Gustav Mahler - Wolfgang Schreiber - E-Book

Gustav Mahler E-Book

Wolfgang Schreiber

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gustav Mahler (1860–1911) hat als Dirigent und Komponist Musikgeschichte geschrieben. An der Wiener Hofoper, die er ein Jahrzehnt lang leitete, trat er kompromisslos für eine Reform der Opernbühne ein. Mit seinen Kompositionen, vor allem seinen Sinfonien und Liedern, wurde er zu einem der wichtigsten Wegbereiter der Neuen Musik. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 236

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Schreiber

Gustav Mahler

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Gustav Mahler (1860–1911) hat als Dirigent und Komponist Musikgeschichte geschrieben. An der Wiener Hofoper, die er ein Jahrzehnt lang leitete, trat er kompromisslos für eine Reform der Opernbühne ein. Mit seinen Kompositionen, vor allem seinen Sinfonien und Liedern, wurde er zu einem der wichtigsten Wegbereiter der Neuen Musik.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Über Wolfgang Schreiber

Wolfgang Schreiber, geboren 1939, Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft, mehrere Jahre lang Kulturkorrespondent in Wien, publizistische Arbeiten für zahlreiche in- und ausländische Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkanstalten. 1978–2002 Feuilletonredakteur bei der «Süddeutschen Zeitung» in München. Lebt als freier Publizist in München und Berlin.

Einleitung

Statt viele Worte zu machen, täte ich vielleicht am besten, einfach zu sagen: ‹Ich glaube fest und unerschütterlich daran, daß Gustav Mahler einer der größten Menschen und Künstler war.› Denn es gibt ja doch nur zwei Möglichkeiten, jemanden von einem Künstler zu überzeugen, die erste und bessere: das Werk vorzuführen, die zweite, die zu benutzen ich gezwungen bin: seinen Glauben an dieses Werk auf andere zu übertragen.» Mit diesen Worten begann Arnold Schönberg seine 1913, zwei Jahre nach dem Tode Mahlers, in Prag gehaltene Gedenkrede.[1] Ihr Tonfall ist liebende Verehrung für die Person und Bewunderung für das Schaffen Mahlers, ihre (vielleicht unbewusste) Motivation aber heißt Wiedergutmachung. Denn der junge Schönberg hatte zehn Jahre lang, bis 1908, Mahlers Musik keineswegs sonderlich geschätzt, fand viele seiner Themen banal, entdeckte «vermeintliche Formschwächen» und kritisierte unbekümmert die Details, obwohl ihm die Mahler’sche Symphonie als Ganzes «stets großen Eindruck gemacht hatte». Nun ging er in dieser Rede mit seinem eigenen «Saulus», wie er freimütig gestand, und den Gemeinplätzen der Mahler-Gegner ins Gericht, deren Klischee etwa lautete, Mahler habe zwar das Höchste angestrebt, jedoch nicht die Kraft zu dessen Verwirklichung besessen. Dazu Schönberg: «Sowie von einem gesagt wird, er strebe das Höchste an etc., weiß ich sofort, daß er es entweder nicht angestrebt oder daß er es auch erreicht hat! – Das ist immerhin eine Art von Verläßlichkeit.» Durch seine Überzeugung, Mahler habe dieses Höchste sowohl angestrebt als auch erreicht, war Schönberg zum «Paulus» geworden, und er blieb es bis an sein Lebensende.

Ist die Konversion eines derart selbstbewussten Künstlers wie Schönberg allein schon ein bedeutendes Faktum, so gewinnt sie geradezu beispielhaften Charakter im Hinblick auf die folgenden fünfzig Jahre, denn Schönbergs Weg von der Kritik zum Enthusiasmus im Fall Mahler ist gleichsam die vorweggenommene Wirkungsgeschichte im Kleinen. Seit rund zehn Jahren, etwa seit Mahlers 1960 noch recht still gefeiertem 100. Geburtstag, ist seine Musik immer häufiger in den Konzertsälen zu hören, wächst die Mahler-Produktion der Schallplattenindustrie und steigt die Anteilnahme des Publikums. Heute garantiert die Ankündigung einer Mahler-Symphonie bereits vielerorts schon ein ausverkauftes Auditorium. Ein erstaunlicher Wandel. Betrachten wir kurz seine wichtigsten Stationen.

Zunächst muss man wissen, dass vom Tage der Uraufführung der Ersten Symphonie im Jahre 1889 an die Reaktion der Öffentlichkeit – quer durch Publikum und Fachkritik – gespalten war. Die einen erkannten und erfühlten die geniale Eigenart dieses Musikers und bildeten, zumal die besten Köpfe ihn in Person kennenlernten, von Anfang an eine kleine, verschworene «Gemeinde»; die anderen kritisierten vor allem Einzelnes, schalten seine Themen banal, sentimental, unoriginell und warfen ihm die Riesenhaftigkeit seiner symphonischen Gebilde vor. Ablehnung und Gefolgschaft waren gleichermaßen heftig und blieben es für die nächsten Jahrzehnte.

Nach Mahlers Tod verspürten nur wenige Dirigenten das Verlangen, seine Werke aufzuführen, wobei Probenmühsale und Furcht vor dem Risiko einer Verbreitung seiner Werke nicht gerade entgegenkamen. Vor allem aber mehrten sich die Stimmen, die behaupteten, Mahlers «durch übermäßige Länge ermüdende Symphonien» entbehrten eigentlich doch «stärkerer Eigenart» und seien «nur Erzeugnisse eines geistreichen Eklektizismus», wie man in Riemanns «Musik-Lexikon» von 1916 noch lesen konnte. Als schließlich die latent vorhandenen Argumente des Antisemitismus 1933 zur Herrschaft gelangten und ein Autor in seinem Pamphlet über «Judentum und Musik» von Mahlers «jüdischem Zynismus» und den «fratzenhaften Zügen» seiner Musik faseln durfte, war Mahler in (Groß-)Deutschland endgültig verstummt.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man seine Symphonien durchaus noch nicht vergessen, wenn ihm das gängige Konzertrepertoire auch verschlossen war. Zeitgenossen und Freunde wie Bruno Walter, Schönberg und seine Schüler traten für Mahler ein, und seit dem ersten großen, von Willem Mengelberg 1920 durchgeführten Mahler-Fest in Amsterdam, wo sich alle «Mahlerianer» begeistert einfanden, konnte man doch vereinzelt den Symphonien oder gar zyklischen Aufführungen begegnen. Der bedeutendste Mahler-Dirigent war übrigens, nach dem Zeugnis von Theodor W. Adorno, der Komponist Anton von Webern – und dem Publikum so gut wie unbekannt.

Wichtige Mahler-Publikationen der ersten Jahrzehnte waren vor allem Paul Bekkers 1921 erschienene umfangreiche Analyse «Gustav Mahlers Sinfonien», der von Alma Mahler betreute Briefband (1924), ferner die Bücher von Guido Adler, Paul Stefan, Richard Specht sowie die 1936 in Österreich erschienene Erinnerungsschrift Bruno Walters. Erwähnt sei auch die von der Wiener Universal-Edition getragene Zeitschrift «Musikblätter des Anbruch», die mehrmals Sonderhefte über Gustav Mahler herausgab.

Mahler-Hochburgen hatten sich seit Beginn des Jahrhunderts in Amsterdam und Prag gebildet, und auch anderswo befanden sich «Mahler-Apostel» am Werk: In Amerika gründete man 1931 die (ebenso dem Schaffen Mahlers verpflichtete) Bruckner Society of America, propagierten europäische Dirigenten wie Leopold Stokowski, Serge Kussewitzky, Bruno Walter und Dimitri Mitropoulos die Musik des letzten großen Symphonikers.

In Russland war es der Berliner Mahler-Adept Oscar Fried, der bereits 1906 in St. Petersburg die Zweite Symphonie aufführen konnte. Dmitri D. Schostakowitsch, von Bruno Walter gewonnen, ist ein großer Mahler-Verehrer, und in unseren Tagen dirigiert ein David F. Oistrach die frühen Symphonien, bekennt sich der Moskauer Dirigent Swetlanow begeistert zum Werk des lange Geschmähten.

In Deutschland und Österreich setzte, nachdem Mahler «tausend Jahre» lang geschwiegen hatte, erst ab 1960 ein wachsendes Interesse für seine Musik ein. Die große Gedenkausstellung und Bruno Walters überwältigende Aufführung der Vierten Symphonie im Musikverein 1960 in Wien, Theodor W. Adornos unvergleichliche musikalisch-philosophische Mahler-Deutung aus demselben Jahr und die seit 1959 von dem Schönberg-Schüler Erwin Ratz, dem Präsidenten der 1955 unter der Patronanz Bruno Walters in Wien gegründeten «Internationalen Gustav-Mahler-Gesellschaft», redigierte Kritische Gesamtausgabe sämtlicher Werke (noch nicht abgeschlossen) – das sind in Kürze die wichtigsten Stationen der Mahler-Wiedergeburt unserer Tage.

Mahlers Prophezeiung, seine Zeit werde erst kommen, scheint sich also heute erfüllt zu haben. Aber ist unsere Zeit wirklich schon Mahlers Zeit? Auf den ersten Blick sicherlich. Doch werden in jüngster Zeit Stimmen laut, die nicht zu Unrecht die Frage stellen, ob denn der «Sinneswandel total» sei, ob die jubelnde Zustimmung des Publikums, ob der Eifer manches Dirigenten dem adäquaten Verständnis seiner künstlerischen Physiognomie, einem inneren Ohr für den musikalischen Sinn seiner Musik entspreche. Die Antwort auf die Frage fällt nicht unbedingt zustimmend aus: Fehldeutungen, die die Komplexität des Werkes für den Beweis von Mahlers ewiger Zerrissenheit halten, die andererseits den großen Gläubigen, den Heros des Herzens feiern, weil die (scheinbare) Einfachheit der Vierten Symphonie einen einfachen Menschen voraussetze, sind bereits stark im Umlauf. Was wäre gegen solche Missverständnisse zu tun? Im Grunde nur dies: beharrliches Eindringen in Mahlers Musik und gegebenenfalls Beschäftigung mit den Partituren, die den Willen des Komponisten unverfälscht überliefern.

In diesem Band wird ein anderer Weg beschritten. Schönberg sagt in seiner Rede, «bei einem großen Menschen [sei] nichts Nebensache»; in diesem Sinne hätte er «sogar Mahler Zusehen wollen, wie er eine Krawatte bindet». Hier soll nun ein möglichst authentischer Einblick in Mahlers Leben gegeben werden, um, vor allem mit Hilfe der Briefe, die historische Person «Mahler» greifbar zu machen. Schönberg sagt weiter, in Wirklichkeit gebe es «für den Künstler nur ein Größtes, das er anstrebt: sich auszudrücken». Wenn am Ende der Leser deutlicher sehen sollte, wer sich da ausgedrückt hat, mag er auch dem Werk eine Spur näher gekommen sein.

Kindheit

Am 7. Juli 1860 wurde Gustav Mahler im böhmischen Kalischt, einem Dorf nahe der mährischen Grenze, geboren. Er kam als zweites von insgesamt zwölf Kindern zur Welt. Die Mutter Marie, geb. Hermann, die herzkrank war, hinkte und durch die zahlreichen Geburten immer mehr geschwächt wurde, stammte aus einem gutbürgerlichen jüdischen Kaufmannshaus, während ihr Mann ärmlichsten Verhältnissen entwuchs: Bernhard Mahler war der Sohn einer jüdischen Hausiererin, die noch mit achtzig Jahren, den Korb auf dem Rücken, über Land zog. Da er ein emporstrebender junger Mann war, konnte er sich bald ein eigenes Fuhrwerk halten. Schließlich kaufte er sich von dem zäh Ersparten ein Haus und machte sich mit einer kleinen Schnapsbrennerei selbständig und sesshaft. Doch der Ehrgeiz trieb ihn aus der drückenden Enge des Dorfes, und da die Habsburger im sogenannten «Oktoberdiplom» von 1860 den Juden mehr Freizügigkeit gewährt hatten, übersiedelte die Familie noch im Dezember desselben Jahres nach Iglau, der neben Brünn zweitgrößten Stadt in Mähren. An diesem Entschluss mochte auch der Wunsch nach einer gediegenen Schulbildung für den Sohn Gustav mitgewirkt haben, denn Bernhard Mahler fühlte sich, wie viele Juden aus den «Kronländern», zur deutschen Kultur hingezogen: Schon den Fuhrmann hatte die Landbevölkerung nur den «Kutschbockgelehrten» gerufen, weil er immer Bücher bei sich führte.

Er war eine leidenschaftliche, herrische, ja gewalttätige Natur und brachte der zarten, zerbrechlichen Marie viel Leid. Sie paßten so wenig zueinander wie Feuer und Wasser. Er war der Starrsinn, sie die Sanftmut selbst[2], hat Mahler später seine Eltern charakterisiert, und während er sein Leben lang gleichgültig über den Vater sprach, hing er stets mit Liebe an seiner Mutter. Leidgeprüft war sie auch aus einem anderen Grund, denn nicht weniger als fünf ihrer Kinder raffte der Tod in frühen Jahren hinweg. Das sechste, Gustavs jüngerer Bruder Ernst, starb im Alter von dreizehn Jahren, und gerade dieser war sein Lieblingsbruder gewesen. Tagelang sei er am Krankenbett gesessen und habe ihm Geschichten erzählt, wusste Alma Mahler später zu berichten und nannte des Bruders Tod «das erste grausame Erlebnis in Gustav Mahlers Kindheit»[3]. Die Jugendoper Herzog Ernst von Schwaben, die als künstlerische Fixierung dieses mit Schrecken erlebten Todes gedeutet worden ist, ging zwar verloren, doch ist Mahlers berühmter Brief an den Schulfreund Josef Steiner vom Juni 1879 erhalten, der, voll von selbstquälerischem Weltschmerz des Jünglings, über den traumatischen Charakter des Todeserlebnisses Zeugnis gibt: Da ziehen die blassen Gestalten meines Lebens wie der Schatten längst vergangenen Glückes an mir vorüber … und dort steht der Leiermann, und hält in seiner dürren Hand den Hut hin. Und in den verstimmten Tönen hör ich den Gruß Ernst’s von Schwaben, und er kommt selbst hervor und breitet die Arme nach mir aus und wie ich hinsehe, ist’s mein armer Bruder …[4]

Überhaupt scheint sich der Knabe aus einer vorwiegend freudlosen familiären Umwelt, in der ihm des Vaters Wutausbrüche der Mutter gegenüber zum Schrecken wurden, in ein stilles Traumparadies geflüchtet zu haben. Jedenfalls wissen wir von seiner auffallenden Zerstreutheit in allen täglichen Dingen.

Mahlers musikalische Begabung trat früh zutage. Jene Anekdote, die eine der ersten Äußerungen musikalischer Veranlagung bezeugt, wird denn auch immer wieder erzählt. Als die Familie Mahler sich eines Tages bei den Eltern der Mutter aufhielt, war der Knabe plötzlich verschwunden. Man fand ihn auf dem Dachboden, völlig selbstvergessen damit beschäftigt, einem alten Klavier wunderliche Töne zu entlocken. Der Vater soll ihn von da an zum Musiker bestimmt haben. Tatsache ist, dass der Vierjährige bereits (seit meinem vierten Lebensjahr immer Musik gemacht und komponiert, bevor ich noch Tonleitern spielen gekonnt[5]) eine Kinderharmonika auf seine Weise bediente, dass er in den Volksliedern seiner Heimat reiche musikalische Nahrung fand, dass er schließlich von der nahe gelegenen Kaserne mit den Trompetensignalen, den schnarrenden Trommeln der Appelle und den marschierenden Soldaten Eindrücke empfing, die den Komponisten Mahler im Kern seines musikalischen Wesens prägten: Der Tamboursg’sell, Der Schildwache Nachtlied, Wo die schönen Trompeten blasen sind nicht von ungefähr Titel späterer Mahler-Lieder.

Schließlich entschloss sich der Vater, der von der auffallenden Begabung des Sohnes sehr angetan war, ein Klavier ins Haus zu holen. Die Karriere des Wunderkindes konnte ihren Lauf nehmen.

Es hieße eine wichtige Quelle von Mahlers in alle Richtungen hin ausgreifenden Persönlichkeit verschweigen, wollte man unerwähnt lassen, dass er, bei allem Drang zur Musik, während der ganzen Gymnasialzeit einer heftigen Lesewut frönte. Ganze Tage lang war er mit seinen Büchern allein, und mit Hilfe der bescheidenen «Hausbibliothek» des Vaters wurde der Grundstock für seine spätere literarische Belesenheit gelegt. Meine Jugend auf dem Gymnasium verbracht – nichts gelernt[6], konnte Mahler später notieren, um anzudeuten, dass er die Schulzeit als lästige Unterbrechung seiner eigentlichen Interessen, Bücher und Klaviernoten, angesehen hatte. Letztere ordentlich zu lesen und in Töne zu verwandeln, lernte er bei einem Klavierlehrer namens Brosch, der den Knaben in relativ kurzer Zeit «konzertreif» machte. So fand Mahlers erstes öffentliches Auftreten, am 13. Oktober 1870 in Iglau, bereits kritische Würdigung in einer Zeitung, die dem «künftigen Klaviervirtuosen», dem «Sohn eines hiesigen israelitischen Geschäftsmannes großen und ehrenvollen Erfolg» bescheinigte.

Es spricht für den Ehrgeiz des Vaters, dass er seinen Sohn kurze Zeit darauf nach Prag schickte. Doch der Sprung in die «Goldene Stadt», wo der junge Gustav seine Gymnasialstudien und Musikübungen fortsetzen sollte, erwies sich als Misserfolg, da er nicht nur in der Schule völlig versagte, sondern auch im Hause der Familie Grünfeld (die beiden Söhne wurden später berühmte Musiker) unzulänglich untergebracht war. So holte man ihn im März 1872 wieder nach Iglau. Bedeutung behielt der Prager Aufenthalt durch ein Erlebnis, das den Zwölfjährigen aus seinen Kinderträumen gründlich aufgeschreckt haben dürfte und für seine Persönlichkeitsbildung kaum zu unterschätzen ist. Mahlers Frau Alma gibt uns davon Kenntnis: «Daß er einst, in einem finstern Zimmer sitzend, ungewollter Zeuge einer brutalen Liebesszene zwischen dem Stubenmädchen und dem Sohn des Hauses wurde, blieb ihm in unangenehmster Erinnerung. Der kleine Gustav machte sich bemerkbar, indem er dem Mädchen beisprang, um ihm zu helfen. Aber er wurde sowohl von dem Jüngling Alfred als auch von dem Mädchen beschimpft und zu schweigen verurteilt.»[7]

Obschon der junge Mahler über seine intellektuellen und musikalischen Fähigkeiten immer souveräner verfügen lernte, blieb er der verschlossene, verträumte Knabe. Einen Vertrauten hatte er lediglich in Steiner, mit dem ihn gemeinsame Ferienerlebnisse von Aufenthalten auf zwei böhmischen Meierhöfen (1875–77) verbanden. Die Natur in ihrer bunten Schönheit, aber auch ihrem tiefen Geheimnis – immer blieb ihm die Sehnsucht danach:

Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald,

Ich hört die Vöglein singen,

Sie sangen so jung, sie sangen so alt,

Die kleinen Waldvöglein in dem Wald,

Wie gern hört ich sie singen.

Dieses «Waldvöglein» aus «Des Knaben Wunderhorn» vertonte Mahler viele Jahre später. Erinnerung im emphatischen Sinn mag an dem mit träumerisch, durchaus zart überschriebenen Lied hängen.

Auf dem böhmischen Gut Morovan traf er den Mann, dem er den Weg ans Wiener Konservatorium verdankte, den Gutsverwalter und Musikliebhaber Gustav Schwarz. Ihm präsentierte der «schmächtige, unbeholfene kleine Junge»[8] aus Iglau derart souverän die schwierigsten Virtuosenstücke auf dem Klavier, dass schnell der Entschluss feststand, einem solch talentierten Musiker zu einer gründlichen Ausbildung zu verhelfen.

Der Vater war verständig genug, und so fuhr der Fünfzehnjährige mit seinem Förderer an einem schönen Septembermorgen des Jahres 1875 in die 150 Kilometer entfernte Hauptstadt Wien. Mahlers Kindheit war endgültig abgeschlossen; eine neue, noch unbekannte Welt erwartete ihn.

Diese Kindheit: der hellwach erlebte Tod des geliebten Bruders, die durch mitleidende Liebe bestimmte Bindung an die Mutter, des Vaters Leidenschaft und Energie, vor allem sein intensives Naturerleben sowie die Begegnung mit dem Volkslied und der bunt klingenden Welt der Soldaten – all dies ruhte für immer auf dem Seelengrunde des leidenschaftlichen, ethisch bestimmten Menschen und Künstlers Mahler, redet uns an in seiner Musik.

Jugend und Studium

Die «Reichshaupt- und Residenzstadt Wien» wird den Provinzler Gustav Mahler gefesselt haben. Wien war in der zweiten Jahrhunderthälfte endgültig Weltstadt geworden. Allein der imposanten, verschwenderisch angelegten Ringstraße um die innere Stadt mit ihren Repräsentativbauten Oper, Burgtheater, Universität, Rathaus, Parlament und Museen, gewiss eine der schönsten Prachtstraßen der Welt, musste man Bewunderung zollen. «Und in der Vorstadt diese kleinen, gelben Häuser aus der Kaiser-Franz-Zeit, mit staubigen Vorgartln, diese melancholischen, spießbürgerlichen, unheimlichen kleinen Häuser», wie Hugo von Hofmannsthal einmal schwärmte – diese Wiener «Verhältnisse» waren stets «heimisch und doch großartig» (Richard Wagner). Das Jahr 1873 hatte den Wienern die Weltausstellung gebracht, hatte zeitweise fast alle gekrönten Häupter Europas hier versammelt.

Wien war Zentrum und «Drehscheibe eines großen Reiches», und der Kaiser dieses buntscheckigen Österreich-Ungarn war «Gebieter über fünfzig Millionen Menschen, die ihn in mindestens elf offiziellen Sprachen hochleben ließen oder auch verfluchten»[9], ein wahres Völkerbabel – dieses «Kakanien» Robert Musils: «vielleicht doch ein Land für Genies, und wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen»[10]. Nun – im Jahre 1875 hatte es mit dem «Zugrundegehen» noch gute Weile, doch Genies hatte es tatsächlich immer dort gegeben: Ehrentafeln verkünden noch heute den Ruhm von Malern, Dichtern und Musikern. Vor allem aber war die Stadt Mozarts, Beethovens und Schuberts damals, als Mahler sie betrat, die Stadt der fanatischsten Wagnerianer, die ihrem Meister, sooft er in Wien weilte, die heftigsten Ovationen bereiteten, zum Ärger aller Brahmsianer und des Kritikerpapstes Eduard Hanslick.

Nur wenige Schritte vom neuen Opernhaus am Ring entfernt, wo im Mai 1875 unter Franz Ritter von Jauner eine neue Ära begonnen hatte, lag ein für das Wiener Kulturleben höchst bedeutsames Gebäude: der 1870 eröffnete Musikverein mit seinem «Goldenen Saal», Sitz der Wiener Philharmoniker und der traditionsreichen «Gesellschaft der Musikfreunde», die damals auch noch über ein eigenes Konservatorium verfügte. Der «alte» Joseph Hellmesberger lenkte fast vier Jahrzehnte lang die Geschicke dieses Instituts und wusste stets hervorragende Lehrkräfte zu verpflichten. Nach dem Tod des bedeutenden Simon Sechter (1867) unterrichteten neben Anton Bruckner vor allem Robert Fuchs Harmonielehre, Franz Krenn Komposition und Kontrapunkt, Julius Epstein Klavier. Diesen drei Lehrern verdankte Mahler seine Ausbildung. Er fand in Julius Epstein seinen großen Gönner, der nach dem Probevorspiel auf dem Klavier ausgerufen haben soll: «Das ist der geborene Musiker!»[11] Ab September 1875, so verrät uns die Matrikel des «Conservatoriums für Musik und darstellende Kunst der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien», absolvierte Mahler drei komplette Jahrgänge, ohne übrigens hier schon Vorlesungen Bruckners zu hören. Eine «Kapellmeister»-Ausbildung kannte man damals noch nicht. «Zu Mahlers Zeit galt musikalische Allroundbildung als Voraussetzung für die Kapellmeisterkarriere … Das bloße Taktschlagen war von untergeordneter Bedeutung.»[12] So war zum Beispiel Arthur Nikisch Geigenabsolvent am selben Konservatorium gewesen, Hans Richter ausgebildeter Hornist.

Mahler erledigte den Lehrgang «förmlich in Sprüngen»[13], erzählte später sein Studienfreund Guido Adler, und die Kommilitonen staunten ihn als «Wunder» an. Mitschüler und Freunde waren der hochbegabte und später dem Wahnsinn anheimgefallene Hans Rott, Bruckners Lieblingsschüler, den Mahler überaus schätzte, Rudolf Krzyzanowski, Anton Krisper und Hugo Wolf. Mit Wolf teilte Mahler zeitweise das Zimmer und war ihm kameradschaftlich zugetan. 1877 musste Wolf jedoch das Konservatorium verlassen. Alle waren glühende Wagnerianer, die in ihrer Verehrung für den Meister oft tagelang seine Musikdramen auf dem Klavier und mit Hilfe der Stimmbänder erdröhnen ließen.

Mit dem Vortrag einer Schubert-Sonate gewann Mahler gleich den Hauptpreis beim Wettbewerb des ersten Jahres. Nach dem dritten und letzten Jahr (Sommer 1878) erhielt er den ersten Kompositionspreis für das Scherzo eines Klavierquartetts, dessen Part er selbst spielte. Mit dem «vorzüglichen» Diplom konnte er zufrieden sein.

So wichtig der Erwerb des handwerklichen Rüstzeugs für den angehenden Musiker auch gewesen sein mag, großen inneren Gewinn scheinen ihm hauptsächlich die Kammermusikdarbietungen des Hellmesberger-Quartetts gebracht zu haben, und vor allem «der Vortrag der Quartette aus der letzten Periode Beethovens rief tiefere Eindrücke hervor als alles damals in Wien Gebotene und wirkte auch stilistisch auf alle Schüler der Komposition»[14]. Trotzdem bewahrte Mahler noch über Jahre hinaus seinen Lehrern, und besonders Epstein, der ihm immerhin den halben Freiplatz verschafft hatte, ein dankbares Andenken.

Die Behauptung von Robert Fuchs, «Mahler sei immer ausgeblieben»[15], gewinnt zumindest teilweise Glaubwürdigkeit, da der Musikstudent des Konservatoriums zugleich externer Schüler am Gymnasium in Iglau geblieben war. Der Vater bestand auf der Reifeprüfung, die er dann im selben Sommer 1878 ablegte. Und wenig später immatrikulierte er sich an der Wiener Universität, wo er Kurse in Philosophie, Geschichte, Musikgeschichte und Musikästhetik belegte und, aller Wahrscheinlichkeit nach – in den beiden letztgenannten Fächern –, auch Vorlesungen des berühmten Brahms-Apologeten und Wagner-(und damit auch Bruckner-)Gegners Eduard Hanslick (1825–1904) hörte. Auch besuchte Mahler die Lehrveranstaltungen Bruckners (Harmonielehre und Kontrapunkt), «aber ein Lehrverhältnis kann man daraus bei dem Charakter dieser Vorlesungen, in denen sich Bruckner ganz anders gab als im Konservatorium, nicht ableiten. Bruckner kam meist mit Mahler in den Hörsaal und verließ ihn, von Mahler begleitet; wie denn der ehrwürdige Meister, nach Guido Adlers gutem Wort, Mahlers ‹Adoptiv-Lehrvater› genannt werden kann.»[16] Bekannt ist die Episode vom Misserfolg der Erstaufführung von Bruckners Dritter Symphonie: Unter den wenigen Zuhörern, die von dem (Richard Wagner gewidmeten) Werk begeistert waren und dem völlig geschlagenen Komponisten applaudierten, befanden sich Krzyzanowski und Mahler, die daraufhin den vierhändigen Klavierauszug der Symphonie anfertigen durften. Bruckner bedankte sich, indem er Mahler die Partitur seiner «Dritten» zum Geschenk machte.

Mahler bekannte später: Bei Bruckner wird man durch Größe und Reichtum der Erfindung hingerissen, aber auch jeden Augenblick durch ihre Zerstücktheit gestört und wieder herausgerissen. Ich kann das sagen, da ich Bruckner trotzdem verehre, und was in meiner Macht steht, werde ich immer tun, daß er gespielt und gehört werde.[17] Dieses Versprechen löste Mahler in reichem Maße ein. Vor allem in Prag und Hamburg war er ein Vorkämpfer für dessen Musik, und noch im Jahre 1910 setzte er für Bruckner eine ungewöhnliche Tat: Um die Herausgabe der Werke in einem Wiener Verlag zu ermöglichen, ließ Mahler sein eigenes Bankkonto mit 50000 Kronen belasten.

Nicht nur am Konservatorium, sondern auch auf der Universität scheint Mahler nicht allzu eifrig gewesen zu sein. Die Bemerkung, statt der Vorlesungen … den Wienerwald fleißig besucht[18], ist sicherlich überspitzt formuliert, doch wird er in diesen Jahren seinen Lesehunger reichlich gestillt haben. Mahler kannte später die Werke Kants und Schopenhauers, Goethes und Schillers, E.T.A. Hoffmanns und vor allem Jean Pauls, dessen Einfluss auf den Reifenden kaum unterschätzt werden kann: «Der Strom der Liebe aus diesem edelsten Herzen, seine feste, tiefe, philosophisch verankerte Frömmigkeit, sein hoher Humor und der Reichtum seiner Phantasie»[19] kamen der Veranlagung des Zwanzigjährigen ideal entgegen. Auch entdeckte er damals die Seelenlandschaft Dostojevskijs, die ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr losließ.

Mahler scheint in diesen Jahren ein geselliger Mensch gewesen zu sein. Emil Freund, sein späterer Anwalt und Vermögensberater, Fritz Löhr, Archäologe und Adressat vieler vertrautester Jugendbriefe, Guido Adler, der bedeutende Musikwissenschaftler, der 1916 eine kleine Studie über Mahler veröffentlichte, sowie die bereits erwähnten Krzyzanowski, Rott und Wolf – das waren die damaligen Freunde. «Seine feurigen Reden, seine blitzende Gewandtheit des Geistes, die dämonische Kraft der Erkenntnis ist schon damals aufgefallen.»[20] Man begreift auch, warum Mahler kein eifriger Opern-Besucher war, denn abgesehen davon, dass ihm dazu die Mittel fehlten, fehlte es ihm an Zeit. «Fast alle Opern, die er später im Dienste des Tages dirigieren, ‹herausbringen› mußte, so gut es ging, hat er erst in eigener Praxis kennengelernt. So konnte er original bleiben in der Auffassung.»[21] Die Werke Richard Wagners wird er in den Partituren und Klavierauszügen studiert haben: «Er wollte sie als ‹reine Musik› erfassen … wollte die Szene nicht sehen, weil ihm der Klang genug war.»[22] Mahler war zeitweise in seiner Wagner-Begeisterung Vegetarianer, der die moralische Wirkung dieser Lebensweise derart intensiv erlebte, dass er eine Regeneration des Menschengeschlechtes davon erwartete.[23]

In einem Brief vom November 1880 heißt es: Mein Märchenspiel ist endlich vollendet – ein wahres Schmerzenskind, an dem ich schon über ein Jahr arbeite. Dafür ist es aber etwas Rechtes geworden.[24] Es handelt sich um die Kantate Das klagende Lied, die Mahler später als sein erstes vollgültiges Werk anerkannt hat (Dieses Werk bezeichne ich als opus 1[25]). Andere Kompositionen aus diesen Jahren sind entweder verlorengegangen oder von ihm vernichtet worden: Bruchstücke aus konzipierten größeren Arbeiten, wie zum Beispiel den Opern Herzog Ernst von Schwaben, Die Argonauten und Rübezahl; sodann eine Violinsonate und eine Nordische Symphonie. Das Beste davon war ein Klavierquartett, welches am Schluß der Konservatoriumszeit entstand und das großen Gefallen erregte, erzählte Mahler später seiner Freundin Natalie Bauer-Lechner und fuhr fort: Ich schritt von Entwurf zu Entwurf und führte das meiste nur im Kopf aus; da wußte ich aber jede Note, daß ich es allezeit Vorspielen konnte – bis ich es eines schönen Tages vergessen hatte.[26]

Mahlers Leben war damals noch nicht gekettet an das späterhin verhasst-geliebte Theater und die Sorge für die Geschwister noch nicht unmittelbar die seine. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich durch musikalische Privatstunden. So verbrachte er den ganzen Sommer 1879 als Hauslehrer in Ungarn, wo er Klavierstunden erteilte. Von dort schrieb er den berühmten Brief an seinen Freund Steiner, aus dem seine genialische Anlage in jugendlich-gärender Exaltation hervortritt: Die höchste Glut der freudigsten Lebenskraft und die verzehrendste Todessehnsucht: beide thronen abwechselnd in meinem Herzen – eines weiß ich: so kann es nicht mehr fortgehen! Wenn mich der scheußliche Zwang unserer modernen Heuchelei und Lügenhaftigkeit bis zur Selbstentehrung getrieben hat, wenn der unzerreißbare Zusammenhang mit unseren Kunst- und Lebensverhältnissen imstande war, mir Ekel vor allem, was mir heilig ist, Kunst, Liebe, Religion, ins Herz zu schleudern, wo ist dann ein anderer Ausweg als Selbstvernichtung? Gewaltsam zerreiße ich die Bande, die mich an den eklen schalen Sumpf des Daseins ketten, mit der Kraft der Verzweiflung klammere ich mich an den Schmerz, meinen einzigen Tröster.[27] Diese Zeilen verraten, dass Mahler sich durchaus mit der «Welt» arrangieren konnte, zugleich aber zerknirscht war, wenn er sein ideales Streben verraten zu haben glaubte.

Dann fährt er fort: Da lacht die Sonne mich an – und weg ist das Eis von meinem Herzen, ich sehe den blauen Himmel wieder und die schwankende Blume, und mein Hohnlachen löst sich in das Weinen der Liebe auf. Und ich muß sie lieben, diese Welt mit ihrem Trug und Leichtsinn und mit dem ewigen Lachen. O, daß ein Gott den Schleier risse von meinen Augen, daß mein klarer Blick bis an das Mark der Erde dringen könnte! O, ich möchte sie schauen, diese Erde, in ihrer Nacktheit, ohne Schmuck, ohne Zierde, wie sie vor ihrem Schöpfer daliegt; ich wollte dann hintreten vor ihren Genius. «Nun kenne ich dich, Lügner, hast mich nicht getäuscht mit deinem Heucheln, mich nicht geblendet mit deinem Schein! O, sieh her! … Aus dem Tal der Menschheit tönt’s zu dir herauf, zu deiner kalten einsamen Höhe! Begreifst du den unsäglichen Jammer, der sich da drunten durch Äonen zu Bergen gehäuft hat? Wie willst du dich einst vor dem Rächer verantworten, der du nicht einmal den Schmerz einer einzigen geängstigten Seele zu sühnen vermagst!!!»

An dieser Stelle zeigt sich bereits der ganze Mahler; rührt sich der Drang nach philosophischer Erkenntnis ebenso wie eine glühende Natur- und Gottessehnsucht; kündigt sich der Symphoniker an, der seine Botschaft an die ganze Menschheit richtet (und der sich darum mit Violinsonaten und Klavierquartetten nicht zufriedengeben konnte). Von hier bereits führt ein einziger Bogen zum Lied von der Erde: Die Worte des chinesischen Dichters – sind es nicht die seinen? Wenn der Kummer naht, – liegen wüst die Gärten der Seele – welkt hin und stirbt die Freude, der Gesang … Dunkel ist das Leben, ist der Tod.

Mahlers Brief gleicht einer Symphonie mit ihren verschiedenartig gestimmten Sätzen, denn er fährt – einen Tag später – fort: Nun hat meine wild erregte Stimmung von gestern einer weit milderen Platz gemacht; mir ist zumute, wie einem, dem nach langem Zorne die Tränen der Erleichterung ins Auge treten … Wenn ich des Abends hinausgehe auf die Heide und einen Lindenbaum, der dort einsam steht, ersteige, und ich sehe von dem Wipfel meines Freundes in die Welt hinaus: vor meinen Augen zieht die Donau ihren altgewohnten Gang und in ihren Wellen flackert die Glut der untergehenden Sonne; hinter mir im Dorfe klingen die Abendglocken zusammen, die ein freundlicher Lufthauch zu mir hinüber trägt, und die Zweige des Baumes schaukeln im Winde hin und her … Überall Ruhe! Heiligste Ruhe! Und am Ende dieser gleichsam zunächst mit «appassionato», dann «amabile» überschriebenen «Briefsymphonie» findet der Neunzehnjährige Worte, deren Ähnlichkeit mit dem schweigenden Ausklang des Lieds von der Erde verblüffen müssen: Ich suche Ruhe für mein einsam’ Herz. Die liebe Erde allüberall – blüht auf im Lenz und grünt aufs neu! – Allüberall und ewig blauen licht die Fernen! Ewig … ewig … Im Brief: O meine vielgeliebte Erde, wann, ach wann nimmst du den Verlassenen in deinen Schoß; sieh! Die Menschen haben ihn fortgewiesen von sich, und er flieht hinweg von ihrem kalten Busen, dem herzlosen, zu dir! O nimm den Einsamen auf, den Ruhelosen, allewige Mutter!!