Biologie? Das ist doch nur ein Nebenfach. - Norbert Pütz - E-Book

Biologie? Das ist doch nur ein Nebenfach. E-Book

Norbert Pütz

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Norbert Pütz

Biologie? Das ist doch nur ein Nebenfach.

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Vorwort

2. Fünf Thesen

3. Bildung und Bildungsstandards

4. Das Nebenfachsyndrom

5. Was soll man ändern: Anspruch oder Wirklichkeit?

6. Veränderung am System Schule, ausgehend vom Fach Biologie!

7. Lebenswissenschaft als naturwissenschaftliches Hauptfach

8. Lebenswissenschaft exemplarisch

9. Nachwort

10. Der Autor stellt sich vor

11. Literatur

12. Anhang: Kompetenzen in den Bildungsstandards

Impressum neobooks

1. Vorwort

Das Thema Schule ist komplex. Und Sie wissen es: Jeder Versuch, Vorschläge zur Verbesserung von Schule zu liefern, fordert ein ‚Ja, aber…‘ offenbar heraus. Gesamtschule oder Gymnasium? Kleinere Klassen? Zentralabitur? Oft geht der Blick auf das Ganze, das Große, das wie ein gordischer Knoten bürokratisch, unüberwindbar scheint und kontrovers diskutiert wird. Und wenn das alles noch nicht genug ist, dann kann man lesen, dass es eben ‚auf den Lehrer ankommt!‘ Aha.

Das vorliegende Werk geht einen anderen Weg. Es schaut nicht auf das große Ganze, sondern greift nur ein kleines Fach heraus. Alle Fächer, große wie kleine – und da herrscht hoffentlich Konsens – sollen in der Pflichtschulzeit unsere Kinder auf das Leben vorbereiten. Mit dem Haupt- und Realschulabschluss entlassen wir die Kinder in die Welt. Sicher, die Ausbildung geht dann weiter, zum Abitur oder in den Lehrberuf. Aber ein grundsätzliches Maß an Bildung und Wissen und Anwendungsfähigkeiten haben die Kinder mit 16 Jahren – wirklich?

Ich werde Ihnen auf den nächsten Seiten zeigen, dass das Fach Biologie in der Schule in einem bedauernswerten Zustand ist – und das trotz der vielen guten Lehrer/-innen! Ich werde Ihnen zeigen, dass das Fach Biologie dem Bildungsanspruch (hier als politische Dimension der Bildungsstandards) nicht einmal ansatzweise gerecht wird –nicht gerecht werden kann! Aber ich werde Ihnen auch zeigen, dass Biologie in der Schule besser geht! Viel besser geht. Und dazu bräuchte es nur etwas Mut, Engagement und – Freiheit.

Und warum erscheint ein solches Buch als ebook? Das ‚spezielle‘ Thema ist für einen Verlag wenig wirtschaftlich, und wenn, dann wird das Buch teuer: 24,99 oder 34,99 € für ein Paperback? Bei 2,49 € ist man doch eher geneigt, ein interessantes Thema ‚anzulesen’. Und ein ebook ist modern und überall verfügbar. Also kann es auch jeder überall lesen, auf dem Tablet, dem PC, dem Handy oder speziellen Lesegeräten. Der kleine Preis hat allerdings lektorale Konsequenzen – hier ein Satzfehler, da fehlt ein Komma, dort ist der Gedankensprung etwas krass. Aber der kleine Preis bedeutet, dass meine Analysen hoffentlich von möglichst vielen Menschen gelesen werden – von Eltern, Fachdidaktikern, Politikern, Lehrern – und dann auch diskutiert werden. Mit einem Ziel: Unsere Schule zu verbessern und dadurch unsere Kinder möglichst optimal vorzubereiten auf das, was ‚Leben‘ ist.

Königswinter, im März 2015

Norbert Pütz

2. Fünf Thesen

Wenn wir unsere Kinder nach der Pflichtschulzeit ins ‚Leben‘ entlassen, sind sie dann vorbereitet auf die Entscheidungen, die es zunehmend zu treffen gilt?

Wie ernähre ich mich richtig?

Welche Stoffe ernähren mich?

Was sind erneuerbare Energien?

Wie schütze ich mich vor Krankheiten?

Wie gehe ich mit Tieren um?

Was ist schlimm daran, meine leere Bierflasche ins Gebüsch zu werfen?

Was hat Benzin und Kerosin mit Erdöl zu tun?

Warum gibt es Naturschutzgebiete?

Warum darf ich hier nicht mein Haus bauen?

Wenn Sie glauben, dass unsere Schule diese und weitere Fragen angemessen mit den Schüler/-innen bearbeitet und hinterfragt, dann sollten Sie dieses Buch nicht weiterlesen (oder vielleicht gerade dann weiterlesen?). Denn ich weiß, dass unsere Schule diesen Anspruch – der in schöner Regelmäßigkeit auch in den Lehrplänen der Länder so niedergeschrieben ist – nicht erfüllt, nicht erfüllen kann!

Das Ziel dieses Buches ist es, einen Weg zu zeigen, wie die Ausbildung unserer Kinder bis zum Ende ihrer Pflichtschulzeit verändert werden müsste; damit sie in Situationen, die naturwissenschaftlich fundiertes Handeln erfordern, dies auch können und tun. Meiner Argumentation liegen fünf Thesen zugrunde, die in den verschiedenen Kapiteln erläutert werden. Diese Thesen lauten:

Hoher Bildungswert: Der Bildungswert im Fach Biologie als biologische Bildung, wie sie durch die Bildungsstandards abgebildet werden, ist persönlich und gesellschaftlich von immenser Bedeutung.

Nachrangiger Stellenwert: Der Stellenwert der Biologie als Nebenfach mit 300 Stunden in 6 Jahren ist nachrangig.

Ungleichgewicht: Anspruch (Bildungswert) und Wirklichkeit (Nebenfach Biologie) stehen im Ungleichgewicht, weshalb biologische Bildung bei den Schüler/-innen nicht erreicht wird.

Veränderung vom Fach aus: Eine grundlegende Veränderung von Schule kann über das Einzelfach Biologie gelingen.

Lebenswissenschaft: Die Einführung eines Hauptfachs Lebenswissenschaft ermöglicht biologische Bildung und gibt dabei auch den anderen Naturwissenschaften eine größere Bedeutung.

3. Bildung und Bildungsstandards

These 1 – Hoher Bildungswert: Der Bildungswert im Fach Biologie als biologische Bildung, wie sie durch die Bildungsstandards abgebildet werden, ist persönlich und gesellschaftlich von immenser Bedeutung.

Beim wissenschaftlichen Prinzip der Induktion betrachtet man ein konkretes Phänomen und kommt zu Verallgemeinerungen: vom Einzelnen zum Grundsätzlichen. Das mag in unserer Welt der Statistiken ungewöhnlich sein, es wird doch alles gezählt und als Daten verglichen. Heraus kommen dann Fakten, die auf niemanden zutreffen. Oder haben Sie 1,39 Kinder (stand in der FAZ als durchschnittliche Kinderzahl je Frau), trinken 107 Liter Bier im Jahr (stand in der WAZ), essen 60 Kilo Fleisch im Jahr (stand in der Wirtschaftswoche) und verdienen brutto 41.000 € im Jahr? Dann wären Sie DER oder DIE Durchschnittsdeutsche. Es gibt niemanden in ganz Deutschland, auf denen all diese Zahlen zutreffen. Diese Zahlen mögen ja interessant sein (vielleicht, um zu schauen, wo man selber steht). Aber im Bereich der Schule werden solche Zahlen schwierig: 33,9 % eines Jahrgangs machen Abitur (2012, gelesen in Die Zeit), das kann man noch verstehen. Aber wenn es um Tests unserer Schüler/-innen geht – PISA, VERA usw. – da wird es bitter. Dann sind norddeutsche Schüler/-innen schlechter als die aus Bayern? Alle? Nein, nur statistisch, da wird verglichen und bewertet; aber was – und wer – vergleicht und bewertet?

Nun fange ich jetzt nicht an, gegen diese Versuche einer globalen oder nationalen Leistungsquantifizierung zu reden. Ich bin wissenschaftlich geprägt mit dem Blick auf das konkrete Phänomen. Mir sind übergeordnete Vergleiche immer etwas suspekt, und pauschalisierende Allgemeinplätze über Schule gibt es genug. Im Sinne der Induktion betrachte ich vor allem ein kleines Fach, die Biologie. Aber am Fach Biologie kann ich gut erklären, wo die Schwierigkeiten sind.

Ich fang mal vorsichtig mit biologischer Bildung an. Was ist das? Man kann das erklären an Beispielen. Man kann das definieren. Man kann das vielleicht auch an Reaktionen ermessen. Als ich im letzten Sommer auf Korsika Urlaub machte, saßen wir am späten Nachmittag entspannt an einem Strand im Naturschutzgebiet, schauten auf die beginnende Dämmerung am fast menschenleeren Strand. Ein Glas Wein in der Hand – friedliche Idylle, Natur pur. Da schlenderten zwei junge Korsen in 50 Meter Abstand am Wasserrand an uns vorbei, bewaffnet mit Harpunen. In etwa hundert Meter Abstand zu uns blieben die Herren stehen und badeten ihre Beute im Meerwasser. Da erst wurden wir neugierig und schauten hin, und sahen einen mittelgroßen Rochen aufgespießt und verendend. Vermutlich handelte es sich um einen Nagelrochen. Dazu muss man wissen, dass das Jagdgebiet der beiden nicht nur ein Naturschutzgebiet ist, sondern dass vom Rochen nur die vergleichsweise kleinen Flügel essbar sind. Was für eine Verschwendung und Missachtung des Lebewesens! War der Rochen sogar nur als Zielscheibe abgeschossen worden? Es machte meine Frau und mich richtig wütend zu sehen, dass diese beiden ein lebendes Tier wegen seiner kleinen Flügel oder ‚so aus Spaß‘ als Zielscheibe missbrauchten. Wir haben heftig mit den beiden geschimpft – wir auf Deutsch – jene haben auf Französisch geantwortet. Sie haben wohl unseren Unmut verstanden, beriefen sich aber auf ihr Recht als Korsen. Aha. Töten aus Spaß als Recht der Korsen?

Warum hielten wir es für wichtig, den jungen Kerlen unseren Missmut über ihr Tun deutlich zu machen (Harpune hin oder her)? Und warum würde ich mir wünschen, dass mehr Menschen eine biologische Bildung hätten und sich ereifern würden über frevelhaften Umgang mit Geschöpfen und Natur? Auf einen Rochen mehr oder weniger kommt es schließlich nicht an. Aufgeregt hat mich die offensichtliche biologische NICHTbildung der beiden. Diese beiden Kerle waren in unsere scheinbare Naturidylle eingebrochen und haben allzu deutlich gemacht, was biologische Nichtbildung so anrichtet. Menschen handeln nach eigenem Gutdünken und – weil sie es nicht besser wissen – richten dadurch Schaden an für sich, ihre Mitmenschen, Ihre Gesellschaft, Ihre Umwelt – ja sogar für die kommenden Generationen. Da wird ein Rochen abgestochen, weil er eine bewegliche Zielscheibe ist. Wie doof kann man sein? An einem solchen kleinen Beispiel spürt man: Wir brauchen biologische Bildung. An solchem Verhalten kann man biologische Bildung messen! Aber wie kann man das erreichen? Und was ist das?

3.1. Was ist Bildung?

Als Wissenschaftler weiß ich gerne, was sich hinter Begriffen verbirgt, auch hinter Begriffen, die doch offensichtlich jeder versteht. In den nachfolgenden Kapiteln werde ich diverse Details beleuchten. Das ist spannend, und wichtig, um nicht aneinander vorbei zu reden. Aber vielleicht haben Sie hier klare Vorstellungen und wollen lieber direkt am Thema bleiben? Dann lesen Sie erstmal beim nächsten Kapitel weiter. Das Kapitel zur Bildung läuft Ihnen nicht weg. Wenn Sie aber geduldig sind, dann lesen Sie hier weiter, denn Bildung – oder was man darunter versteht – ist das Ziel der Schule, und da sollte man schon einige unwägbare Klippen kennen.

Alles was man wissen muss – muss man alles wissen? Wissen ist vielfältig – und je nach Situation (und Alter) sind unterschiedliche Wissensbereiche gefragt. Das Wissen über das ‚Who is who‘ im lokalen Netzwerk mag mitunter wichtig sein – und ein Mensch mit gutem Faktenwissen kann reich werden, zumindest in einschlägigen Spielshows. Sicherlich muss man nicht alles wissen – aber was muss man wissen? Und ist Wissen gleichzusetzen mit ‚Bildung‘? Beginnen wir mit den Begriffen. Schon das ist kompliziert! Was ist ein Begriff? In Biologiedidaktik-Lehrbüchern (z.B. Berck & Graf 2010) kann man Definitionen nachlesen, beispielsweise diese: „Ein Begriff ist eine kognitive Einheit, die rezipierte Ereignisse nach kritischen Attributen sowie Regeln ihrer Verknüpfung zusammenfasst. Ein Begriff wird mit einer Lautfolge und/oder Zeichenkombination benannt und steht damit der Kommunikation zur Verfügung“ (Berck & Graf 2010 S. 120).

Nehmen wir als Beispiel den Begriff ‚Insekt‘. Die Lautfolge meint den Namen, den Terminus, die Vokabel. Um den Begriff ‚Insekt‘ zu beherrschen, genügt es aber nicht, den Terminus nennen zu können. Man muss (1) eine genaue Vorstellung von diesem Begriff haben. Oftmals muss man (2) die Definition eines Begriffs beherrschen und (3) muss man dem Begriff Merkmale zuordnen (sogenannte kritische Attribute). Bleiben wir beim Begriff ‚Insekt‘: Unsere Vorstellung ist ein krabbelndes oder fliegendes, oft lästiges oder gar gefährliches Getier: Mücke, Fliege, Schabe, Maikäfer, Hornisse. Die Definition lautet: Insekten (= Kerbtiere) sind eine hochentwickelte, artenreiche Tierklasse. Die kritischen Attribute sind beispielsweise Sechsbeinigkeit, Chitin-Außenskelett, Gliederung in Kopf, Brust- und Hinterleib, Facettenaugen und meist Metamorphose.

Sie merken, ein Begriff ist viel komplizierter, als einem in der Regel bewusst ist. Der Versuch, die Begriffe ‚Wissen‘, ‚Bildung‘ und ‚Kompetenzen‘ in ein solches Raster einzufügen, ist aufgrund der historischen Dimension noch schwieriger (was im Übrigen für viele biologische Begriffe auch gilt). Im Mittelalter entstand der Begriff ‚Bildung‘ und war vermutlich theologischen Ursprungs. Bildung wurde verstanden als gebildet werden durch Gott. Bildung wurde von außen an den Menschen herangetragen, war in der Schöpfung festgelegt und durch Gott bestimmt. Erst in der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde der Begriff ‚Bildung‘ säkularisiert. Bildung hatte das Ziel der menschlichen Vervollkommnung. Die anfängliche Idealvorstellung wurde zunehmend subjektiviert und durch die Bildungsideale von Wilhelm von Humboldt zum Programm: Durch die Schaffung eines mehrgliedrigen Schulsystems sollte Bildung für alle zugänglich werden und jeder nach seinen Fähigkeiten und gesellschaftlichen Erfordernissen gefördert werden. Diese Bildung um ‚seiner selbst willen‘ wurde zunehmend am praktischen Nutzen orientiert und damit zum Statussymbol.

Paulsen (1903, nachzulesen auch in wikipedia.de, Stichwort: Bildung) hat das treffend formuliert: „Gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann. Ein Zeichen von Bildung ist auch der Gebrauch von Fremdwörtern, das heißt, der richtige; wer in der Bedeutung der Aussprache fehlgreift, der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen ist die Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann. […] Damit kommen wir dann auf das letzte und entscheidende Merkmal: gebildet ist, wer eine ‚höhere’ Schule durchgemacht hat, mindestens bis Untersekunda, natürlich mit ‚Erfolg’.“

Man sollte glauben, diese Standesdünkel seien in unserer modernen Welt überwunden – und tatsächlich gibt es klare Definitionen, etwa die von Kössler (s.u.). Aber man muss sich immer wieder verdeutlichen, dass die historische Entwicklung bis heute zu überaus subjektiven Vorstellungen führt. Während also beim ‚Insekt‘ unsere Vorstellungen relativ ähnlich sein dürften, sind es diese beim Begriff ‚Bildung‘ nicht. Insbesondere durch die späte Technisierung unserer Gesellschaft hat die humanistische Tradition lange unser Bild von Bildung geprägt – und tut es wohl auch heute noch. Mein Lieblingsbeispiel ist ein Zitat, bei dem deutlich wird, dass Bildung allzu oft auf Teilbereiche beschränkt wird. „Naturwissenschaften sind traditionell nicht Teil der Bildung.“ (Fiedler & Sandmeyer 1999, zitiert aus Gräber & Nentwig 2002, S. 10).

Diese Formulierung klingt hart, aber wenn Schauspieler/-innen und sonstige Prominente in TV-Spielshows ihr ‚in Mathe war ich eine Niete‘ zum Besten geben, dann tun sie dies im Bewusstsein, dass sie deshalb niemand für ungebildet hält. Unbewusst – weil vielleicht doch ein wenig ungebildet – tragen diese Personen dazu bei, die Standesdünkel beim Begriff ‚Bildung‘ zu manifestieren.

Bildung umfasst alle Bereiche des Wissens, dazu das Wissen um Informationen, zudem Urteilsvermögen, Reflexion, kritische Distanz und Persönlichkeit. Ungeachtet aller Subjektivität ist mir die Definition von Kössler (1989) immer noch die liebste (vor allem die letzten drei Worte im nachfolgenden Zitat): „Bildung ist der Erwerb eines Systems moralisch erwünschter Einstellungen durch die Vermittlung und Aneignung von Wissen derart, dass Menschen im Bezugssystem ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Welt wählend, wertend und stellungnehmend ihren Standort definieren, Persönlichkeitsprofil bekommen und Lebens- und Handlungsorientierung gewinnen. Man kann auch sagen, Bildung bewirke Identität.“

3.1.1. Biologische Bildung

Der Begriff ‚Bildung‘ kann – und wird – aus verschieden Facetten beleuchtet (vgl. beispielsweise Gudjons 2008, S.90ff). Aber wir fokussieren hier auf die Biologie. Für dieses Fach wird der Bildungswert in der Fachdidaktik konkretisiert. Gropengießer & Kattmann (2008) verdeutlichen den Bildungswert anhand eines Schaubildes und unterscheiden folgende Bereiche.

Erkennen der lebendigen Natur (Lesbarkeit): Verständnis der Natur, Teilhabe an der Natur, Erleben der Natur

Reflektieren des Modus der Welterschließung: Erkenntnisgewinnung, Fragestellungen, Denkwerkzeuge

Verstehen der eigenen menschlichen Natur: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wie leben wir? Wohin gehen wir?

Bewerten der Rolle der Biologie in der Gesellschaft: Anwendung in Berufen, Chancen und Risiken, gesellschaftspolitische Interessen

In meinen Vorlesungen erwähne ich gerne auch die vertiefenden Beschreibungen bei Killermann et al. (2005, S. 35f): „Der Biologieunterricht soll grundlegende Kenntnisse und Einsichten über die Natur vermitteln. Der Biologieunterricht soll das Wahrnehmungs-, Denk- und Urteilsvermögen schulen und mit fachgemäßen Arbeitsweisen vertraut machen. Der Biologieunterricht soll Freude und Interesse an der Natur wecken und mit der Förderung von Formen- und Artenkenntnissen den Naturschutzgedanken unterstützen. Der Biologieunterricht soll Kenntnisse über den menschlichen Körper vermitteln sowie mit Grundlagen der Gesunderhaltung und der Sexualität vertraut machen. Der Biologieunterricht soll zur Achtung gegenüber dem Lebendigen führen und zu einer verantwortungsvollen Haltung gegenüber Natur und Organismen beitragen.“

Uff. Das lass ich so mal im Raum stehen. An dieser Stelle müssen wir aber nachfragen, was unsere Schule macht, um Kinder und Jugendliche zu bilden? Schulen erhalten ihren Input von den Bundesländern, und auch die Ministerien definieren, was Bildung ist. Man findet zur biologischen Bildung Sätze wie diesen: Der Beitrag der Biologie liegt in der Auseinandersetzung mit dem Lebendigen auf verschiedenen Systemebenen von der Zelle über Organismen bis hin zur Biosphäre. Biologisches Verständnis erfordert, zwischen den verschiedenen Systemen gedanklich zu wechseln und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Biologische Erkenntnisse betreffen uns Menschen als Teil und als Gestalter der Natur. Mit Hilfe biologischer Fragestellungen wird Schülerinnen und Schülern die wechselseitige Abhängigkeit von Mensch und Umwelt bewusst. Der Unterricht eröffnet ihnen außerdem Einblicke in Bau und Funktion des eigenen Körpers und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitserziehung und Lebensplanung. Neuere Entwicklungen vor allem im Bereich Nahrungsversorgung und Medizin zeigen die zunehmende Bedeutung der Biologie für technologische Lösungen. (Kernlehrplan für die Gesamtschule – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen, Naturwissenschaften Biologie, Chemie, Physik. Runderlass des. Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 16.06.2011, S. 10)

Man merkt, dass diese biologische Bildung auch normativ ist, d.h. sie enthält moralisch verbindliche Werte, die als Handlungsorientierung dienen sollen. Ein Wertesystem kann so für alle einsichtig begründet werden. In diesem Sinne ist die Institution Schule heutzutage wohl insbesondere auch der Erziehung verpflichtet: Die menschliche Interaktion verursacht zielgerichtetes Handeln. Der Erzieher übernimmt Verantwortung für den zu Erziehenden und dessen Zukunft (Klafki 1986). Erziehung im Biologieunterricht hieße demnach, in verschiedenen biologisch relevanten Bereichen bestimmte Verhaltensweisen und Fertigkeiten zu erwerben. Solche relevanten Bereiche wären zu suchen, beispielsweise in der Umwelterziehung, in der Sexualerziehung oder in der Gesundheitserziehung. Es ist also gewollt, dass Unterricht Informationen vermittelt, vornehmlich erziehend wirkt und dabei eine Basis liefert zur Identitätsfindung der Schüler/-innen – kurzum: sie bildet.

Noch einmal: Ein Unterricht vermittelt Wissen, Unterricht erzieht, und Unterricht bietet – wenn alles passt – brauchbare Anlässe für Bildungsprozesse! Bildung bleibt damit eher abstrakt.

3.1.2. Bildung messen?

Schule soll bilden! Aber dazu braucht es Zeit, Muße, Reflexion. Aber: die Verfasser der ‚neuen deutschen Messkultur‘ auf der Basis der Bildungsstandards und damit zukünftig alle Bundesländer wollen Bildung MESSEN! Aber wie kann man den Grad der Bildung messen – wenn nicht einmal der Begriff und die entsprechenden Vorstellungen einheitlich sind? Nun, im Grunde zielen die Bildungsstandards nicht auf Bildung, sondern auf Kompetenzen, also vornehmlich auf Wissen und Können.

Also: Keine Bildung, sondern Wissen und Können. Aber damit fangen wir von vorne an: Was ist Wissen? Generell handelt es sich bei der kognitiven Dimension Wissen um einen sehr umfang- und facettenreichen Bereich. Bloom et al. (1974) führen dazu aus: „Eines der Hauptprobleme in Bezug auf das Wissen ist die Bestimmung dessen, was in diese Kategorie eingeordnet werden kann, denn es gibt viele verschiedene Arten, etwas als Wissen zu bezeichnen.“

Diese Erkenntnis ist 40 Jahre alt und kein bisschen veraltet! Im Wesentlichen lassen sich drei Wissenstypen zusammenfassen. Die Typen dieser Wissens-Trias werden benannt als Faktenwissen (wissen, dass…oder: knowing that…), Anwendungswissen (wissen, wie…oder: knowing how…) und Handlungswissen (gewusst, wie…oder: know-how…).

Das Faktenwissen umfasst nach Jarz (1997) die Kenntnis von Sachverhalten oder von Aussagen über einen Sachverhalt. Dieses Wissen ist deklarativ und statisch. Deklarativ, weil man damit (vermeintliche) Tatsachen erklärt und statisch, weil Faktenwissen zwar ergänzt oder erweitert werden kann, aber selbst nicht die Quelle neuen Wissens sein kann. Faktenwissen ist ‚knowing that‘, d.h. man weiß, dass etwas so ist und nicht anders. Typisches Faktenwissen ist z. B. die Kenntnis bestimmter Jahreszahlen in Geschichte oder die Kenntnis eines Molekülaufbaus in Chemie.

Das Anwendungswissen bezieht sich auf die Kenntnis von Prozeduren zur Problemlösung (Jarz 1997). Anwendungswissen ist prozedural und dynamisch. Prozedural bedeutet, dass es auf der Kenntnis von Prozeduren zur Problemlösung beruht und dynamisch ist, weil als Ergebnis einer Prozedur neues Wissen herauskommen kann (generisches Wissen). Anwendungswissen ist ‚knowing how‘, d.h. man weiß, wie ein Problem zu lösen ist. Anwendungswissen benötigt Faktenwissen, bezieht aber Ursache- Wirkungszusammenhänge mit ein. So benötigt man beispielsweise eine gute Kenntnis über die Artenvielfalt eines Waldes, um die Verarmung und die Probleme eines Fichtenforsts analysieren zu können.

Das Handlungswissen steht in vielen Wissensmodellvorstellungen (z.B. Baumgartner 1993, Jarz 1997) im Gegensatz zum theoretischen Wissen (Faktenwissen und Anwendungswissen). Handlungswissen ist praktisches Wissen, das Können. Unter Handlungswissen versteht man Fertigkeiten, die sich in ausführbaren Tätigkeiten als praktisches Wissen äußern. Es ist Können, das aufgrund von körperlicher Erfahrung und Übung erworben worden ist (Jarz 1997). Beispiel: Ich kann mit dem Lichtmikroskop umgehen…

Diese Wissenstrias heißt dann in der Biologiedidaktik ‚Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten‘: „Das Können umfasst im wesentlichen Teile des Wissens sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten. Fähigkeiten sind ‚Leistungsdispositionen‘, die Voraussetzungen für bestimmte Tätigkeiten sind (z. B. Probleme stellen und lösen, Anwendung von Methoden und Verfahren nach einem Plan, Denken in Zusammenhängen, Auseinandersetzungen mit verschiedenen Anschauungen, Darstellungen von Sachverhalten in Diagrammen). Fertigkeiten sind durch Übung ausgebildete automatisierte und gefestigte Handlungsabläufe, z. B. Mikroskopieren, Messen, Pflegen von Pflanzen und Tieren.“ (vgl. Eschenhagen et al. 2003, S. 177).

Da Bildung im Sinne Kösslers (s.o.) ein nur schwer zu messendes Gut ist, zielen die Bildungsstandards auf diese Wissenstrias ab (knowing that, knowing how, know how), sind dabei ‚output-orientiert‘, wie Sie im Anhang des Buchs nachlesen können, und benennen Kompetenzen. Dann sollte man sie vielleicht auch so nennen? Oder gefiel den Verfassern der Bildungsstandards der Begriff Kompetenzstandards nicht? Was soll also gelernt werden? Bildung? Wissen? Kompetenzen? Oder doch eher biologisches Fakten-, Anwendungs- und Handlungswissen?

Ich mag dieses Verwirrspiel um Begriffe: Es klingt alles so plausibel, wenn kluge Köpfe etwas beschreiben, aber wenn man das hinterfragt, findet man mehr Fragen als Klarheit. Aber unabhängig von dieser begrifflichen Schwierigkeiten: Wesentliche Quintessenz ist doch, dass die Kultusministerkonferenz mit der Festlegung auf Bildungsstandards das biologische Wissen und Können in den Focus schulischer Bildung gerückt hat. Auch wenn hier nicht so genau der Unterschied zwischen Bildung, Wissen und Kompetenzen herauskommt: Wir haben einen Standard. Hier wurden Tatsachen geschaffen, die es in den Fächern umzusetzen gilt! Diese Umsetzungen, das werde ich später zeigen, sind im Grunde unmöglich.

Ausgehend von der Tatsache, dass die Bildungsstandards Kompetenzen in Wissen und Können festlegen, muss hier einer anderen Frage näher nachgegangen werden, die später – wenn es um Veränderungen geht – durchaus wichtig ist. Es stellt sich nämlich die Frage, wer bestimmte Themen auswählt und die Wissens- und Könnensinhalte bestimmt. Wer garantiert, dass in solchen Bildungsstandards, Richtlinien und curricularen Vorschriften die ‚richtigen‘ Schwerpunkte ausgewählt werden? Wir entfernen uns jetzt leider noch ein wenig weiter weg vom Ziel des Buches, Veränderungsmöglichkeiten zu konturieren. Aber wir müssen uns klar werden, wie wir ‚wählen‘ – nicht politisch, sondern im Bereich der Bildung.

3.2 Die Qual der Wahl

Nehmen wir an, vor Ihnen stünden vier Säckchen mit verschiedenen Getreide und Pseudogetreide, etwa Quinoa, Reis, Weizen oder Buchweizen. Nehmen wir weiterhin an, Sie dürften (oder müssten) zu einer dieser Pflanzen einen kurzen Informationsfilm anschauen, welche würden Sie auswählen? Das Alte, also den Buchweizen? Das Bekannte, also den Weizen? Das Globale, also den Reis? Das Fremde, also Quinoa? Viele würden wohl Quinoa auswählen, das macht neugierig, das kennt man noch nicht. Quinoa (oder Reismelde, Inkareis, Andenhirse, Peruhirse) mit dem wissenschaftlichen Namen Chenopodium quinoa gehört zu den Fuchsschwanzgewächsen (Amaranthaceae). In dieser Familie gibt es Nutzpflanzen wie Spinat, Rote Bete, Zuckerrübe und Amaranth.