Cursed Souls - Veronika Rothe - E-Book

Cursed Souls E-Book

Veronika Rothe

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Beschreibung

Ein jahrhundertealter Fluch. Zwei Männer, auf ewig dazu verdammt, gegeneinander zu kämpfen. Drei Schicksale, verbunden durch Schmerz und Leid. Seit über zweihundert Jahren sind Francis und Jakob gezwungen, ihre Vergangenheit immer und immer wieder zu durchleben – und jedes Mal endet es auf dieselbe grausame Weise. Wegen eines tödlichen Fehlers lastet dieser furchtbare Fluch auf ihnen und es gibt für sie beide kein Entkommen. Doch dann tritt Kate in ihr Leben und irgendetwas scheint sich zu verändern. Trägt sie womöglich etwas in sich, um das Leid von Francis und Jakob zu beenden? Und wird es reichen, um den Fluch zu brechen, oder ist sie nur ein weiteres Opfer, das er einfordern wird?

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Jessica Strang

Stapenhorststraße 15

33615 Bielefeld

www.tagträumerverlag.de

E-Mail: [email protected]

Buchsatz: Laura Nickel

Lektorat/ Korrektorat: Martina König

Buchcoverdesign: Sarah Buhr

www.covermanufaktur.de

unter Verwendung von Bildmaterial von Slava Gerj; Smileus; Dmitry A /shutterstock.com

sowie katalinks /depositphotos.com

Druck: Booksfactory

ISBN: 978-3-946843-25-2

Alle Rechte vorbehalten

© Tagträumer Verlag 2017

Für R.

Weil Liebe manchmal ewig währen kann,

auch wenn kein Fluch im Spiel ist.

Danke, dass es dich gibt.

Kapitel 1

Chicago (USA), April 1987

Ich konnte es kaum erwarten, sie endlich zu sehen. Es waren zwar nur Stunden vergangen, seit wir uns gesehen hatten, aber es kam mir wie Tage vor. Die Zeit mit ihr war kostbar, gerade wegen ihrer Begrenztheit.

Ich wusste nicht, wie lange ich diesmal mit ihr zusammen sein konnte, betete einfach nur, dass ich wenigstens ein paar Tage bekommen würde. Von Wochen wollte ich gar nicht erst anfangen, denn mit den Jahren hatte ich gelernt, realistisch zu sein. Mir blieb auch gar nichts anderes übrig, angesichts der Dinge, die in meinem Leben geschehen waren. Wie hätte ich mir da weiterhin die Illusion von der Liebe, die über alles siegte, aufrechterhalten können?

Endlich war ich bei der Wohnung angelangt, in der sie mit ihren Eltern lebte. Mein Herz klopfte wie wild und meine Hände wurden vor Aufregung feucht. Ich wollte sie endlich sehen und doch war es jedes Mal wieder so, dass ich nicht wusste, wohin mit meiner Nervosität. Obwohl wir uns schon so lange kannten, obwohl ich alles von ihr wusste. Obwohl sie mich liebte.

Ich überwand mich schließlich doch, zu klingeln, weil mir klar war, dass jede Sekunde zählte. Jeder noch so kleine Augenblick, der mir mit ihr vergönnt war, war unendlich wertvoll und ich durfte nicht einen davon verschwenden.

Während ich vor der Tür des Mehrfamilienhauses aufgeregt auf meinen Fußballen auf und ab wippte, knetete ich nervös an den Blumen herum, die ich für sie gekauft hatte. Weiße Pfingstrosen, ihre Lieblingssorte.

Mühsam riss ich mich zusammen, weil sonst nicht mehr viel von dem Strauß übrig sein würde, bis ich bei ihr war.

Endlich ertönte das befreiende Summen. Sofort drückte ich die Tür auf und stürmte regelrecht hinein. Ich musste sie endlich sehen. Ich hatte sie so vermisst.

Ich rannte die Treppen nach oben in den zweiten Stock. Die Wohnungstür stand einen Spalt offen, doch niemand war zu sehen. Zögernd stieß ich sie etwas weiter auf.

»Hallo?«, rief ich. Ich war unsicher, was ich tun sollte. Ihre Eltern kannten mich noch nicht, sie würden vermutlich die Polizei rufen, wenn plötzlich ein fremder Mann bei ihnen im Wohnzimmer auftauchte. Aber im Hausflur zu warten, kam auch nicht infrage.

Langsam betrat ich die Wohnung und schloss die Tür hinter mir.

»Hallo? Ist jemand hier?«, versuchte ich noch einmal mein Glück.

Dieses Mal erhielt ich sogar eine Antwort. »Im Wohnzimmer.«

Es war eine männliche Stimme. Tief, ernst und definitiv nicht die meiner Liebsten.

Sofort wich jegliche Erleichterung aus mir und hinterließ nichts als eine erstickende Leere.

Mir fielen unglaublich viele Formulierungen aus Büchern ein – und jede Einzelne schien zu passen.

Mein Herz hörte vor Entsetzen auf, zu schlagen.

Es stolperte.

In meinem Magen bildete sich ein Klumpen von der Größe einer Wassermelone.

Das Gewicht der Erkenntnis schien mich zu Boden zu drücken.

Sucht euch etwas aus.

Die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen, doch ich denke, es wird deutlich, was in mir vorging.

Das Schlimmste war, dass ich es gewusst hatte. Ich hatte die ganze Zeit über gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde.

Denn er kam immer wieder.

Wir hatten kaum Zeit zusammen verbracht, da passierte es auch schon. Ich machte ihr keinen Vorwurf, sie konnte nichts dafür. Wenn überhaupt, war es meine Schuld. Und seine.

Kein Geringerer als er saß im Wohnzimmer und mir war klar, was das bedeutete. Ich kam zu spät. Wenn er hier war, war ich nicht rechtzeitig gekommen.

Da schwor ich mir, dass es das letzte Mal gewesen war. Ich würde mich verkriechen. Mich irgendwo verstecken, wo ich weder sie noch ihn jemals wiedersehen musste. Wo sie mich nicht finden konnten.

Ich gab auf, denn ich ertrug diesen Schmerz nicht länger.

Kapitel 2

Ich war verdammt glücklich, als ich die Augen aufschlug. Vor mir lag ein herrlicher Sommer voller Möglichkeiten, voller Freiheit.

Ich hatte die Schule beendet, und bis ich im Herbst zum Studieren an die Brown University in Providence, Rhode Island, gehen würde, hatte ich noch ein paar Wochen Zeit.

Dieses Gefühl der Freiheit war einfach himmlisch. Keine Verpflichtungen, kein Lernen, sondern einfach nur in den Tag hinein leben.

Ging es eigentlich noch besser?

Gut gelaunt sprang ich aus dem Bett und zog mir schnell ein gelbes ärmelloses Top und Shorts an. Die Sonne schien, es war ein warmer Sommertag und das steigerte meine, für normale Menschen, fast schon unerträglich positive Stimmung nur noch.

Ich ging nach unten in die große Wohnküche, kochte mir einen Kaffee und kippte mir Cornflakes in eine Schüssel. Es war zugegebenermaßen etwas seltsam, dieses riesige Haus für mich allein zu haben. Alles war so ruhig, dass es mir manchmal fast schon ein wenig gespenstisch vorkam. Auch aus diesem Grund hatte ich mir in der letzten Woche angewöhnt, mit eingeschaltetem Radio oder Fernseher zu essen.

Normalerweise lebte ich hier mit meinen Eltern. Sie waren beide Dozenten in Yale – meine Mom für Geschichte und mein Dad für englische Literatur – und hatten es irgendwie geschafft, dass sie gleichzeitig für ein Forschungssemester nach Oxford in England durften. Sie waren bereits vor einigen Tagen aufgebrochen, weil sie irgendwelche Projekte betreuen sollten, und selbstverständlich hatten sie mir angeboten, mitzukommen. Aber ich hatte abgelehnt.

Zum einen, weil ich keine Lust hatte, wochenlang allein in England herumzusitzen, während meine Eltern vermutlich rund um die Uhr beschäftigt waren.

Zum anderen, weil meine Freunde hier in Bethany – was vermutlich keiner kennt, der nicht zufällig ebenfalls in Connecticut lebt – ebenfalls frei und somit Zeit hatten, den Sommer so richtig zu genießen.

Und zum dritten, da mein Studium bald beginnen würde und ich mich nicht zuerst in Oxford und anschließend an der Brown eingewöhnen wollte.

Natürlich konnte ich mir die Chance, endlich einmal nach England zu reisen, aber nicht ganz entgehen lassen. Ich kam wohl nach meinem Dad, denn auch ich liebte die englischen Literaturklassiker und konnte mir kein anderes Land vorstellen, das ich lieber besuchen würde. Deshalb hatten wir ausgemacht, dass ich in meinen ersten Ferien zu Thanksgiving für einige Wochen zu ihnen kommen würde.

Ich war inzwischen achtzehn und zur großen Freude meiner Eltern ziemlich vernünftig, sodass sie mir erlaubt hatten, in den Wochen zwischen High-School-Abschluss und Studienbeginn allein zu Hause zu bleiben. Es war ja auch nicht so, als wäre ich mutterseelenallein. Im Gegenteil.

Nachbarn und Freunde, die sich um mich kümmerten, gab es in Bethany genug. Sie überschlugen sich geradezu mit Einladungen zum Essen, mit Kuchen und Aufläufen, die sie vorbeibrachten, und mit ihren Fragen, ob bei mir alles in Ordnung sei. Manchmal nervte mich diese übertriebene Sorge, aber auf der anderen Seite war es ein schönes Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die zusammenhielt.

Kaum hatte ich das gedacht und mich mit Kaffee und Cornflakes auf das große beige Sofa vor den Fernseher gesetzt, vibrierte auch schon mein Handy.

Hey Kate,

Mom fragt, ob du wieder zum Mittagessen kommst.

Geht das mit der Party am Samstag klar?

Können Genaueres ja dann später besprechen.

xoxo

Susan war eine meiner ältesten Freundinnen, die ich aus dem Kindergarten kannte. Sie war mehr wie ein Familienmitglied und für ihre Mutter war ich das auch.

Seit meine Eltern nach Oxford aufgebrochen waren, hatte sie mich fast jeden Tag zum Essen eingeladen und ich musste schmunzeln, als ich die Nachricht las. Natürlich würde ich zum Essen kommen, das wussten sowohl Susan als auch ihre Mom ganz genau. Es war fast schon strafbar, sich das geniale Essen entgehen zu lassen!

Ich sagte schnell zu und schaltete den Fernseher ein, während ich mein Frühstück aß. Der Gedanke an die Party spukte mir jetzt allerdings im Kopf herum, sodass ich mich nicht ganz auf die Serie konzentrieren konnte. Meine echt unfassbar entspannten Eltern hatten mir allen Ernstes erlaubt, eine Art Sommerferien-/High-School-Abschluss-/Studienbeginn-Feier zu veranstalten, solange wir keinen Alkohol tranken. Der Vertrauensvorschuss, ihr erinnert euch?

Meine Freunde, die ich zu der Party eingeladen hatte, waren glücklicherweise ebenso vernünftig wie ich – zumindest zum großen Teil –, sodass es eigentlich keine Probleme geben dürfte. Wir wollten nur eine noch überschaubare Feier machen, mit vielleicht dreißig Leuten. In drei Tagen sollte es schon so weit sein und ich war Susan sehr dankbar, dass sie mir bei der Planung half. Sie war einfach ein Organisationstalent.

Nachdem ich gegessen hatte, nahm ich mir ein Buch und legte mich in unserem Garten auf einen der Liegestühle. Es war einfach herrlich, in der Sonne zu faulenzen und zu lesen.

Das sollte der Sommer meines Lebens werden – das hatte ich mir zumindest vorgenommen.

Da das Wetter wunderschön war und meine Laune so gut, beschloss ich, heute zu Susan zu laufen und nicht mit dem Auto zu fahren. Ich wollte diesen tollen Tag nutzen und so viel wie möglich draußen sein. Sonne tanken, die Seele baumeln lassen – alles auf einmal. Also nahm ich mir meine Tasche samt Schlüssel und Handy und machte mich auf den Weg.

Ich kam an vielen Häusern vorbei, in deren Gärten eine wahre Blumenpracht blühte, traf einige Nachbarn, die mich freundlich grüßten, und die ganze Zeit über grinste ich wie ein Honigkuchenpferd.

Ich fühlte mich unbeschwert, frei und einfach nur glücklich.

Gott, jetzt fehlte nur noch, dass mir Einhörner und Regenbögen aus dem Popo flogen …

Ich lief gerade durch ein etwas ruhigeres Viertel der Stadt, in der viele Villen standen. Hier lebten die Wohlhabenderen – wozu meine Eltern eigentlich auch zählten, doch sie machten sich nicht viel aus Luxus – und es machte mir jedes Mal große Freude, die protzigen Häuser und Gärten anzuschauen, die von einer wahren Meute an Personal bewirtschaftet wurden. Swimmingpools, hohe Zäune und teure Autos waren hier Standard.

Aber tatsächlich gab es in dieser Gegend auch einen Schandfleck – zumindest sahen es die Anwohner so. Ich wartete auf den Tag, an dem sie mit Heugabeln und Fackeln loszogen, um ihn zu beseitigen. Mitten zwischen diesen protzigen Villen und den Statussymbolen gab es nämlich ein ebenso großes, aber dennoch ziemlich verwahrlostes Haus, dessen Eigentümer niemand kannte.

Wie das in einer Kleinstadt möglich war? Tja, vor dreißig Jahren hatte ein Mann es gekauft, den seitdem niemand jemals gesehen hatte. Und selbst damals hatte ihn nur der Immobilienmakler zu Gesicht bekommen – der sich über sämtliche Details ausschwieg. Natürlich hatte man ihn schon oft nach dem Käufer der Geistervilla gefragt, aber entweder war er mit einer verdammt großen Stange Geld bestochen worden oder er nahm das mit der Privatsphäre seiner Kunden sehr ernst.

Nicht ein einziges Mal war der Besitzer der Villa in der Stadt einkaufen gewesen, es stand kein Auto vor dem Haus und auch sonst war er wie vom Erdboden verschluckt.

Das Haus wurde »die Geistervilla« genannt und es gab ungefähr eintausend verschiedene Geschichten und Vermutungen, was es mit dem Eigentümer auf sich haben könnte.

Nicht einmal Strom schien der unheimliche Mann zu verbrauchen, denn er hatte sich nie beim örtlichen Stromanbieter angemeldet. Er bekam auch nie Post, besaß kein Klingelschild – geschweige denn eine funktionierende Klingel – oder sonst irgendwas, das signalisieren würde, dass der Mensch hinter den Mauern wirklich noch hier lebte.

Die Fensterläden der Geistervilla waren Tag und Nacht verschlossen, der Garten war verwildert und die Fassade des Hauses hätte dringend einen neuen Anstrich gebraucht.

Früher, als wir noch Kinder gewesen waren, hatten Susan und ich uns mit unseren Freunden einen Spaß daraus gemacht, möglichst nah an die Villa heranzuschleichen. Es war eine Art Mutprobe gewesen und ich hatte jedes Mal gewonnen. Ich hatte kein Problem damit gehabt, bis zur Haustür zu gehen und in kindlichem Übermut sogar zu klopfen. Denn ich sah keinen Grund, mich vor dem Haus zu fürchten. Auch nicht vor seinem sonderbaren Besitzer. Im Gegenteil. Das Gebäude mit seinen Geheimnissen hatte mich schon immer fasziniert und ich fühlte mich davon angezogen wie eine Motte vom Licht.

Da ich heute so ausgelassen war, die Häuser um die Geistervilla herum in einigem Abstand standen – zusätzlich war sie von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben – und ich darüber hinaus niemanden weit und breit entdecken konnte, beschloss ich, etwas Besonderes, etwas für mich Ungewöhnliches zu machen. Ich hatte plötzlich große Lust, die Mutprobe von früher zu wiederholen und mich ganz nah an das alte Haus heranzuschleichen. Im Gegensatz zu damals verfügte ich heute allerdings über ein Smartphone und würde meinen Mut auf einem Foto festhalten können.

Grinsend kletterte ich durch eine Lücke in dem alles andere als intakten Zaun, der als Einziger in der ganzen Siedlung aus alten Holzlatten bestand und keine Steinmauer war. Ich würde mich vor der Haustür fotografieren und meinen Freunden das Bild auf Facebook zeigen. Sie fanden es mit Sicherheit ebenso lustig wie ich, dass ich mich an unser Spiel aus der Kindheit erinnerte.

Ich spähte immer wieder aufmerksam zu den verschlossenen Fensterläden. Nicht, dass der mysteriöse Mann sich ausgerechnet den heutigen Tag ausgesucht hatte, um vor die Tür zu treten. Falls er überhaupt noch hier lebte und nicht schon vor Jahren heimlich gegangen war – den Unterschied würde sowieso niemand bemerken. Natürlich gab es schon lange diese Theorie, aber na ja. Ich schätzte, die Stadt wollte einfach weiterhin an ihren ganz persönlichen Mythos glauben.

Doch natürlich blieb alles ruhig und keine Menschenseele zeigte sich. Der Garten – wenn man ihn überhaupt noch als solchen bezeichnen konnte – bestand im Prinzip nur aus wucherndem Gestrüpp, hohem Gras und hier und da ein paar Blumen, die seltsam unpassend wirkten. Nur auf dem gepflasterten Weg konnte man sich im Prinzip ohne Machete fortbewegen.

Das Haus selbst war mit seinen zwei Stockwerken wirklich groß und verfügte vermutlich über ein hohes Dachgeschoss. Die Fenster waren allesamt mit hölzernen Läden verschlossen, als wollte der Besitzer die Welt ausschließen. Über den verrammelten Fenstern befand sich so was wie Stuck und sie waren alle von kleinen Säulen eingefasst.

Generell wirkte das Haus im Gegensatz zu den anderen in dieser Gegend untypisch, da es nicht den markanten Stil amerikanischer Villen aus dem neunzehnten Jahrhundert aufwies, sondern genauso gut in Italien stehen könnte. Allein schon deshalb wäre es ins Auge gestochen.

Als ich vor der ehemals eindrucksvollen Haustür stand, von der jetzt allerdings die Farbe abblätterte und die den Witterungen schutzlos ausgesetzt war, zückte ich mein Handy, aktivierte den Selfie-Modus und überprüfte, ob alles gut aussah.

Meine langen roten Locken leuchteten im Sonnenlicht und waren zusammen mit meinem gelben Shirt der einzige wirkliche Farbtupfer auf dem Foto. Meine grünen Augen funkelten übermütig und mein Grinsen war so breit, dass ich nur noch mehr lächeln musste, als ich es sah. Zufrieden machte ich ein paar Aufnahmen in verschiedenen Posen und kam aus dem Kichern gar nicht mehr raus.

Amüsiert über mein kindisches Verhalten, wollte ich mich wieder auf den Weg zu Susan machen, als ich plötzlich innehielt.

Hatte ich da gerade etwas gehört?

Irritiert lauschte ich angestrengt.

Ja, tatsächlich, aus dem Inneren des Hauses waren eindeutig Geräusche zu hören!

Wow, das war echt der Wahnsinn und mit Sicherheit eine Schlagzeile in der örtlichen Zeitung wert.

Sofort erwachte meine Neugier und ich wusste, dass meine Freunde sich vor Aufregung überschlagen würden, wenn ich ihnen hiervon erzählte. Zum ersten Mal gab es wirklich ein direktes Lebenszeichen von dem Eigentümer der Geistervilla! Und ich war live dabei.

Unfassbar.

Natürlich musste ich jetzt einfach wissen, was genau ich da gehört hatte. Schnell presste ich also mein Ohr an die verwitterte Haustür. Da ich hier allerdings nicht allzu viel hören konnte, lief ich weiter an der Mauer des Hauses entlang, um die Quelle der Geräusche auszumachen.

Es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, dass sie an den Fenstern des kleinen Erkers am deutlichsten waren. Ich presste mein Ohr gegen das verwitterte Holz der verschlossenen Fensterläden und war so aufgeregt und neugierig, dass ich ganz vergaß, mich vor Spinnen oder Käfern zu ekeln.

Und das hätte ich im Normalfall so was von getan. Eklige Krabbelviecher …

Mein Herz pochte wild und meine Handflächen waren vor Nervosität ganz feucht. Das hier war so unglaublich aufregend! Sollte ich dem Geheimnis der Geistervilla etwa einen Schritt näher kommen? Näher als irgendwer sonst seit dreißig Jahren?

Aufgrund der Aufregung rauschte das Blut in meinen Ohren und ich nahm die Geräusche aus dem Haus nur ganz verzerrt war. Als wäre ich unter Wasser. Ich brauchte ein paar Augenblicke, ehe ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich endlich wieder klar und deutlich hören konnte.

Aus dem Haus drang eindeutig Musik.

Musik, die ganz klar nicht aus Lautsprechern kam, sondern live gespielt wurde. Den Unterschied hörte man einfach. Und genauso hörte ich, dass es ein Klavier sein musste, das da spielte.

Wow, dieses Lied war atemberaubend schön.

Die Melodie war voller Bitterkeit. Traurig und gleichzeitig hoffnungsvoll. Sie zeugte von Liebe und Verlust, von guten und düsteren Tagen. Und all diese Emotionen fühlte ich nur durch den Klang, der von den Klaviertasten erzeugt wurde.

Gebannt stand ich da, war nicht in der Lage, zu gehen oder mich von diesen wundervollen Tönen zu lösen. Am liebsten hätte ich für immer zugehört.

Glücklicherweise war ich geistesgegenwärtig genug, um die Videofunktion meines Handys zu starten. So könnte ich dieses unglaubliche Lied später noch einmal anhören und herausfinden, wie es hieß.

Ich beglückwünschte mich selbst zu so viel Intelligenz.

Die Melodie kam mir bekannt vor und ich wusste, dass ich sie schon einmal gehört hatte.

Die Frage war nur, wo.

Ich zermarterte mir das Hirn, aber es wollte mir nicht einfallen. Es war, als läge die Antwort direkt vor mir, doch jedes Mal, wenn ich danach greifen wollte, wurde sie einfach weggewischt, wie Kreide von einer Tafel. Und je mehr ich mich anstrengte, je mehr ich die Lösung finden wollte, desto mehr entglitt sie mir.

Meine Güte, war das nervig. Es machte mich fast wahnsinnig, der Lösung so nah zu sein und sie doch nicht zu erwischen …

Kopfschüttelnd beschloss ich, dass ich mich später darum kümmern würde. Für den Augenblick wollte ich einfach nur diesen zauberhaften Tönen zuhören und mich darin verlieren.

Gott, war das schön!

***

Als das Lied endete – zum zehnten Mal, da es in einer Dauerschleife gespielt wurde –, tauchte ich aus einer Art Trance auf. Meine Wange fühlte sich heiß an, weil ich sie fest an den Fensterladen gepresst hatte, um näher bei der Musik zu sein.

Verdutzt blickte ich auf mein Handy, das ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, obwohl die Aufnahme nach etwa zehn Minuten automatisch beendet worden war, und staunte, als ich feststellte, dass ich eine geschlagene Stunde einfach nur hier gestanden hatte.

Echt jetzt? Eine ganze Stunde?! Himmel noch eins, was stimmte denn nicht mit mir?!

Genauso überrascht war ich, als ich mehrere Nachrichten von Susan und einige verpasste Anrufe von ihr entdeckte. Ich hatte davon wirklich absolut nichts mitbekommen.

Erschrocken über mich selbst, weil ich völlig selbstvergessen eine so lange Zeit herumgestanden hatte, machte ich mich eilig auf den Weg zu meiner Freundin. Ich schrieb ihr, dass ich gleich da sein würde, und beschleunigte meine Schritte noch ein wenig.

Ich musste unbedingt mit ihr reden. Ich brauchte ganz dringend jemanden, dem ich dieses wunderschöne Lied vorspielen konnte, jemanden, der mir half, herauszufinden, wie es hieß. Meine Neugier war entfesselt und nichts und niemand konnte sie stoppen. Ich musste mehr über den Eigentümer der Geistervilla herausfinden, wollte mehr über den mysteriösen Mann erfahren, den niemand kannte und der in der Lage war, eine so wundervolle Melodie zu spielen.

Es schien, als hätte ich ein neues Ziel für diesen Sommer gefunden.

***

»Da bist du ja endlich«, begrüßte Susan mich, als ich abgehetzt an ihrer Tür geklingelt hatte. »Wo warst du denn so lange?«

»Das erzähle ich dir nach dem Essen in Ruhe.«

Sie musterte mich skeptisch, nickte dann aber und winkte mich herein. Sie schien zu merken, dass mir das Thema äußerst wichtig war, und auch wenn ich darauf brannte, sofort darüber zu sprechen, führte kein Weg daran vorbei, erst einmal zu essen. Susans Mom war sehr bestimmend, was das anging, und niemand – absolut niemand – konnte sich ihrem Willen widersetzen, wenn sie sich entschlossen hatte, denjenigen mit Essen zu verwöhnen. Selbst Susans Dad, den ich nur selten zu Gesicht bekam, weil er aufgrund seines Jobs als Pilot ständig unterwegs war, durfte sich da keine Ausnahme leisten, wenn er dann doch mal zu Hause war.

»Entschuldige, dass ich so spät bin«, begann ich, während Susans Mom lächelnd eine große Auflaufform auf den Esstisch stellte. »Ich … ähm … wurde aufgehalten.«

Liza lachte nur und winkte ab. »Schon gut. Ich weiß doch, wie es hier in der Kleinstadt ist. Alle fünf Schritte trifft man einen anderen Bekannten, der einen ins Gespräch verwickelt.«

Ähm … genau.

Das war zwar nicht der Grund für mein Zuspätkommen, aber ich verzichtete darauf, sie zu berichtigen. Ich musste erst einmal in Ruhe mit Susan über alles reden, bevor ich es an die große Glocke hing.

Das Zuhause der Millers kam mir jedes Mal so vor, als wäre es einer Zeitschrift für Inneneinrichtung entsprungen. Ich fühlte mich hier nicht nur wegen der herzlichen Atmosphäre und den lieben Menschen pudelwohl, sondern auch wegen der liebevoll eingerichteten Zimmer. Das ganze Haus strahlte Gemütlichkeit aus und man musste sich hier einfach wohlfühlen. Sich wie zu Hause fühlen.

Das sollte nicht heißen, dass ich mich bei meinen Eltern weniger zu Hause fühlte. Ich mochte unser Haus sehr, doch man merkte einfach, dass weder meine Mom noch mein Dad großen Wert auf Einrichtung legten. Sie lebten in ihrer Akademikerwelt und die Möbel mussten einfach nur funktional sein.

Während wir aßen und ein wenig Small Talk betrieben, spürte ich überdeutlich Susans stetig wachsende Neugier. Sie wollte unbedingt hören, was mich beschäftigte, das sagten mir ihre häufigen Blicke. Auch ich konnte meine Ungeduld nicht mehr verbergen und wir stachelten uns gegenseitig mit unserer Unruhe an.

Auch Susans Mom schien mitzubekommen, dass wir nicht mehr bei der Sache waren, und sie hob seufzend die Hände.

»Ich weiß zwar nicht, was hier los ist, aber dann steht schon endlich auf. Ihr habt ja ganz offensichtlich etwas Dringendes zu besprechen.«

Susan und ich grinsten uns an.

»Danke, Mom!«, rief sie noch und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, ehe sie mich nach oben in ihr Zimmer zog. Zu leugnen, hätte uns sowieso nicht geholfen, da unsere Anspannung mehr als offensichtlich war. Außerdem war Susans Mom in dieser Hinsicht so locker, dass sie uns nicht drängen würde, ihr zu sagen, was los war.

Wir setzten uns auf das weiße schmiedeeiserne Bett in Susans rosa Mädchentraum – oder auch Albtraum … – und sofort bestürmte mich meine Freundin mit Fragen.

»Also gut, was ist hier los? Wo warst du? Was ist passiert?«

»Ich muss dir etwas zeigen«, erwiderte ich schlicht und holte mein Handy aus der Tasche. Ich spielte das zehnminütige Video mit der wundervollen Musik ab.

Meine Freundin starrte mich mit offenem Mund an, als ich das Handy wieder weglegte. »Wo hast du das aufgenommen?«

Tatsächlich hatte man bis auf Gras, das dringend mal wieder einen Rasenmäher sehen sollte, nichts auf dem Video erkannt. Ich hatte mein Handy einfach achtlos in der Hand gehalten, viel zu fasziniert von der Musik, um auf ein schönes Motiv zu achten.

Ich erklärte Susan, was ich getan hatte, und ihre blauen Augen weiteten sich noch mehr.

»Du meinst, der unheimliche Eigentümer der Geistervilla hat das gespielt?! Das kann doch nicht sein! Jahrzehntelang gibt es nicht einmal ein Lebenszeichen von ihm und jetzt sitzt er einfach so am Klavier?!«

Ich zog die Schultern hoch. »Er konnte ja nicht wissen, dass ich vor seiner Tür rumlungere.«

Susan war – wie ich gehofft hatte – sofort Feuer und Flamme. Sie sprang auf und tigerte unruhig im Zimmer umher. Ihr langes blondes Haar wippte dabei auf und ab und leuchtete golden in der Sonne, die durch die Fenster hereinschien.

»Das ist unsere Chance, Kate! Wenn wir mehr über den geheimnisvollen Typen herausfinden, der sich dreißig Jahre lang vor Bethany und der Welt versteckt hat, wäre das mein Ticket zur Studentenzeitung der Brown. Verstehst du? Dieser Artikel würde in Bethany und in der Umgebung wie eine Bombe einschlagen. ›Endlich ist das Geheimnis der Geistervilla gelüftet‹. Oder wie wäre es mit ›Mysteriöser Pianist endlich entlarvt‹? Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir!«

Ich musste über Susans Enthusiasmus lachen.

Tatsächlich war es seit jeher ihr großer Traum, Journalistin oder Autorin zu werden. Auch deshalb war ich davon ausgegangen, dass sie mir helfen würde, mehr über die Geistervilla herauszufinden. Ich hatte zwar im Gegensatz zu Susan keinerlei Interesse daran, einen Artikel über unsere Ergebnisse zu schreiben, aber meine Neugier war so unbezwingbar, dass ich einfach um der Sache willen Antworten wollte.

»Ich schlage vor, wir fangen damit an, herauszufinden, welches Lied das ist«, begann Susan, die ganz in ihre Grübeleien versunken war. »Vielleicht ist es ja eine eigene Komposition des Eigentümers?« Ihre Augen fingen plötzlich an, zu leuchten, und sie sah mich mit Feuereifer an. »Das ist es, Kate! Vielleicht hat er das Stück selbst geschrieben. Wenn wir also herausfinden, von wem es ist, und der Verfasser zufällig vor ungefähr dreißig Jahren von der Bildfläche verschwunden ist – dann hätten wir nicht nur eine lokale Story, sondern eine weltweite! Vielleicht ist er ja ein berühmter Musiker, der sich von der Welt zurückgezogen hat, und alle suchen nach ihm. Wenn wir ihn finden würden …«

Ich entschied, dass es höchste Zeit war, Susans wilde Fantasie zu bremsen. Wenn sie sich zu sehr hineinsteigerte, wäre sie am Ende doch nur enttäuscht. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Geschichte der Wahrheit entsprach, lag definitiv bei null.

Ich wollte meine beste Freundin nur vor sich selbst schützen, also hob ich die Hände und unterbrach sie in ihren Träumereien. »Stopp, Su, das geht jetzt wirklich etwas zu weit. Natürlich wäre es schön, wenn es so laufen würde, wie du dir das vorstellst, aber ganz ehrlich – es ist nicht sonderlich wahrscheinlich.«

Etwas gedämpft in ihrer Begeisterung, seufzte sie und ließ sich wieder neben mich auf das Bett fallen. »Du hast ja recht. Das wäre eher eine Idee für ein Buch … Aber als Journalistin muss ich erst einmal Fakten sammeln und diese dann verwerten. Also gut, dann lass uns mal damit anfangen, mehr über dieses Lied herauszufinden. Ich kenne es nicht, aber das muss ja nichts heißen. Klassische Musik ist einfach nicht meins.«

»Hm … Ich kenne mich da zwar auch nicht sonderlich gut aus, aber ich bin mir ganz sicher, dass ich die Melodie schon mal gehört habe. Mir fällt der Titel nur einfach nicht ein. Und auch nicht, woher ich es kenne.«

Die nächsten zwei Stunden verbrachten wir damit, gefühlt das gesamte Internet nach diesem Lied zu durchforsten. Wir ließen dabei nichts aus und hörten uns so viele klassische Stücke an, dass mir ganz schummrig wurde.

Nur unser Lied fanden wir nicht.

Es war zum Verrücktwerden. Wenn mir doch nur einfallen würde, woher ich es kannte!

Genervt schlug Susan schließlich ihren Laptop zu. »Okay, das reicht für heute. Nach diesem frustrierenden Erlebnis schlage ich vor, wir widmen uns etwas Erfreulicherem.«

Ich zog eine Augenbraue fragend nach oben. »Und das wäre?«

Etwas anklagend verzog Susan ihren Mund und schüttelte bedauernd den Kopf. »Du bist unverbesserlich, Kate. Ich meine natürlich die Party! Wir müssen noch so viel vorbereiten!«

Ach ja, das hatte ich echt komplett vergessen. Diese zauberhafte Melodie, der Ruf von Geheimnissen und das Mysteriöse hatten mich so gefangen genommen, dass ich gar nicht mehr an die Feier am Samstag gedacht hatte.

Aber genau für solche Dinge hatte ich Susan. Wenn ich mich mal wieder in meinen Gedanken verlor, war sie stets zur Stelle und holte mich in die Realität zurück. Ja, sie driftete manchmal selbst ganz schön ab und versank regelrecht in ihren Geschichten, aber gleichzeitig war sie die pragmatischste und bodenständigste Person, die ich kannte. Gerade diese spannende Mischung machte sie aus und ließ es an ihrer Seite niemals langweilig werden.

Wir widmeten uns also der Partyplanung, vor allem dem Schreiben von Einkaufslisten.

***

Nachdem es inzwischen dunkel war, bestand Susan darauf, mich nach Hause zu fahren, da sie mich auf keinen Fall nachts allein durch die Stadt laufen lassen wollte.

»Schickst du mir später noch das Video? Dann suche ich morgen Vormittag weiter nach dem Lied«, meinte sie noch, ehe ich aus dem Auto ausstieg.

»Na klar, das mach ich. Ich versuche auch, mein Gedächtnis zu aktivieren, damit ich mich endlich daran erinnere, woher ich die Melodie kenne … Schlaf gut!«

»Du auch.«

Im Haus angekommen, konnte ich nicht widerstehen und hörte mir das Video noch einmal an, ohne auf den Bildschirm zu sehen – da gab es ja sowieso nichts außer Grashalme zu entdecken. Und danach ein weiteres Mal.

Wie schon heute Vormittag vor der Villa verlor ich mich auch jetzt völlig in dem Lied. Es war wie eine Sucht. Ich bekam einfach nicht genug davon.

Kapitel 3

Lloret de Mar (Spanien), Juli 1970

Warum war ich hierhergekommen?

Ich konnte mir nicht erklären, weshalb ich mich ausgerechnet für Spanien entschieden hatte. Denn natürlich war ich ihr begegnet.

Und der verdammte Kreislauf begann von Neuem.

Sie hatte gerade ihren Abschluss gemacht und war mit einigen Freunden hier, um das zu feiern. Sie stammte aus der Schweiz, ihre Eltern waren vermögend und hatten ihr die Reise geschenkt.

Claudia.

Dieses Mal war sie sorgenvoll, machte sich viele Gedanken und war eher ängstlich. Ganz anders als zuvor.

Doch auch diese Version hatte ihre Reize. Ich liebte es, mit ihr am Strand zu sitzen und tiefgründige Gespräche zu führen. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt, tauschten Ängste und Sorgen aus und verstanden uns unwahrscheinlich gut.

Leider war ich dieses Mal nur Zweiter gewesen, denn er hatte sie vor mir kennengelernt. Wie auch ich hatte er die letzten Jahre in Spanien gelebt, doch wir waren uns niemals begegnet.

Leider oder glücklicherweise – da war ich mir nicht sicher.

Leider, weil ich sofort von hier weggegangen wäre, um dieser Situation zu entfliehen.

Glücklicherweise, weil ich sonst Claudia nicht kennengelernt hätte.

Na schön, wem wollte ich etwas vormachen? Natürlich hätte ich sie kennengelernt. Das tat ich immer. Ich konnte nicht entkommen, egal, wo ich mich verkroch. Genauso wenig wie er. Wir beide versuchten immer wieder auf unsere Weise, dem Ganzen zu entfliehen, doch keinem gelang es jemals. Es war einfach nicht möglich.

Jedes Mal, wenn wir sie verloren, stritten wir uns furchtbar, überhäuften uns mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen und steigerten uns in unseren Schmerz hinein. Doch dann trennten sich unsere Wege immer wieder. Wir versuchten, so weit wie möglich von dem anderen wegzukommen, suchten die entlegensten Gegenden auf – doch es half nichts. Wir fanden uns immer, und sie fand uns ebenfalls.

Auf verrückten, verworrenen Wegen, die eigentlich nicht möglich sein dürften.

Aber egal, ob es jeder Logik zuwiderlief – das Ergebnis blieb dasselbe. Wir drei waren wie Magnete, die immer wieder zueinander gezogen wurden. Er und ich stießen uns zwar ab, doch sie war wie ein Bindeglied, das uns zusammenschweißte. Unsere Schicksale waren untrennbar miteinander verbunden.

Und ich hasste es. Ich hasste es abgrundtief und hatte es so satt.

Claudia bestach durch ihre Tiefgründigkeit und ihre interessanten Gedanken. So kam es, dass wir auch an diesem Abend zusammen am Strand saßen. Über uns die Sterne, vor uns das Meer, dessen Wellen um unsere nackten Füße spielten. Jedes Mal sank ich ein wenig mehr mit den Zehen in den Sand ein, genoss das Gefühl der feinen Körner auf meiner Haut.

Es war warm und ein paar Hundert Meter entfernt fand eine große Party statt, wo ihre Freunde feierten, zu denen zu meinem Leidwesen auch er gehörte. Arroganter Bastard.

Doch ich hatte Claudia überreden können, hierher zu gehen, um ein wenig mit ihr allein zu sein.

Denn dieses Mal würde ich ihr die Wahrheit sagen. Ich musste es einfach tun. Ich musste ihr sagen, was passierte. Dass sie in Gefahr war. Warum sie sich zu mir und ihm gleichermaßen hingezogen fühlte. Ich musste es tun, musste diese Chance einfach ergreifen. Vielleicht würde sich etwas ändern, wenn sie wusste, was hier passierte. Wenn sie das ganze Ausmaß dessen kannte, in das sie unfreiwillig hineingeraten war.

Also erklärte ich es ihr. Ich holte weit aus und ließ kein Detail aus, beschönigte nichts. Ihre Augen weiteten sich mit jedem Wort, wurden größer und größer, ebenso wie die Ungläubigkeit und die Angst.

Vielleicht war das wirklich die Lösung? Vielleicht war die nackte Wahrheit am Ende doch der Weg, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen?

Oder war das nur Wunschdenken? Eine bescheuerte, lächerliche Hoffnung, die, wie all die Male zuvor, nichts weiter als eine Schneise der Trauer und des Schmerzes in mir schlagen würde?

Denn er hatte es ihr ebenfalls schon einmal erzählt. Beim ersten Mal, nachdem … nachdem das alles angefangen hatte. Er hatte ihr alles gesagt und sie hatte ihm geglaubt. Doch genützt hatte es rein gar nichts.

Sie war gestorben, war mir erneut genommen und aus dem Leben gerissen worden.

Und trotzdem musste ich es in diesem Leben einfach wieder versuchen. Es war das Einzige, das mir noch einfiel. Das Einzige, das ich selbst noch nicht versucht hatte.

Dazu kam, dass sie in dieser ernsten und ängstlichen Version ihrer selbst noch keinen von uns geküsst hatte. Möglicherweise konnte auch das sie retten. Ich wusste es nicht.

Ich wusste rein gar nichts und das machte mich wahnsinnig. Schon so lange. Schon so viele Leben lang.

Als ich ihr alles offenbart hatte, starrte Claudia mich mit ihren grünen Augen an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf, sodass ihre wilden Locken hin und her flogen.

»Warum erzählst du mir so einen Unsinn? Wenn du mich loswerden willst, dann sag es einfach, aber versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen! Das habe ich nicht verdient, du blöder Idiot!«

Wütend stand sie auf.

In mir wuchs ein Knoten der Angst und Panik. Das alles lief ganz anders, als ich gehofft hatte.

»Ich lüge dich nicht an, Claudia. Ich schwöre dir, dass es die Wahrheit ist. Ich kann es beweisen.«

Schnell bückte ich mich und hob eine scharfkantige Muschel auf. Ohne zu zögern, schnitt ich mir damit in den Arm.

Claudia kreischte erschrocken auf, weil sie wohl ein Blutbad erwartete.

Doch nichts geschah. Kein Kratzer, kein Tropfen Blut – gar nichts.

Ich konnte Schmerz empfinden, aber mein Körper blieb immer unversehrt, egal, was ich auch versuchte.

Claudia schaute allerdings nicht auf meinen Arm, wie ich gehofft hatte, interessierte sich überhaupt nicht für meinen Beweis. Stattdessen wich sie langsam zurück, lief rückwärts von mir fort.

Sie hatte Angst vor mir, ging es mir mit wachsendem Entsetzen auf. Ein Gefühl, das ich noch niemals in ihr ausgelöst hatte.

Erschrocken wollte ich zu ihr, sie in den Arm nehmen und trösten. Doch sofort hob sie abwehrend die Hände.

»Bleib, wo du bist, oder ich schreie um Hilfe! Du bist doch irre!«

»Aber … ich … Ich würde dir doch niemals etwas antun! Claudia, du weißt doch, was ich für dich empfinde!«

Sie schüttelte nur den Kopf, Ungläubigkeit in den grünen Augen. »Ich dachte wirklich, dass du anders wärst. Aber du bist einfach nur ein verrückter Spinner. Du hast gemerkt, dass du mich nicht sofort ins Bett bekommst, und jetzt versuchst du, mich mit kranken Spielen loszuwerden.« Sie schnaubte und ich sah mit Bestürzung, dass Tränen über ihre Wangen liefen. »Herzlichen Glückwunsch, du hast gewonnen. Hiermit bist du mich offiziell los.«

Sie drehte sich um und rannte in Richtung Party davon.

»Nein! Claudia! Bitte warte doch!«

Doch sie hielt nicht inne, gab nicht zu erkennen, ob sie mich gehört hatte.

»Verfluchter Mist!« Ich war so wütend auf mich selbst, dass ich den Sand mit den Füßen wegkickte. Ich hatte es vermasselt. Vollkommen und absolut.

Aber ich durfte nicht zulassen, dass sie so verletzt und verwirrt herumlief. Zum einen brach es mir das Herz, dass sie so fühlte, und zum anderen machte ich mir gewaltige Sorgen.

Ich rannte ihr hinterher, schob mich zwischen den tanzenden und lachenden Menschen hindurch und musste mehr als ein eindeutiges Angebot zurückweisen. Die Frauen klebten an mir, mutig durch Alkohol und berauscht durch den Nervenkitzel eines Urlaubsflirts.

Ich kämpfte mich über die gesamte Fläche, doch ich fand Claudia nicht. Stattdessen traf ich auf ihre Freunde, wo er ebenfalls herumstand. Er hielt sich etwas abseits und blickte suchend in die Menge. Als er mich erblickte, kam er mit vor Wut glitzernden Augen auf mich zu.

»Wo zur Hölle ist sie?!«, brüllte er mich über die laute Musik hinweg an. Vermutlich hätte er aber auch bei völliger Stille geschrien.

Bei seinen Worten sank meine Hoffnung rapide. »Dann ist sie nicht bei euch?«

Sofort war auch er alarmiert. Alarmiert und zornig. »Was hast du getan? Was ist passiert?«

Während wir loseilten, um sie zu suchen, erklärte ich ihm, dass ich ihr die Wahrheit erzählt hatte.

»Du Idiot!«, tobte er und schlug mir hart gegen den Arm. »Wie konntest du das tun? Ausgerechnet dieses Mal!«

Ehrlich gesagt fragte ich mich das inzwischen auch. Ich hätte es beim letzten Mal tun sollen, oder beim nächsten Mal, oder …

Verzweiflung keimte in mir auf, als ich daran dachte, dass es wohl ewig so weitergehen würde. Ich war auf ewig dazu verdammt, sie zu treffen, sie zu verlieren und das Ganze wieder von vorn zu erleben. Ich konnte das nicht mehr ertragen. Konnte nicht für immer so weitermachen. Aber ich konnte mich auch nicht verstecken. Weiß Gott, wir hatten es beide versucht.

Am liebsten hätte ich mich hier und jetzt zusammengerollt und vor Schmerz geschrien. Meine Hilflosigkeit machte mich allmählich wahnsinnig und es gab einfach kein verdammtes Licht am Ende des Tunnels. Im Gegenteil. Je weiter ich in ihn hineinlief, desto schwärzer wurde es um mich.

Als ich mit ihm zusammen herumlief, wurden noch mehr Frauen auf uns aufmerksam. Wir waren so gegensätzlich, wie zwei Menschen nur sein konnten, und doch hatten wir beide das Aussehen, das Frauen ansprach.

Ich hatte längst gelernt, dass Äußerlichkeiten keine Rolle spielten, doch das hatte viele Jahre gedauert. Diese Frauen hier hatten vielleicht zwanzig Jahre gehabt und es noch nicht durchschaut. Deshalb wunderte es mich nicht, dass wir ständig angesprochen, angetanzt oder auf die Wange geküsst wurden.

Als wir uns endlich durch das Gewühl von Menschen gekämpft hatten, blickten wir uns suchend um. Doch keine Spur von Claudia.

»In welche Richtung ist sie gelaufen?«, fragte er.

Ich deutete nach links. Wir sprinteten los, riefen ihren Namen, suchten alles ab. Doch keine Spur.

Ein Stück weiter vorn erschien ein kleiner Steg für Tretboote, die man mieten konnte. Wortlos betrat er diesen, während ich in die Boote schaute.

Bitte lass es nicht zu spät sein, flehte ich immer wieder stumm, obwohl ich den Glauben an Gott schon längst aufgegeben hatte.

Welcher Gott würde schon so etwas wie das hier zulassen?

»Nein!«

Sein Schrei durchriss die Stille, die sonst nur von der Partymusik in einiger Entfernung gestört wurde.

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, denn mir war sofort klar, was es zu bedeuten hatte. Zu oft hatte ich diesen Schrei bereits gehört, zu vertraut war die ganze verdammte Situation.

Er war ins Wasser gesprungen und schwamm mit etwas Großem, Leblosem im Arm zum Ufer zurück. Ich rannte ins Wasser, um ihm zu helfen, und konnte nicht mehr atmen, als ich Claudia erkannte. Sie bewegte sich nicht, ihre Haut war selbst im Mondlicht unnatürlich blass.

Ich nahm sie auf die Arme, trug sie an den Strand und legte sie vorsichtig in den Sand. Sofort begann ich mit den Wiederbelebungsmaßnahmen, versuchte, ihr Herz wieder zum Schlagen zu bringen.

Doch vergebens.

Einmal hatte er sie retten können, als sie beim Schwimmen beinahe ertrunken wäre, weil sich ihr Fuß im Wasser an irgendeiner Pflanze verhakt hatte.

Doch dieses Mal konnten wir nichts mehr tun. Wieder einmal waren wir dazu verdammt, sie sterben zu sehen. Leblos, zerstört und unwiderruflich dahin.

Alles nur meinetwegen. Unseretwegen.

Ich beatmete sie immer weiter, drückte auf ihr Herz, konnte einfach nicht aufgeben. Tränen rannen mir über das Gesicht und ich hasste mich schon wieder ein Stückchen mehr. Jedes Mal wuchs der Hass nur noch mehr, steigerte sich und brachte mich beinahe um den Verstand.

Und das Schlimmste war, dass ich nichts ändern konnte. Dass es immer so weitergehen würde.

Auf ewig.

Kapitel 4

Ich war wohl irgendwann während des Videos eingeschlafen. Bei der ungefähr vierten Wiederholung.

War es normal, dass man sich stundenlang immer und immer wieder dasselbe Lied in wirklich schlechter Qualität anhörte und es auch noch genoss? Oder war ich doch durchgeknallter, als ich gedacht hatte?

Auf jeden Fall schreckte ich aus dem Schlaf, als mein Handy direkt neben meinem Ohr klingelte.

»Verdammter Mist!«

Mein Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment vor Schreck aus meiner Brust springen. Wenn das jetzt kein absolut dringender Notfall war, bei dem es um Leben oder Tod ging, würde ich so was von ausflippen!

Erst als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, war ich überhaupt in der Lage, das Gespräch anzunehmen.

Toll. Es waren meine Eltern. Und da ging es garantiert nicht um Leben und Tod. Außer um die von irgendwelchen historischen Persönlichkeiten, die schon seit Jahrhunderten unter der Erde lagen.

Was für ein genialer Start in den Tag …

»Na, wie ist es so in England?«

Zwar war mein Puls immer noch höher als gewöhnlich, aber ich verbarg das sorgfältig vor meiner Mutter. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen, und das würde sie zweifellos tun, gleichgültig, ob ich nur wegen des Handys erschrocken war oder nicht.

Ich war mir sicher, dass meine Eltern von einem schlechten Gewissen gequält wurden, weil sie mich hier allein gelassen hatten.

Natürlich war das Quatsch, schließlich war es meine eigene Entscheidung gewesen, in Amerika zu bleiben, aber das machte wohl keinen Unterschied.

Meine Mutter lachte leise. »Einfach herrlich. Ich wünschte, du wärst auch hier. Es würde dir wirklich gefallen.«

»Ich komme euch ja besuchen. Bis dahin kennt ihr euch so gut aus, dass ihr mir das ganze Land zeigen könnt.«

»Du glaubst gar nicht, wie unglaublich faszinierend alles hier ist. Die Geschichte dieses Landes so hautnah erleben zu dürfen … Alles ist so viel älter als in den Staaten. Hier wurde schon vor tausend Jahren Geschichte geschrieben! Ach, ich wünschte, wir könnten dauerhaft hier wohnen.«

Sie erzählte eine Weile über irgendwelche historischen Artefakte, die sie hatte sehen dürfen, über alte Bücher, zu denen sie Zugang bekommen hatte, und darüber, wie weit sie mit ihrem Projekt war. Meine Mom wollte in England neben den universitären Dingen mehr über unsere Familie herausfinden, die vor rund hundertfünfzig Jahren von dort nach Amerika ausgewandert war.

»Ich habe mich schon bis zum 19. Jahrhundert vorgearbeitet«, erklärte sie. »Und es gibt so viele spannende Dinge, die unsere Familie damals erlebt hat. Du glaubst nicht, was …«

Es tat mir ehrlich leid, sie zu unterbrechen, aber ich musste es tun, wenn ich dieses Gespräch in den nächsten Stunden beenden wollte.

Denn wenn Mom einmal mit ihrem momentanen Lieblingsthema losgelegt hatte, gab es absolut kein Halten mehr für sie.

Und nichts für ungut, aber der ganze historische Kram interessierte mich einfach nicht. Es war vorbei, die Leute tot, man konnte es nicht mehr ändern – fertig.

Meine Eltern würden mich vermutlich enterben, wenn sie meine Meinung zu ihrer Passion kennen würden …

»Tut mir leid, aber ich muss mich langsam fertig machen. Ich bin mit Susan verabredet, weil wir noch ziemlich viel für die Party erledigen müssen.«

Das war nicht mal gelogen.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es erst sieben Uhr morgens war, während es bei meinen Eltern gegen zwölf Uhr mittags sein musste.

Ich war erst in fünf Stunden mit Susan verabredet, aber ich baute auf die typische Zerstreutheit meiner Eltern, durch die sie nicht merkten, dass ich wohl kaum um diese Zeit zu meiner Freundin fahren würde.

»Ach so, natürlich. Freust du dich denn schon auf die Feier?«

»Ja, das wird bestimmt toll. Wie gesagt, es wird keinen Alkohol geben, also bleibt alles ganz friedlich.«

Mom lachte. »Ich weiß, Cathy. Wir vertrauen dir und wissen, dass du keinen Unsinn anstellst. Wahrscheinlich machst du dir mehr Sorgen als wir.«

Cathy … Nur meine Eltern nannten mich noch so. Als Kind war ich von allen so gerufen worden, aber inzwischen hatte ich Kate als Spitznamen eingebürgert. Cathy hatte mir schon immer viel zu niedlich geklungen.

»Da hast du vermutlich recht.«

»Dein Vater will dich später auch noch anrufen. Er ist gerade mit einigen Studenten auf einer Exkursion in London, wird aber gegen Abend zurück sein.«

»Okay, alles klar. Grüß ihn schon mal ganz lieb von mir.«

»Das mache ich. Ich hab dich lieb, Cathy. Und ich vermisse dich.«

»Ich dich auch, und ich dich auch.«

Ihr Kichern war eine Wohltat, die allerdings nicht lange anhielt. Auch wenn ich selbst schuld war, dass das Gespräch nicht länger gedauert hatte, war es doch jedes Mal ein wenig schmerzhaft, wenn wir auflegten. Ich vermisste meine Eltern und die Aussicht, sie erst wieder an Thanksgiving zu sehen, versetzte mir einen Stich.

Aber ich war ein großes Mädchen und würde es schon überstehen. Ich wollte schließlich in ein paar Wochen anfangen, zu studieren, da konnte ich ihnen sowieso nicht am Rockzipfel hängen …

Außerdem hatte ich für die nächsten Wochen eine Beschäftigung: das Rätsel um den Eigentümer der Geistervilla lösen.

Sofort wanderten meine Gedanken wieder zu der Musik, die ich gestern beinahe schon exzessiv gehört hatte.

Na schön, na schön, streicht das beinahe.

Seufzend ging ich unter die Dusche und zog mir anschließend frische Klamotten an. Bei dem Wetter natürlich meine obligatorischen Shorts und dazu ein dunkelblaues, schlichtes T-Shirt. Mein langes feuerrotes Haar, das mir in wilden Locken vom Kopf abstand, band ich wegen der Hitze zu einem hohen Dutt zusammen. Anschließend ging ich nach unten, machte mir Frühstück – inklusive einer großen Portion Kaffee – und setzte mich zusammen mit meinem aktuellen Buch in den Garten.

Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel und schon jetzt war es ziemlich warm. Der Tag würde wohl wieder so schwül und drückend werden wie der gestrige, weshalb es mich nicht wunderte, als Susan mir zwei Stunden später schrieb, dass ich meine Badesachen mitbringen solle, damit wir nachmittags schwimmen gehen konnten.

Natürlich hatte mich ihre Mom zum Mittagessen eingeladen und natürlich hatte ich wieder einmal nicht Nein sagen können. Das wäre ja auch Wahnsinn gewesen, weil das Essen von Liza einfach unglaublich schmeckte und die Alternative eine Fertigpizza für mich allein gewesen wäre.

Die ganze Zeit hatte ich das Lied aus der Villa im Hintergrund laufen lassen, um mir einen spontanen Geistesblitz zu bescheren – was selbstverständlich nicht funktionierte. Es bewirkte nur, dass ich mich nicht auf mein Buch konzentrieren konnte, sondern meine Gedanken ständig abschweiften.

Fühlten sich Drogensüchtige so? Konnten die auch an nichts anderes als das nächste Mal denken, wenn sie der Sucht endlich nachgeben konnten?

Nachdem ich zum zwanzigsten Mal dieselbe Seite meines Buchs lesen musste, weil ich bei der Lautstärke meiner Gedanken einfach kein Wort aufnehmen konnte, klappte ich es genervt zu.

Stattdessen packte ich meinen grünen Bikini samt Handtücher und Sonnenhut in meine kleine Sporttasche und machte mich auf den Weg. Natürlich war es viel zu früh, um zum Mittagessen bei Susan aufzukreuzen, aber ich wollte auch gar nicht zu ihr. Zumindest vorerst nicht.

Mein Ziel war dasselbe wie gestern: die Geistervilla.

Im Eiltempo lief ich durch die Stadt und das Reichenviertel, wo auch heute kaum jemand zu sehen war. Das kam mir nur recht, da ich nicht als Einbrecherin oder Spannerin verhaftet werden wollte. Das war ein Punkt, den selbst meine tiefenentspannten Eltern nicht allzu locker sehen würden …

Als ich vor dem verfallenen Zaun stand, schaute ich mich noch einmal sehr gründlich um, und erst als ich mir sicher war, dass mich niemand beobachtete, schlüpfte ich in den verwilderten Garten.

Meine Tasche deponierte ich nahe der Lücke, durch die ich gestiegen war, und marschierte, nur mit meinem Handy bewaffnet, weiter.

Unter dem Erker blieb ich stehen und lauschte.

Nichts.

Na schön, es war auch ziemlich bescheuert, anzunehmen, dass der Mann auf einmal jeden Tag seine Melodie spielen würde. Jahrelang nichts und jetzt täglich? Mir war selbst klar, wie verdammt gering die Chancen dafür standen.

Etwas enttäuscht entschied ich mich dazu, einmal um das Gebäude herumzulaufen. Vielleicht hatte ich Glück und fand irgendwo einen Spalt oder Schlitz, durch den ich hineinsehen konnte.

Wenn ich den Eigentümer wenigstens einmal sehen könnte, würde uns das ein ganzes Stück weiterbringen. Irgendwie glaubte ich aber nicht daran, dass es so einfach werden würde. Immerhin hatte ihn seit dreißig Jahren niemand gesehen, sodass ich diese lange Zeit höchstwahrscheinlich nicht einfach damit beenden konnte, durch ein Loch im Fensterladen in sein Haus zu schauen.

Trotzdem tat ich genau das gründlich.

Und wie erwartet völlig erfolglos.

Na ja, abgesehen von den Spinnweben und dem Schmutz in meinen Haaren. Yay, tolle Erfolgsquote.

Ich dachte über meine nächsten Schritte nach, als ich mit einem Mal wieder dasselbe Lied wie gestern hörte.

Ein Ruck ging durch meinen Körper und meine Augen wurden groß. Nachdem ich es so oft auf meinem Handy angehört hatte, hatte ich offenbar vergessen, wie es klang, wenn es direkt auf dem Klavier gespielt wurde.

Die Magie der Noten und Töne fesselte mich genauso heftig wie gestern. Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich an die Wand seitlich des Erkers, wo man mich von der Straße aus durch die zahlreichen Löcher des maroden Zauns nicht sehen würde, und hörte einfach nur zu.

Je öfter ich diese Melodie hörte, desto länger wollte ich lauschen, wollte mich darin verlieren und alles andere um mich herum vergessen.

Dementsprechend enttäuscht war ich, als das Klavier irgendwann verstummte. Ich fühlte mich, als würde ich aus einem Traum herausgerissen und direkt in die Realität katapultiert. Als hätte man mir einen Eimer mit eiskaltem Wasser ins Gesicht gekippt, während ich tief und fest geschlafen hatte.

Echt fies.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr und konnte einen erschrockenen Laut nicht unterdrücken. Zwei Stunden hatte ich hier einfach nur herumgestanden und der Melodie gelauscht! Zwei ganze Stunden!

War das zu fassen?! Was war denn nur los mit mir?!

Eilig rannte ich durch den zugewucherten Garten, schnappte mir meine Tasche und stieg wieder durch den Zaun.

Ich musste mich beeilen, um noch rechtzeitig zu Susan zu kommen. Nicht, weil ich fürchtete, dass ihre Mutter wütend auf mich sein könnte – das lag gar nicht in ihrer Natur –, sondern weil ich nicht wollte, dass Susan sich um mich sorgte. Mir war selbst klar, dass es alles andere als normal war, zwei Stunden vor einem verfallenen Haus zu stehen und immer wieder demselben Lied zuzuhören.

Oh Gott, ich sah gerade ein erschreckendes Zukunftsszenario vor meinem geistigen Auge: ich, in Zwangsjacke und weggesperrt in eine Gummizelle.

Mist.

***

Nachdem wir gegessen hatten – ich war tatsächlich nur fünf Minuten zu spät gewesen –, fuhren Susan und ich mit ihrem Wagen los, um ein paar Dinge für die Party einzukaufen und anschließend ins Schwimmbad zu gehen.

»Ich war heute wieder beim Haus«, platzte ich heraus, weil ich es nicht mehr für mich behalten konnte. Meine Gedanken kreisten nur noch darum und ich war mir sicher gewesen, gleich zu explodieren, wenn ich nicht endlich darüber sprach.

Meine Freundin schaute mich fragend und neugierig an.

»Und?«

»Da war wieder dasselbe Lied. Immer und immer wieder. Ich habe versucht, durch die Fensterläden zu schauen, aber sie sind absolut dicht.«

Susan seufzte enttäuscht, während sie ihre Augen weiterhin auf den Verkehr richtete. »Das wäre ja auch zu schön gewesen … Ich konnte auch nichts über dieses blöde Lied herausfinden. Inzwischen kann ich es mir schon nicht mehr anhören, egal wie toll es klingt. So oft, wie ich es seit gestern gehört habe, bluten mir dabei die Ohren.«

Ich schluckte. Tja, das konnte ich wohl nicht von mir behaupten …

»So kommen wir nicht weiter«, entschied Susan schließlich, als wir vor dem Supermarkt hielten. »Wir müssen unseren Plan ändern.«

»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, fragte ich ratlos.

»Wir kümmern uns erst einmal um die Party, und wenn sie vorbei ist, fangen wir an, das Haus genauestens zu beobachten. Wir tragen sämtliche Informationen zusammen, die wir auftreiben können, und überlegen uns etwas, wie wir vielleicht doch noch einen Blick auf den Eigentümer werfen können.«

Ich nickte zustimmend und ging mit ihr in den Supermarkt, wo sie zielsicher alles von ihrer ziemlich langen Liste in den Einkaufswagen warf. Meine Eltern bezahlten mir die Feier und an Geld mangelte es glücklicherweise nicht, weshalb Susan sich völlig austoben konnte.

Mich beschlich immer mehr das Gefühl, dass es eher ihre Party, war als meine, aber ehrlich gesagt kümmerte mich das wenig. Es ging mir darum, noch einmal mit all meinen Schulfreunden zusammen zu sein, und wer das Ganze geplant hatte, war im Endeffekt völlig egal.

Nachdem wir die Einkäufe zu mir nach Hause gefahren hatten, brachen wir endlich zum Schwimmbad auf. Dort warteten schon unsere Freunde, die sich in der Sonne trocknen ließen.

»Da seid ihr ja endlich!«, rief Tyler, den ich ebenfalls schon seit dem Kindergarten kannte.

»Wir mussten noch ein paar Dinge für die Party erledigen«, erwiderte Susan grinsend und setzte sich neben ihn.

Auch Dana, Josh, Lara und Matt waren hier.

Wir machten meistens in diesem Kreis etwas zusammen, und das schon seit der Grundschule. Umso trauriger machte es mich, dass es uns alle in verschiedene Richtungen verschlagen würde.

Na ja, wenigstens Susan und ich hatten es an die Brown geschafft, sodass wir zusammenbleiben konnten. Ihren Verlust hätte ich nicht verkraftet, denn wir waren mehr wie Schwestern als Freundinnen.

Dana und Josh waren seit zwei Jahren ein Paar und würden gemeinsam nach Boston gehen. Tyler wollte nach Florida, weil er dort ein Footballstipendium bekommen hatte, Lara hatte es nach Stanford geschafft und Matt würde sich erst einmal ein Jahr Auszeit nehmen und herumreisen.

Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich daran dachte, dass ich diese Menschen bald kaum noch sehen würde. Wir waren täglich in der Schule zusammen gewesen – und das sollte einfach so vorbei sein? Ein echt deprimierender Gedanke …

Ich beschloss, lieber diesen Moment zu genießen und die Gesellschaft meiner Freunde so lange auszukosten, wie es eben ging. Was danach kam, konnte niemand wissen. Wir mussten einfach alle unser Bestes geben, damit die Freundschaft erhalten blieb – mehr konnten wir nicht tun.

»Die Party wird der Hammer«, meinte Matt grinsend. »Ist es okay, wenn ich ein Mädchen mitbringe?«

Ich lachte. »Hast du schon wieder eine Neue? Was ist denn mit der Alten passiert? Natasha, Natalie … oder wie hieß sie noch gleich?«

Matt lächelte mich verschmitzt und ohne eine Spur von Reue an. »Natalie war die Vorletzte. Die Letzte hieß Carol. Aber die Namen musst du dir nicht merken, weil ich zur Party gern Amanda mitbringen würde.«

»Doch nicht etwa die Amanda?«, fuhr Lara mit hochgezogenen Augenbrauen dazwischen, und das in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass sie von einem ekligen Insekt und nicht von einem Menschen sprach. »Amanda Hill aus der Zehnten? Das Wunderkind, das sämtliche naturwissenschaftlichen Preise abräumt?«

Matt grinste. »Genau die.«

Susan und ich tauschten einen fassungslosen Blick. Amanda war tatsächlich so ziemlich die beste Schülerin, die unsere Schule jemals gesehen hatte. Und Matt war nun mal … ähm … Sagen wir, er war nicht gerade bekannt für gute Noten oder Interesse am Lernen.

»Was in aller Welt will denn Amanda ausgerechnet von dir?!«, sprach Tyler das aus, was wir alle dachten.