Claudio Abbado - Wolfgang Schreiber - E-Book

Claudio Abbado E-Book

Wolfgang Schreiber

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Beschreibung

Claudio Abbado war der stille Revolutionär unter den großen Dirigenten. So leise er auftrat und auf jeden autoritären Habitus verzichtete, so ausdrucksmächtig war seine Musik. Dabei lebte er ganz in der Gegenwart, dirigierte für Arbeitet und setzte sich unermüdlich für die musizierende Jugend ein. Wolfgang Schreiber folgt in dieser ersten umfassenden Biographie dem an Glanzpunkten überreichen Lebensweg Abbados, der in der Musikwelt zwischen Mailand und London, zwischen Chicago und Berlin unauslöschliche Spuren hinterließ.


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Wolfgang Schreiber

CLAUDIO ABBADO

Der stille Revolutionär

Eine Biographie

C.H.Beck

Zum Buch

Claudio Abbado (1933–2014) war der stille Revolutionär unter den großen Dirigenten der letzten hundert Jahre. So leise er auftrat und auf jeden autoritären Habitus verzichtete, so ausdrucksmächtig war seine Musik. Wolfgang Schreiber folgt in dieser ersten umfassenden Biographie dem an Glanzpunkten überreichen Lebensweg Abbados, der in der Musikwelt unauslöschliche Spuren hinterließ.

Claudio Abbados Laufbahn führte ihn an die begehrtesten Orte der Musikwelt: von der Mailänder Scala über London und Chicago an die Wiener Staatsoper und nach Berlin, wo er als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker eine Ära prägte. Gern beschritt er ungewöhnliche Wege: In den siebziger Jahren gab er mit seinen Freunden Luigi Nono und Maurizio Pollini Konzerte in Fabriken. Er engagierte sich beharrlich für die zeitgenössische Musik, gründete gleich mehrere Jugendorchester und suchte den Kontakt der Musik zur Literatur. Wolfgang Schreiber entfaltet den intellektuellen Kosmos Abbados, dessen Aufführungen zugleich von einzigartiger emotionaler Dichte waren. Nach seiner Erkrankung erreichte Abbados Gestaltungskunst eine ungeahnte musikalische Vertiefung an der Spitze des von ihm mitgegründeten Luzerner Festivalorchesters und des Orchestra Mozart in Bologna. Diese Biographie würdigt den Menschen und Ausnahmekünstler, für den Musik kein abgeschiedenes Reich, sondern ein Echo der Wirklichkeit des Lebens war.

Über den Autor

Wolfgang Schreiber war von 1978 bis 2002 Musikredakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, für die er bis heute schreibt, und hat Claudio Abbados Weg seit den siebziger Jahren aus der Nähe verfolgt.

Inhalt

1: Der Club der Freunde

2: Kindheit und Jugend (1933–1949)

«Das klingende Haus»

«Lesen macht geheimnisvoll»

3: Studium in Mailand und Wien (1949–1958)

Ausflüge in die Literaturgeschichte: Salvatore Quasimodo

Siena-Kurs: Zubin Mehta und Daniel Barenboim

Erste Liebe

Wien: der Lehrer Hans Swarowsky

4: Erste Preise und Pult-Eroberungen (1958–1968)

Dozent für Kammermusik in Parma

Aufbruch in die Neue Welt: Leonard Bernstein in New York

Beginn der Dirigentenkarriere

5: Der Opern-Kanon: Teatro alla Scala (1968–1986)

Mailänder Innovationen

Claudio Abbados «Kernrepertoire» der Oper

6: «Musica/Realtà»: Claudio Abbado, Luigi Nono und Maurizio Pollini

7: Claudio Abbado und seine Jugendorchester

8: Viele Ämter am Pult (1972–1985)

9: Das London Symphony Orchestra (1979–1987)

10: «Im Palast der Gefühle»: Wiener Staatsoper (1986–1991)

«Wien modern»

Programmgestaltung

Neue Liebe

Abschied von Wien

11: Berliner Philharmoniker I (1989–1998)

Das Orchester und seine Dirigenten

Die Wahl

Das erste Jahr in Berlin

Probenstil und Musizierideal: auf Wilhelm Furtwänglers Spuren

«Musik über Berlin»

Gastspiele, Reisen und Salzburger Osterfestspiele

Der Siemens Musikpreis

12: Claudio Abbados Berliner Themenzyklen

Zyklus 1: Hölderlin (1993)

Zyklus 2: Faust (1994)

Zyklus 3: Griechische Antike (1994/95)

Zyklus 4: Shakespeare (1995/96)

Zyklus 5: Alban Berg/Georg Büchner (1996/97)

Zyklus 6: Der Wanderer (1997/98)

Zyklus 7/8: «Tristan und Isolde – Der Mythos von Liebe und Tod»/«Amore e morte» (1998/99)

Zyklus 9: «Musik ist Spaß auf Erden» (2000/01)

Zyklus 10: Parsifal (2001/02)

13: Berliner Philharmoniker II (1998–2002)

Schock der Berliner Verzichterklärung

Das Berliner Abschiedskonzert

14: Das Orchester aus Freunden: Luzern (2003–2013)

Das Lucerne Festival Orchestra

Immer wieder Berlin

15: Italien und Lateinamerika

Das Orchestra Mozart

Heimkehr an die Mailänder Scala

Engagement in Lateinamerika: «El Sistema»

16: Spätes Musizieren – verinnerlichtes Hören

Symphonisches Weltbild

Schallplattenproduktion

17: Tod und Verklärung

Begegnung mit einem Charakter

Anhang

Anmerkungen

1. Der Club der Freunde

2. Kindheit und Jugend (1933–1949)

3. Studium in Mailand und Wien (1949–1958)

4. Erste Preise und Pult-Eroberungen (1958–1968)

5. Der Opern-Kanon: Teatro alla Scala (1968–1986)

6. «Musica/Realtà»: Claudio Abbado, Luigi Nono und Maurizio Pollini

7. Claudio Abbado und seine Jugendorchester

8. Viele Ämter am Pult (1972–1985)

9. Das London Symphony Orchestra (1979–1987)

10. «Im Palast der Gefühle»: Wiener Staatsoper (1986–1991)

11. Berliner Philharmoniker I (1989–1998)

12. Claudio Abbados Berliner Themenzyklen

13. Berliner Philharmoniker II (1998–2002)

14. Das Orchester aus Freunden: Luzern (2003–2013)

15. Italien und Lateinamerika

16. Spätes Musizieren – verinnerlichtes Hören

17. Tod und Verklärung

Diskographie

Mailänder Scala

Wiener Staatsoper/Wiener Philharmoniker

London Symphony Orchestra

Chicago Symphony Orchestra

Berliner Philharmoniker

Chamber Orchestra of Europe

Lucerne Festival Orchestra

Orchestra Mozart

Andere Orchester

Bildnachweis

Personenregister

1

Der Club der Freunde

Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg.

Novalis[1]

… in die Tiefen der Klänge, mit dem romantischen Dichter! Der Musiker Claudio Abbado, der die Poesie und die Bücher liebte, verband seinen Lebensweg mit den Geheimnissen der Töne und der Stille. Aber seine Gewissheit klang viel pragmatischer: «Was die Musik für mich ist? Alles. Wer die Musik nicht liebt, wer sie nicht kennt, dem muss sofort geholfen werden, denn sie ist eines der wichtigsten Dinge im Leben.»[2] Die Liebe zur Musik war Abbado von Anfang an das Wichtigste und «das Schönste». Und Musiker, so wünschte er, sollten «immer mit großer Begeisterung» musizieren, bei aller gewissenhaften Treue zu den Noten. Denn «ohne Enthusiasmus», das wusste schon Robert Schumann, «wird nichts Rechtes in der Kunst zu Wege gebracht».[3] Immer stärker gelang es Abbado mit den Jahren, Menschen durch die Musik tief zu berühren. So wurde ihm selbst künstlerische und menschliche Wertschätzung zuteil, am Ende Bewunderung und Zuneigung.

Daraus konnte etwas Wunderliches entstehen – zum Beispiel «Abbadianer auf Wanderschaft», ein Verein der «reisenden Abbado-Freunde», offiziell eingetragen als «Club Abbadiani Itineranti», CAI,[4] halb scherzhaft dem Signet des Club Alpino Italiano der Bergfreunde verpflichtet, dem Abbado selbst nahestand. Die Abbadiani verstanden sich als seine Freunde, die zuverlässig zur Stelle waren, wenn der Dirigent in den Konzertsälen in Wien, Berlin, München oder Luzern ans Pult trat, wenn er in Rom und Mailand dirigierte. Man reiste zu seinen Konzerten bis nach Caracas und New York, nach Tokio und Peking. Wer in Konzertpausen da und dort auf die Abbado-Freunde traf, blickte in strahlende Gesichter des Einklangs – der musikalischen Kennerschaft. Schallplatten genügten ihnen nicht, sie suchten die Musik, wie Abbado sie hörte und dirigierte, aus persönlicher Nähe zu erleben. Nur der Konzertaugenblick konnte die «Abbadiani» glücklich machen. Und sie wussten fast alles über die Kunst und das Leben ihres Meisters, der kein «Maestro» oder «Stardirigent» sein wollte, sie kannten seinen Terminkalender.

Der «Club Abbadiani Itineranti», von der Mailänderin Attilia Giuliani 1968 gegründet, trat erst 1995 als juristische Vereinigung in die Öffentlichkeit, in Abbados Geburtsstadt Mailand. Rund 400 Mitglieder aus zwölf Nationen scharte Giuliani zeitweise um sich. Die Initialzündung dazu widerfuhr der 18-Jährigen beim alljährlichen Ritual der «Inaugurazione», der Eröffnungspremiere der Mailänder Scala: Am 7. Dezember 1968 dirigierte der 35-jährige Claudio Abbado die Schiller-Oper «Don Carlo» von Giuseppe Verdi. Seit dem Abend fühlte sich die junge Frau dem jungen Dirigenten des Teatro alla Scala verbunden, sie hatte durch Abbado die dramatische Kunst Giuseppe Verdis erkannt: «Dieser Mann geht anders mit Musik um als alle anderen Dirigenten … Da ging es plötzlich nicht mehr um schöne Arien, sondern um das Politische. Für mich war das eine Offenbarung! Damals habe ich den Fanclub gegründet.»[5]

Der Abbado-Club hatte über vier Jahrzehnte Bestand. Nach dem Tod des Dirigenten am 20. Januar 2014 mussten die wandernden Abbadianer ihre Reisen einstellen, der Club teilt auf seiner Website mit, dass «die Initiativen und Projekte, die Abbado teuer waren, in seinem Namen» fortgesetzt würden. Solche Projekte werden heute von der in Bologna ansässigen Vereinigung «Mozart14» betreut, deren Präsidentin Abbados Tochter Alessandra ist. Die Organisation versteht sich «als natürliche Fortsetzung der Sozial- und Bildungsprojekte von Claudio Abbado»,[6] der von ihm angestoßenen Musikprojekte in Krankenhäusern und Gefängnissen, in Schulen und Jugendstrafanstalten, die unter den klingenden Namen Tamino, Papageno und Leporello auftreten. Der Schriftsteller Roberto Saviano dachte wohl an das gesellschaftspolitische Potential der Musik, das Abbado wichtig war, als er sagte: «Incontrare Claudio Abbado è come incontrare un’idea» – Claudio Abbado begegnen, heißt einer Idee zu begegnen.[7]

2

Kindheit und Jugend (1933–1949)

Ich war ein Kind, das großes Glück hatte: Ich wurde mitten in die Musik hineingeboren.

Claudio Abbado[1]

«Das klingende Haus»

Claudio Abbados Leben kennt den verheißungsvollen Auftakt, durch den musikalische Talente ihr Glück schmieden: Vater und Mutter sind Musiker, die Geschwister musizieren, das «klingende» Elternhaus macht das Verstehen der «Sprache» aus Noten und Klängen kinderleicht, deren Geheimnisse sich spielerisch entschlüsseln und erlernen lassen.

Die frühe Lebenszeit bis ins Alter bewahren wie eine Art heimlicher Gegenwart – Claudio Abbado ist das gelungen. 1986 erschien in Italien «La casa dei suoni» (Das klingende Haus), ein Musikbuch für Kinder.[2] In kurzen Begleittexten zu Illustrationen von Paolo Cardoni[3] teilt Abbado Erinnerungen mit an sein Mailänder Elternhaus, an frühe Begegnungen mit der Kammermusik, an Erlebnisse gemeinsamen Musizierens und erste Besuche in der Mailänder Scala. Und der Autor erklärt seinen jungen Lesern ganz nebenbei, was es mit der Musik als ernster Kunst auf sich hat, auf welche Weise die Töne und Klänge entstehen, wie die Streich-, Blas- und Schlaginstrumente gehandhabt werden oder auch, wie ein Orchester und wie die Aufgaben des Dirigenten beschaffen sind. Er zeigt ihnen ferner, was Oper und Symphonie zu bieten haben. Sehr wichtig ist ihm die Gewissheit, dass alle Musik auf eine bestimmte Art und Weise ganz und gar «real», dass sie mit dem Leben verbunden ist: «Einen Rat nur möchte ich meinen Lesern, den Musikern und Zuhörern von morgen, mit auf den Weg geben: Haltet euch immer den engen Zusammenhang zwischen der Musik und der Wirklichkeit vor Augen. Denn jede Musik ist ein Echo und ein Abbild ihrer Zeit.»

«Es ist des Lernens kein Ende» – Robert Schumanns finaler Merksatz in seinen «Musikalischen Haus- und Lebensregeln» scheint Claudio Abbados ganzes Musikertum bestimmt zu haben. Am 26. Juni 1933 wird er in Mailand geboren – als drittes von vier Kindern einer bürgerlichen Familie, in der die Musik, die Künste und die Wissenschaften zu Leitmotiven eines guten Lebens geworden sind. Der acht Jahre ältere Bruder Marcello wird Pianist und später Direktor des Mailänder Konservatoriums «Giuseppe Verdi», die Schwester Luciana spielt Geige und tritt in den Mailänder Musikverlag Ricordi ein, gründet das Festival Milano Musica. Der jüngere Bruder Gabriele geht seinen Weg als Architekt.

Claudio (l.) mit den Geschwistern Marcello, Luciana, Gabriele und der Mutter

Claudio und seine Schwester Luciana

Michelangelo Abbado, Claudios Vater, im Jahr 1900 in der piemontesischen Stadt Alba geboren, ist Geiger. Er unterrichtet als Professor am Mailänder Konservatorium und gründet später ein Kammermusikensemble, mit dem der junge Claudio musizieren wird. Als Kind hört und beobachtet er eines Tages heimlich durch einen Türspalt, wie der Vater auf der Violine ein Stück spielt, das ihn fesselt: Johann Sebastian Bachs berühmte Chaconne für Geige allein: «Diese Sprache war sicher sehr schwierig, aber außerordentlich schön. Lange Zeit hörte ich ganz still zu, ohne mich bemerkbar zu machen, denn ich hatte Angst, den Zauber zu zerstören.»

Vater Michelangelo erteilt Claudio mit Strenge erste Geigenstunden. Doch erst die weißen und schwarzen Tasten des Klaviers können den Knaben begeistern. Die sizilianische Mutter Maria Carmela Savagnone, 1899 in Palermo geboren und von französischen Nonnen erzogen, ist selbst Pianistin und Klavierlehrerin, sie liebt die Dichtung und führt ihren Sohn Claudio mit großer Güte und Einfühlung in die Kunst des Klavierspielens ein. Sie erzählt ihren Kindern gern Märchen und erfindet für sie Geschichten. Sie schreibt auch selbst Texte und veröffentlicht Kinderbücher. «Die Mama bezauberte mich mit ihren Geschichten über Sizilien, ihre Heimat, und über das ferne Persien. Auch ihre Phantasie war für mich Musik; ich bat sie, mir alle Geheimnisse der Klänge zu erklären, die Papas Leben erfüllten, und sie wusste mir diese Welt aufregender zu gestalten als ein Märchen.»

Es ist die musische Familie in der Mailänder Via Fogazzaro, unter deren Fittichen die künstlerischen Anlagen und charakterlichen Eigenheiten des Musikers Claudio Abbado erwachen: Offenherzigkeit und geistige Interessen lassen ihn sein Künstlerleben lang frei, emanzipiert und tiefgründig denken und empfinden, wohl stärker, als es im Musikmetier der virtuosen Hochbegabungen und prominenten Überflieger die Regel ist. Das Lesen wird zum Lebenselixier eines Knaben, der auf Fotografien schmächtig, in sich gekehrt, sanftmütig versonnen, fast fragil erscheint. Und dann strömen ihm aus dem Grammophonapparat im Elternhaus die wundersamen Musikstücke von Bach und Mozart, Beethoven und Brahms, von Rossini und Verdi entgegen – mit Hilfe der sich rasch drehenden, geheimnisvoll kratzenden Scheiben aus schwarzem Schellack. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Claudio Abbado an die drei Schellackplatten, die ihm am wichtigsten waren: «eine mit dem Sänger Schaljapin als Boris, ein Violinkonzert von Mozart mit Yehudi Menuhin und eine mit Beethovens ‹Coriolan›, dirigiert von Willem Mengelberg. Ich habe diese Platten als kleines Kind Hunderte Male gehört.»[4] Mussorgskis «Boris Godunow» blieb im Zentrum seiner Opernwelt.

Ein Freund der Mailänder Musikerfamilie, der kluge hochgebildete Dirigent aus Bergamo, Gianandrea Gavazzeni, der im Teatro alla Scala regelmäßig am Pult stand, als Musikschriftsteller tätig war und als Pianist zur Kammermusik der Familie Abbado beitrug, hat der gastfreundlichen Lebensart im Hause Abbado eine Erinnerung gewidmet: «Die Familie des geigenden Freundes ist die ordentlichste und organisierteste, die mir je begegnet ist. Aber es ist eine Ordnung, die keine Schwere kennt, denn sie ist heiter und fröhlich, hat einen eigenen spontanen Rhythmus ohne Strenge und ohne Posen.» Gavazzeni beeindruckte besonders Claudio Abbados Mutter als Gastgeberin, «die vollkommenste Musikerfrau unserer Zeit», die, «hätte sie zweihundert Jahre früher gelebt, eine Anna Magdalena Bach hätte sein können».[5]

Das Opernhaus seiner Heimatstadt, das in der Welt berühmte Mailänder Teatro alla Scala, besucht Claudio Abbado zum ersten Mal als Siebenjähriger, in Begleitung der Familie. Dort hört er in einem Symphoniekonzert unter der Leitung Antonio Guarnieris die Orchestertrilogie «Nocturnes» von Claude Debussy. Die gleißende Sinnenfreude der Musik nimmt den Knaben mit ihrem instrumentalen Farbenglitzer und der Anmut tänzerischer Rhythmen vollkommen gefangen: «Besonders beeindruckte mich die Musik … mit dem Klang der Trompeten, der, wie von fernher kommend, mächtig anschwillt wie ein Zauberton … Jener Abend im Teatro alla Scala war sehr bedeutungsvoll für mich. Ich war fasziniert von der Möglichkeit, mit so vielen Musikern gemeinsam zu spielen, und von der Wichtigkeit des kleinen Mannes, der sie alle lenkte, als ob sie an einem Faden hingen.» Damals notierte er in seinem Tagebuch das Verlangen, «dass auch ich eines Tages diese Musik dirigieren würde».

Die erste Oper, die der Achtjährige in Begleitung von Vater und Mutter erlebt, ist Giuseppe Verdis «Aida». Dem Berliner Gesprächspartner Frithjof Hager schilderte Abbado später, wie er «nach der Vorstellung allein auf der Straße» stand und die Eltern ihn fragten, «warum ich nicht mit ihnen gehen wollte. Dass mich aber diese Oper erschüttert hatte, das wollte ich keinem anderen zeigen.»[6]

Noch stärker und folgenreicher als der frühe Besuch im Opernhaus wird für den Knaben die fortwährende Nähe zur Musik und zum Musizieren im Elternhaus. Die Hauskonzerte sind es, die sein Hören schulen, seine Hörexkursionen ins Innere der Musik, die Zauberwelt der Klänge und all der Verästelungen von Tönen und Tonbewegungen, in die Kammermusik. Der mühelose Zugang zur Musik und die Lust auf ihre umfassende Aneignung werden für einen jungen Menschen zum Antrieb, sein Leben der Musik und dem Musizieren zu widmen. Die besondere Zuneigung gilt der Kammermusik.

Selbst musizieren, Kammermusik spielen in kleinen Gruppen und variablen Formationen, das verschafft selbst denen, die bloß zuhören, einen unmittelbaren, persönlichen Zugang zur Musik – das Glücksgefühl des Wahrnehmens und Entzifferns einer klingenden Grammatik und von «Botschaften», deren verwobene Tonmotive und Melodien, deren Rhythmen und Klanggesten wirklich zu «sprechen» scheinen. Claudio Abbado gedachte der Freude, mit der die Eltern gemeinsam mit ihren vier Kindern musizierten. Einmal habe man sich «sogar dazu verstiegen», Johann Sebastian Bachs «Matthäus-Passion» in den eigenen vier Wänden aufzuführen: «Für dieses Oratorium braucht man eigentlich ein Orchester, einen Chor und mehrere Solisten, abgesehen vom Dirigenten. Wir waren nur zu sechst, schreckten aber nicht davor zurück; jeder von uns spielte und sang mehrere Partien. Ihr könnt euch das Ergebnis vorstellen (und auch die Freude der Nachbarn!).»

Die Nähe, die Intimität der Kammermusik im Schoß der Familie hat Claudio Abbados Musikertum geprägt. Der Knabe «lernte» den tönenden «Disput» instrumentaler Stimmen und Resonanzen verstehen – in all dem Spiel von Sonaten und Trios, Quartetten und Quintetten, die Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, Schumann und Brahms geschaffen hatten und die in den Hauskonzerten des Vaters und seiner Freunde und Kollegen die Hauptrollen spielten. Das in Mailand unmittelbar Naheliegende hingegen, die Opernkunst mit ihren musikalischen Handlungen, Arien, Duetten und Chören, wurde Abbado erst später wichtig. Allein das fortgesetzte Hören und Studieren der Kammermusik, zumal jener der deutsch-österreichischen Tradition, gab dem Knaben die klingende Lektion darüber, wie die Musik «funktioniert» und atmet, wie eine Klangstruktur, wie Formaufbau und harmonische Spannungen gefertigt sind und in Bewegung geraten.

Als der Knabe durch sein beharrliches Üben am Klavier endlich in der Lage ist, den geigenden Vater musikalisch zu begleiten, verlangt dieser von ihm «das Äußerste» an Genauigkeit, an aktivem Zuhören und musikalischem Mitdenken. Abbado erinnerte sich später an des Vaters «erbarmungslose Kritik» seines Klavierspiels und noch an etwas Anderes – den Hinweis des Vaters auf das Hören, das Einander-Zuhören, das tiefere Wahrnehmen der Musik: «Das wesentliche Geheimnis, das er mir entschlüsselt hat, ist dabei: Wenn man zusammen musiziert, ist es nicht so wichtig, spielen als vielmehr zuhören zu können. Er hat mich gelehrt, was ‹begleiten› in der Musik bedeutet. Es ist wie ein Gespräch, bei dem man nicht nur aufmerksam lauscht, sondern auf den anderen eingeht und versucht, auch das Unausgesprochene, Gefühle und Gedanken zu erfassen. Im Leben wie in der Musik muss man fähig sein, zuhören zu können, um die anderen zu verstehen und ihnen zu folgen.»

In den Mailänder Alltag der Familie Abbado, der von Kammermusik, von den Künstlern und den Künsten erfüllt ist, dringt mit Macht das böse politische Zeitgeschehen ein. In Gesprächen der Erwachsenen, die Claudio mit anhört, wird die Angst der Menschen spürbar. Das faschistische Italien ächzt im Bann des «Duce» Benito Mussolini, der sich mit Hitler-Deutschland verbündet hat. Antisemitismus und die brutalen Übergriffe des Machtapparats gehören hier wie dort zum Alltag, so wie die Gefahr eines Krieges. Arturo Toscanini, der Maestro des musikalischen Lebens, hat Italien längst den Rücken gekehrt, so wie er 1933, mit Beginn der Nazi-Diktatur in Deutschland, auch die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele fluchtartig hinter sich ließ. Der sechsjährige Claudio Abbado erlebt den Kriegsbeginn im September 1939, er versteht noch nicht die Ursachen und Zusammenhänge dieses Krieges, doch spürt und sieht er mit dem Älterwerden die Folgen. Der Junge kann auf Mailands Straßen die Soldaten beobachten, er wird Zeuge einer Erschießung von Partisanen. Und erlebt, dass seine Mutter Partisanen und Juden zur Flucht verhalf.

Abbado erinnerte sich später an einen absurd gefahrvollen Augenblick – wie er als zehnjähriger Schüler im von Nazis besetzten Mailand nur zwei Wörter an die Mauer des Elternhauses geschrieben hatte: «Viva Bartók!». Er spielte damals Stücke aus Béla Bartóks Klavierzyklen, «ich war in dieser Zeit verrückt nach der Musik Bartóks».[7] Die deutsche Gestapo ließ Ermittlungen und Verhöre folgen: Welcher Partisan, fragten die Deutschen, versteckt sich hinter dem Namen «Bartók»? Wie gefährlich kann dieser Mann werden? Claudio Abbados «antifaschistische» Haltung, das Signet der Intellektuellen und Künstler im Italien der Nachkriegszeit, war erwacht und blieb lebendig.

«Lesen macht geheimnisvoll»[8]

Von der Mutter, die er sein Leben lang verehrt hat, hat der junge Musiker die Leidenschaft für die Bücher und das Lesen geerbt: «Era una mangiatrice di libri», sie hat die Bücher verschlungen, sagte Claudio Abbado, dem vor allem die Stimme der Mutter gegenwärtig blieb: «Sie hatte etwas Warmes, Menschliches. Besonders wenn sie die alten sizilianischen Lieder sang, klang das sehr schön …»[9] Sizilianische und persische Erzählungen hatte die Mutter durch ihren Vater kennengelernt, Claudios sizilianischen Großvater. Guglielmo Savagnone, Professor für Kirchenrecht in Palermo, hatte in Leipzig studiert und wurde in Italien als Archäologe eine Autorität, ein gelehrter Meister der Papyrologie und mehrerer alter Sprachen.

Claudio Abbado behält den Großvater als eine «außergewöhnliche Persönlichkeit» im Gedächtnis, er verehrt ihn als seine Leitfigur von Bildung und Humanität. Noch im hohen Alter kann er ihn lebhaft würdigen: «Alle fünf Jahre lernte er eine antike Sprache, unter anderem Aramäisch. Er hat dann das Evangelium aus dem Aramäischen übersetzt, in dem die Rede ist von den Brüdern und Schwestern von Jesus. Das hat dem Vatikan nicht gefallen, mein Großvater wurde exkommuniziert und war sehr stolz darauf. Ich erinnere mich an Spaziergänge mit ihm, bei denen er mir sagte: Wenn etwas richtig ist, dann macht man es. Das hat mich geprägt, von klein auf. Man kann alles machen.»[10] Claudio und die Geschwister Marcello und Luciana dürfen den Großvater in den Ferien besuchen, in sein Reich der Bücher und des Wissens eindringen. Abbado erinnert sich an eine lange gemeinsame Wanderung mit dem Großvater in den Bergen: «Er sprach wenig. Aber plötzlich sagte er einen bestimmten Satz: ‹Großzügigkeit macht reich›. Das heißt, durch die Großzügigkeit verwirklicht man sich als Mensch und vertieft seine Kultur und Innerlichkeit. Dem nachzuleben, habe ich immer versucht.»[11]

Wissenschaftler und Wanderer: der Großvater Guglielmo Savagnone

Das Lesen muss ein Mysterium umfangen, meinte Peter Handke, als er im Herbst 2017 einen letzten Teil seiner Tagebücher dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergab. Mit drei Worten: «Lesen macht geheimnisvoll».[12] Claudio Abbado hat sich in späteren Jahren Gedanken gemacht über die Leidenschaft des Lesens, seine eigenen Erfahrungen mit den Büchern der Weltliteratur. Und hat sich darüber zu Wort gemeldet. Sein Textbeitrag dazu, überschrieben «Passioni di lettore», erschien in gedruckter Form 1996, als er längst Künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker war. Abbado war sich der intellektuellen und emotionalen, der individuellen wie der sozialen Bedeutung des Lesens und der Literaturaneignung bewusst: «Jeder Mensch, der die Literatur liebt, sucht nach neuen Wegen, und sie führen ihn oft auf lange Reisen. Ich glaube, dass es in jedem Leben Parallelgeschichten gibt, das heißt: Persönliche Begegnungen und Situationen verbinden sich mit der Entfaltung des Lesens.»[13] Abbado gelang es, das Denken und künstlerische Handeln mit literarischen Erkundungen in Einklang zu bringen. Sein Weltbild weitete sich dank der ausgedehnten «Lesereisen» durch die Landschaften der Literaturen.

«In meiner Erinnerung treten Phasen hervor, die mit der Entdeckung von Autoren, literarischen Gattungen oder kulturellen Landstrichen einhergehen. Die Literatur hat Gewicht gehabt in meiner menschlichen und künstlerischen Entwicklung, sei es als eine Kraft für Erkenntnisse, sei es als Hilfe in Momenten der Forschung.» Immer habe er viel gelesen, bekannte Abbado, «in jeder freien Stunde während der Studien, im Sport oder in der Freizeit».

Nach den Kinderbüchern, mit denen ihn die Mutter von klein auf versorgte, begeistern den Jugendlichen die Abenteuerromane des Schriftstellers Emilio Salgari, einer Art italienischer Karl May. Der erste große Lektüreschub, berichtet Abbado, gilt den russischen Klassikern, er vergräbt sich in die Werke von Tolstoi, Dostojewski und Tschechow. Bei Gogol habe er den Geist raffinierter Ironie besonders geschätzt. Später lernt er die Briefwechsel von Rilke, Boris Pasternak und Marina Zwetajewa kennen, und «mit großer Leidenschaft» den Roman «Der Meister und Margarita» von Michail Bulgakow. Fast zur selben Zeit entdeckt der junge Abbado die Literatur der Franzosen, er liest Romane von Balzac, Flaubert und Maupassant, ergründet die lyrische Moderne von Baudelaire und Apollinaire. In das Romanabenteuer des Marcel Proust habe er sich erst viele Jahre später vertiefen können. Zu den wichtigsten Entdeckungen des Mailänder Musikstudenten zählen die berühmten «Promessi sposi» (Die Brautleute) des großen Landsmanns Alessandro Manzoni. Es sei der Patenonkel gewesen, der Geiger Enrico Polo, Schüler des Brahms-Freundes Joseph Joachim, der ihm Manzonis erregendes Epochenporträt nahegebracht habe.

«Ich habe das Glück gehabt, dass die Personen und die Umstände, die ich antraf, immer wieder zu Begegnungen mit der Literatur führten.» So verdankte Abbado es seiner sizilianischen Mutter, dass die Werke des in Sizilien beheimateten Dichters Luigi Pirandello und des Sozialrealisten Giovanni Verga in der elterlichen Bibliothek einen herausgehobenen Platz gefunden hatten – und dass er früh Zugang zur sizilianischen Kultur des «Gattopardo» von Giuseppe Tomasi di Lampedusa finden konnte.

Unmittelbar nach Kriegsende entdeckte der jugendliche Musikschüler, wie alle Intellektuellen seiner Generation, den Schriftsteller Cesare Pavese, der mit seinem erzählerischen Tagebuch «Il mestiere di vivere» (Handwerk des Lebens) die Grundstimmung im Italien der Nachkriegszeit anschlug: Antifaschismus und Existentialismus. Durch die Vermittlung Paveses, der über den amerikanischen Dichter Walt Whitman promoviert und ein Buch über die Literatur Amerikas publiziert hatte, gewann Abbado Zugang zu den damals modernen Autoren der USA, von Anderson bis Faulkner und Hemingway. Mit Neugier hat er sich im Laufe der Zeit den avantgardistischen Textgebirgen in «Ulisse», «Finnigans Wake» und «Dädalus» von James Joyce angenähert. Leicht lesbar erschienen dagegen die phantastischen Traumwelten in den Romanen Italo Calvinos, die ihn so intensiv beschäftigten wie die skeptisch-modernen Erzählformen Italo Svevos, des sozialpessimistischen Humoristen aus Triest. Und dann entdeckte der junge Abbado Miguel de Cervantes, die absurde Poesie des «Don Quixote». Und las die Gedichte Pablo Nerudas. Auch Bücher von geographisch noch entfernteren Autoren wie Salman Rushdie oder Tahar Ben Jelloun gerieten später in sein Blickfeld.

Als Student der Wiener Musikakademie Mitte der fünfziger Jahre erlebte Abbado das bizarr Doppelbödige des Wienertums aus nächster Nähe. So begegnete er der Mentalität des existentiell Wienerischen auch in Elias Canettis Lebensgeschichte «Das Augenspiel». Und durch Robert Musils Romanabenteuer «Der Mann ohne Eigenschaften» weitete sich der Blick ins Phantastische des austriakischen Kontinents Kakanien. In jüngster Zeit habe er, schreibt Abbado im Rückblick auf sein Lesen, «mit größter Anteilnahme» die Bücher des Österreichers Peter Handke kennengelernt. Vor allem die «wunderbaren» Landschaftsporträts zogen ihn an. Und stark beeindruckte ihn Handkes Buch «Wunschloses Unglück» über den Tod der Mutter.

Abbados Leseerfahrungen hatten auch mit seiner Bindung an die Musik zu tun. Bei der Vertiefung in musikalische Zusammenhänge gelange er zu Werken von Autoren, die sich von der Musik her erschließen. Durch Bruno Madernas Oper «Hyperion», mehr noch durch Luigi Nonos «Prometeo», genannt «Hörtragödie», erwachte der Drang, die Dichtung Hölderlins besser verstehen zu lernen. Dabei sei er Kleist und Goethe, Kafka und Thomas Mann als Leser begegnet. Die Beschäftigung mit Schillers Dramen wurde zwingend, als Abbado die tragische Dimension von Verdis Historienoper «Don Carlo» erfasste.

Noch gründlicher als in der Jugendzeit drang Abbado später in die russische Literatur ein, auch in dem Wunsch, die historische Tiefendimension von Mussorgskis «Boris Godunow» besser zu verstehen. Und jetzt erst, in Berlin, sei er dazu gezwungen worden, die Werke Georg Büchners zu studieren, zumal das «Woyzeck»-Fragment, um somit Alban Bergs Opernpartitur des «Wozzeck» gerecht zu werden. Dem Dichter und Librettisten Hugo von Hofmannsthal wollte er näher kommen, um die Opern des Komponisten Richard Strauss zu begreifen. Und in die Sprach- und Dichtkunst des Symbolisten Maurice Maeterlinck einzutauchen bedeutete, sich Claude Debussys lyrisches Psycho-Drama «Pelléas et Mélisande» anverwandeln zu können.

Eine besonders ausgeprägte Musikalität, Metrum und Klang eines reichen literarischen Sprachstils, fand Abbado schon im Gymnasium bei den großen Klassikern Italiens, die dort seit jeher die Kultur des Schulunterrichts bestimmen, bei Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giacomo Leopardi, später in den Büchern der französischen Schriftstellerin Marguerite Yourcenar und des Portugiesen José Saramago. Den literarischen Geist der Stadt Prag, besonders das Buch «Die verlorene Geliebte» von Johannes Urzidil sowie «Radetzki-Marsch» und die «Legende vom heiligen Trinker» Joseph Roths, entdeckte Abbado auf den Rat des böhmisch-amerikanischen Pianisten Rudolf Serkin, mit dem er, wie er sagte, in Chicago eine denkwürdige Gesprächsnacht verbracht habe, und mit dem er später in London Mozarts Klavierkonzerte auf Schallplatten einspielte.

Am Ende seines Panoramas des Lesens bringt Abbado seine Hoffnung zum Ausdruck, andere Autoren, Bücher, literarische Gattungen erst noch kennenzulernen. Und bekräftigt seine Selbsteinschätzung, beileibe kein Literaturexperte zu sein, seine Genügsamkeit als «einfacher Leser, der über geringe Kenntnisse verfügt». Was er besitze, sei lediglich Neugier. Glücksgefühle empfinde er, wenn er mit der Zeit «immer neue Ideen und neue Träume» ansammeln könne. Tatsächlich haben Ideen und Träume aus unstillbarer Neugier heraus Abbado als Musiker stets nach vorn getrieben, zur Entdeckung etwa der Schubert-Oper «Fierrabras» in Wien oder von «Chowanschtschina» von Mussorgski, hin zu musikalischen Werken lebender Komponisten wie Luigi Nono, György Ligeti und Karlheinz Stockhausen, György Kurtág und Wolfgang Rihm.

Abbado beschließt seine Bücherbilanz mit kulturpolitischen Überlegungen. Mit dem Wunsch, dass «die Schätze der Kultur wirklich allen zugänglich» sein sollen. Er greift den Gedanken noch einmal auf, dass es kein Zufall sei, «dass die Länder, die am meisten in die Kultur investieren, auch die wohlhabendsten Länder sind. Nationen, die ihre humanen, wirtschaftlichen und natürlichen Ressourcen in kulturelle Entwicklungen stecken, sind folgerichtig diejenigen, die auch den Reichtum hervorbringen». Zum Beweis ruft Abbado die italienische Region Emilia-Romagna ins Gedächtnis, wo Kunst und Literatur gedeihen. Abbado drückt es so aus: «Nicht der Reichtum bringt die Kultur hervor, sondern es ist die Kultur, die auch den Reichtum erschaffen kann.»

Die Filmkunst gehörte zu Abbados frühen kulturellen Erfahrungen, besonders der brisante «Neorealismo» der vierziger und fünfziger Jahre. Er geht ins Kino und sieht Luchino Viscontis «Ossessione» und «La terra trema», auch Vittorio De Sicas «Miracolo a Milano» und «Ladri di biciclette» sowie Roberto Rossellinis «Roma, città aperta». Der heranwachsende Mailänder Musiker wird in der Zeit von Krieg und erster Nachkriegszeit empfänglich für die in diesen Filmen gezeigten wirklichkeitsnahen, sozialen und ethischen Konflikte des Lebens im Alltag, gespielt von Laiendarstellern oder von jenen Schauspielern, die durch ihre packende Menschendarstellung im Milieu der «kleinen Leute» jedermann im Gedächtnis haften. Künstlerinnen und Künstler wie Anna Magnani und Silvana Mangano, Vittorio Gassman, Eduardo De Filippo und Totò sind ihm immer gegenwärtig geblieben.

Neben den musikalischen Studien und den Geselligkeiten der Musikfreunde im Elternhaus, neben Grundschule und Gymnasium, ist der einsame Rückzug ans Klavier Claudios tägliche Übung. Obendrein betreibt er private Kompositionsstudien. Und beginnt als 15-Jähriger mit dem Orgelspiel bei Gottesdiensten in Mailänder Kirchen. Immer deutlicher wird, dass die Wege seiner Entwicklung mehr ins Innere als nach außen führen: Abbado hat früh das Musizieren und Musikhören gelernt, das man «inwendig» nennen kann. Den Menschen in seiner Umgebung musste bald auffallen, dass er ein stilles und verträumtes Wesen besaß, dass ihm die Welt der Phantasie und das Schweigen lieb geworden waren. Tatsächlich lässt ihn die Wortkargheit nicht mehr los, sie bleibt bis ins hohe Alter das «Erkennungszeichen» des introvertierten Dirigenten Claudio Abbado. So konnte er sich schon als Kind, anstatt, wie unter Italienern üblich, viel mit Worten zu kommunizieren, in die ruhigen Gefilde der Bücher vergraben und somit seine Art des Verzichts auf den Alltag allgemeiner Gesprächigkeit ausüben.

3

Studium in Mailand und Wien (1949–1958)

… denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern … mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.

G. W. F. Hegel[1]

Nach Kriegsende, noch während der Schulzeit am Liceo Scientifico, beginnt der 15-Jährige das Studium am Mailänder Konservatorium «Giuseppe Verdi» in den Fächern Klavier, Harmonielehre, Kontrapunkt und Komposition bei dem renommierten Komponisten und Hindemith-Adepten Bruno Bettinelli, zu dessen Schülern auch Maurizio Pollini und Riccardo Muti zählten. Orchesterleitung unterrichtete der Toscanini-Schüler Antonino Votto, der an der Mailänder Scala Opernaufführungen dirigierte. Der Student Abbado komponierte eifrig Stücke für Ensembles – «sie wurden nicht aufgeführt», wie er später ohne Bedauern feststellte. Im Rückblick äußerte Abbado: «Ich war ein guter Student, sehr fleißig.»[2]

Abbados Patenonkel, der Geiger Enrico Polo, Schüler des legendären Brahms-Freundes Joseph Joachim und Lehrer seines Vaters, vermittelte eine Begegnung mit Arturo Toscanini. Durch Polo kam ein Konzert der Familie Abbado im Haus des hochbetagten Dirigenten zustande: Claudio, jetzt achtzehn Jahre alt, spielte dort, begleitet vom Kammerensemble des Vaters, den Solopart in Bachs Klavierkonzert in d-Moll. Er vernahm Toscaninis Wohlwollen: «Avrai molto successo», versicherte dieser dem Nachwuchsmusiker – Du wirst viel Erfolg haben.

Künstlerisch bestimmender sind für Claudio Abbado die Eindrücke, die er von Toscaninis großem «Antipoden» aus Deutschland empfängt, Wilhelm Furtwängler. Dieser dirigierte 1950 in der Mailänder Scala Richard Wagners «Ring des Nibelungen». «Obwohl ich so jung war», erinnerte sich Abbado später, «habe ich sofort gemerkt, dass dieser Mann genau weiß, was er will. Die Differenz zwischen Toscanini und Furtwängler war deutlich. Er bekam musikalisch, was er wollte, ohne zu streiten oder zu insistieren, ohne böse Worte zu gebrauchen.»[3] Toscaninis Furor orchestraler Wucht und Präzision, seine cholerischen «Ausfälle» gegen die Musiker, hatte Abbado als abstoßend erlebt. Furtwänglers Musizieren dagegen, die Hingabe an das symphonisch-dramatische Artikulations- und Bewegungsdrama und an den Sinn der Musik, prägte sich Abbado tief ein.

Ausflüge in die Literaturgeschichte: Salvatore Quasimodo

«La vita non è sogno. Vero è l’uomo/e il suo pianto geloso del silenzio» (Das Leben ist kein Traum. Wahr ist der Mensch/und sein eifersüchtiges Beweinen der Stille).[4] Der «hermetische» Dichter und Schriftsteller Salvatore Quasimodo, wie Abbados Großvater Sizilianer, hat auf den Mailänder Musikstudenten einen unauslöschlichen Eindruck gemacht: Durch die persönliche Begegnung mit ihm erhielt Abbados Verbindung zur Dichtkunst zusätzlich Gewicht. Quasimodo gab am Conservatorio Giuseppe Verdi fakultativen Unterricht, Einführungen in die italienische Dichtung und Literaturgeschichte, die der junge Abbado besuchte. Er erinnerte sich später an «die liebenswerten Kolloquien mit dem Dichter, an seine scharfsinnigen Analysen, den ganzen Reichtum dieser Lektionen».[5] Weltruhm erlangte Salvatore Quasimodo 1959, als er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde.

Abbado vertiefte sich in jenen Jahren auch in Quasimodos lyrische Welt, in die Gedichtsammlungen «Oboe sommerso» oder «Odore di Eucalyptus e altri versi», drang ein in jene symbolistisch dunklen Wortvermessungen des Dichters, die die Literaturkritik mit dem Begriff «Hermetismus» versehen hat. Er mag die «Verschlossenheit» von Quasimodos poetischen Metaphern und Klangfarben als magische Sinnrätsel zu verstehen gesucht haben. Gerade dieser Dichter musste einen Studenten beeindrucken, der das Schweigen und die Stille dem Wortreichtum vorzog – als Lehrer, der die hohe Wortkunst Dante Alighieris und Giovanni Boccaccios, Francesco Petrarcas und Giacomo Leopardis durchdringen und den Studenten aufschließen konnte. Dank Quasimodos Tätigkeit als Übersetzer konnte der Jüngere die Geheimnisse der Fragmente altgriechischer Lyrik, zum Beispiel der Dichterin Sappho, entschlüsseln.