CyberWorld 2.0: House of Nightmares - Nadine Erdmann - E-Book

CyberWorld 2.0: House of Nightmares E-Book

Nadine Erdmann

4,8

Beschreibung

Dunnington schenkte seinem Sohn ein beruhigendes Lächeln. "Ich habe einen unanfechtbaren Vertrag mit ihm ausgehandelt. Er wird kein Wort über dich verlieren. Zu niemandem. Sonst würde er viel zu viel aufs Spiel setzen." Um Neds Geheimnis zu wahren und seinem Sohn den Medienwirbel zu ersparen, plant Edward Dunnington die bahnbrechende Erfindung der Bioroboter mit Hilfe eines einflussreichen Geschäftspartners der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aber kann man Angus McLean wirklich trauen? Warum wacht der alte Lord plötzlich nicht mehr auf? Sein Körper scheint unversehrt, sein Bewusstsein ist jedoch verschwunden … In der Einsamkeit der schottischen Highlands müssen Jemma, Jamie, Zack, Ned und Will nicht nur der verschrobenen Adelsfamilie auf den Zahn fühlen. Um herauszufinden, was passiert ist, wagen sie sich auch ins 'House of Nightmares' – und dort wartet das Böse … heimtückisch und grausam … Besonders, wenn man sich nicht an die Spielregeln hält … Dies ist der zweite Band der CyberWorld-Reihe. Teil 1: Mind Ripper –CyberWorld 1.0

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I Like that book,i also red the First book,and that book is agan a veri good book and i wod Like to read the Next book. i am veri ecited
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Beliebtheit




CyberWorld 2.0

House of Nightmares

von Nadine Erdmann

»You don't have a soul. You are a soul. You have a body.«

C.S. Lewis

Kapitel 1

»Mensch, Leute, seid ihr wahnsinnig? Die Teile sind doch viel zu teuer!« Zack zog die schwarzen Sportschuhe aus dem Karton. »Danke, Mann!« Begeistert schloss er Jemma in die Arme.

»Hey, lass ein bisschen was von deiner Dankbarkeit auch für die anderen übrig! Ich hab dir die Treter schließlich nicht allein gekauft. Von mir war nur die Idee, das Geld haben wir zusammengeschmissen.«

Zack sah in die Runde.

»Uns brauchst du nicht zu erdrücken«, grinste Sam und legte seine Arme um Meg. »Ein Danke reicht völlig.«

Zack lachte. »Okay: Danke!«

»Sehr gern geschehen.«

»Mich darfst du ruhig drücken, so fest wie du willst!« Charlie wartete gar nicht erst auf Zack, sondern schlang ihre Arme einfach selbst so ungestüm um seinen Hals, dass ihre Köpfe zusammenstießen. »Happy happy Birthday!«

»Danke, Süße.«

Als Charlie ihn wieder freigab, nickte Zack zu Will und Ned, deren Namen ebenfalls auf der Karte am Geschenkkarton standen. »Euch auch. Ich weiß, dass es nicht gerade billig war, diese Schuhe zu kaufen. Danke! Ich freue mich wirklich.«

»Keine Ursache«, winkte Will ab und Ned nickte beipflichtend.

»Die sind echt cool! Zieh sie mal an«, schlug Gordon vor und wies auf den Basketballkorb, der neben der Terrasse der Bennetts an der Hauswand angebracht war. »Du könntest sie gleich ausprobieren. Ich hätte Lust auf ein kleines Spielchen.«

»Klar, warum nicht?«, meinte Zack sofort und auch Tylor und Steven waren begeistert.

»Wir sind dabei!«

»Spielen wir drei gegen drei? Oder vier gegen vier?« Fragend sah Gordon zu Will, Ned und Sam. »Wollt ihr mitspielen?«

Jamie griff seine Krücken und stemmte sich von der Gartenbank. Beim Thema Mannschaftsaufstellung fühlte er sich nicht angesprochen, also konnte er sich genauso gut drinnen noch eine Cola organisieren. Langsam ging er über die Terrasse ins Wohnzimmer, wo auf dem Esstisch die Reste ihres Pizzabuffets standen, das sie am frühen Abend bestellt hatten. Max, ihr Hightechbutler, hatte die übrig gebliebenen Stücke sorgfältig auf Warmhalteplatten drapiert, damit niemand kalte Pizza essen musste, falls noch jemand Hunger bekam.

Jamie nahm eine der bereitgestellten Colaflaschen aus der Kühlbox und drehte sie mit etwas Mühe auf. Der lange Tag steckte ihm in den Knochen und allmählich verließen ihn die Kräfte. Seine Hände zitterten und er musste die Flasche mit beiden Händen fassen, um sich ein Glas einzugießen, doch obwohl er vorsichtig war, ging ein dicker Schwall der braunen Flüssigkeit daneben.

»Mist.« Genervt stellte er die Flasche ab und angelte nach ein paar Papierservietten.

»Mann, Bennett, du bist so unglaublich erbärmlich.«

Die verächtliche Stimme in seinem Rücken ließ Jamie innehalten. Er schloss die Augen, atmete tief durch und wischte dann einfach weiter. Nur diesen Abend, nur noch ein paar Stunden musste er diesen Scheißkerl ertragen. Danach hatte er mit etwas Glück erst mal wieder Ruhe. Er spürte den Blick, der sich in seinen Rücken bohrte und schadenfroh dabei zusah, wie er den klebrigen See aufwischte, bevor er auf den Boden tropfen konnte.

Geh einfach, du Arschloch! Spiel Basketball und lass mich in Ruhe!

Doch diesen Gefallen tat Russell Grand ihm nicht. Im Gegenteil. Der breitschultrige Kerl baute sich provozierend neben ihm auf und deutete mit einem höhnischen Kopfnicken auf die verschüttete Cola.

»Kriegst du's mit deinen krüppeligen Händen nicht mal hin, 'ne Cola einzuschütten, ohne dabei 'ne Riesensauerei zu veranstalten? Wie jämmerlich bist du eigentlich?«

Jamie presste die Lippen fest aufeinander und merkte, wie seine Hände erneut anfingen zu zittern. Doch diesmal war es eindeutig aus Wut. Nur mit Mühe zwang er sich, weiter ruhig zu bleiben.

Lass dich nicht auf sein Niveau herab! Das hier ist Zacks Tag, versau ihm den nicht durch einen dämlichen Streit. Das ist genau das, was dieses Arschloch will!

»Ich hoffe, dir ist klar, dass Zack nur so nett zu dir ist, weil er bei euch wohnen kann, wenn seine Eltern unterwegs sind. Er hat einfach keine Lust, auf irgendein beknacktes Internat zu gehen. Nur deshalb und weil er aus irgendeinem mir völlig schleierhaften Grund Mitleid mit dir zu haben scheint, gibt er sich mit dir ab. Aber nur noch ein Jahr, dann ist er volljährig. Ein Jahr. Dann braucht er dich und deine kuschelige kleine Familie nicht mehr und er kann machen, was er will. Was glaubst du wohl, wie schnell er einen Krüppel wie dich dann fallen lässt und weg ist?«

Jamie gab den mühsamen Kampf um seine Selbstbeherrschung auf und wandte sich wütend zu ihm um. »Keine Ahnung! Wollen wir rausgehen und ihn fragen? Bin gespannt, was er dazu sagt, dass du ihn für ein berechnendes Charakterschwein hältst!«

Kalter Zorn blitzte in Russells Augen, als seine Hand vorschoss und sich in Jamies T-Shirt krallte. »Du mieser kleiner –«

»Gibt's hier irgendein Problem?«

Die schneidende Stimme ließ den Muskelprotz herumfahren. Russell musterte Ned finster und gab Jamie nur widerwillig wieder frei, allerdings nicht ohne ihm einen unsanften Stoß gegen die Brust zu verpassen. Fluchend kämpfte Jamie um sein Gleichgewicht und krallte hastig seine Hände in die Tischplatte, um nicht zu stürzen.

»Nein, es gibt hier kein Problem.« Russell hielt Neds frostigem Blick betont lässig stand und nickte dann verächtlich zu Jamie hinüber. »Krüppel sind für mich kein Problem.«

Neds Blick wurde noch eisiger. »Tja, dumm nur, dass aggressive intolerante Arschlöcher für mich eins sind. Und wenn du nicht willst, dass wir beide mein Problem ausdiskutieren, solltest du dir draußen vielleicht besser ein paar andere Gesprächspartner suchen.«

Einen Moment lang schien Russell durchaus diskussionsbereit, doch dann zuckte er nur mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. »Die Gesellschaft draußen ist ohnehin viel anregender als die hier drin.« Ohne große Eile schlenderte er zur Terrassentür.

Ned sah ihm hinterher und trat dann zu Jamie an den Esstisch. »Alles in Ordnung?«

Jamie nickte finster.

»Der Typ ist definitiv ein ganz heißer Anwärter auf den TitelMistkerl des Monats.« Ned goss sich eine Cola ein. »Er macht dich schon den ganzen Abend über blöd an, wenn er denkt, dass es keiner mitkriegt. Was ist sein Problem?«

Jamie verzog das Gesicht. »Russell ist nicht nur heißer Anwärter aufMistkerl des Monats, er ist auch heiß auf Zack und kriegt es nicht in seinen verdammten Schädel, dass Zack einen mickrigen Krüppel wie mich vorzieht, wenn er auch Mister Muskelbody Russell Grand haben könnte.«

»Ah, das erklärt natürlich so einiges.« Ned musterte ihn von der Seite. »Und ich hoffe, das mit dem Krüppel ist Russells Wortwahl und nicht deine.«

Gleichgültig zuckte Jamie mit den Schultern, doch Ned kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu merken, dass ihn dieses Wort nicht so kalt ließ, wie Jamie es gerne gewollt hätte.

»Weiß Zack, dass Russell scharf auf ihn ist?«

Jamie nickte. »Zack hat ihm klargemacht, dass er keine Chance hat, aber so richtig geschnallt hat Russell das offensichtlich nicht.«

»Und weiß Zack, wie mies der Typ dich behandelt?«, fragte Ned stirnrunzelnd. »Denn ehrlich gesagt fällt es mir schwer zu glauben, dass er ihn dann hierher eingeladen hätte.«

Jamie lehnte sich gegen den Esstisch und sah hinaus in den beleuchteten Garten. Obwohl es schon recht spät war, war der Juliabend angenehm warm. Die Jungen spielten auf dem kleinen Innenhof Basketball, während sich die Mädchen auf die Terrasse zurückgezogen hatten und miteinander plauderten. Zack dribbelte geschickt um Gordon herum, sprang und versenkte den Ball im Korb. Jubelnd riss er die Arme hoch und Tylor und Sam klopften ihm anerkennend auf die Schultern. Jamie lächelte und seufzte dann.

»Zack weiß, dass Russell ein Problem mit mir hat, aber in der Regel gehe ich ihm einfach aus dem Weg. Zack und er spielen zusammen Basketball und sie treffen sich ein oder zwei Mal in der Woche im Park, um gegen andere Streetteams zu spielen. Das war schon vor dem Unfall nicht mein Ding, aber Zack liebt es.« Er zuckte mit den Schultern. »Warum sollte ich es ihm kaputtmachen und sagen, dass Russell mich blöd anmacht, sobald er mich sieht, wenn die Lösung ganz simpel ist: Ich geh einfach nicht mit zu den Spielen. Basketball interessiert mich eh nicht wirklich und dumm danebensitzen und zusehen ist mir zu langweilig. Also muss ich Russell nur heute ertragen, weil Zack sein Team natürlich eingeladen hat. Aber für die paar Stunden ignoriere ich die blöden Sprüche eben, um Zack seine Party nicht kaputtzumachen.«

Ned zog eine Augenbraue hoch. »Du musst ihn wirklich verdammt lieben, wenn du es für ihn schaffst, bei so bescheuerten Sprüchen nicht viel früher zurückzuschießen.«

Jamie lächelte verlegen. Er sah auf seine Hände und seine Finger glitten über einen schlichten schmalen Silberring an seiner rechten Hand. Ned folgte seinem Blick. Der Freundschaftsring war neu und Ned hatte bei Zack den gleichen gesehen, es war also nicht schwer zu erraten, was Jamies Geburtstagsgeschenk gewesen war. Vermutlich hatte Russell die Ringe ebenfalls bemerkt und das mochte mit ein Grund dafür sein, dass er Jamie gegenüber so aggressiv war.

Ned beneidete seine beiden Freunde für das, was zwischen ihnen war. Genauso wie er Will und Jemma um das beneidete, was sie sich gerade aufbauten, und er hoffte, dass er irgendwann vielleicht auch mal so tiefe Gefühle für ein Mädchen empfinden würde – und sie diese erwidern konnte, wenn sie wusste, wer – oderwas?– er war.

Seufzend schob er den Gedanken von sich und sah hinaus in den kleinen Garten, wo Zack mit seinen Mitspielern gerade versuchte einen gegnerischen Angriff auf den Korb zu vereiteln.

»Warum spielst du nicht mit?«, fragte Jamie, der sein Seufzen offensichtlich falsch gedeutet hatte. »Du musst mir hier nicht Gesellschaft leisten. Wie gesagt, Basketball war noch nie mein Ding.«

Ned schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Meins auch nicht. Will hat die gesamten Sportlergene in unserer Familie abbekommen und als ich gemacht wurde, waren für mich keine mehr übrig. Dafür hab ich die volle Ladung Computernerd eingeheimst.« Er grinste, verzog dann aber das Gesicht. »Außerdem hab ich keine Lust, wie der letzte Trottel dazustehen, weil mein Superkörper und ich noch nicht für so schnelle Abläufe aufeinander eingestellt sind.«

Jamie nickte verständnisvoll. Seit gut drei Monaten steckte Neds Bewusstsein nun in einem Bioroboter, nachdem sein menschlicher Körper durch eine schwere Krebserkrankung zu geschwächt zum Weiterleben geworden war. Ned machte zwar tolle Fortschritte und er und sein neuer Körper spielten sich immer besser aufeinander ein, aber Jamie wusste, dass das Steuern sämtlicher Bewegungsabläufe Ned trotzdem immer noch oft vor viele Herausforderungen stellte, an denen er täglich arbeiten musste. Und wie unglaublich frustrierend das sein konnte, konnte Jamie nur allzu gut nachvollziehen.

»Vielleicht solltest du dein Training auf Ballsportarten erweitern«, grinste er. »Wer weiß, wofür es gut sein kann?«

Ned zog die Nase kraus und schüttelte den Kopf. »Nee, lass mal. Wie gesagt, ich bin der Computernerd, nicht die Sportskanone. Ich konzentriere mich lieber weiter auf meine Feinmotorik, um meine Finger über eine Tastatur fliegen zu lassen, als irgendwelchen Bällen hinterherzujagen. Den Sinn darin hab ich nämlich noch nie verstanden.«

Jamie lachte. »Lass das nicht Zack hören, sonst startet er einen enthusiastischen Erklärungsversuch.«

»Das wäre absolut vergebene Mühe, glaub mir.« Ned nahm sich seine Cola, reichte auch Jamie sein Glas und eine Weile sahen die beiden dem Basketballspiel zu.

»Stimmt es eigentlich, was Russell gesagt hat? Dass Zack in ein Internat gehen müsste, wenn er nicht bei euch wohnen könnte?«, brach Ned schließlich das Schweigen.

Jamies Miene verfinsterte sich. »Da hätte er schon als Sechsjähriger hingemusst. Vermutlich sogar noch früher, wenn seine Eltern eine Schule gefunden hätten, die noch jüngere Kinder aufnimmt.« Er seufzte. »Zack war mit Jem und mir zusammen im Kindergarten und schon damals ständig bei uns, weil seine Eltern kaum Zeit für ihn hatten. Meine Mum hatte ihn sehr gern und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Watts ihn so früh ins Internat stecken wollten, nur um beruflich unabhängiger zu sein. Sie hat ihnen vorgeschlagen, dass er zu uns kommen kann, wenn sie zu beschäftigt sind, und ich glaube, ihnen war es völlig egal, wo ihr Sohn untergebracht war, solange sie sich bloß nicht selbst um ihn kümmern mussten. Seitdem wohnt Zack hier, wenn seine Eltern unterwegs sind, und sie überweisen uns jeden Monat einen recht großzügigen Unterhalt dafür, dass sie ihn vom Hals haben.«

Missbilligend runzelte Ned die Stirn. »Sie scheinen sich ja nicht besonders für ihren Sohn zu interessieren.«

»Er feiert seinen siebzehnten Geburtstag bei uns und außer einer kurzen E-Mail mit ein paar Grüßen und einem dicken Geldzugang auf seinem Konto haben sie ihn heute nicht mal angerufen. Beantwortet das deine Frage?«

Kopfschüttelnd verzog Ned das Gesicht. »Warum manche Leute Kinder in die Welt setzen, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Es ist ja völlig in Ordnung, wenn man seinen Beruf liebt und komplett darin aufgehen möchte, aber dann sollte man sich eben gegen Kinder entscheiden, wenn man nicht bereit ist, sich auch um sie zu kümmern.«

Jamie nahm einen Schluck Cola und zog die Schultern hoch. »Ich glaube, Zacks Eltern sehen ihren Sohn als eine Art Statussymbol. Als etwas, das im Portfolio ihres Lebens nicht fehlen durfte. So nach dem Motto: Kind bekommen, erledigt, Häkchen dahinter, fertig.«

»Was machen sie denn beruflich?«

»Sie sind ziemlich gefragte Innenarchitekten und designen sehr erfolgreich ihre eigene Möbelreihe. Frag mich nicht, wen und was sie schon alles ausgestattet haben, aber es sind etliche High-Society-Namen darunter. Bei der Möbelmesse im Frühling haben sie irgendwelche megawichtigen Kontakte nach Übersee geknüpft und fanden es daher unausweichlich, dorthin umzusiedeln, um den amerikanischen Markt auch noch zu erobern. Also sind sie mit Sack und Pack nach New York gezogen, Zack wohnt seitdem bei uns und ihr Stadthaus hier in London steht leer bis auf einen Hausroboter, der nach dem Rechten sieht.«

»Kommt Zack denn damit klar, dass seine Eltern sich nicht für ihn interessieren?«

»Nicht immer.« Jamie seufzte. »Aber er redet kaum darüber und wenn, dann versucht er meistens es runterzuspielen und sagt, dass es ihm mittlerweile egal ist.« Er sah zu, wie Zack einen weiteren Korbleger versuchte. »Als wir noch kleiner waren, hatte er sich noch nicht so gut im Griff. Wenn seine Eltern über Weihnachten lieber mit Freunden zum Skilaufen in die Schweizer Alpen gefahren sind als die Festtage mit ihm zu verbringen, hat ihn das jedes Mal ziemlich fertiggemacht.«

Ned leerte sein Colaglas und stellte es geräuschvoller als nötig auf dem Tisch ab. »Wie gesagt, manche Leute sollten einfach keine Kinder bekommen.«

Jamie nickte langsam. »Ja, vielleicht.« Doch dann grinste er verschämt. »Aber ich werd mich bestimmt nicht darüber beschweren, dass die Watts es trotzdem getan haben.«

Lachend knuffte Ned ihm in die Rippen. »Schon klar.«

Jamie leerte ebenfalls sein Glas und drehte sich zum Tisch um. Seine Hände klebten von der verschütteten Cola genauso wie das Glas und die Tischplatte. Er würde Max bitten müssen, das zu säubern.

»Ich muss mir die Hände waschen.« Mit einem Kopfnicken wies er auf die matschigen Servietten und griff nach seinen Krücken. »Meine Feinmotorik lässt in den späten Abendstunden leider deutlich zu wünschen übrig.«

Ned zuckte mit den Schultern. »Dass deine Muskeln müde sind, wenn du den ganzen Tag an Krücken gelaufen bist, ist doch kein Wunder. Der wievielte Tag ohne Rollstuhl ist das jetzt?«

»Heute genau drei Wochen.« Der Stolz in Jamies Stimme war nicht zu überhören. »Seit die Sommerferien angefangen haben.«

Langsam gingen die beiden durch den Wohnraum hinüber zur Küche.

»Das ist echt cool. Dann brauchen wir das Ding ja eigentlich gar nicht mitzunehmen, wenn wir nach Schottland fliegen, was?«

»Ja, sicher!«, schnaubte Jamie. »Dir ist schon klar, dass das in etwa so wäre, als würdest du von jemandem, der vor drei Wochen mit dem Joggen angefangen hat, verlangen, dass er nächste Woche einen Marathon schafft, ja?«

Ned hob die Schultern und grinste. »Bei dir würde mich das kaum wundern.«

»Klar.« Jamie verzog das Gesicht und wandte sich dann an seinen Hausroboter, der gerade dabei war, die Spülmaschine auszuräumen. »Max, ich hab auf dem Esstisch Cola verschüttet und es klebt überall. Kannst du das bitte wegwischen?«

»Ja, natürlich.« Der Roboter ließ seine Arbeit liegen und musterte ihn einen Moment lang intensiv. »Du bist erschöpft und deine Muskeln werden langsam müde. Es war ein langer Tag und du solltest dich bald ausruhen.«

Jamie bedachte ihn mit einem genervten Blick. »Es geht mir gut! Du musst nicht jedes Mal gleich einen Körperscan bei mir machen, wenn ich was verschütte oder fallen lasse.«

»Tut mir leid, so bin ich programmiert.« Max nahm ein Wischtuch und verschwand ins Wohnzimmer.

»Glaub mir, bei deinem nächsten Update wird sich daran einiges ändern …«, grummelte Jamie leise.

»Du bist nicht befugt, über meine Updates zu entscheiden«, antwortete Max gelassen über seine Schulter hinweg. Offensichtlich hörten seine akustischen Sensoren selbst Flöhe husten. »Und ich glaube nicht, dass dein Vater an meiner Sorgfaltspflicht dir gegenüber Veränderungen veranlassen wird.«

Jamie rollte mit den Augen. Künstliche Intelligenz war ja wirklich fantastisch. Es nervte nur ungemein, wenn sie anfing, das letzte Wort haben zu müssen.

»Ich muss mal kurz für kleine Bioroboter.«

Ned verschwand in Richtung Gästebad, während Jamie sich an die Spüle lehnte, um endlich seine klebrigen Finger zu waschen. Als er die Griffe seiner Krücken sauberwischte, hörte er Schritte hinter sich.

»Das ging schnell. Sieh mal im Vorratsschrank nach, da müsste noch eine Tüte Chips sein. Die Schale draußen war fast leer.«

Er zuckte zusammen, als Russell statt Ned neben ihm erschien und spöttisch auf ihn herabsah.

»Wie armselig muss man sich eigentlich fühlen, wenn man zu behindert ist, um im eigenen Haus alleine klarzukommen?«

Jamie spürte, wie er langsam wirklich die Geduld verlor und all seine Beherrschung brauchte, um Russell nicht doch die Meinung zu geigen. Hatte dieses Arschloch etwa nur darauf gewartet, dass Ned verschwand, um ihn wieder alleine zu erwischen und mit seinen dämlichen Sprüchen weiterzumachen?

»Das hier ist Zacks Party und es gibt genügend andere Gesprächspartner, mit denen du dich unterhalten kannst. Wir müssen nicht miteinander reden.« Eisig sah er Russell an. Der Dreckskerl sollte bloß nicht denken, dass er ihn einschüchtern konnte, nur weil er zufällig wie ein wandelnder Kleiderschrank aussah und keine kaputte Wirbelsäule hatte.

Russell grinste abfällig. »Hey, ich versuche doch nur herauszufinden, was Zack in einer krüppeligen Missgeburt wie dir sieht! Denn ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, was das sein könnte.«

Auch wenn er wusste, dass es ein Fehler war, merkte Jamie, wie seine Beherrschung sich endgültig von ihm verabschiedete. Er pfefferte das Handtuch in die Spüle und fuhr zu Russell herum.

»Okay, tut mir leid, dass ausgerechnet ich es bin, der dir das sagen muss, aber die Dinge, von denen du keine Ahnung hast, würden selbst die Datenbanken bei Google sprengen! Außerdem solltest du nicht immer von dir auf andere schließen! Nur weil du in mir nichts als einen mickrigen Krüppel siehst, sind andere nicht genauso blind und blöd. Zack schon gar nicht! Und wenn hier jemand armselig ist, dann bist du es! Du bist nichts weiter als ein sexuell unterzuckertes Arschloch, das eine Zurückweisung nicht akzeptieren kann und seinen Frust darüber ständig an mir auslassen muss! Begreif es endlich, Russell: Zack will nichts von dir! Selbst wenn es mich nicht geben würde, würde zwischen ihm und dir niemals was laufen, weil Zack einfach nicht auf schikanierende Dreckskerle steht! Also komm drüber weg, such dir jemand anderes und lass mich in Ruhe!«

Der Faustschlag kam aus dem Nichts. Schmerzen explodierten zwischen seinen Rippen und er stürzte zu Boden. Keuchend krümmte Jamie sich zusammen und rang mühsam nach Luft, doch bevor er sich wehren konnte, beugte Russell sich über ihn und schlug ein weiteres Mal zu.

Panik stieg in ihm hoch. So wie es sich anfühlte, war beim Sturz nichts passiert, aber wenn Russells Fäuste seine Wirbelsäule trafen –

»Du mieser kleiner Scheißkerl«, zischte der Muskelprotz und hob die Faust für einen dritten Boxhieb, doch bevor er erneut zuschlagen konnte, wurde er gepackt und jemand drehte ihm den Arm auf den Rücken. Ohne große Anstrengung zog Max den kräftigen Jungen weg, während Ned sich schützend vor Jamie stellte. Mit tiefster Verachtung bohrte er seinen Blick in Russell, der vergeblich versuchte, sich zu befreien.

»Max, bring Russell zur Tür. Für ihn ist die Party zuende.«

»Wer bist du eigentlich, dass du glaubst, dich hier so aufspielen zu können?« Russell blitzte ihn höhnisch an. »Sein zweiter Lover? Sein Bodyguard? Du hast mir gar nichts zu befehlen!« Erneut versuchte er sich loszumachen, doch Max hielt ihn eisern fest.

»In diesem Haushalt werden keine Handgreiflichkeiten geduldet«, sagte der Roboter streng. »Daher stimme ich Neds Vorschlag zu.« Fragend sah er zu Jamie.

»Wirf ihn raus.«

»Sehr gerne.«

»Das wird dir noch verdammt leidtun, Bennett!«, zischte Russell.

»Mit solchen Drohungen vor Zeugen wäre ich an deiner Stelle sehr vorsichtig.« Warnend funkelte Ned ihn an. »Solltest du Jamie noch ein einziges Mal auf die Pelle rücken, handelst du dir weit größeren Ärger ein als nur einen Partyrausschmiss, das garantiere ich dir!«

Hasserfüllt starrte Russell von Ned zu Jamie, während Max ihn mit Nachdruck aus der Küche führte.

»Alles in Ordnung? Bist du verletzt?« Besorgt kniete Ned sich neben Jamie.

»Nein, ich bin okay.« Mühsam versuchte Jamie sich aufzusetzen, als ihm ein stechender Schmerz in die linke Seite fuhr. Stöhnend sank er zurück und presste eine Hand gegen seine Rippen.

»Ganz sicher?«, fragte Ned skeptisch.

Jamie biss die Zähne zusammen und nickte unwirsch. »Ja, der Mistkerl schlägt wie ein Kleinkind.«

Ned hob eine Augenbraue. »Nach Kleinkind sah das aber nicht aus.«

»Ich bin in Ordnung! Okay?«

Völlig überzeugt war Ned nicht, doch statt nachzuhaken half er Jamie, sich aufzusetzen. »Ehrlich gesagt, wundert es mich nicht, dass Russell so ausgetickt ist. Und ich hab vermutlich bloß die Hälfte von dem mitgekriegt, was du ihm an den Kopf geworfen hast.«

»Ich hab nur die Wahrheit gesagt!«

»Ja schon, aber wie!« Kopfschüttelnd sah Ned ihn an. »Dir ist aufgefallen, dass der Typ zwei Köpfe größer ist als du, ja? Und ungefähr doppelt so breit? Und seine Aggressionsschwelle ist niedriger als die Themsemündung bei Ebbe.«

»Sehr witzig!«, knurrte Jamie biestig und hielt sich noch immer die geschundenen Rippen. »Ich konnte mir seine beschissenen Sprüche einfach nicht mehr länger anhören.«

»Wie war das noch mit den ehrenhaften Vorsätzen Zack zuliebe?«

»Oh, halt die Klappe!«

Ned grinste und klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter. »Schon gut. Sei nicht sauer. Du hattest ja mit allem, was du gesagt hast, recht. Und wenn ich mir Russells Bullshit hätte anhören müssen, wäre ich auch irgendwann ausgerastet.«

»Ja, nur hättest du dich besser verteidigen können.« Jamie verzog das Gesicht, als er eine besonders schmerzhafte Stelle seiner Rippen berührte.

»Bist du wirklich okay?«

»Ja, bin ich. Kannst du mir hochhelfen? Ich kann nicht alleine aufstehen.«

»Na klar.«

Jamie verkniff sich nur mit Mühe ein Stöhnen, als Ned seine Arme um ihn legte und ihm auf die Beine half. Wacklig stützte er sich auf die Küchenzeile. Ihm war ein bisschen übel und zu tiefes Atmen fand seine linke Seite nicht besonders toll.

Ned musterte ihn besorgt. Jamie sah blass aus und dass er Schmerzen hatte, war auch nicht zu übersehen, doch bevor er etwas sagen konnte, kehrte Max in die Küche zurück.

»Ich habe Russell Grand zur Tür begleitet und sichergestellt, dass er das Grundstück verlässt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er noch einmal Unfrieden stiften wird, strebt gegen Null.«

Jamie lächelte matt. »Danke.« Dann wurde sein Blick ernst. »Max, das ist ein direkter Befehl: Du sagst niemandem, was hier gerade passiert ist. Weder dass Russell und ich gestritten haben noch dass er handgreiflich geworden ist. Bestätige das.«

Der Hightechhausmann sah ihn ruhig an. »Bestätigt.«

»Wenn dich jemand fragt, wo Russell ist, sagst du, dass er gegangen ist. Warum, weißt du nicht. Bestätige das.«

»Bestätigt.«

»Gut, danke«, seufzte Jamie. »Für alles andere gilt wie sonst dein freier Wille.« Damit entließ er seinen Roboter wieder in die Selbstständigkeit.

»Verstanden.« Statt seine Aufgaben im Haushalt wieder aufzunehmen, scannte Max ihn einen Moment lang intensiv, dann sagte er: »Die stumpfe Gewalteinwirkung auf deinen linken Brustkorb hat glücklicherweise nicht zu Brüchen deiner Rippen geführt und deine Wirbelsäule wurde weder durch den Sturz noch durch die Schläge in Mitleidenschaft gezogen.«

Jamie schloss die Augen und atmete erleichtert auf.

»Dennoch liegt zu 99,98% eine Rippenprellung vor. Diese Verletzungsart wird als äußerst schmerzhaft beschrieben und es ist mit der Bildung eines Hämatoms zu rechnen. Als Behandlungsmöglichkeiten sind Kühlung sowie das Einreiben der betroffenen Stelle mit einer diclofenachaltigen Salbe vermerkt, außerdem Schonung und bei Bedarf die Einnahme von Schmerzmitteln. Du solltest dich also hinlegen und ich bringe dir ein Kühlpad und die entsprechende Salbe aus unserer Hausapotheke.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Danke, Max, aber so schlimm ist es wirklich nicht.« Er nahm seine Krücken. »Ich setz mich einfach auf die Terrasse und ruh mich da aus. Das reicht völlig.«

»Wie du meinst. Melde dich, falls du deine Meinung ändern solltest.« Damit wandte Max sich wieder dem Ausräumen der Spülmaschine zu.

Jamie stützte sich auf die Krücken und machte vorsichtig die ersten Schritte. Seine Rippen schmerzten dabei deutlich mehr, als ihm lieb war, aber ihm war nichts Ernsthaftes passiert und das war alles, was zählte. Also biss er die Zähne zusammen und ging langsam mit Ned hinüber ins Wohnzimmer.

»Bist du sicher, dass du dich nicht doch lieber hinlegen willst?«

»Ja, ganz sicher.« Jamie hielt an und sah zu ihm auf. »Sag den anderen bitte nicht, was passiert ist, okay?«

Ned atmete tief durch und erwiderte seinen Blick ernst. »Ich finde, Zack sollte wissen, was Russell getan hat. Das war kein blödes Anmachen mehr, Jamie, er ist dir gegenüber handgreiflich geworden und damit hat er ganz eindeutig eine Grenze überschritten. Das sollte Zack wissen. Außerdem wird er spätestens morgen den Bluterguss auf deinen Rippen sehen und wissen wollen, wo du den her hast. Willst du ihn dann anlügen, nur um ihm sein Basketballspiel nicht zu vermiesen? Glaubst du wirklich, er würde mit Russell noch in einem Team spielen wollen, wenn er wüsste, was der gerade eben getan hat?«

Jamie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Nein, sicher nicht. Ich werd ihm sagen, was passiert ist. Aber nicht jetzt. Ich will ihm seine Party nicht wegen einem Dreckskerl wie Russell kaputtmachen.« Damit war das Thema für ihn erledigt und er ging hinaus in den Garten.

Ned sah ihm hinterher, wie er die Terrasse betrat und sich zu den Mädchen in die Sitzecke setzte, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Seufzend griff Ned eine Schüssel mit Popcorn vom Esstisch und folgte ihm.

Gute zwei Stunden später lag Jamie im Bett und hörte zu, wie Zack im Badezimmer herumhantierte und sich die Zähne putzte. Es war spät geworden und auch ohne das dumpfe Pochen in seinen Rippen hatte er das Gefühl, jeder einzelne Muskel in seinem Körper tat weh. Doch er wusste, dass das Schmerzmittel, das er gerade geschluckt hatte, bald wirken würde, und solange er ruhig auf dem Rücken lag, ließ sich die Zeit bis dahin ganz gut ertragen.

Das Wasserrauschen stoppte und kurz darauf erschien Zack im Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und kroch zu ihm ins Bett.

»Die Party war klasse«, gähnte er glücklich. »Erinnere mich morgen daran, dass ich deinem Dad noch das Geld für die Pizza geben muss.«

»Spinnst du? Er wird mit Sicherheit kein Geld von dir nehmen.«

»Er hat mir schon die coole Trainingsjacke von Devilition geschenkt. Er muss nicht auch noch das Essen und die Getränke für die Party bezahlen. Meine Eltern haben ihr Gewissen mal wieder äußerst großzügig beruhigt und ich hab mehr als genug Geld, um das alles selbst zu bezahlen.«

»Dad hat dich gern, Zack. Und vermutlich haben deine Eltern ihm eh eine Bonuszahlung für die Party überwiesen. Man kann ihnen ja vieles vorwerfen, aber geizig sind sie sicher nicht. Behalt dein Geld für dich und kauf dir irgendwas davon. Dad hat diese Party gern für dich gegeben und er hat noch nie Geld von dir für irgendwas genommen. Warum sollte er also jetzt damit anfangen?«

Zack lächelte. »Ja, er ist echt cool.« Liebevoll fuhr er mit zwei Fingern über Jamies Stirn und seine Wange entlang. »Du siehst ganz schön erledigt aus. Der Tag war ziemlich anstrengend, hm?«

Jamie lächelte müde. »Geht schon.«

»Sagst du mir dann, was zwischen dir und Russell los war?«

Jamies Lächeln verschwand. »Hat Ned seine Klappe doch nicht gehalten?«, fragte er verärgert.

Stirnrunzelnd schüttelte Zack den Kopf. »Nein. Ich brauche Ned nicht, um zu sehen, dass dir irgendwas zu schaffen macht, und da Russell plötzlich kommentarlos verschwunden war, hab ich nur eins und eins zusammengezählt. Was ist passiert?«

Seufzend wich Jamie seinem Blick aus und sah stattdessen an die Zimmerdecke. Es war spät, er war wirklich müde und eigentlich hatte er keine große Lust, jetzt noch alles zu erzählen. Doch als seine Antwort ausblieb, musterte Zack ihn argwöhnisch.

»Was ist los? Hat Russell dich wieder blöd angemacht?« Er schnaubte. »Tut mir leid. Ich dachte, er hätte es jetzt endlich mal geschnallt.« Sanft strich er über Jamies Oberkörper, doch als seine Hand über die Rippen fuhr, zuckte Jamie zusammen. »Alles in Ordnung?« Alarmiert setzte Zack sich auf.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Jamie nach einem anstrengenden Tag Muskelschmerzen hatte, aber in der Regel reagierte er nicht so empfindlich auf eine so leichte Berührung. Als Zack versuchte, ihm das T-Shirt hochzuziehen, hielt Jamie ihn erst zurück, gab dann aber seinen Widerstand resignierend auf. Für einen langen Moment starrte Zack auf den bereits deutlich erkennbaren Bluterguss, der sich über Jamies linke Rippenhälfte spannte.

»Was ist passiert?«, fragte er betroffen.

Da Jamie nicht lügen wollte, entschied er sich widerwillig für die Wahrheit. »Russell.«

Während er knapp erzählte, was vorgefallen war, wurde Zacks Gesicht immer finsterer und als Jamie geendet hatte, ballte er wütend die Fäuste.

»Gut, dass ihr ihn rausgeworfen habt, sonst …« Grimmig sah er auf Jamies geschundene Rippen und rammte seine Faust ins Kopfkissen. »Hat Max dich gescannt, um sicherzugehen, dass nichts gebrochen ist?«

Jamie nickte. »Ist nur eine Prellung. Ich soll es kühlen und Schmerzsalbe draufschmieren.«

»Und warum tust du das dann nicht?!«

Er seufzte. »Eigentlich wollte ich dir den ganzen Mist erst morgen erzählen, um dir deinen Geburtstag nicht zu versauen, und wenn ich hier mit einem Kühlpad gekuschelt hätte, wärst du doch sofort misstrauisch geworden.«

Einen Moment lang starrte Zack ihn nur fassungslos an, dann verbarg er sein Gesicht in den Händen und presste die Finger auf die Augen. »Ich liebe dich, das weißt du, oder?«

Irritiert runzelte Jamie die Stirn. »Ja, sicher. Warum?«

»Was, glaubst du, ist mir dann wohl wichtiger – ein perfekter Geburtstag oder dass es dir gut geht?« Zack sah ihn leicht entnervt an und Jamie verzog das Gesicht. »Ich hol dir das Kühlpad und die Salbe und dann reiben wir deine Rippen ein. Du machst im Moment so tolle Fortschritte, da darf dich so eine dämliche Verletzung nicht ausbremsen. Außerdem fliegen wir übermorgen nach Schottland und dafür willst du ja wohl fit sein, oder nicht?«

Jamie nahm seine Hand. »Das bin ich«, versicherte er. »So schlimm ist es nicht.«

»Es ist schlimm genug!« Aufgebracht malträtierte Zack erneut sein Kopfkissen. »Mann! Der Dreckskerl ist so hirnlos, der weiß vermutlich gar nicht, was er hätte anrichten können! Wenn er deine Wirbelsäule getroffen hätte …« Er brach ab und schüttelte den Kopf.

Jamie nickte beklommen. »Ja, ich weiß«, murmelte er und legte seine Hand um Zacks Faust. »Hat er aber nicht.«

Kein bisschen besänftigt schüttelte Zack noch immer den Kopf. »Trotzdem. Das war pures Glück! Wenn ich den Scheißkerl das nächste Mal sehe –«

»Lass es gut sein, ja? Ich will nicht, dass du dir Ärger einhandelst. Das ist Russell nicht wert. Außerdem ist er schon gestraft genug.«

Ungläubig sah Zack ihn an. »Womit denn?! Damit, dass er ein Arschloch ist, das dich zusammengeschlagen hat?!«

Jamie schüttelte den Kopf und grinste böse. »Nein, damit, dass ich dich habe und er nicht!«

Kapitel 2

Die Sonne glitzerte auf dem Wasser des langgezogenen Sees, der im Tal zwischen zwei Hügelketten lag. Der Pilot war extra einen Schlenker geflogen, um ihnen einen atemberaubenden Ausblick auf das sagenumwobene Loch Ness zu bieten, aber Jemma wusste nicht, ob sie ihm dafür dankbar sein sollte. Zu viele Erinnerungen hingen an diesem Ort und sie war sich nicht sicher, ob sie sich denen wirklich stellen wollte. Doch sie hatte Ned nicht hängen lassen wollen, als er sie, Jamie und Zack gebeten hatte, mit nach Schottland zu kommen, also saß sie jetzt im Privatjet von Neds Dad und war auf dem Weg in die Highlands, wo ein reicher Geschäftspartner von Edward Dunnington auf seinem Landgut lebte. Angus McLean war Besitzer vonMcLean Medical Supplies, der größten Herstellerfirma von medizinischen Gerätschaften in Großbritannien, und viele seiner Produkte liefen mit Software, die Dunningtons Firma entwickelt hatte.

»Na? Hast du Nessie schon entdeckt?« Will ließ sich auf den Ledersitz neben Jemma sinken und blickte ebenfalls hinunter auf die eindrucksvolle Landschaft.

Rasch zwang sie sich zu einem Lächeln. »Nein, kein Ungeheuer in Sicht.«

»Schade, aber vielleicht haben wir ja mehr Glück, wenn wir direkt vor Ort sind.« Er grinste, doch als er sah, dass ein trauriger Schatten über ihr Gesicht glitt, wurde er ernst. »Alles in Ordnung?«

»Ja, klar. Alles gut.«

Will betrachtete sie noch einen Moment länger, dann schüttelte er seufzend den Kopf. »Nein, ist es nicht.« Er nahm ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. »Jamie hat mir erzählt, dass ihr vor drei Jahren mit euren Eltern hier in Schottland wart. Im Sommer bevor eure Mum gestorben ist.«

Jemma warf einen finsteren Blick hinüber zu der kleinen Sitzgruppe des Lear Jets, in der ihr Bruder, Ned und Zack um einen Laptop saßen und vermutlich an ihrem neuen CyberGame herumtüftelten.

»Jamie sollte seine Klappe halten.« Sie versuchte ihre Hand aus Wills zu ziehen, doch der hielt sie fest.

»Sei nicht sauer auf ihn. Es war ziemlich offensichtlich, dass ihr nicht gerade begeistert wart, als wir euch von der Schottlandreise erzählt haben. Aber jedes Mal, wenn ich dich darauf angesprochen habe, hast du immer nur gesagt, dass alles gut wäre. Also hab ich ihn gefragt, was mit euch los ist.« Liebevoll strich Will ihr eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Warum wolltest du es mir nicht sagen? Ich hab meine Mum auch verloren. Glaubst du, ich hätte kein Verständnis dafür, dass du deine Mum vermisst und dass es dir schwerfällt, an einen Ort zurückzukehren, an dem so viele Erinnerungen hängen?«

»Doch, sicher.« Sie drückte seine Hand. »Aber das ist etwas, mit dem ich allein klarkommen muss. In letzter Zeit vermisse ich sie einfach oft und es tut immer wieder verdammt weh, dass sie fort ist. Aber das hat nichts mit dir zu tun. Oder mit Ned. Schottland ist einfach voller Erinnerungen, die eigentlich mal schön waren. Jetzt machen sie aber irgendwie nur noch traurig.«

Will ließ ihre Hand los, zog Jemma stattdessen in seine Arme und grub sein Gesicht in ihre Haare. »Es wird auch wieder besser, glaub mir«, flüsterte er. »Und ich verspreche dir, wir beide werden dort unten in der nächsten Woche ein paar neue Erinnerungen für dich machen. Das hilft bestimmt.«

Jemma musste lächeln und schmiegte sich an ihn. »Ja, vielleicht.«

Als sie Loch Ness hinter sich ließen, informierte ihr Pilot sie, dass sie sich nun im Anflug auf Inverness befanden. Edward Dunnington, der in einem der Sessel im vorderen Teil des kleinen Fliegers an seinem Laptop gearbeitet hatte, stand auf und ging in Richtung Cockpit.

Jemma sah ihm nach. »Werden wir vom Flughafen abgeholt oder nehmen wir einen Mietwagen?«

»Sowohl als auch. Der alte McLean schickt uns einen Wagen, aber damit wir in der Einöde von Abberton Coille ein bisschen flexibler sind, hat Dad uns auch einen Mietwagen organisiert. Und bei dem ganzen Gepäck werden wir den auch sicher brauchen.«

Jemma schnaubte. »Selbst schuld! Wenn dein Vater uns mit zum schottischen Hochadel schleppt und wir uns abends in vornehme Klamotten schmeißen müssen, um in feiner Runde zu dinieren, dann können wir das ja wohl nicht jedes Mal im selben Dress machen, oder?« Sie stöhnte. »Obwohl ihr Jungs es da deutlich leichter habt. Zwei dunkle Hosen und den Rest könnt ihr mit ein paar Hemden erledigen. Ich brauche rein theoretisch für jeden Abend ein neues Kleid, wenn ich von der High Society nicht mit gerümpften Nasen angeguckt werden will.«

Will grinste. »Nur theoretisch? Praktisch nicht?«

»So viele feine Kleidchen hab ich gar nicht!«

»Es gibt da so Einrichtungen, die heißen Geschäfte. Da kann man hingehen und Kleider kaufen. Hätten wir zusammen machen können. Ich hätte dich liebend gern begleitet.«

Jemma lachte und zwickte ihm in den Bauch. »Ja, klar! Vor allem in die Umkleidekabine, wie?«

»Dahin ganz besonders!«

»Blödmann!«

Will lachte erleichtert, als er sah, dass sie wieder fröhlicher war.

»Ich hoffe immer noch, dass dein Dad nur übertrieben hat und die McLeans nicht so vornehm sind, wie er meint.«

»Mach dir deshalb keine Gedanken. Wir müssen uns nur zum Dinner mit ihnen abgeben. Und mit etwas Glück noch nicht mal jeden Abend, wenn wir sagen, dass wir ein paar längere Tagestouren in die Highlands vorhaben. Die Leute sind alter schottischer Adel. Wenn wir denen genug Honig um den Mund schmieren und sagen, wie gerne wir ihre Heimat erkunden wollen, dann haben sie dafür bestimmt Verständnis und wir sind den einen oder anderen Abend aus der Dinner-Nummer raus.«

»Hört sich gut an«, gab Jemma zu. »Aber es wäre Ned gegenüber unfair, oder? Wenn er McLean Rede und Antwort zu seinem neuen Körper stehen muss, wird er auf die meisten Ausflüge bestimmt nicht mitkommen können. Da wäre es ziemlich mies, ihn abends auch noch allein zu lassen.«

Will gab ihr einen Kuss. »Ja, das wäre es. Aber ich hoffe, dass McLean ihn nicht jeden Tag bei sich antanzen lässt. Ned soll ja eigentlich nur der lebende Beweis dafür sein, dass man ein menschliches Bewusstsein in einen künstlichen Körper übertragen kann. Sobald McLean davon überzeugt ist und seinen eigenen Bioroboter ausprobieren will, kann er das mit Dad alleine tun. Dafür braucht er Ned nicht. Wie man mit der Steuerung umgeht, muss er schließlich selbst lernen.«

Anfang des Jahres hatte Angus McLean ein schwerer Schicksalsschlag in Form eines Schlaganfalls ereilt. Seitdem fesselte ihn eine halbseitige Lähmung an den Rollstuhl und da er sich starrsinnig weigerte, in seiner Firma kürzerzutreten, sahen die Ärzte ein hohes Risiko für einen zweiten Schlaganfall. So war Edward Dunnington mit einem Angebot an McLean herangetreten, das dieser nicht hatte ausschlagen können: Dunnington würde McLeans Bewusstsein in einen neuartigen Bioroboter transferieren, der dem alten Mann nicht nur täuschend ähnlich sah, sondern auch kerngesund und resistent gegen einen weiteren Schlaganfall war.

Jemma nickte nachdenklich. »Ich hoffe, du hast recht.«

Eine gute Viertelstunde später waren sie auf einem kleinen Privatflughafen nördlich von Inverness gelandet und Will und Jemma stiegen die Treppe des Lear Jets hinab auf den Vorplatz des Flugzeughangars. Die Nachmittagshitze staute sich auf dem Boden und traf sie nach der angenehm temperierten Maschine wie eine Wand. Die Luft flimmerte und Jemma konnte die Wärme des Asphalts durch die dünnen Sohlen ihrer Sandalen spüren.

»Mann, ist das heiß!« Stöhnend schwang sie sich ihren Rucksack über die Schulter. »Und ich dachte, hier in den Highlands wäre es kühler als bei uns in der stickigen Großstadt.«

»Sobald wir weiter draußen sind, ist es das sicher auch«, meinte Will und sah hinüber zum Hangar, vor dem zwei Autos parkten: ein schwarzer Rolls Royce und ein blauer SUV. Sein Vater sprach mit dem Fahrer der Limousine, während zwei Flughafenangestellte das Gepäck auf die Wagen verteilten.

Will nickte zufrieden, verzog dann aber das Gesicht. »Eigentlich wollte ich dich ja fragen, ob du mit mir fährst, damit wir ein bisschen Zeit für uns allein haben, aber ich kann gut verstehen, wenn du eine Fahrt in einem Rolls Royce einem simplen Geländewagen vorziehst.«

Jemma sah zu den beiden Fahrzeugen und zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Für mich sind das nur zwei Autos, die dazu da sind, uns von A nach B zu bringen. Solange das, das du fährst, eine Klimaanlage hat, hab ich absolut nichts gegen ein bisschen Zweisamkeit einzuwenden.«

Er zog sie an sich und küsste sie. »Ich liebe dich.«

»Ach, wirklich?« Sie grinste frech und küsste ihn zurück.

Jamie lächelte, als er vorsichtig die Flugzeugtreppe betrat und seine Schwester mit Will sah. Es freute ihn, dass die beiden sich nach allem, was im Frühjahr geschehen war, doch noch zusammengerauft hatten. Er lehnte seine Krücken an die schmale Gangway, fasste das Geländer und stieg langsam die Treppe hinab, doch zwischen der letzten Stufe und dem asphaltierten Untergrund klaffte ein Abstand von fast dreißig Zentimetern.

Super …

Mal wieder eine der vielen verdammten Hürden, die er täglich irgendwie meistern musste. Allerdings war die hier ein bisschen zu groß, als dass er sie sich allein zutraute.

Er seufzte. Es fühlte sich fantastisch an, den Alltag mehr oder weniger an Krücken bewältigen zu können. Es war großartig, sich wieder freier und beweglicher zu fühlen, doch genau diese Beweglichkeit barg auch das Risiko, zu stürzen und was ein unglücklicher Sturz für seine Wirbelsäule bedeuten konnte, wusste er ganz genau: Im schlimmsten Fall konnte er endgültig im Rollstuhl landen, ohne Hoffnung, noch einmal Laufen lernen zu können. Jon, sein Physiotherapeut, hatte ihm zwar einige Techniken für ein ungefährliches Fallen gezeigt, doch Jamie wusste, dass seine Muskeln sich noch viel zu oft zu kraftlos und unkooperativ zeigten, um sich im Ernstfall wirklich sicher abfangen zu können.

Abschätzend betrachtete er den Abstand zwischen Stufe und Boden. Lieber nichts riskieren, was er bitter bereuen konnte. Er schaute zur Treppe hoch und sah sich nach Zack um, doch der war nicht zu sehen. Resignierend blickte Jamie zurück zu Will und Jemma, die gerade Hand in Hand zu den wartenden Fahrzeugen hinüberschlendern wollten.

»Will?«

Die beiden wandten sich zu ihm um und Will zog eine Augenbrauen hoch. »Hey, du willst mir jetzt nicht ernsthaft sagen, dass du Hilfe brauchst, oder? Du bist in den letzten Wochen so gut geworden, da schaffst du die letzte Stufe bestimmt auch ohne mich.«

Jamie verzog das Gesicht. »Es ist zu tief. So sicher bin ich noch nicht.«

»Okay.« Will trat ans Ende der Treppe. »Halt dich an mir fest, aber versuch es alleine.« Er grinste. »Es ist nur ein kleiner Schritt diese blöde Treppe hinunter, aber ein großer für dein Selbstvertrauen.«

»Sehr witzig. Nicht, wenn ich stürze.«

»Keine Angst. Wenn du es wirklich nicht schaffst, pass ich schon auf, dass du nicht fällst.«

Jemma trat zu den beiden. »Will hat recht.« Sie funkelte ihn hinterhältig an und zwinkerte Jamie zu. »Er wird aufpassen. Wenn er dich fallen lässt, rede ich nämlich eine ganze Woche lang kein Wort mehr mit ihm.«

Will rollte mit den Augen. »Na, schönen Dank auch!«

Jamie musste grinsen. Dann ließ er das Geländer los und hielt sich stattdessen an Will fest. Der hob versichernd seine Hände, bereit ihn zu stützen, falls es nötig sein sollte. Vorsichtig verlagerte Jamie sein Gewicht, um mit seinem stärkeren Bein voran die letzte Stufe hinabzusteigen, doch durch die Bewegung geriet die Flugzeugtreppe unter ihm ins Schwanken. Erschrocken grub er seine Finger in Wills Arme und kämpfte für einen bangen Moment um sein Gleichgewicht. Es pochte dumpf in seiner linken Seite, aber das ignorierte er trotzig und schob sein rechtes Bein die Stufe hinunter. Das Auftreten war ziemlich unsanft, da er den Schritt in die Tiefe kaum abfedern konnte. Heftiger Schmerz fuhr durch seine Rippen, doch er biss die Zähne zusammen, zog rasch das linke Bein nach und atmete tief durch, als er wieder sicher stand.

»Na bitte!« Will klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »War doch ein Kinderspiel. Ich musste überhaupt nichts machen.«

Jamie schnitt ihm eine Grimasse und rieb sich vorsichtig die linke Seite.

»Deine Rippen?«, fragte Jemma mitfühlend.

Jamie nickte knapp. »Geht aber gleich wieder.«

»Was ist mit deinen Rippen?« Will musterte ihn stirnrunzelnd.

»Nichts. Ich hab sie mir nur ein bisschen geprellt.«

»Es muss wohl eher heißen, Russell hat sie dir geprellt«, grollte Zack, der in diesem Moment gemeinsam mit Ned die Flugzeugtreppe hinabpolterte.

»Russell?« Grübelnd sah Will zu Jamie. »Dieser Typ, der dich am Samstag ein paar Mal blöd angemacht hat und dann auf einmal verschwunden war?«

»Genau der.« Zack gab Jamie seine Krücken. »Und ich wünschte wirklich, mir hätte jemand gesagt, wie unmöglich er sich aufgeführt hat. Dann hätte ich ihn schon viel früher rausgeschmissen und es hätte gar nicht erst soweit kommen müssen.«

Ungläubig sah Will ihn an. »Ist er etwa handgreiflich geworden?«

»Ja, und zwar nicht zu knapp«, antwortete Ned.

»Was für ein Arschloch!«

Jamie rollte mit den Augen. »Vergessen wir's, okay? Das ist Schnee von gestern.«

»Wohl eher von vorgestern.« Empört schüttelte Will den Kopf und wies auf Jamies linke Seite. »Und offensichtlich taut er nur verdammt langsam!«

Leicht angenervt wandte Jamie sich ab und ging in Richtung Autos. »So schlimm ist es nicht, okay? Und jetzt kommt. Euer Dad wartet. Außerdem ist es hier affenheiß und ich hoffe sehr, dass dieser Rolls Royce da nicht nur nobel aussieht, sondern auch mit einer fantastischen Klimaanlage ausgestattet ist.«

Der kleine Privatflughafen lag nördlich von Inverness, der größten Stadt in den schottischen Highlands. Von der Citylage war allerdings nicht viel zu erahnen, als die Limousine durch die spärlich besiedelten Außenbezirke fuhr, sie schließlich hinter sich ließ und einer schmalen Landstraße durch hügelige Felder folgte, auf denen unzählige Schafe grasten oder in der Hitze des späten Nachmittags vor sich hin dösten.

Ned sah hinaus auf die fernen Bergketten der Highlands. Er war zum ersten Mal in Schottland und genoss die fremde Landschaft, die so völlig anders aussah als seine Heimatstadt.

Es tat verdammt gut, endlich mal rauszukommen.

Die letzten beiden Jahre hatte er kaum das Haus verlassen können, geschweige denn London, weil er durch Krebs und Chemo meistens zu schwach und sein Immunsystem zu angegriffen gewesen war, sodass Ausflüge oder gar ein Urlaub eine zu große Infektionsgefahr dargestellt hätten. Manchmal war er sich wie ein Gefangener vorgekommen. Gefangen im Haus. Gefangen in seinem Körper. Hätte er sich an besseren Tagen nicht in die CyberWorld flüchten können, wäre er vermutlich irgendwann durchgedreht.

Doch Krankheit, Schmerzen und Angst vor dem Tod waren vorbei. Er hatte die Chance auf ein neues Leben bekommen und versuchte jetzt, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Manchmal fiel das noch schwer, besonders da das Leben in seinem neuen Körper auch nach gut drei Monaten immer noch viele Herausforderungen für ihn bereithielt. Es hatte Wochen gedauert, bis er sich sicher genug gefühlt hatte, um in die Öffentlichkeit zu gehen, und auch dann hatte er es nur getan, weil Will, Jamie, Zack und Jem ihm nicht durchgehen ließen, dass er sich weiter versteckte.

Ned riss seinen Blick von der Landschaft los und sah zu Jamie und Zack, die ihm in den hellen Ledersitzen der Luxuslimousine gegenübersaßen.

Freunde. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben richtig gute Freunde. Und das schlechte Gewissen nagte fies an ihm, als er sah, dass Jamie nicht gerade glücklich aus dem Fenster starrte. Seine rechte Hand lag in Zacks und auch der wirkte bedrückt, während er still auf die vorbeiziehenden Felder schaute.

Ned ballte die Fäuste. Er hatte seinen Dad dazu überredet, Jamie, Zack und Jemma mit auf diesen Trip zu nehmen. Es war nicht gerade eins seiner persönlichen Highlights, diesem Angus McLean in den nächsten Tagen Rede und Antwort zu seinem neuen Körper stehen zu müssen. Ihm war klar, dass diese Gespräche nichts waren im Vergleich zu dem, was ihm bevorstünde, wenn er an McLeans Stelle an die Öffentlichkeit gehen müsste. Ein Bioroboterkörper, der todkranken Menschen ein Überleben sichern konnte – Ned war seinem Vater unendlich dankbar dafür, dass er ihn aus dem Pressewirbel heraushalten wollte, den diese Sensation mit Sicherheit auslösen würde. Trotzdem hasste er die bevorstehenden Gespräche mit McLean schon jetzt, denn sie würden ihm immer wieder vor Augen führen, was er war – und was nicht mehr. Er hatte zwar sein Überleben gewonnen, doch der Preis, den er dafür zahlen musste, war hoch und er hatte eine Scheißangst davor, dass man ihn und alle anderen, die sich zu einem Leben in einem Biokörper entschieden, als Freaks ansehen würde.

Oder als Menschen zweiter Klasse.

Oder gar nicht mehr als Menschen …

Diese Vorstellung war schrecklich und er verdrängte sie so gut er konnte. Und er war unglaublich erleichtert, dass seine Freunde ihn so akzeptierten, wie er jetzt war. Deswegen war es ihm so wichtig, sie hier bei sich zu haben. Und sie waren mitgekommen, obwohl es ihnen offensichtlich schwerfiel, und das rechnete Ned ihnen hoch an.

»Denkt bitte daran, dass ihr McLeans Familie nichts über Ned, die Bioroboter oder McLeans Vorhaben sagen dürft«, brach Edward Dunnington plötzlich die Stille. »Darauf legt Angus sehr viel Wert und ich musste ihm eure absolute Verschwiegenheit zusichern. Seine Familie weiß anscheinend noch von nichts und er will es ihnen zum richtigen Zeitpunkt mitteilen.«

Zack und Jamie nickten.

»Ist doch verständlich«, murmelte Ned. »Er muss ihnen schließlich klarmachen, was aus ihm wird und dass die Medien nicht nur ihm, sondern vermutlich auch seinen Angehörigen das Leben zur Hölle machen werden. Das würde ich meinen Leuten auch lieber schonend beibringen.«

Dunnington rieb sich über die Augen. »Im Prinzip hast du recht. Ich fürchte nur, dass Angus sich nicht aus Rücksicht auf seine Familie unsere Verschwiegenheit erbeten hat.«

Irritiert sah Ned ihn an. »Warum dann?«

»Ich weiß es nicht«, seufzte sein Dad. »Angus ist kompliziert und nicht gerade das, was man einfühlsam nennen würde. Eher das Gegenteil.«

»Na toll! Und warum vertraust du ihm dann?«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, Ned. Nur weil ich Angus menschlich nicht unbedingt sympathisch finde, ist er trotzdem ein anständiger und respektabler Geschäftspartner, auf dessen Wort man sich verlassen kann. Außerdem kann ich ihm mit einem neuen Körper etwas geben, das er unbedingt haben will, also wird er sich an den Deal halten, den ich ihm vorgeschlagen habe.« Er schenkte seinem Sohn ein beruhigendes Lächeln. »Ich habe einen unanfechtbaren Vertrag mit ihm ausgehandelt. Er wird kein Wort über dich verlieren. Zu niemandem. Sonst würde er viel zu viel aufs Spiel setzen.«

Ned nickte stumm, spürte aber, wie sein Unbehagen wegen der bevorstehenden Gespräche mit McLean deutlich zunahm.

Ein Fuß stupste gegen sein Schienbein.

Jamie lächelte ihm aufmunternd zu. »Du kriegst das schon hin.«

»Jamie hat recht«, sagte Dunnington mit einem dankbaren Blick in Jamies Richtung. »Und ich bin auf jeden Fall dabei, wenn Angus dich befragt.«

Ned rang sich ein Lächeln ab, atmete tief durch und nickte. »Wird schon werden.«

»Weiß McLean eigentlich, dass Jamie auch einen Übergang in einen Biokörper geschafft hat?«, fragte Zack.

Dunnington schüttelte den Kopf. »Nein. Das geht ihn nichts an. Niemand außer uns weiß, was Jamie für Ned getan hat, und das wird auch so bleiben.« Er schaute die drei ernst an. »Wenn Angus seinen neuen Körper hat und wir damit an die Öffentlichkeit gehen, wird die Hölle losbrechen und aus dem ganzen Rummel will ich euch heraushalten. Nach allem, was Ned durchgemacht hat, verdient er jetzt ein selbstbestimmtes Leben und keins, das auf Schritt und Tritt von den Medien verfolgt, dokumentiert und analysiert wird.« Er sah zu Jamie. »Und wenn bekannt würde, dass du einen Übergang in einen Roboter ausprobiert und dich trotz deiner Behinderung gegen ein Leben in einem künstlichen Körper entschieden hast, würde die Presse dich genauso mit Fragen bombardieren.«

Jamie schluckte. Das war so ziemlich das Letzte, was er wollte.

Dunnington bedachte die Jungen mit einem versichernden Lächeln. »Aber dazu wird es nicht kommen, weil Angus das Medienspektakel auf sich ziehen wird.« Dann wurde er wieder ernst und sah die drei eindringlich an. »Seid aber trotzdem vorsichtig. Die McLeans sind eine seltsame Familie. Vertraut auf Abberton Coille also besser niemandem.«

Kapitel 3

Abberton Coille war riesig. Nachdem man eine gut vier Meter hohe Mauer mit eindrucksvollem Schmiedeeisentor und hochmoderner Überwachungskamera passiert hatte, schlängelte sich eine Zufahrtsstraße durch einen Wald zum Herrenhaus. Als die Bäume sich lichteten, gaben sie den Blick auf einen gepflegten Vorplatz mit einem steinernen Springbrunnen frei, in dessen Mitte Wasser aus der Blüte einer monströsen Distel plätscherte.

»Warum denn ausgerechnet eineDistel?«, wunderte Ned sich, als er aus der Limousine stieg und den ungewöhnlichen Wasserspeier inspizierte.

»Die Distel ist eine Art Nationalsymbol für die Schotten.« Jamie trat neben ihn. »Das geht auf eine uralte Legende zurück. Mum hat sie uns erzählt, als wir hier waren. Sie stand total auf solche Sachen. Mythen, Legenden, alte Geschichten und so'n Zeug. Das war genau ihr Ding.« Er schluckte, atmete tief durch und schaute zu Jem, die mit Will aus dem SUV ausstieg.

»Tut mir leid«, murmelte Ned schuldbewusst. »Wenn ich geahnt hätte, wie schwer das hier für euch ist, hätte ich euch nicht gebeten, mitzukommen.«

Jamie schüttelte den Kopf und lächelte schnell. »Nein, schon okay. Wir machen das gerne.« Wieder atmete er tief durch. »Und irgendwann wird es sicher einfacher. Das wurde es zu Hause schließlich auch.«

Zack trat hinter ihn, schlang seine Arme um ihn und zog ihn kurz an sich. »Bestimmt.« Er gab ihm einen Kuss in den Nacken und deutete dann auf den Distelbrunnen. »Die Legende besagt, dass ein paar Wikinger sich nachts an ein schottisches Lager heranschleichen wollten. Dabei trat einer von ihnen barfuß in eine Distel und schreckte durch seinen Schrei die Schotten aus dem Schlaf, die daraufhin die Angreifer erfolgreich vertrieben.«

»Und die Moral von der Geschichte?«, fragte Will grinsend, als er mit Jemma zu ihnen herüberkam.

Ned zog eine Augenbraue hoch. »Für die einen ist es nur ein stacheliges Unkraut, für die anderen die umweltfreundlichste Alarmanlage der Welt?«

Will lachte. »Nein! Latsche niemals barfuß durch die schottische Wildnis!«

Jemma verdrehte die Augen. »Stand ohnehin nicht unbedingt auf meiner To-Do-Liste, wenn ich ehrlich bin.« Sie wandte sich um und warf einen skeptischen Blick auf das Herrenhaus. »Obwohl … wenn ich mir den Klotz da so ansehe, hört sich die schottische Wildnis trotz Disteln fast schon gemütlich an.«

Abberton Hall war ein kastenförmiges Bauwerk, das selbst im sanften Licht der Spätnachmittagssonne düster und abweisend wirkte. Vermutlich hätte man das alte Herrenhaus mit seinen zinnenbewehrten Außenmauern und den protzigen Türmen, die an den Hausecken wie drohende Speerspitzen in den Himmel stachen, ohne großen Aufwand als Kulisse in jedem Horrorfilm einsetzen können. Selbst die üppigen Rosenranken, die sich um die Säulen des Vordachs wanden, konnten den finsteren Gesamteindruck kaum mildern.

»An grauen Wintertagen kriegt man hier doch Albträume«, murmelte Jemma wenig angetan.

»Auch wenn ich dir durchaus zustimme, lass das nicht unbedingt unseren Gastgeber hören, okay?« Dunnington zwinkerte ihr zu.

Jemma lächelte. »Keine Sorge. Ich hatte eigentlich nicht vor, mich beim Hausherren unbeliebt zu machen.«

Aus dem Eingangsportal traten zwei Männer, die trotz der Wärme hochgeschlossene Butlerfräcke trugen. Der ältere der beiden blieb mit einer kurzen Verbeugung vor Dunnington stehen.

»Willkommen auf Abberton Hall, Sir. Seine Lordschaft erwartet Sie in der Eingangshalle. Wir kümmern uns um Ihr Gepäck und bringen Ihren Wagen zu unserem Fuhrpark.«

»Vielen Dank.«

Der Butler verbeugte sich erneut und wandte sich dann dem Rolls Royce zu, aus dessen Kofferraum der Chauffeur bereits etliche Gepäckstücke auf den Vorplatz gestellt hatte.

Unbehaglich strich Jemma über ihre schlichte Sommerbluse und den hellen Jeansrock, um einen halbwegs ordentlichen Eindruck zu machen. So vornehm, wie allein die Butler hier schon auftraten, machte sie sich langsam wirklich Sorgen, ob sie vielleicht doch nicht die richtige Auswahl an Abendgarderobe eingepackt hatte.

Will trat neben sie. »Keine Sorge, du siehst fantastisch aus«, flüsterte er ihr zu. »Wenn wir nicht aufpassen, löst du gleich den zweiten Schlaganfall bei dem alten Lord aus und dann muss Dad sich jemand Neues suchen, um mit seinen Biorobotern an die Öffentlichkeit zu gehen.«

Grinsend pikste Jemma ihn in die Seite und zog ihn mit sich zu den anderen, die bereits in den Schatten unter das breite, rosenumrankte Vordach des Herrenhauses getreten waren. Über der dunklen Eingangstür befanden sich zwei weitere, in den Stein gemeißelte Disteln. Dazwischen stand in schwungvollen Buchstaben:Nemo Me Impune Lacessit.

»Niemand fordert mich ungestraft heraus?«, kramte Jemma stirnrunzelnd ihre Lateinkenntnisse zusammen.

»Yep.« Zack blies die Backen auf. »Klingt jetzt nicht gerade wie das Lebensmotto überzeugter Pazifisten, oder?« Diese sonderbare Adelsfamilie sammelte nicht gerade Sympathiepunkte.

»Soweit ich weiß, ist das das Motto eines schottischen Ritterordens, dem bereits mehrere Generationen der McLeans angehören«, erklärte Dunnington und trat als Erster in die Eingangshalle.

»Ganz recht, Edward. Es freut mich, dass du diese noble Verbindung meiner Familie nicht vergessen hast. Obwohl leider Gottes längst nicht mehr alle Mitglieder dieses Hauses ehrenvoll genug sind, um einen Platz in diesem Orden zu verdienen.«

Die tiefe, leicht schleppende Stimme kam aus dem Nichts. Das lag allerdings vor allem daran, dass man nach dem Sonnenschein draußen in der düsteren Eingangshalle kaum etwas sehen konnte. Erst als sich ihre Augen an die schummrigen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte Jemma hohe Wände, die mit edlem dunklem Holz vertäfelt waren. Schwere dunkelgrüne Tartanvorhänge vor den Fenstern waren zwar nur halb zugezogen, schluckten aber dennoch eine Menge Licht. Dicke Teppiche, in denen man bei jedem Schritt ein Stück zu versinken schien, lagen auf dem uralten Steinfußboden und an den Wänden hingen riesige Portraits. Von den meisten starrten grimmige Schotten auf die Neuankömmlinge herab, musterten sie durchdringend und schienen jeden ihrer Schritte mit Argusaugen zu verfolgen.

Na, das kann ja heiter werden.