Bruno - Gerhard Falkner - E-Book

Bruno E-Book

Gerhard Falkner

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Beschreibung

Ein deutscher Schriftsteller kommt nach Leuk in der Schweiz. Bei seiner Ankunft erfährt er aus den Zeitungen, dass auch der Braunbär Bruno im Oberwallis aufgetaucht ist. Im Autor wächst die Obsession, diesem Bären begegnen zu müssen. Es beginnt eine absurde Suche mit verdeckten Ködern, verfehlten Spuren, existenziellen Wendepunkten und verrückten Begegnungen in einer grandios beschriebenen Alpenwelt. Bruno ist eine »Bärengeschichte«, vor allem aber ist es eine vielschichtige sprach- und bildmächtige Künstlernovelle, mit der Gerhard Falkner Ernest Hemingway und Adalbert Stifter seine Reverenz erweist.

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I

Dass ich hier bin, habe ich in der Zeitung gelesen.

In der Zeitung steht, ich sei in Leuk eingetroffen.

Leuk ist ein Ort im Wallis.

Das Wallis ist ein Kanton in der Schweiz.

Die Schweiz ist ein kleines Land aus Granit im Herzen Europas.

Da der Notiz in der Zeitung ein Bild beigestellt ist, weiß ich wenigstens, wie ich aussehe.

Obwohl ich mir immer gewünscht habe, niemals so auszusehen, wie dieses Bild mir nun unwiderlegbar vor Augen führt, wird es mir vielleicht behilflich sein, den ausfindig zu machen, den es darstellt.

Auch wenn es sozusagen nur den auf der Vorderseite des Kopfes befindlichen Ausweis oder, etwas antiquiert ausgedrückt, das Konterfei an der Spitze jener sterblichen Hülle zeigt, deren Bewohner ich auf die Spur kommen möchte.

Vielleicht wird es mir aber gar nicht viel helfen, dieses Foto.

Es zeigt ja weiter nichts als ein Gesicht in weiter nichts als einer Zeitung.

Im Grunde genommen also nichts.

Seit meiner Ankunft sieht sich dieses Gesicht, ein Gesicht, das ich aus Berlin mitgebracht habe und dem ich nun ein anderes, aber ebenfalls eigenes, hinzuzufügen die Absicht habe, umringt von Bergen.

Es sieht sich, dieses Gesicht, umringt von Bergen, deren Gipfel noch jetzt, Anfang Juni, in Eis und Schnee getaucht sind.

Wie weit über der Höhe treibende Segel aus Silberfolie blitzen diese Gipfel, sobald das Sonnenlicht sie trifft.

Dabei dringt keinen Steinwurf entfernt von meinem Fenster bereits das Glühen der Cerisen durch die Laubdecke eines burlesken, alten Kirschbaumes und die Weinstöcke sind schon auf die Größe von tadellos in Reih und Glied stehenden Schulkindern herangewachsen.

Wahrscheinlich ist es, was die Temperaturen angeht, mit dem Ich ganz ähnlich: Die Hitze sitzt tief, und je höher es aus seiner Umgebung herausragt, umso eisiger wird es.

Während das Denken in einer Region gedeiht, in welcher Klarheit und Kälte einander begünstigen, kocht in den Eingeweiden der Trieb, gärt in den Lenden das Laster und an den Füßen züngeln die Flammen.

Meinem Gesicht direkt gegenüber und meinen Blicken die Aussicht verstellend auf die in erschreckende Höhen ragenden Gipfel des Alpenhauptkamms, die sich dahinter verbergen und deren Namen in dieser Gegend meist ebenfalls auf Horn enden, erhebt sich das Illhorn.

Zu Füßen des Illhorns und dem breit vorgelagerten Gorwetschgrat, hinter dem ein gewaltiger Lössschutttrichter herunterkommt, wälzt sich wie ein breiter hellgrüner Strom der Pfynwald das Rhonetal hinab.

Das Auge überfliegt den saftigen Strom dieses hellgrünen Kiefernwaldes, welchem an den Rändern noch süß duftende Robinien eingeflochten sind und an dessen nordwestlicher Flanke in ihrem weit schwingenden, natürlichen Bett immer wieder die seifigen Turmalintöne des Flusses durchschimmern, vom Fenster eines ehemaligen Walliser Getreidespeichers.

Wie die Chalets dieser Alpenregion, dieser ganzen, noch vor wenigen Generationen abgeschnittenen Berggegend, sind auch die Speicher aus kräftigen Lärchenholzstämmen gezimmert, die von der Sonne schwarz gebacken sind.

Das Holz ist rissig, von den Frösten geborsten, versiegelt mit dem von den Sommern gekochten Harz dieses harzreichen Bergbaumes.

Oberhalb des alten Bischofschlosses der Stadt Leuk überblickt man von diesem Speicher aus das weite Tal in Richtung Martigny.

Am Abend, an dem ich ankomme, steigt wie ein Pegelstrich die Schattengrenze das Illhorn hinauf und erreicht gegen neun Uhr die Schneegrenze.

Während die matten Farben der abfließenden Wälder und der zwischen ihnen herabströmenden nackten Felse sich eindicken und mit dem schwärzlich-grünen Mus im Tale zu verschmelzen beginnen, bietet dieser Gipfel der Sonne noch lange sein dreieckiges Segel aus Eis.

Eine geraume Weile wirken die Fundamente der umliegenden Berge, als wären sie gegen mich herangewälzt, um der ungeheuerlichen Nacht, die hinter ihnen lauert, Deckung zu geben.

Nun jedoch, wo sie überall hervorbricht und die Dunkelheit, seit Stunden unermüdlich herbeigesungen von den Amseln, mit Macht überhandnimmt, beginnt das Flämmchen meines Ichs zu flackern, und obwohl der Radius, den es beleuchtet, nicht der Rede wert ist, beleuchtet es einen Umkreis, der genügt, meine Umrisse zu erkennen.

In diesen Umrissen sehe ich mich einen Berg hinaufstolpern, wie jemand, an dessen Gang man bereits erkennt, dass er nicht alle beisammen hat, keuchend, irgendeiner Sache hinterherjagend, von der ich nur die Spur zu haben scheine, während hinter mir der Wald in Flammen aufgeht.

Erst gegen zehn Uhr erlischt die Spitze des Gipfels mit einem kurzen Nachglimmen wie der Kopf eines ausgeblasenen Streichholzes.

Dann werden die nackten Felsflächen aschfahl, als verschwänden Rauchfahnen hinter Nebel.

Die Amselstimmen verdämmern.

Die Stille gewinnt die Oberhand.

Der Wind frischt auf.

Dann ist es Nacht.

II

Dass der Bär da ist, habe ich in der Zeitung gelesen.

In der Zeitung steht, er sei im Wallis gesehen worden.

Das Wallis ist ein Kanton der Schweiz, eines kleinen, aber berühmten Landes im Herzen Europas, wo ich gestern Abend eingetroffen bin.

Da der Notiz in der Zeitung ein Foto beigestellt ist, weiß ich, wie er aussieht, der Bär.

Er ist jung und stark und die Züge seines Kopfes sind regelmäßig, mit lebhaften, tiefbraunen Augen, um deren Iris ein honiggelber Ring liegt.

Jemand wie ich könnte sich nur wünschen, auszusehen wie dieser Bär.

Sein Gesicht ist ohne das Überflüssige des Grams oder Grolls, ohne die Überspanntheiten der Reizbarkeit oder des Spotts, und zeigt auf seinem sanften Grundriss jene nur den Raubtieren Adler, Löwe und Bär vorbehaltene edle Unverfrorenheit, mit welcher sie auf den Wappen unzähliger Fürsten und Reiche dargestellt sind.

Als Erklärung für sein rastloses und weites Umherschweifen heißt es in dem Bericht der Zeitung, der Bär wolle sich paaren.

Was für eine verrückte und zugleich verstörende Vorstellung, diesen Bären Nacht für Nacht, mal im Passgang dahintrottend und dann wieder, mit diesen einwärts schaufelnden Bewegungen in einen Bärentrab verfallend, die festen Kissen der Bärentatzen ins weiche Moos drückend und sie endlich auf die scharfen Grate des Felsgesteins setzend, kreuz und quer die Alpen durchqueren zu wissen, um sich zu paaren.

Dies waren die Strapazen, die Hannibal, Cäsar und Napoleon auf sich nahmen und die allen dreien mit großen Siegen belohnt wurden, während der Bär in die Leere jener Regionen rennt, in denen er ausgerottet ist und wo er an den Rändern abgelegener Ortschaften die Bienenkästen zerschmettert, um sich am Honig der Bienen schadlos zu halten, da der Honig einer Bärin nirgends auszumachen ist.

Der Bär, so heißt es in dem kurzen Bericht der Zeitung, sei vermutlich aus dem italienischen Trentino abgewandert und zunächst bis nach Bayern vorgedrungen, wo er bei einem Raubzug mehr als einem Dutzend Schafen regelrecht die Bäuche aus dem Gestell gerissen habe.

Aufgereiht für die Fotografen lagen ihre Kadaver in der Koppel, genauso bunt in ihren Wunden und so tot in ihren Zügen wie die toten Menschen nach dem amerikanischen Massaker im irakischen Haditha, die ein paar Seiten weiter in der gleichen Zeitung zu sehen waren.

Der Bär soll auf seine Tat hin erschossen werden, der amerikanische Präsident nicht.

Das Tier aber entzieht sich der zunächst angeordneten Hinrichtung, die nach wenigen Tagen unter dem Druck öffentlichen Protests in das Versprechen einer lebenslänglichen Haftstrafe umgewandelt wird, durch Flucht.

Es entgeht den Röhrenfallen aus Kanada, den Gummigeschossen, Stromzäunen und Betäubungsgewehren und schlägt sich, über Kufstein ziehend, nach Tirol durch.

Von dort muss der Bär den Weg herauf bis ins schweizerische Wallis gefunden haben.

Vermutlich wird er über Vorarlberg kommend Liechtenstein durchquert haben und das Rheintal heraufgewandert sein.

Dort wird er wohl, immer wieder auf den Berg ausweichend, dem Furkapass gefolgt sein, über den sie seit Jahrhunderten aus dem Norden ins Wallis herüberkamen.

Auch Goethe und sein Herzog August aus Weimar.

Anschließend wird er das Rottental heruntergezogen sein, bis hierher in diese Gegend, kurz bevor der Rotten zur Rhone wird.

Seit ich hier bin, kann ich, seit ich weiß, dass er hier ist, nicht aufhören, darüber nachzudenken, warum ich hier bin und warum, wenn es so einen Einzelnen wie mich in einen solchen Alpenraum verschlägt, es so einen Einzelnen, ja fast noch Einzelneren, wie einen solchen Bären, aus einer so besonderen Gegend wie dem italienischen Adamello, nach diesen enormen Umwegen und sogar Raubzügen über Bayern, wo ich ja ebenfalls herkomme, auch wenn ich diesmal von Berlin nach Zürich geflogen bin, bevor ich meine Fahrt ins Wallis mit dem Zug fortgesetzt habe, warum es also diesen Bären, welcher als zurzeit einziger Bär in der Schweiz gelten muss, ausgerechnet ebenfalls in diesen winzigen Landesausschnitt verschlägt, der nicht größer als der Abdruck eines Fingernagels auf einer Schweizkarte ist, in welchen es auch mich, als derzeit letztes lebendes Exemplar meiner eigenen Person, verschlagen hat, mich, ein ebenfalls vom Aussterben bedrohtes Exemplar einer einst in gesunden Populationen vorkommenden, unbändigen Existenz.

III

Morgens, wenn ich meine Hütte verlasse, prallt mein Blick gegen ein dickes Kissen weiß blühenden Steinbrechs, das über die gegenüberliegende Steinmauer herabsinkt.

Ein Stück dahinter erhebt sich eine Trockensteinmauer, die eine Terrasse mit Weinstöcken gegen den steilen Hang abstützt.

An den Blüten des Steinbrechs kann ich die Intensität der Sonne ablesen, ohne zum Himmel schauen zu müssen.

Je härter das Weiß, umso strahlender der Himmel.

Meist gehe ich, wenn ich morgens das Haus verlasse, in die Mitte des Ortes, um bei einem Detaillisten der Supermarktkette Migros den Walliser Boten und das schweizerische Revolverblatt Blick zu kaufen.

Selbst das Revolverblatt Blick kann, trotz aller Anstrengungen seiner mit Sex und Sensationsgier angefütterten Schlagzeilen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich mich in einem Land mit geordneten Verhältnissen und gesitteter Gesamtlage befinde.

Einem Land, in dem der feste, gesunde Kern gelegentlich die kulturell exponierten, nach außen gerichteten Partien der Landesfrucht zu einem vielleicht etwas übertriebenen Farbauftrag anstiftet.