einsammle und zurück zum Bett trotte. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will. Lucas wird nie Geschichte sein.

Ich ziehe mir die Decke hoch bis zur Brust, den Brief so fest in der Faust, dass meine Fingernägel halbmondförmige Spuren auf dem Papier hinterlassen.

Nach und nach glätte ich die Seite in meinen Händen, lese sie noch einmal. Und dann wieder.

O Gott, ich muss damit aufhören! Ich kenne diesen Brief bereits auswendig, jedes beschissene Wort, und immer, wenn ich ihn lese, tut es mehr weh.

Ich habe nicht den geringsten Schimmer, was sich dieser Mistkerl dabei gedacht hat, ob er überhaupt noch denkt - und er wird es mir wohl auch nicht erklären. Der Himmel weiß, wie oft ich ihn angerufen habe, wie viele Nachrichten er von mir bekommen hat. Und nie kam eine Antwort, dafür aber die Gewissheit, dass er sie gelesen hat … Ein Hoch auf die Lesebestätigungen. Und doch … vielleicht antwortet er mir ja heute.

Ich ziehe das Handy hervor und der Monitor wird hell. Kein Anruf, keine Nachricht. Natürlich nicht.

Mit einem leisen Seufzen ergebe ich mich und öffne die App. Es sind wirklich viele Nachrichten, lächerlich viele. Hunderte vielleicht. Bitten, flehen, fluchen, beschimpfen, alle mit diesen verräterischen kleinen blauen Häkchen versehen. Er hält es nicht für nötig, mir zu antworten.

Sanft streicht meine Fingerspitze über das Glas, hinterlässt einen schmierigen Film aus Hautfett und Tränen.

Ich hasse dich.

Drei Worte nur. Genau die drei Worte, die man nicht hören möchte … genau das Gegenteil der drei Worte, die ich zuletzt von ihm gehört habe, als er dachte, dass ich schlief.

Der blaue Cursor blinkt erwartungsvoll. Mein Daumen schwebt über dem Senden-Button, ohne ihn zu berühren, so lange, bis ich ihm doch zu nahekomme und mein Smartphone diese hundert-vierundneunzigste Nachricht an ihn schickt, obwohl ich das nicht wollte.

Nein, ich will ihm keine Nachrichten mehr schicken. Ich will nicht auf mein Handy starren und warten, bis aus einem grauen Häkchen plötzlich zwei werden und ich weiß, sie ist bei ihm eingegangen, bis sie auf magische Weise ihre Farbe in Blau verwandeln, wenn er sie liest. Ich will das nicht. Ich will nur, dass er mir antwortet.

Ich lege das Telefon auf mein Kissen und stopfe den Brief zurück in die Schublade, ganz nach unten, häufe die Fotos darauf und ramme den Kasten zurück in den Schrank; so heftig, dass die kleine Nachttischlampe darauf gefährlich ins Wanken gerät. Es kann so nicht weitergehen.

O Himmel, würde ich doch noch leben! Dann könnte ich mich stumpf betrinken, alles auskotzen und mich anschließend so richtig beschissen fühlen. Aber leider funktioniert das nicht.

Ich muss einen Weg finden, mich auch ohne Alkohol beschissen zu fühlen, damit es mir wieder besser gehen kann. Und ohne, dass ich groß darüber nachdenke, nehme ich das Handy hoch und öffne Aarons Kontakt.

Danke, dass du mir eben beigestanden hast.

Ohne zu zögern sende ich die Nachricht ab.

Zwei blaue Häkchen erscheinen fast sofort. Kurz darauf habe ich seine Antwort, und fast muss ich lachen, auch wenn Tränen meine Kehle hinaufkriechen.

Falscher Typ, richtige Worte.

Ich weiß, wie du dich fühlst, wie schlecht es dir gehen muss. Ich bin da, wenn du mich brauchst. Jederzeit.

3

Mit baumelnden Beinen sitze ich auf einer alten Resopaltischplatte und blicke nach draußen. Das kleine Dachfenster ist fast blind und bietet nur einen stumpfen Blick auf das kleine Waldstück, das an den Park grenzt. Dahinter schimmern die Salzwiesen im Abendlicht, satt und dunkelgrün, bewegen sich in den sanften Wogen im Meereswind.

Tom hängt zusammengekauert unter einem der Schreibtische und fummelt an irgendwelchen Kabeln, bis irgendwelche Kästchen hektisch zu blinken beginnen. »Christopher hatte auch schon bessere Ideen.« Hin und wieder taucht sein Kopf kurz unter der Tischplatte auf, um einen Blick auf den Bildschirm links von mir zu werfen.

Eigentlich ist es meine Aufgabe, darauf zu achten, ob ein Bild auf dem Monitor erscheint, aber ich bin nicht sonderlich zuverlässig. Oder interessiert. Es ist nichts als ein graues Schneetreiben zu sehen, seit fast einer Stunde schon.

Genervt verdreht Tom die Augen und verschwindet wieder unter meinen baumelnden Beinen. »So eine …« Er knurrt wütend, und ich höre ein verdächtiges Knacken.

»Oh. War ich das?« Aaron klingt zerknirscht.

Tom stöhnt theatralisch auf. »Mella, gib mir das Klebeband. Das silberne.«

Ich angele es vom Nachbartisch und reiche es ihm hinunter, ohne hinzusehen. Unter dem Tisch reißt einer der beiden ein Stück von dem Klebeband ab.

»Kann ich sonst noch irgendetwas tun?«

»Ja« grummelt Tom. »Vielleicht das, wofür ich dich hergebeten habe. Sag Bescheid, wenn etwas auf dem Monitor passiert.«

Ich luge auf den Bildschirm. Graues Rauschen, ohne jede Veränderung. »Was soll ich denn da sehen?«

Betont langsam schiebt sich Tom unter seinem Schreibtisch hervor. Seine Augen glitzern übellaunig. »Ernsthaft? Die Aufnahmen der Überwachungskameras!« Wild gestikuliert er in der Luft herum, um mir zu zeigen, wie ein viergeteiltes Rechteck ungefähr auszusehen hat.

Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich gebe dir Bescheid. Sofern ich etwas sehe.«

Ein unangenehmes Knarzen ist zu hören. »Verfluchter Mist, was war das denn jetzt?«, tönt Aarons Stimme unter meinem Hintern hervor.

Tom verdreht die Augen und verschwindet wieder unter der Tischplatte. Ganze zwölf Sekunden lang betrachte ich den Monitor, dann blicke ich erneut aus dem Fenster. Die tief stehende Sonne verwandelt die Gräser dort draußen in ein Meer aus Gold.

Wer hat sich das nur wieder ausgedacht? Das Herrenhaus liegt so einsam an den Klippen, dass sich ihm selbst eine Krähe nicht unbemerkt nähern könnte. »Vier Kameras für ein riesiges Haus mit Park.« Ich schüttele den Kopf und werfe einen Blick auf Toms angewinkelte Beine, die in Jeans und knöchelhohen Chucks unter dem Schreibtisch hervorlugen, und auf Aarons ziemlich ansehnliches Hinterteil. »Wofür soll das gut sein?«

»Frag Lisa«, ist sein Beitrag zu dem Thema.

»Sehr hilfreich, Aaron.« Tom atmet hörbar aus. »Frag lieber deinen Vater. Er ist überzeugt davon, dass Julian uns ausspäht, ehe er seine Leute auf uns loslässt.«

Ich schnaube so verächtlich, wie ich nur kann, und blicke wieder aus dem Fenster. »Lächerlich.«

»Das ist es nicht!« Blitzschnell schiebt sich Tom unter der Resopalplatte hervor und fixiert mich mit einem düsteren Blick. »Julian wird nicht so dumm sein, uns zu attackieren, wenn er nicht weiß, wie viele Wachen wir haben!« Er verdreht die Augen und macht sich daran, zurück in sein Loch zu kriechen. »Du gehst mir vielleicht auf die Nerven, echt …«

Langsam beuge ich mich vor, spähe kopfüber unter den Tisch. »Vielleicht sollten wir Wachen aufstellen, Tom, denn ich weiß nicht, ob du es mitgekriegt hast: Wir sind verfluchte Umbracoren! Wir klopfen nicht an Türen, wir materialisieren uns einfach und sind dann da, wo wir sein wollen: mittendrin! Zu dem Thema hätte Lisa sicher eine Meinung.«

»Und deswegen hat Christopher Wachen aufgestellt, Mella.« Aaron sieht mich ernst an und lässt seinen Schraubendreher sinken. »Scheiße, kaum jemand hier gehört nicht zur Société, und wir erwarten noch Nachschub vom Dritten Kontinent!«

Ich blinzle. Ernsthaft? Fast jeder hier gehört zu den Wachen? »Mich hat niemand eingeteilt.«

Aaron starrt mir in die Augen, vielleicht eine Spur zu lang, und widmet sich lieber wieder irgendwelchen Klemmen und Schrauben statt mir zu antworten.

»Warum bin ich nicht eingeteilt worden, Tom?«

Tom schweigt beharrlich, und ich rutsche vom Tisch auf den Boden, hocke mich hin, damit ich den beiden in die Augen sehen kann. »Verflucht, bewacht ihr mich?«

Aarons Blick spricht Bände.

Langsam nicke ich, beiße mir auf die Unterlippe. »Du?«

Tom atmet einmal tief durch. »Er hat sich freiwillig gemeldet.«

Meine Augen brennen. Ich bin mächtig! Ich sollte die sein, die andere beschützt, nicht die, die beschützt werden muss! »Was soll das? Julian würde mir wohl kaum etwas antun, jetzt wo er zu ihm … Wo er seinen hocheffizienten Leibwächter hat.«

Tom fixiert mich, ohne zu blinzeln. »Es ist nicht Julian, um den ich mich sorge«, sagt er vorsichtig.

Kurzzeitig schwankt der Boden unter mir. Ich lasse mich auf den Hintern plumpsen.

»Die Fürsten haben sich getroffen, nach Lisas Tod. Sie … sie haben darüber abgestimmt, Lucas im Zweifel über dich zu vernichten, damit der Weg zu Julian frei ist.«

Seine Worte verschwimmen in meinem Kopf. Sie wollten wirklich … »Sie haben geplant, mich zu töten?« Mich, die zu ihnen gehört?

»Sie haben es in Erwägung gezogen«, wendet Aaron ein.

Tom seufzt leise. »Ich war dagegen. Ich habe ihnen deutlich gesagt, dass ich das nicht zulassen werde, und ich hatte gute Argumente … Deine Kraft ist einfach zu verführerisch.« Sein Blick wird hart. »Fraglich ist nur, wie lange diese Übereinkunft Bestand haben wird – je nachdem, was Lucas jetzt wieder anstellt.« Tief atmet er durch. »Und wie gefährlich er uns wird.«

Langsam schüttele ich den Kopf. Kein Tropfen Speichel ist mehr in meinem Mund. »Aber was ist mit Christopher?«, flüstere ich. »Er … er wäre dann doch ebenfalls …«

Tom nickt nur, und Aaron sieht mich mit großen, interessierten Augen an.

Immer noch schüttele ich den Kopf. »Sie hätten in Kauf genommen, dass er getötet wird?«

Für den Bruchteil einer Sekunde presst Tom seine Lippen so fest aufeinander, als wollte er sie für immer versiegeln. »Es war sein Vorschlag.«

»Was?« Ich stoße mich zurück, bis ich mit dem Rücken an die Wand pralle. Keuchend bleibe ich dort sitzen, starre die beiden an.

»Es ist nicht so, wie du denkst.« Toms Stimme klingt, als würde er durch ein Kissen sprechen. Dumpf. Weit entfernt. »Du bist ihm nicht egal. Aber Lucas … An Julians Seite ist er ein gewaltiges Risiko, und für das Überraschungsmoment …« Er bricht ab, ringt nach Worten, die er nicht findet.

»Mein Vater ist also ein beschissener Märtyrer«, stelle ich fest und gluckse amüsiert.

»Was auch immer.« Tom sieht mich an, mit einem seltsamen Blick, den ich nicht zuordnen kann, und greift nach seinem Schraubendreher. »Ich hoffe, ich habe klar gemacht, dass das für mich keine Lösung ist.« Er kriecht zurück in die Dunkelheit des Schreibtisches, um weiter an den Kabeln herumzufummeln.

»Ja.« Ich mustere die Dachschräge über uns, düster und verfallen und verrottet, wie offenbar alles um mich herum. Das Leben eines Fürsten gegen den Dickkopf eines anderen. Nein, Tom braucht mir nichts vorzumachen.

Sie haben mich im Visier.

Unsere Freunde genauso wie unsere Feinde.

»Tut mir leid, Süße«, flüstert Aaron und gesellt sich zurück zu Tom, um endlich die Bilder der Überwachungskamera auf diese Scheißmonitore zu bekommen.

»Ihr werdet damit aufhören«, murmele ich und stehe langsam auf. Einen Moment lang schwankt das Zimmer um mich herum, und ich halte mich an der Schreibtischplatte fest. »Habt ihr mich gehört?«, herrsche ich die beiden an, und erstaunt blicken sie zu mir hoch. »Ihr werdet damit aufhören, mich zu behandeln wie eine unfähige, kostbare Prinzessin.«

Ein Grinsen huscht über Toms Gesicht. »Aber genau das bist du doch.«

»Vorsicht«, sage ich leise. »Du bist in einer sehr ungünstigen Position dort unten.«

Aaron muss lachen. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauert, bis sie damit kommt.« Er rutscht unter dem Schreibtisch hervor und streckt seine langen Beine aus, erhebt sich ebenfalls. »Es hätte mich sehr gewundert, wenn du dir das gefallen lassen würdest.« Er lächelt, doch die Sorge in seinem Blick ist nicht zu übersehen.

»Denkt ihr, ich weiß nicht, wie sie mich nennen?« Leise schüttele ich den Kopf. »Ich muss ein Teil dieses Teams sein und nicht das Gespött der anderen.«

Aaron nickt langsam und schweigt, doch Tom sprüht der Trotz nur so aus den Augen.

»Wenn du mich in einen Glaskasten setzt, werden sie in mir umso mehr einen Klotz am Bein sehen, Tom, und das will ich nicht.«

Unwillig schüttelt er den Kopf. »Ich kann das nicht riskieren!«

»Du kannst mich nicht vor ihm beschützen«, sage ich leise und eindringlich, und Tom erstarrt.

»Ich werde dich beschützen«, presst er durch seine zusammengebissenen Zähne hervor. »Ich lasse nicht zu, dass dich irgendjemand als Waffe benutzt.«

Ich lege den Kopf ein wenig schief. »Bin ich denn nicht genau das, Tom? Eine Waffe? Erschaffen, um für irgendjemanden um irgendetwas zu kämpfen?« Verstockt schweigt er, und ich zucke mit den Schultern. »Christopher hat recht. Im Zweifel werde ich es selbst tun.«

Aaron schnappt nach Luft und Tom starrt mich an, die Augen weit aufgerissen.

»Ich bin nicht mehr wert als jeder einzelne von uns, Tom. Am Ende müssen wir tun, was nötig ist. Und wenn dies der einzige Weg ist, Julian zu stoppen, dann ist das eben so.« Auch wenn es mein Leben kostet. Und Christophers. Und das von Lucas. Kälte brennt in meiner Brust, doch ich habe recht, ich weiß es.

»Ich will nicht, dass du diesen Preis zahlst.«

Ich werfe ihm ein Lächeln zu und oh, ich weiß genau, wie gequält es aussieht. »Tja, ich werde alles tun, um das zu verhindern, das kannst du mir glauben. Aber bitte, sperre mich nicht in einen goldenen Käfig.«

Wieder nickt er und schlägt die Augen nieder. »In Ordnung«, sagt er leise. »Du kannst besser auf dich aufpassen, wenn du weißt, in welcher Gefahr du steckst.« Er blickt auf und plötzlich ist er wieder da, mein Fürst, willensstark und jeden seiner Schritte berechnend.

Aaron greift nach meinem Arm. »Aber glaub nicht, ich würde dir auch nur fünf Meter von der Seite weichen.« Sein Blick ist sanft, weich. »Ist das okay für dich, Süße?«

Ich lächele ihm zu, drücke seine Hand. »Ist okay.«

»Verabschiede dich schon einmal von deinem Schönheitsschlaf«, sagt Tom und rutscht wieder unter den Schreibtisch. »Ihr zwei Hübschen werdet regelmäßig Nachtwachen halten, wie die anderen auch.«

Ich setze mich zurück auf meinen Schreibtisch. »Gut. Starren wir hier oben stundenlang auf die Monitore?«

»Die Aufnahmen werden rund um die Uhr aufgezeichnet.« Tom klingt angestrengt. Jedes seiner Worte wird von einem rhythmischen Knacken begleitet. »Ihr werdet Patrouillen laufen, vor dem Haus, im Haus, hinterm Haus und in den Kerkern. Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Denn eines steht fest: Julians Angriff wird kommen.«

Ja, das wird er.

Und wenn er kommt, werden wir bereit sein.

Oder … Doch an diesen Ausweg will ich gar nicht denken.

Ich keuche und boxe in die Luft, jeden Muskel angespannt, jeder Schlag vor meinem inneren Auge ein harter Treffer. Mein Körper klebt vor Schweiß, und der Staub des Ballsaals haftet an mir wie eine Panade aus harten grauen Krümeln, ekelhaft und rau wie Schmirgelpapier auf meiner Haut. Schwärze umfängt mich zum hundertsten Mal, lässt mich straucheln, immer wieder.

Nein. Es funktioniert nicht. So wird es nicht sein.

Ich spüre sie immer noch in mir, die Energie des Sonnenlichts, auch wenn mir die Augenbinde vorgaukelt, von Dunkelheit umgeben zu sein. Es ist kein bisschen so wie damals, als Julian mir Klavier vorspielte und ich nichts tun konnte, als menschlich zu sein und zu bluten. Meine Sinne sind geschärfter als in der Dunkelheit, meine Bewegungen schneller, als sie es nachts da draußen jemals sein würden.

Geschmeidig wie eine Katze – jedenfalls bilde ich mir das ein – lasse ich mich flach zu Boden fallen, gestützt auf Finger- und Fußspitzen, rolle über die Seite ab. Drei schnelle Drehungen um meine eigene Achse und ich stehe wieder auf meinen Beinen, wackelig zwar, aber ich stehe, tief in die Knie gebeugt, die Fäuste auf Höhe meiner Schläfen und jederzeit zum Angriff bereit. Ein Ninja ist nichts gegen mich.

»Brauchst du vielleicht noch einen Sparringspartner?«

Ich stoße einen Schrei aus und springe auf.

Aaron!

Verflucht! Ein Ninja? Pff, verdammter Mist, ich bekomme nicht einmal mit, wenn jemand den Raum betritt!

Ich reiße mir die Maske von den Augen. Aaron steht in der offenen Tür, keine zwei Meter von mir entfernt, den muskulösen Körper in einen dunkelroten Trainingsanzug gehüllt.

»Ich brauche wohl eher ein Wunder, wenn sich jeder einfach so an mich heranschleichen kann.« Ich schleudere die Augenbinde in eine Zimmerecke und angle nach meinem Handtuch, rubbele mir Schweiß und Dreck aus dem Gesicht, soweit das möglich ist.

»Ich habe mich bestimmt nicht angeschlichen.« Aaron grinst.

Ich puste mir ein paar feuchte Strähnen aus der Stirn, die mir augenblicklich wieder in die Augen fallen. »Du machst die Situation nicht gerade besser, Aaron.« Mit voller Wucht schmettere ich das Handtuch zurück auf den Boden. Mausgroße Staubflocken wirbeln auf und schweben davon wie kleine Luftkissenboote. »Du bist nicht zufällig hier, oder?«

Sein Lächeln erstirbt. Offenbar hat er eine andere Reaktion erwartet, aber sorry, ich bin nicht zum Herumalbern aufgelegt. »Macht es dir Spaß, mich zu bespitzeln?«

Ruhig fixiert er mich. »Mehr Spaß, als deine Asche zusammenkehren zu müssen.«

»Ich brauche keinen Babysitter.«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin keiner. Ich bin nur ein Freund, dem dein Überleben wichtig ist.« Langsam bückt er sich und fischt die Augenbinde vom Boden. »Außerdem könntest du jemanden gebrauchen, der dir ein bisschen hilft.«

Ich reiße ihm die Binde aus den Händen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das alles ankotzt!«

»Doch, das kann ich. Aber ich weiß auch, dass ich in deiner Situation froh wäre, jemanden an meiner Seite zu haben, der auf mich achtet. Und der es nicht persönlich nimmt, ständig angeschnauzt zu werden, weil er genau versteht, was du gerade durchmachst.« Seine grünen Augen ruhen auf mir. »Denkst du nicht?«

Meine Wut verraucht augenblicklich. »Doch«, murre ich und lasse die Augenbinde auf mein Sweatshirt fallen, das zusammengeknüllt auf dem Boden liegt. »Schon.«

Aaron mustert mich aus zusammengekniffenen Augen. »Du hast versucht, ihn anzurufen, richtig?«

Ich schnaube verächtlich und drehe ihm den Rücken zu, strecke meinen linken Arm in die Luft und dehne meine Schultermuskulatur. »Im Leben nicht.«

»Also hast du ihn mit Nachrichten bombardiert.«

Ertappt fahre ich herum.

Mein Blick reicht ihm, aber ich sehe keinen Vorwurf darin. »Hat er geantwortet?«

»Nein.«

In aller Ruhe zieht er den Reißverschluss seiner Trainingsjacke herunter. »Kenne ich«, sagt er knapp. Sorgfältig legt er die Jacke zusammen und bettet sie in den Staub. Das weiße T-Shirt spannt über seinem Bizeps. Er muss ordentlich Krafttraining betrieben haben, bevor ihn irgendein Umbracor in die ewigen Jagdgründe befördert hat. »Gut. Dann lass es mal raus, Mella, hau mir richtig aufs Maul. Und komm ja nicht auf die Idee, mich zu schonen!«

Skeptisch stemme ich die Hände in die Hüften.

»Stell dir einfach vor, ich wäre Dewitt.«

Langsam wende ich meine Handflächen in Richtung Decke und lasse die Energie frei. Zwei Lichtbälle entstehen, apfelgroß, schweben träge auf und ab, wie in einem Magnetfeld. »Im Ernst?« Die Kraft, die aus mir strömt, bringt mich zum Lächeln, immer wieder. Ich fühle mich großartig, so warm und kraftvoll, so … mächtig.

»Ähm, okay …« Aarons Blick flackert zwischen meinen Augen und den schimmernden Energiekugeln hin und her. »Vielleicht schonst du mich doch ein bisschen. Das wäre sonst unfair … Du könntest mir das Fleisch von den Knochen brutzeln, während ich dir ein Stöckchen holen kann oder so.«

Ich muss lachen und die Lichtkugeln tanzen über meinen Händen. »Seit wann können Füchse apportieren?«

Er zuckt mit den Schultern und grinst. »Warum sollten sie keine Stöcke anschleppen können?«

Kurz ziehe ich die Augenbrauen hoch. »Füchse sind niedlich, aber ich habe schon Anschläge auf Eichhörnchen verübt. Und die sind deutlich niedlicher.«

Verschwörerisch beugt er sich vor. »Sei ehrlich, Süße: Hat auch nur ein einziges Eichhörnchen sein Leben lassen müssen?« Wie Smaragde glitzern seine Augen im Sonnenlicht, klar und tiefgrün.

Ich denke nach, schüttle den Kopf. »Nein, aber sie hatten nur Glück. Damals war ich deutlich besser gelaunt als heute.«

»Wunderbar.« Langsam geht er in die Hocke, nimmt seine Verteidigungsposition ein. »Endlich mal ein ernsthafter Gegner!«

4

Kies knirscht unter unseren Schuhen. Klatschnass kleben mir die Haare in der Stirn. Klitzekleine Tröpfchen glitzern darin, als wären sie gefroren.

»Kann es nicht mal woanders regnen?« Aaron zerrt seinen Mantel enger um sich und stellt den Kragen auf. »Was für eine bescheuerte Idee, ohne einen Schirm hier rauszugehen.«

Der Regen nimmt zu, dicke Tropfen zerplatzen auf meinem Scheitel, laufen in kleinen Bächen über meine Kopfhaut. »Wachpatrouillen mit Schirm sind sehr unauffällig, Aaron.« Sanft bedeckt das Nass meine Haut, rinnt meinen Nacken hinab wie ein eiskalter Schauer.

Aaron seufzt laut und vernehmlich. »Bei dem Wetter geht nicht einmal Julian selbst vor die Tür.«

»Wollen wir es hoffen.«

Mit zwei Schritten nimmt er die Stufen zum Eingangsportal und hält mir galant die Tür auf. »Komm ins Warme, Süße.«

»Ich schwöre dir, wenn ich das nächste Mal ein Pärchen beim Rummachen im Auto erwische, dann jage ich ihm den Schreck seines Lebens ein. Als hätten die kein Zimmer, in das sie sich zurückziehen könnten.« Ich tauche unter Aarons Arm hindurch und schlüpfe ins Herrenhaus.

Dunkel und verlassen liegt die Eingangshalle da. Kein Geräusch ist zu hören, bis auf das leise Prasseln des Regens auf das bunt verglaste Oberlicht über unseren Köpfen. Jetzt hängt es farblos über uns, wie ein schwarzer Spiegel, in dem wir unsere weißen Gesichter nur verschwommen erkennen können.

Warm legen sich Aarons Hände um meine Wangen. »Hey. Lass dich nicht vergiften von diesem Arsch«, sagt er leise und streicht mir ein paar nasse Strähnen zurück. »Er ist es nicht wert.« Aufmunternd lächelt er, und ich lasse mich an seine Brust ziehen, die genauso nass ist wie meine Haare. Er hat recht … es tut gut, von ihm gehalten zu werden. Ich lege meine Arme um ihn und wir stehen einen Moment einfach so da, bevor er sich von mir löst. »Du brauchst ihn nicht.«

Ich seufze leise. »Natürlich nicht. Er ist ein Lügner und ein Verräter. Aber das ist alles nicht so einfach.«

»Das hat auch niemand gesagt.« Aaron schiebt sich die Hände in die Hosentaschen und zuckt mit den Schultern. »Ich habe Monate gebraucht, bevor ich eine andere Frau auch nur angesehen habe. Aber weißt du was? Ich hätte mich früher darauf einlassen sollen. Es hat mir geholfen, diese Hexe zu vergessen, als ich wieder mit jemandem zusammen war und dieses Miststück niemanden hatte außer der Kleinen.«

Mein Herz schlägt mir bis in den Hals. Verstehe ich ihn richtig? Spricht er von sich? Ich ziehe meine Augenbrauen hoch und lächle. »Du meinst also, ich sollte mich einfach ein wenig ablenken?«

»O ja.« Er erwidert mein Lächeln, vielsagend. Japp, er spricht von sich.

»Und hast du schon eine Idee, wer dafür infrage käme?« Ich knete meine Hände wie ein schüchternes kleines Mädchen, und er legt den Kopf zur Seite, ein ganz klein wenig nur.

»Wäre das denn so abwegig?«, fragt er leise.

Natürlich ist es das nicht, und das weiß er verdammt gut. Jede Frau wäre zutiefst geschmeichelt, wenn sich ein fleischgewordener Traum wie Aaron für sie interessieren würde. Groß, blond, Zähne so weiß und akkurat wie Klaviertasten - und noch dazu nett. Die Frage ist nur: Ich? Ausgerechnet ich?

Totenstille liegt über dem Haus und zwischen uns. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Fingern, und so taste ich nach meinem Handy, ein bisschen zittrig, ziehe es aus der Jeans und werfe einen Blick auf das Display. »Erst zwanzig vor zwei.« Und keine Nachricht.

»Ist schon okay, Süße«, sagt Aaron leise. »Du musst dich nur trauen. Dann wird alles besser.« Er zieht sich das Zopfgummi aus dem Haar und schüttelt seine blonden Strähnen. Ein paar Wassertropfen landen auf meiner Wange und ich wische sie fort.

»Wir müssen noch den Park kontrollieren.« Ich habe keine Lust, mich ins Bett zu legen. Und zu denken. Und zu fühlen. Und sinnlos in die Dunkelheit zu starren. Zu meinen Füßen bilden sich kleine Pfützen, spiegeln das Mondlicht, das die Freitreppe erhellt.

Ich lege meinen Kopf in den Nacken. Der Mond scheint durch das Deckenfenster, doch auch er vermag ihm keine Farbe entlocken. »Der Regen scheint nachgelassen zu haben. Ab nach draußen.«

Mit einem leisen Seufzen ergibt sich Aaron seinem Schicksal und macht sich auf zur Hintertür. »Glaubt dein Vater wirklich, Julian schickt Spione vor?«

»Niemand weiß, was Julian tut und warum.« Weil er schlichtweg nicht mehr alle Tassen im Schrank hat.

Diesmal halte ich Aaron die Tür auf. Vereinzelte Tropfen fallen aus einer undichten Stelle in der Regenrinne, doch der Schauer ist vorbei. Weiß scheint das Mondlicht vom Himmel, lässt die nebligen Schatten der alten knorrigen Bäume auf dem Boden tanzen.

Es duftet wunderbar. Feucht und erdig, mit einem Hauch Grün und durchmischt mit dem salzigen, frischen Geruch des nahen Ozeans. Kleine Pfützen werfen das kalte Licht zurück wie halb im Erdreich vergrabene Spiegel, kräuseln sich ab und an leicht in einer Windböe.

Ohne jede Eile schlendern wir durch den Park.

»Wart ihr hier?« Aarons Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich zucke zusammen. »Du und Lucas?«

Ich vergrabe meine Hände in den feuchten Jackentaschen. »Ein paar Mal vielleicht. Er hat mir das Gelände gezeigt.« Ein fassungsloses Lachen kommt über meine Lippen. »Ich habe deutlich mehr Zeit mit Julian im Park verbracht.«

Überrascht zieht Aaron die Augenbrauen hoch. »Mit Julian?«

Langsam nicke ich, immer noch ein freudloses Lächeln auf den Lippen. »Ich hielt ihn für einen von uns. Er verbrachte hier gern seine Mittagspausen. Dort hinten.« Ich deute auf den umgestürzten Baumstamm am Rande der Klippe, fahl im Mondlicht glänzend wie ein polierter Knochen. »Aber Lucas und ich …« Hart schlucke ich an dem Kloß in meinem Hals. »Wir waren so gut wie nie hier.«

Wir ducken uns unter den Ästen der Trauerweiden hindurch, um uns an der Seite des Herrenhauses umsehen zu können. Ich strecke die Hand aus, streiche mit den Fingerspitzen über das feuchte, kühle Moos, das den Stamm bedeckt.

Norden.