Black Bullet – Light Novel, Band 2 - Saki Ukai - E-Book

Black Bullet – Light Novel, Band 2 E-Book

Saki Ukai

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Beschreibung

Der private Wachmann Rentaro und seine Initiatorin Enju treten gemeinsam im Kampf gegen die Gastrea an. Doch dieses Mal winkt ein ganz anderer Auftrag: Fräulein Seitenshi muss zu einem inoffiziellem Gipfeltreffen mit dem Regierungschef des Osaka-Bezirks. Und Rentaro soll als ihr Bodyguard fungieren. Und tatsächlich wird auf die junge Chefin ein Attentat verübt, das Rentaro und Enju nur in letzter Sekunde verteiteln können. Schon bald hat es der Scharfschütze nicht mehr nur auf Seitenshi abgesehen, sondern auf die gesamte Tendo Security GmbH - Rentaro allen voran ...

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Tsunehiro Koboshi rannte, so schnell er konnte. Er rannte – um seine Zukunft und seine Freiheit. Immer wieder drehte er sich um, um zu überprüfen, ob ihn jemand verfolgte. Fünf Kilometer hatte er schon zurückgelegt auf seiner Flucht.

Am Straßenrand blühten Sonnenblumen. Irgendwann gab es keine Abzweigungen mehr. Die Straße führte lediglich geradeaus. Bald sah er nur noch Wälder und Gebüsch – das kontinuierliche Schwinden jeglicher Anzeichen von menschlicher Zivilisation wurde unheimlich.

Die Muskeln in seinen Beinen begannen zu verkrampfen. Seine schweißgetränkte Kleidung klebte am Körper. Für gewöhnliche Menschen, die keine Kinder der Verdammnis waren, war die bisher zurückgelegte Strecke bereits eine kaum zu ertragende Distanz. Tsunehiro erinnerte sich plötzlich daran, wie ihm ein Klassenkamerad an der Mittelschule zum Spaß mit der Faust gegen die Schulter geboxt und gesagt hatte: »Du musst mehr trainieren, mein Freund.«

Wie recht er gehabt hatte.

»Tsunehiro, ist alles in Ordnung mit dir?«

Er warf einen flüchtigen Blick auf das Mädchen, das neben ihm rannte. Sie war drei Jahre jünger als er und trug die gleiche, verschmutzte Arbeitskleidung. Allerdings atmete die Kleine völlig normal. Aus ihren weinroten Augen warf sie ihm einen besorgten Blick zu. Es waren dieselben roten Augen wie bei den Gastrea.

Tsunehiro wischte sich angestrengt den Schweiß aus dem Gesicht und keuchte: »Mir … geht’s … gut … Shuri … b… bist du … o…kay?«

Shuri nickte.

Tsunehiro stützte die Hände auf seine Knie, die jeden Moment nachzugeben drohten, und biss die Zähne zu-sammen. Es ging längst nicht mehr nur um sein eigenes Leben. Er hatte das Mädchen in die Sache hineingezogen! Deshalb durfte er nicht aufgeben. Wenn die beiden gefasst würden, müssten sie in die dunkle Mine zurück. Das werde ich auf keinen Fall zulassen, dachte Tsunehiro und blickte sich noch einmal um. Es war niemand zu sehen. Trotzdem war er sich sicher, dass die Verfolger irgendwo hinter ihnen waren.

Plötzlich gaben Tsunehiros Beine nach und er stürzte. Shuri blieb erschrocken stehen und drehte sich um. Nun waren tatsächlich Menschen zu sehen, die ihnen nachrannten. Und sie kamen näher.

»Tsunehiro, lauf weg! Ich kämpfe gegen sie!« Mit diesen Worten lief Shuri den Verfolgern entgegen.

»N… Nein, Shuri! Kämpf nicht gegen diese Initi…« Bevor Tsunehiro den Satz auch nur zu Ende gesprochen hatte, schlitterte ihm Shuri schon wieder mit lautem Krachen über den Asphalt entgegen. Tsunehiro erblasste. Shuri hatte keine Chance gehabt. Die Initiatorin musste unglaublich stark sein! Tsunehiro half Shuri schnell auf die Beine und gemeinsam setzten sie ihre Flucht fort.

Kurz darauf tauchte ein gigantisches Gerüst am Horizont auf. Als sie näher kamen, sahen sie durch einen Zaun, dass runde Gondeln daran befestigt waren. Dann erschien die Silhouette eines weiteren Gerüsts. Darauf waren Schienen. Ein Vergnügungspark!

Die Wachleute waren ihnen dicht auf den Fersen – und der Weg endete vor den Toren des Vergnügungsparks.

Tsunehiro ahnte, dass ihre Flucht hier zu Ende sein würde. Er dachte fieberhaft nach. Dann warf er Shuri, die noch immer neben ihm lief, einen kurzen Blick zu. Als sie ihm entschieden zunickte, überquerten die beiden mit einem Sprung die Drehkreuze am Eingang.

Tsunehiro sah aus den Augenwinkeln die entsetzten Gesichter des Aufsichtspersonals und entschuldigte sich innerlich. Wenn sie sich erst unter die Menschenmassen gemischt hätten … Doch dann stutzte er. Es waren kaum Besucher zu sehen. Die fahrenden und sich drehenden Fahrgeschäfte waren fast menschenleer. Es war erschreckend ruhig an diesem Abend. Eine Menschenmenge, in der die beiden hätten untertauchen können, gab es nicht.

Tsunehiro drehte sich um und erschrak erneut: Die Initiatorin, die sie verfolgt hatte, sprang gerade über die Drehkreuze. Sie trug einen schönen Mantel mit Karomuster auf der Innenseite, dazu einen Minirock und Schnürstiefel mit dicker Sohle. Ihre beiden Zöpfe, die mit großen Haarspangen am Kopf befestigt waren, wippten hin und her. Die untergehende Sonne schien ihr über die Schultern.

Das Mädchen lief nun entschlossen auf die beiden zu und formte über dem Kopf mit den Armen ein großes X. »Ihr habt gegen das Gesetz verstoßen! Das kann ich euch nicht durchgehen lassen!«

Hinter der Initiatorin kam eine Frau auf einem Fahrrad angefahren – vermutlich ihre Promoterin. Energisch hielt sie dem Wachpersonal am Eingang etwas vors Gesicht, das wohl ihr Wachdienst-Ausweis war, stieg vom Fahrrad und strich mit der Hand die langen schwarzen Haare zurück. Sie war von bezaubernder Schönheit. Wer konnte das nur sein?

»Gut gemacht, Enju«, sagte die Frau, als sie neben ihnen stand, und wandte sich dann an Tsunehiro und Shuri. »Ihr seid Tsunehiro Koboshi und Shuri Nagiwa. Gemäß unserem Auftrag nehmen wir, die Tendo Security GmbH, euch fest.«

Tendo Security. Das sagte Tsunehiro doch irgendwas! Er wühlte in seinem Gedächtnis. Plötzlich erschrak er. »I… Ihr seid von Tendo Security?«

»Ja, wieso? Schon mal von uns gehört?« Die junge Frau beugte sich erwartungsvoll zu den beiden vor.

»Ob ich von euch gehört habe?«

Der Held, der einen Gastrea der Stufe V besiegt hatte, als der Tokyo-Bezirk kurz vor der Vernichtung stand – er war von der Tendo Security GmbH gewesen! Persönliche Daten über den Typen wurden von Anfang an von den Medien unter Verschluss gehalten, weil man Morddrohungen, einen Anschlag, eine Entführung oder auch seine Abwerbung aus ins Ausland befürchtete. Doch der Name Rentaro Satomi hatte es über Gerüchte sogar bis ins Bergwerk geschafft.

Die junge Frau hielt die Hand vor den Mund und kicherte kurz vergnügt. »Genau. Wir sind von der Tendo Security GmbH, ich heiße Kisara Tendo und bin die Chefin. Ihr seid uns übrigens in die Falle getappt, weil … das hier der Vergnügungspark ist, in dem Satomi jobbt.«

Rentaro Satomi. Tsunehiro war wie vom Blitz getroffen und Shuri zitterte am ganzen Körper. War der legendäre Wachmann etwa hier?

Kisara, die junge Chefin, winkte energisch mit den Händen. »Schaut! Das ist Tendo Securitys stärkster Promoter und unser ganzer Stolz: Rentaro Satomi!«

Tsunehiro und Shuri sanken langsam, sich gegenseitig umklammernd, zu Boden. Das war’s. Aus und vorbei! Tsunehiro kniff die Augen zusammen und wartete auf sein Ende.

Doch nichts passierte.

Vorsichtig öffnete er ein Auge.

Kisara war rot geworden und blickte suchend um sich. »K… Komisch. Ich habe gehört, er arbeitet in diesem Park. Enju, sag mal, weißt du, wo genau?«

»Nein, das weiß ich auch nicht. Ich habe schon oft gesagt, dass ich ihn besuchen möchte. Aber er meint immer nur, ich soll auf gar keinen Fall kommen.«

Die beiden begannen, die Umgebung mit den Augen abzusuchen, und auch Tsunehiro ertappte sich dabei, wie er sich nach allen Seiten umsah.

Im Vergnügungspark herrschte gespenstische Stille. Keine Menschenseele war zu sehen, abgesehen von einem Ort: Um eine junge Hexe hatten sich einige Kinder geschart. Die Person trug das Kostüm der Tenchu Violet, einer sehr unbeliebten Figur aus der Zeichentrickserie Tenchu Girls. Die Kinder, Grundschüler im Alter von sechs, sieben Jahren, traten und schlugen auf die Hexe ein. »Macht sie fertig!«, »Stirb doch endlich!«, »Ha ha ha!«, »Tötet sie, tötet sie!« Wo auch immer dieser Groll herkam – die Kinder warfen Violet nun um, kletterten auf sie drauf und schlugen wie besessen auf sie ein. Unter der lächelnden Maske des Kostüms drangen dumpfe Schmerzensschreie hervor.

Kisara verzog das Gesicht. »Das kann doch nicht wahr sein.«

»Aaaaaaah!! Wie ihr mir auf den Sack geht!« Völlig unerwartet hatte die junge Hexe einen Ausdruck benutzt, der so böse war, dass die Kinder um sie herum wie versteinert innehielten. Sie drehten die Köpfe nach allen Seiten, aber natürlich war sonst niemand zu sehen.

Jetzt richtete Violet sich auf und nahm die Maske ab. Darunter kam ein Junge zum Vorschein. Er war völlig aus der Puste und verschwitzt. Mit grimmigem Gesichtsausdruck rief er: »Behandelt mich gefälligst besser, ihr Gören, sonst verpass ich euch eine!«

Die Kinder standen wie angewurzelt da, bis plötzlich eines nach dem anderen die Angst packte. Sie begannen zu heulen. »Violet ist gestorben!«, »Mama!«, »Aus ihr ist ein komischer Kerl gekommen.«

»Hey, weint doch nicht! Hört auf! Violet ist am Leben. Hey, ich bin doch die kleine Hexe! … Ah, verdammt! Ja, genau … ich bin so was wie eine Alien-Larve, die aus Violets Bauch schlüpft. Tut mir leid … Mist!« Der Junge schmetterte den Kopf der Maske und den Zauberstab zu Boden. Dann ging er langsam in Richtung Kisara, vom Hals abwärts immer noch im Hexenkostüm.

War das wirklich Rentaro Satomi? In Tsunehiro kamen Zweifel auf.

Kisara verschränkte die Arme vor der Brust. »Satomi, du kommst zu spät. Wenn ich dich rufe, hast du sofort zu reagieren!«

Rentaro kratzte sich am Kopf und grummelte mit matter Stimme vor sich hin: »Das bringt jetzt auch nichts, Kisara. Ich beschütze den Tokyo-Bezirk unter Einsatz meines Lebens, und trotzdem krieg ich weniger Geld, als wenn ich im 24-Stunden-Shop jobben würde. Und jetzt muss ich hier auch noch als menschlicher Sandsack herhalten.«

»Du weißt doch, dass du mich bei der Arbeit Chefin nennen sollst! Außerdem ist das alles deine Schuld. Seit du den Gastrea Stufe V besiegt hast, gibt es kaum noch Arbeit für private Wachdienste. Die Aufträge bleiben aus.

Seit dem Vorfall konnten wir keinen einzigen Auftrag ordnungsgemäß erledigen, weißt du?! Auch diesen Monat haben wir aufgrund eines gewissen Jemands noch keine Umsätze erzielt. Verstehst du, was ich meine? Du Nichtsnutz, Sa-to-mi!«

Offenbar hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Rentaro ließ seufzend den Kopf hängen. Dann bemerkte er plötzlich Tsunehiro und Shuri. »Und wer sind die beiden da?«

»Die Zielpersonen.«

»Zielpersonen? Auftrag der Regierung?«

»Nein, Auftraggeber ist ein anderer privater Wachdienst.«

»Was? Ein Wachdienst beauftragt den anderen? So was gibt's?«

»Es ist nicht mal so selten.«

Rentaro murrte kurz über diesen seltsamen Auftrag und wie lästig alles sei, dann schlenderte er zu Tsunehiro und Shuri und beugte sich zu ihnen runter. »Also, was habt ihr ausgefressen?«

Nachdem sich Tsunehiro und Shuri kurz einen Blick zugeworfen hatten, begannen sie, den Hintergrund ihrer Flucht zu erläutern: Die Schulden von Tsunehiros Vater waren immer größer geworden, bis eines Tages, als Tsunehiro von der Schule nach Hause kam, Yakuza* vor der Tür standen. Sie bedrohten den Jungen, sagten ihm, er könne nicht mehr zur Schule gehen. Dann verschleppten sie ihn in eine Ballanium-Mine, die eines ihrer Unternehmen betrieb. Tsunehiro wurde gezwungen, Tag für Tag anstrengende Arbeit in einem abgelegenen Ballanium-Berg zu verrichten, ohne Aussicht auf ein Ende.

Man könnte sagen, Gleich und Gleich gesellt sich gern – jedenfalls waren die Wachleute, die von den Yakuza für die Bewachung der Mine angeheuert worden waren, unmenschliche Gesellen. Ihre Aufgabe war es aufzupassen, dass niemand floh. Manche der Arbeiter waren der brutalen Selbstjustiz der Yakuza zum Opfer gefallen und getötet worden. Dann traf Tsunehiro Shuri und er begann, über Fluchtpläne nachzudenken. Als die Wachen einen Moment unaufmerksam waren, nutzten die beiden die Gunst der Stunde und machten sich mit einem gestohlenen Jeep auf und davon. Sie fuhren wie wild um ihr Leben, bis in den Bereich innerhalb der Monolithen.

All dies erzählte Tsunehiro ziemlich atemlos.

»Hm, dann sind das ja gar keine bösen Menschen, oder?«, fragte Enju.

Rentaro und Kisara machten ein verlegenes Gesicht.

»Was sollen wir jetzt tun, Chefin?«

»Was fragst du mich das? Außerdem hab ich den Auftraggeber schon informiert, dass wir sie geschnappt haben.«

»Den Auftraggeber?«

Mit einem pfeifenden Geräusch schnellte etwas in atemberaubender Geschwindigkeit an Tsunehiro vorbei und bohrte sich in den Boden direkt vor seinen Füßen. Der Pfeil einer Armbrust.

»Jetzt hab ich euch, ihr Drecksgören!«

Tsunehiro drehte sich um und unterdrückte einen Aufschrei. Hinter ihnen stand ein Mann. Er hielt eine Armbrust aus Ballanium in der rechten Hand. Sein kantiges Gesicht sah aus wie ein Fels, in den zwei schmale Augen eingemeißelt worden waren. Auf seinem Gesicht spiegelte sich der blanke Hass. Es war Haga. Der Mann, der Angst und Schrecken in der Ballanium-Mine verbreitete, aus der Tsunehiro und Shuri geflohen waren. Und ein grausamer Promoter, der schon drei Arbeiter, die ihm nicht gepasst hatten, getötet hatte.

Haga leckte sich die Lippen wie ein hungriges Reptil. »Ihr habt uns ganz schön an der Nase herumgeführt. Macht euch auf was gefasst, ihr Mistkröten! Ich mach euch kalt und werf eure Leichen den Schweinen zum Fraß vor.«

Nichts wie weg, dachte Tsunehiro, aber er war vor Angst wie erstarrt und seine Beine wollten sich keinen Millimeter rühren.

Haga visierte ihn, absichtlich langsam, mit der Armbrust an und krümmte seinen Finger um den Abzug.

»Hey, warte mal! Bist du der Wachmann, der uns beauftragt hat? Wo ist deine Initiatorin?«

Haga blickte zur Seite. Anscheinend hatte er Rentaro erst jetzt bemerkt. »Deinen Lohn kriegst du gleich, also halt’s Maul, du Hund!«

»Wo deine Initiatorin ist, hab ich dich gefragt, du Dummkopf!« Rentaro starrte Haga an, ohne zu blinzeln.

Haga hingegen hatte sich offenbar erschreckt und war kurz abgelenkt. »Pff, also so eine hatte ich schon, aber sie hat mich mit ihrem ständigen Gejammer genervt, da hab ich sie kaltgemacht. Hab’s als Arbeitsunfall gemeldet, also die IISO** wird mir wohl bald eine neue …«

»Tendo-Kampftechnik Form 1, Nummer 3!«

»Hä?«

»Rokuro-Kabuto!« Rentaros Faust bohrte sich in das Gesicht von Haga, der nur einen Moment unaufmerksam gewesen war, und schlug ihm drei Zähne aus. Durch den Schlag wurde Haga drei Meter durch die Luft geschleudert, dann blieb er regungslos am Boden liegen. Aus seiner Nase quoll Blut.

»Hör auf mit dem Scheiß! Du bist eine Schande für alle privaten Wachdienste. Tritt mir nie wieder unter die Augen! Wenn ich dich noch mal sehe und du bist immer noch Wachmann, murks ich dich ab!«, brüllte Rentaro.

Da, plötzlich, erstarrte er. Bedauerte er den Wutausbruch? Er zog die Schultern hoch und drehte sich zu Kisara.

Diese hatte entsetzt die Hände vors Gesicht geschlagen.

»Tut mir leid, ich hab’s schon wieder getan …«

»Warum schlägst du den Auftraggeber nieder, Satomi?! Was denkst du, das wievielte Mal wir nun um unser Honorar kommen? Wenn du ihn schon schlägst, mach es, nachdem er uns bezahlt hat!«

»Ach, darum geht’s dir also?«

Tsunehiro, der die Unterhaltung aufmerksam verfolgt hatte, fiel die Kinnlade herunter. Hatte ihn gerade ein privater Wachmann gerettet?

Rentaro lieh sich von Kisara Zettel und Stift, kritzelte etwas darauf und drückte das Blatt Papier dann Tsunehiro in die Hand. »Stellt euch bei diesem Polizisten. Er heißt Tadashima und ist Leiter der Mordkommission. Er ist keiner von denen, die Kinder der Verdammnis diskriminieren, und wird euch vermutlich helfen. Kann gut sein, dass du wegen Fahrens ohne Führerschein drankommst, aber mildernde Umstände gibt es zur Genüge. Ach, eins solltet ihr noch wissen: Sein Gesicht ist so Furcht einflößend, dass ein Yakuza dagegen wie ein lachender Buddha aussieht.«

»Ähm … ich …«, stammelte Tsunehiro.

Das Klingeln von Kisaras Telefon unterbrach ihn. »Satomi!«, rief sie Rentaro zu. »Endlich wieder was zum Jagen: Im 23. Bezirk von Tokyo wurde ein Gastrea der ersten Stufe gesichtet! Es scheint sich um eine Art Fluginsekt zu handeln, das sich nach Tokyo verirrt hat.« Rentaros Gesichtsausdruck sagte alles: Er schien solcher Aufträge mehr als überdrüssig zu sein. »Hey, Kisara, das hier ist der 11. Bezirk. Wollen wir uns ein Taxi rufen?«, entgegnete er seufzend.

Kisara hob ihr Fahrrad auf, schwang sich in den Sattel, platzierte einen Fuß auf einer Pedale und drehte den Kopf zu Rentaro. »Was redest du für einen Unsinn?! Für so was haben wir kein Geld, das weißt du doch! Lauf! Hopp! Auf geht’s!«

Rentaro sah an sich herunter. Er steckte vom Hals abwärts immer noch in dem Kostüm der kleinen Hexe. »Dann hilf mir wenigstens hier raus! Der Reißverschluss ist kaputt. Ich kann das Kostüm von innen nicht öffnen.«

Kisara und Enju warfen sich amüsierte Blicke zu. »Das steht dir übrigens gut, Satomi«, stellte Kisara fest und Enju stimmte zu: »Ja, damit siehst du supersüß aus.«

Rentaro ließ beschämt den Kopf hängen. »Lasst gut sein …«

Es war ein sonderbares Bild, das sich Tsunehiro unter dem rot gefärbten Abendhimmel bot: ein Junge im Hexenkostüm, ein kleines Mädchen, das dem Jungen wie ein Hündchen nachlief, und eine junge Frau auf einem Fahrrad, die in ein Megafon brüllte. Die drei warfen lange Schatten, während sie langsam in der Ferne verschwanden.

Was für selbstlose Helden, dachte Tsunehiro. Die Gerechtigkeit ist ihnen Lohn genug. Das sind echte Wachleute. In seinem Herzen loderte ein Feuer der Sehnsucht. Er war zutiefst gerührt.

Dann ballte er die Fäuste, drehte sich zu Shuri und sagte: »Shuri, ich will auch einmal Wachmann werden. Und wenn es so weit ist, möchte ich, dass du meine Initiatorin wirst!« Überrascht riss Shuri die Augen auf. Dann legte sie den Kopf leicht zur Seite und lächelte verlegen. »Wenn du das willst …«

Das Lächeln wurde zu einem Strahlen, und Tsunehiro errötete bis über beide Ohren. Verlegen wandte er den Kopf ab und sah den Schatten der inzwischen weit entfernten Tendo-Wachleute hinterher.

Das Jahr 2031.

Gesamtbevölkerung der Erde: 750 Millionen.

Bei der IISO registrierte Paare von privaten Wachleuten: 24000.

Die Menschen leben dicht gedrängt in den von gigantischen Monolithen umgebenen Bezirken und gehen langsam, aber sicher ihrem Untergang entgegen.

Initiatorin und Promoter. Die beiden bilden ein Kampfpaar. Mit antrainierten Kräften bekämpfen sie die Gastrea.

Sie allein sind die letzte Hoffnung der Menschheit.

*japanische Mafia

**Internationale Initiatorinnen-Überwachungsbehörde

1

Das Dōjō* mit dem Tatamiboden** war von frischer, kühler Morgenluft erfüllt. Mittendrin stand Kisara Tendo. Sie trug eine schwarze Matrosenuniform. Ihr glattes, pechschwarzes Haar glänzte im sanften Sonnenlicht. Kisara schloss die Augen, ging leicht in die Knie und legte die Hand auf den Griff ihres Schwertes. In dieser Position verharrte sie fast zehn Minuten.

Es war die Tendo-Schwertkampftechnik Nehan Myōshin no Kamae, bei der Angriff und Verteidigung eins werden. Sie verleiht dem Schwertkämpfer die Fähigkeit, fokussiert zu bleiben, egal, was um ihn herum geschieht.

Wie anmutig sie aussieht, dachte Rentaro, während er Kisara vom Seitenrand der Trainingshalle aus betrachtete. Gleichzeitig verspürte er ein leichtes Schaudern. Die Kampftechnik würde keinem Gegner auch nur die geringste Chance lassen. Egal aus welcher Richtung sich ein Angreifer näherte – in dem Moment, in dem er ihren Schlagradius beträte, würde sie ihn gnadenlos niedermetzeln. Davon war Rentaro überzeugt.

Heimlich zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und warf einen Blick auf die Uhr. Bald würde die Schule beginnen. Bald würde Kisara sich bewegen.

Und er hatte recht: Im nächsten Moment atmete sie kurz aus. Dann sprach sie mit ruhiger Stimme: »Tendo-Schwertkampftechnik, Form 1, Nummer 1.« Blitzschnell zückte sie ihr Schwert. »Tekisui-Seihyo!« Sanft glitt das schwarze Katana*** durch die Luft – und die stoffumwickelte Holzzielscheibe vor Kisara zerbarst explosionsartig. Die Holzstücke flogen quer durch das Dōjō und knallten gegen die Wände.

Bemerkenswert daran war, dass Kisara mehr als sechs Meter von der Zielscheibe entfernt gestanden hatte. Rentaro schluckte. Die Distanz, die sie beim katapultartigen Ziehen ihres Schwertes überbrücken konnte, war die Summe aus ihrer Armlänge, der Länge der Schwertklinge und des Schritts, den sie nach vorne machte. Aber irgendetwas Besonderes musste außerdem in dieser Technik liegen. Auch er hatte noch nicht alles von Kisara gesehen, aber er wusste, dass sie Objekte in Stücke schlagen konnte, die bis zu dreimal weiter entfernt waren als ihr Schlagradius.

Rentaro stand auf, klatschte einige Male in die Hände, während er auf Kisara zuging, und warf ihr ein Handtuch zu. Mit einem knappen »Danke« wischte sie ihr Gesicht ab. Sie war erschöpft von der Übung, die größte Konzentration erfordert hatte.

»Du bist nach wie vor unfassbar schnell im Schwertziehen. Du hast die Techniken wirklich gemeistert, Chefin«, sagte Rentaro anerkennend.

Mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck hob Kisara den Kopf. »Nenn mich nicht so, wenn wir nicht im Dienst sind. Außerdem, wenn du diese Techniken so bewunderst, kannst du dich ruhig selbst mehr anstrengen. Du bist immer noch ein Anfänger, Satomi.«

»Von dir kann ich noch viel lernen. Auch wenn Schwertkampf und Nahkampf unterschiedliche Disziplinen sind, gehören sie beide zu den Tendo-Künsten. Und du befindest dich schon im Zustand der Erleuchtung.«

Kisara lächelte kurz, während sie sich die Haare aus dem Gesicht strich. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber der Weg des Schwertes kennt keine Erleuchtung. Wenn du denkst, du bist erleuchtet, bist du arrogant und eitel und das Schwert verliert seinen Glanz. Außerdem meinte Meister Sukekiyo, als er mich in die Geheimnisse einweihte, meine Schwertkunst sei verdorben. Wie auch immer, letzten Endes machte er mich trotzdem zur Meisterin.«

»Hm, der unverwüstliche Alte? Lebt der noch?«

»Dieses Jahr wird er hundertzwanzig. Er ist fitter denn je.«

»Tsss, der könnte auch langsam mal abdanken.«

»Ihm habe ich zu verdanken, dass ich nicht überheblich werde. So schärfe ich meinen Verstand und mache mir ständig bewusst, dass ich immer noch besser werden kann.« Mit entschlossener Miene begann Kisara, die Einzelteile der Zielscheibe aufzusammeln.

Rentaro schob schmollend die Unterlippe vor. »Du brauchst nicht noch stärker zu werden. Ich kann dich beschützen!«

Plötzlich fiel Rentaro etwas auf. Das Katana in Kisaras Hand sah auf den ersten Blick wie das Übungsschwert aus, das sie immer verwendete: die schwarz lackierte Scheide, das schwarze Griffende und das rote Stoffband. Allerdings war dieses ein echtes, geschliffenes Schwert.

»Das Setsunin-to Yukikage?«, fragte Rentaro staunend.

»Exakt!« Kisara blieb einen Moment stehen, dann drehte sie sich zu Rentaro. Sie zog das Schwert erneut und hielt die Klinge in das durch die schmalen Fenster fallende Licht. Die gezackte Härtelinie glänzte in der Sonne.

Während Kisara ihr Katana verzückt musterte, flüsterte sie: »Satomi, habe ich dir je die Bedeutung eines Setsunin-to erklärt?«

»Nein.«

»Im Zen-Buddhismus ist es sozusagen der Gegenpol zum Katsunin-ken. Das Setsunin-to ist ein Schwert, das die menschlichen Begierden widerspiegelt. Und dieses hier existiert nur, um die gesamte Familie Tendo auszurotten.«

Mit zusammengekniffenen Augen ballte Rentaro die Fäuste hinterm Rücken. Kurz überlegte er, ob er sie darauf hinweisen sollte, dass auch sie vom Schein des Schwertes geblendet und dadurch Opfer ihrer Rachsucht geworden war.

Kisara litt an einem Nierenleiden, weshalb sie immer nur kurze Zeit kämpfen konnte. Den eigenen Kampf gegen die Gastrea hatte sie schon vor Langem aufgegeben und ihr Schwert Yukikage in das Schließfach in ihrem Büro verbannt.

Aber plötzlich schwang sie es wieder im Dōjō. Was hatte das zu bedeuten? Rentaro fragte sich, ob auch Kisara einen emotionalen Wandel durchlebt haben konnte – ähnlich wie er selbst, als er sich nach dem Anschlag auf Tokyo auf die Suche nach den wahren Umständen gemacht hatte, die zum Tod seiner Eltern geführt hatten. Oder war das zu weit gedacht?

Er erinnerte sich an eine Textstelle aus dem Hōjōki****, die er im Japanisch-Unterricht gelernt hatte: ›Unaufhörlich strömt der Fluss, dennoch ist sein Wasser nie dasselbe.‹

Gerade als Rentaro Luft holte, um etwas zu sagen, wurde die Schiebetür zum Dōjō mit einem lauten Krachen aufgerissen und Enju stürmte herein. Die beiden langen Zöpfe baumelten an ihrem Kopf wie die Ohren eines Hasen. »Heute wollten wir zusammen trainieren! Du hast es versprochen!«, rief sie.

Sie hatte recht. Das hatte er ja völlig vergessen!

Während er also seine Kunststoffpistole entsicherte und die erste Kugel hineinsteckte, warf er Enju, die ein paar Meter vor ihm stand, einen kurzen Blick zu. »Hör zu, Enju. Wenn du denkst, es wird gefährlich für dich, schreist du ganz laut, okay?«

»Verstanden!«, rief sie mit vergnügter Stimme. Dabei winkte sie energisch mit beiden Händen.

Das Training fand auf einem Rasen hinter dem Dōjō statt.

Rentaro atmete tief durch. Die rote Mündung der Pistole in seinen Händen zeigte, dass es sich um ein Spielzeug handelte, das mit kleinen Plastikkügelchen schoss. Als er in Schussposition ging, spannte sich Enjus Körper an.

»Los geht’s!« Rentaro zielte auf ihren Oberkörper. Mit einem leisen Plopp schoss die Kugel aus der Pistole. Er erschrak: Er hatte Enjus Gesicht nur um Haaresbreite verfehlt. Einen Moment dachte er, er hätte nicht richtig gezielt, also visierte er sie erneut an, dann betätigte er wieder den Abzug. Diesmal sah er allerdings ganz genau, wie Enju der Kugel im Bruchteil einer Sekunde auswich.

»So ein …«, murmelte Rentaro. Nun feuerte er mehrere Schüsse hintereinander ab.

Doch Enju hatte keine Probleme, mit seinem Tempo mitzuhalten. Dabei gab sie sich wenig Mühe, ihren gelangweilten Gesichtsausdruck zu verbergen. »Rentaro, das ist voll lahm!«

»Das ist ein Training! Das muss keinen Spaß machen!«, sagte Rentaro und schnaubte. Aber wenn sie sich schon beschwert …, dachte er und zog seine Springfield-XD-Pistole aus dem Gürtel. Die Kugeln darin waren aus Hartgummi. Durch sie konnte man nicht sterben. Trotzdem erreichten sie dieselbe Geschwindigkeit wie echte Munition, da sie mit Schießpulver gezündet wurden. Ein Treffer am Körper verursachte große Schmerzen. Rentaro kannte Enjus außergewöhnliche Selbst-heilungskräfte – trotzdem wollte er sie nicht treffen.

Er feuerte die erste Kugel ab. Dabei versuchte er, den kräftigen Rückstoß zu kontrollieren, und zielte so, dass Enju auf jeden Fall ausweichen konnte. Dann schoss er mehrmals hintereinander. Ihre Ausweichmanöver wurden immer schneller, ihr konzentrierter Blick war geschärft.

Kugel für Kugel wich Enju im Zickzack aus. Von ihrer Schnelligkeit beeindruckt feuerte Rentaro weitere Schüsse ab, während er langsame Schritte nach hinten machte. Doch da, überraschend und im Bruchteil einer Sekunde, erschien sie schon wieder direkt vor ihm.

Rentaro richtete die Pistole auf Enju – und bemerkte im gleichen Moment seinen Fehler: Ihre Beine waren schneller als seine Waffe. Mit durchgestrecktem Knie trat sie Rentaro die Pistole aus der Hand. »Ha!«

»So, wir haben einen Sieger. Für heute ist Schluss!« Kisara stand mit verschränkten Armen hinter dem Dōjō.

Kalter Schweiß lief Rentaro das Gesicht herunter. Als er vorsichtig zur Seite blickte, entdeckte er Enjus Fuß wenige Millimeter vor seinem Hals.

Langsam nahm sie ihr Bein herunter, verschränkte die Arme hinterm Rücken und grinste. »Das sieht ja vielversprechend aus.«

Rentaro machte ein Gesicht, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Er hob seine Pistole vom Boden auf und steckte sie zurück in seinen Gürtel. Fraglich war, wer hier wem eine Lektion erteilt hatte. Beim Kampf gegen die Initiatorin Kohina Hiruko, die stets mit zwei Schwertern kämpfte, war Rentaro sprachlos gewesen über deren Schnelligkeit. Nun aber erkannte er, dass Enju Kohina bei Weitem übertraf. Dadurch konnte sie es auch mit bewaffneten Gegnern aufnehmen.

Aber das war nicht das einzig Beeindruckende an Enju. Normalerweise unterlagen starke Initiatorinnen wie sie nur dann einem gewöhnlichen Menschen, wenn sie in dem Augenblick, in dem sie in den Lauf einer Pistole starrten, aus Todesangst ihren Willen zu kämpfen verloren. Für gewöhnlich war also der einzige Versagensgrund der etwa zehnjährigen Mädchen ihre kindliche Psyche. Enju aber fürchtete sich nicht vor dem Lauf einer Pistole. Das war schon lange so gewesen, bevor sie Rentaro kennenlernte. Enju war ein Kind der Verdammnis.

Die Menschen, die die Welt zehn Jahre nach dem Krieg beherrschten, gehörten zur sogenannten verlorenen Generation. Bei ihnen hatte sich ein enormer Hass gegen die Gastrea angestaut. Enju selbst sprach nie über ihre Vergangenheit. Aber Rentaro brach es das Herz, wenn er darüber nachdachte, in was für Situationen ihr vor ihrer ersten Begegnung eine Pistole an den Kopf gehalten worden sein könnte.

Eine solche Gesellschaft wollte und konnte er nicht akzeptieren.

Er starrte die Pistole in seiner Hand an. Seit langer Zeit schon durften gewöhnliche Zivilisten zur Selbstverteidigung Feuerwaffen besitzen. Rentaro wusste aus seinen zahlreichen Kampferfahrungen an der Front, dass Pistolen offensive Waffen waren, entwickelt, um Menschen innerhalb von Sekunden zuverlässig zu töten.

Der Begriff Selbstverteidigung ist nur ein Vorwand. Niemand, der bei Verstand ist, glaubt ihnen das, dachte er.

Das einst technisch hoch entwickelte Japan war nun verarmt und versuchte, mit dem exzessiven Verkauf von tödlichen Waffen Steuergelder einzunehmen. Solche Maßnahmen verhalfen global agierenden Großunternehmen wie Shiba Heavy Industries zur Macht. Gleichzeitig boten sie den perfekten Nährboden für Verbrechen mit Schusswaffen.

Rentaro hasste Schusswaffen. Doch ohne sie wäre der Kräfteunterschied zwischen ihm, Schwertmeisterin Kisara und seiner starken Initiatorin Enju unüberbrückbar gewesen.

Rentaro schüttelte den Kopf. Die Soldaten des Plans Humane Neogenese zur Mechanisierung der Streitkräfte wurden für die Vernichtung der Gastrea eingesetzt. Auch deren Kraft verabscheute er. Wenn er ehrlich war, hasste er sogar die in seinen rechten Arm und in sein rechtes Bein eingebauten großkalibrigen Patronen. Es waren Mordwaffen, egal, ob er sie für Angriff oder Verteidigung einsetzte. Solche Dinger mussten irgendwann von dieser Welt verschwinden, koste es, was es wolle!

Plötzlich zog etwas am Saum seiner Uniform. Er blickte an sich runter und sah Enju mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Wie hab ich mich geschlagen?«

Rentaro schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. »Enju, die Tritte nach oben solltest du bleiben lassen, wenn du einen Minirock trägst.«

Enju schien im ersten Moment nicht zu begreifen. Nach einem verwirrten Zwinkern begann sie plötzlich zu lachen, fasste sich dabei an den Rock und entgegnete sichtlich erfreut: »Tu nicht so, als hättest du den Anblick nicht genossen!«

Rentaro spürte Kisaras bohrenden Blick. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken herunter. Er legte seine Hände auf Enjus Kopf und wuschelte ihr durch die Haare. »Du Dummerchen!«

Enju strahlte vergnügt.

»Satomi!« Kisara hielt den rechten Arm hoch und klopfte mit dem linken Zeigefinger gegen ihre Armbanduhr. Es war Zeit zu gehen.

»Ah, Enju, wir müssen in die Schule.«

Enju hielt einen Moment inne, dann streckte sie die Brust heraus. »Jawohl! Lernt fleißig, meine Lieben!«

Für einen Moment wusste Rentaro nicht, was er sagen sollte. »Enju, ich werd bald eine Schule finden, die dich aufnimmt.«

»Lass dir Zeit!«, sagte Enju mit einem schiefen Grinsen.

Rentaro und Kisara verließen das Dōjō und bogen ein paarmal ab, bis sie auf eine breite Straße gelangten. Seite an Seite gingen sie in Richtung Schule.

Es war früh am Morgen. Wenige Menschen und noch weniger Fahrzeuge waren unterwegs. Die Pappeln, die den Straßenrand zierten, dufteten nach frischem Grün.

Nach wenigen Minuten der Stille begann Kisara zu sprechen: »Du hast also immer noch keine neue Grundschule für Enju gefunden?«

»Ähm …«, stammelte Rentaro und starrte auf die Granitpflastersteine unter seinen Füßen.

Bei dem Terrorzwischenfall mit Kagetane Hiruko war Enjus Identität als Kind der Verdammnis aufgeflogen. Sie hatte die Schule verlassen müssen. Aus Rücksicht auf Rentaro versuchte sie stets, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das belastete. Aber als ihr Erziehungsberechtigter fühlte sich Rentaro deshalb schrecklich. Er war entschlossen, alles zu tun, um sie wieder glücklich zu machen. So hatte er nach seinem eigenen Unterricht immer wieder versucht, sie an verschiedenen Schulen anzumelden.

Gedankenversunken kickte er Kieselsteinchen vor sich her. Natürlich hatte er keine einzige positive Antwort erhalten. Er war nicht stolz darauf, aber er hatte auch schon probiert, sie an einer Schule anzumelden, ohne ihre wahre Identität anzugeben.

Es war wie ein schlechtes Karma: Die Botschaft, dass Enju ein Kind der Verdammnis war, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Und die Schulen hatten Kontakt untereinander. Immer musste sich Rentaro entsetzt so schreckliche Antworten anhören wie: »Wir hassen alle Rotaugen und wer ihnen hilft, hat ebenfalls das Gastrea-Virus im Kopf.«

Niedergeschlagen blickte Rentaro in die hell strahlende Sonne. Eine Schülerin wie Enju, die gute Noten hat, spitze im Sportunterricht ist und durch ihre bloße Anwesenheit die Stimmung im Klassenzimmer aufhellt, müsste jede Schule eigentlich mit offenen Armen aufnehmen. Wieso nur? Verdammt!

Plötzlich drückte Kisara ihren Zeigefinger auf seine Nase. Verdutzt blieb er stehen und drehte den Kopf zu ihr. Die junge Tendo-Chefin hatte die Hände in die Hüften gestemmt und einen finsteren Blick aufgesetzt. »Satomi, denkst du etwa, das alles ist allein dein Problem? Es ist unser Problem. Enju ist meine Angestellte. Ihre Probleme sind meine Probleme! Ich habe nachgedacht. Wie wäre es, wenn wir Enju auf eine Schule in den Außenbezirken schicken?«

»In eine dieser Ruinen, wo unter freiem Himmel unterrichtet wird? Was kann sie da schon erwarten?! Das kommt gar nicht infrage!«

»Aha? Für dich ist also wichtig, dass Enju auf eine Schule mit tadellosem Ruf geht?«

Er schwieg. In der Tat war es am wichtigsten, dass Enju sich wohlfühlte. Auf einer gewöhnlichen Schule, unter gewöhnlichen Kindern, konnte sie das nicht, weil sie immer das Gefühl haben würde, etwas verbergen zu müssen.

»Also gut … ich werde darüber nachdenken.«

Seufzend schüttelte Kisara den Kopf. »Satomi, bei dir dreht sich alles nur um Enju, was? Sieh mal in den Spiegel! Du siehst schon viel fröhlicher aus als noch vor wenigen Minuten.«

Mit einer raschen Handbewegung versuchte er, sich den erleichterten Ausdruck vom Gesicht zu wischen.

Als Kisara leise gluckste, bemerkte er, dass er ihr auf den Leim gegangen war. »Außerdem, Rentaro, bei allem, was wir tun, brauchen wir Geld. Und weißt du, was? Wir haben einen Auftrag! Wir bekommen nun Aufträge, ohne dass wir uns um sie bemühen müssen. Endlich ist das Glück auf der Seite von Tendo Security. Ha ha ha …«

»Was? Ich will aber nichts Stressiges!«, murmelte Rentaro.

Kisara warf ihm einen strengen Blick zu, während sie sich das glänzende Haar aus dem Gesicht strich. »Es geht um Personenschutz. Zielperson ist unsere Regierungschefin, Fräulein Seitenshi. Sie hat ausdrücklich nach dir verlangt, Rentaro. Du wirst ihr Bodyguard sein!«

2

Nach der Schule stieg Rentaro in den Zug, der zum ersten Bezirk fuhr. Gedankenversunken schaute er aus dem Fenster und betrachtete die Monolithen. Warum hat Fräulein Seitenshi gerade mich ausgewählt?, grübelte er.

Als er den Stufe-V-Gastrea besiegt und Tokyo gerettet hatte, war ihm zu Ehren ein Empfang gegeben worden. Das war nun etwa einen Monat her. Er hatte die Veranstaltung gesprengt und war aus dem Gebäude gestürmt. Hieß Fräulein Seitenshi solch ein Verhalten gut und erteilte ihm auch noch einen Auftrag?

Der Zug erreichte den Bahnhof im Regierungsviertel. Rentaro stieg aus. Von hier waren es nur noch wenige Minuten zu Fuß bis zum Palast.

Der Bau schien dem neugotischen Stil nachempfunden zu sein: Das gewölbte Fensterglas, die knochigen Steinsäulen und die gebogenen Tore bedienten sich dessen markanter Kurven und verliehen dem Bauwerk einen lebendigen Eindruck. Es handelte sich zweifelsohne um prachtvolle Architektur westlichen Stils. Rentaro sah darin allerdings ohne jeglichen Sinn für Kunst nur Protz und Geschmacklosigkeit. Nachdem er dem Wachmann am Eingangsbereich den Grund für seinen Besuch mitgeteilt hatte, führte dieser ein kurzes Telefonat. Wenig später wurde er von zwei Wachen in den Palast geführt. Wohin würde man ihn bringen?