Die Lichtstein-Saga 2: Andolas - Nadine Erdmann - E-Book

Die Lichtstein-Saga 2: Andolas E-Book

Nadine Erdmann

5,0

Beschreibung

Die Welt der Menschen ist nicht die einzige. Verborgen hinter mächtigen Grenzen existiert die Schattenwelt, das Reich der Dämonen. Nach den dramatischen Ereignissen auf ihrer Reise zum ersten Lichtstein kämpft Noah mit schrecklichen Albträumen. Doch sind es wirklich nur Träume? Und welches dunkle Geheimnis hüten die, die ihm am nächsten stehen? Leider bleibt Noah und seinen Freunden nicht viel Zeit für Nachforschungen. Konstantin plant bereits seinen nächsten Schlag gegen die Hüter des Engelslichts und die Freunde müssen sich zügig auf die Reise zum zweiten Lichtstein begeben. Der Weg durchs Ewige Eis der Weißen Berge steckt allerdings voller heimtückischer Gefahren … Der zweite Roman zur großen Lichtstein-Saga von Nadine Erdmann.

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Table of Contents

Die Lichtstein-Saga 2

Geheimnisse

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Vier Jahre zuvor

Teil 2: Im ewigen Eis

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Nachwort

Glossar

Impressum

Die Lichtstein-Saga 2

»Andolas«

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

TEIL 1

Geheimnisse

 

Kapitel 1

 

 

Schwere Stiefelschritte hallten über den Steinboden, als der schwarz gekleidete Mann den Thronsaal von Burg Dakenhall durchschritt. Im Kamin loderte ein eindrucksvolles Feuer, das aber weder Kälte noch Düsternis aus dem Saal zu vertreiben vermochte. Rußgeschwärzte, metergroße Ölgemälde mit blutigen Jagdszenen hingen an dreien der Wände, dazwischen eiserne Halterungen, in denen Fackeln steckten. Die vierte Wand war von der Decke bis zum Boden hinter einem schwarzen Samtvorhang verborgen. Neben dem Kamin führten Stufen zu einem Podest mit einem Thron hinauf, in dessen dunkles Holz dämonisch grinsende Fratzen geschnitzt waren.

Der Mann ging zielstrebig auf den Thron zu, wo der Burgherr ihn bereits mit einen silbernen Weinkelch in der Hand erwartete. Er ließ sich nicht dazu herab, aufzustehen, hob aber den Kelch zum Gruß.

»Septimus.«

Septimus trat vor den Thron und nickte knapp. »Konstantin.«

Konstantin musterte den Mann, den er als seine rechte Hand betrachtete. Der Ausdruck auf Septimus’ Gesicht zeigte deutlich, dass er nicht in bester Laune war. Konstantin wusste bereits, welche Nachrichten Septimus ihm brachte, und seine Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen.

Septimus schwieg. Er kannte Konstantin gut genug, um zu wissen, dass es besser war, erst dann zu reden, wenn man dazu aufgefordert wurde. Wer dem Herrscher von Dakenhall den nötigen Respekt verwehrte, bereute dies meist äußerst schmerzhaft. Egal, ob Freund oder Feind.

Betont langsam führte Konstantin den Kelch zu seinem Mund und trank einen wohlbemessenen Schluck.

Septimus presste die Kiefer aufeinander, um sich seine Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Er hatte einen anstrengenden Zweikampf und mehrere erschöpfende Tagesritte hinter sich. Er wollte eine ordentliche Mahlzeit, ein heißes Bad – vorzugsweise mit einer der Mägde – und dann schlafen. Er schätzte Konstantin sehr, doch jetzt gerade wünschte er, sein Boss würde sich die kleinen Machtspielchen sparen.

In zeitlupenhafter Langsamkeit stellte Konstantin den Silberkelch auf die Armlehne seines Thrones. Dann begann er endlich das Gespräch.

»Nun, alter Freund, was hast du mir zu berichten?« Seine Stimme klang nach Plauderton, doch seine Augen musterten Septimus scharf.

»Ich denke, das weißt du«, gab Septimus zurück und bemühte sich, nicht zu schroff zu klingen. »Die Taube sollte dich längst erreicht haben.«

Konstantin spielte mit dem Kelch auf seiner Armlehne. »Ja, ich habe deine Nachricht erhalten. Dennoch denke ich, dass du Verständnis dafür haben wirst, wenn ich gerne noch ein paar Details hören würde. Schließlich hast du es weder geschafft, mir die vier Cays noch den Stein des Wassers zu bringen. Stattdessen hast du all unsere wertvollen Kreaturen der Finsternis verloren.« Sein Blick bohrte sich unerbittlich in Septimus. »Erklärung, bitte!«

Septimus schnaubte. »Unser Spitzel in Burgedal ist eingeknickt. Er hat Ignatius gebeichtet, dass er uns verraten hat, wann die Cays die Reise zum ersten Stein angetreten haben. Daraufhin hat Ignatius ihnen natürlich Hilfe geschickt. Und du kennst die Ritter der Garde. Sie tragen Schwerter, die dieser Mattes mit dem Engelslicht härtet. Und die Cays können Caya rufen. Gegen das Engelslicht hatten die Schattenmare keine Chance.«

Konstantins Gesicht verzog sich zu einer hasserfüllten Grimasse. Er ließ von seinem Kelch ab, ging hinüber zum Kamin und starrte mit geballten Fäusten in die tanzenden Flammen. »Dieses verfluchte Engelslicht!«, zischte er.

»Aber es wird schwächer«, versuchte Septimus es mit Zweckoptimismus. »Unsere Chance wird bald kommen. Ignatius weiß, dass Cayas Zeit dem Ende zugeht. Er wird nervös. Die letzte Cay ist gerade erst aus der Alten Welt hierher zurückgekehrt und die vier sind noch halbe Kinder. Sicher hätte Ignatius sie niemals so schnell losgeschickt, wenn du mit deiner Arbeit im letzten Jahr nicht so gut vorangekommen wärst.«

Konstantin sah vom Kamin auf. »Was das Engelslicht angeht, magst du recht haben.« Er ging zurück zum Thron und setzte sich wieder. »Die vier Kinder allerdings scheinst du etwas zu unterschätzen, oder?«, fragte er spitz und bohrte damit gnadenlos seinen Finger in die Wunde. »Immerhin hast du es trotz deiner Männer und den Schattenmaren nicht geschafft, sie mit hierher zu bringen. Nicht ein einziges von ihnen.« Konstantin betrachtete einen Moment lang die schimmernden Reliefs auf seinem Kelch, dann spießte er seinen Blick wieder in Septimus. »Findest du es da nicht etwas arrogant, diese vier Kinder nicht ernst zu nehmen?«

Septimus spürte, wie Wut in ihm aufstieg, zwang sich aber zur Ruhe. »Wenn du meine Nachricht gelesen und mir gerade zugehört hast, weißt du, dass deine Darstellung nicht den Tatsachen entspricht. Diese Kinder bekamen Unterstützung von einer Truppe Garderittern, unter ihnen Ben und Quin!«

Bei der Erwähnung der beiden Namen verengten Konstantins Augen sich zu schmalen Schlitzen. »Ben …« Wieder ballten sich seine Hände zu Fäusten.

»Die kämpferischen Fähigkeiten der Kinder waren zwar ganz passabel, hätten aber keine große Herausforderung dargestellt«, fuhr Septimus fort. »Aber zur Kampfkunst der Garde und besonders zu der von Ben und Quin muss ich dir wohl nichts sagen. Sie würde ich niemals unterschätzen. Und was die Schattenmare angeht – nun, ihre große Schwäche ist, dass sie nicht mehrere Ziele gleichzeitig angreifen können. Sie sind zwar äußerst effektiv, wenn sie ein Opfer gefangen haben, doch nach dem ersten Überraschungsangriff war die Garde gewarnt und sie haben die Schattenmare mit ihren Engelsschwertern vernichtet.«

Wut ließ Konstantin erneut aufspringen und zwischen Thron und Kamin hin und her tigern. »Ben!«, zischte er gefährlich leise. »Er und Quin und Ignatius – all diese verdammten Hüter des Lichts müssen endlich in ihre Schranken verwiesen werden!« Seine Faust krachte auf den Kaminsims nieder und brachte die beiden Kerzen, die in Silberleuchtern darauf standen, zum Flackern. »Und es war so vorhersehbar, dass ausgerechnet ihre Kinder die Auserwählten des Engels sind! Als ob Cayaniel mich damit verhöhnen wollte! Doch sie werden sich noch wundern. Alle! Dieses Mal kann mich niemand aufhalten. Niemand!«

»Na ja, ich denke, einen gewissen Dämpfer haben sie sich bereits eingefangen.«

Ruckartig wandte Konstantin sich zu ihm um und taxierte ihn. »Offensichtlich gibt es da etwas, das du mir in deinem Bericht bisher vorenthalten hast.«

Septimus gönnte sich ein überlegenes Lächeln und genoss, dass ausnahmsweise einmal er es war, der am längeren Hebel saß. Gemächlich schlenderte er zu einem langen Banketttisch, der neben dem Thronpodest stand. Er goss sich einen Wein ein und spürte Konstantins ungehaltenen Blick in seinem Rücken. Trotzdem genehmigte er sich einen tiefen Schluck, bevor er weitersprach.

»Es gibt tatsächlich etwas, das ich dir nicht brieflich übermitteln wollte.«

»Was?« Konstantins Tonfall machte deutlich, dass man seine Geduld jetzt besser nicht mehr weiter ausreizen sollte.

»Ein Schattenmar hat einen der Cays erwischt.«

Konstantin zog eine Augenbraue hoch und lachte dann auf. »Das ist fantastisch! Ein toter Cay kann keinen Stein des Lichts beschaffen!« Er schnappte sich seinen Kelch und trat zu Septimus an den Banketttisch, um sich Wein nachzuschenken. »Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Das wird die verdammten Hüter des Lichts in ihren Plänen gewaltig zurückwerfen!«

»Freu dich nicht zu früh«, dämpfte Septimus seine Euphorie. »Der Junge hat die Berührung des Schattenmars überlebt.«

Abrupt hielt Konstantin in seiner Bewegung inne und ließ den Kelch sinken. »Was?!«

»Der Schattenmar hat ihn berührt, konnte ihn aber nicht töten.«

Skeptisch runzelte Konstantin die Stirn. »Bist du dir da sicher?«

Septimus nickte. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Er konnte ihn nicht mal umschlingen.«

Konstantin ging zum Kamin zurück und starrte einen Moment lang ins Feuer. »Was genau ist passiert?«

»Der Schattenmar griff den Jungen an und versuchte, ihn mit seiner Schwärze einzuwickeln. So wie sie es immer mit ihren Opfern tun. Aber aus irgendeinem Grund konnte er es nicht. Er hat es mehrfach versucht, schien aber auf eine Art Widerstand zu stoßen und abzuprallen. Deshalb wollte er den Jungen stattdessen mit sich fortschleifen, doch eine der anderen Cays hat ihr Licht gerufen und den Schattenmar damit vernichtet.«

Konstantin schwieg. »Was war mit dem Jungen?«, wollte er dann wissen.

»Er war bewusstlos, geschwächt. Der Schattenmar hat ihm seine Lebensenergie geraubt, aber er hat überlebt. Ich denke, Ben hat ihn zurück nach Burgedal gebracht.«

»Ben, Ben, immer Ben …« Wieder lag tiefste Abscheu in Konstantins Stimme.

Septimus lächelte boshaft. »Aber das ist doch das Beste daran! Es war sein Sohn, den der Schattenmar sich gekrallt hat. Nur schade, dass sein Balg nicht draufgegangen ist. Damit hätte er zumindest einen Teil seiner offenen Rechnung bei uns bezahlt.«

Mit einem Stirnrunzeln starrte Konstantin erneut in die Flammen.

»Denkst du, es liegt daran, dass die Cays das Licht des Engels in sich tragen?« Septimus goss sich Wein nach. »Könnte es sein, dass die vier gegen die Finsternis immun sind?«

Konstantin ignorierte ihn. Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn und blickte weiter ins Feuer. Es gab einiges, worüber er nachdenken musste.

Kapitel 2

 

 

Warmes Wasser prasselte auf seine verspannten Schultern und half ihm, sich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Nach tagelanger Bettruhe hatte Mia ihm heute endlich erlaubt, aufzustehen und wieder am Leben teilzunehmen – unter der Voraussetzung, dass er es langsam angehen ließ.

Noah schnaubte.

Als ob es anders möglich gewesen wäre. Dafür hatte der verdammte Schattenmar gründlich gesorgt.

Er genoss die Dusche noch einen Moment länger, dann stellte er das Wasser ab und drehte sich zu seinem Handtuch um. Sofort setzte das Schwindelgefühl ein, das ihn schon die ganzen letzten Tage nervte. Er schloss die Augen und kämpfte, damit ihm die wenigen Bissen, die er gerade zum Frühstück hinuntergewürgt hatte, nicht wieder hochkamen.

Mann, wann hörte das endlich auf?

Er hatte nur vage Erinnerungen an das, was vor fünf Tagen auf ihrem Rückweg vom Tal der Nymphen passiert war. Schwarze Reiter aus Dakenhall hatten sie überfallen, um zu verhindern, dass der Stein des Wassers ins Kloster kam – und um die vier Cays zu entführen und zu Konstantin zu bringen.

Noah wusste, dass er bei dem Überfall von einem Schattenmar angegriffen worden war, und obwohl es eigentlich als unmöglich galt, hatte er den Angriff überlebt, wenn auch nur knapp. Zwei Tage lang war er so schwach gewesen, dass er es kaum geschafft hatte, länger als ein paar Minuten wach zu bleiben. Doch jetzt kehrten seine Kräfte endlich zurück. Allerdings taten sie das nur ätzend langsam und es war erschreckend, wie anstrengend plötzlich so simple Dinge wie Duschen und Abtrocknen waren.

Er zog seine Hose an und tappte zu den Spiegeln bei den Waschbecken. Ein Schnitt zog sich quer über seinen rechten Unterarm, dort, wo Septimus ihn während ihres Zweikampfes mit seinem Schwert erwischt hatte. Zum Glück war die Wunde aber nicht schlimm. Mia hatte sie genäht und sie würde gut heilen. Er musste den Arm allerdings noch einige Tage schonen und jetzt nach dem Duschen brannte die Wunde höllisch.

Noah seufzte schicksalsergeben.

So wackelig, wie er sich im Moment auf den Beinen fühlte, stand Trainieren ohnehin noch in den Sternen.

Nach dem Motto »viel hilft auch viel« schmierte er eine großzügige Portion Heilsalbe auf den Arm, wickelte einen leichten Verband darum und zog sich ein frisches Hemd über.

Wieder wurde ihm schwindelig und er trat an eins der offenen Fenster.

Es war früher Vormittag. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel auf Burgedal und von den Bergen wehte lauer Sommerwind herab ins Tal.

Noah schloss die Augen und sog tief die frische Luft ein.

Wieder einen klaren Kopf bekommen.

Und dunkle Gedanken vertreiben.

Als Mia ihm heute das Frühstück gebracht und er ihr verkündet hatte, dass er aufstehen wollte, war sie nicht begeistert gewesen. Sie hätte es lieber gesehen, wenn er noch einen Tag länger im Bett geblieben wäre, und so wie er sich gerade fühlte, wäre das vermutlich wirklich der bessere Plan gewesen. Aber in den letzten beiden Tagen war ihm in seinem Zimmer die Decke auf den Kopf gefallen, und auch wenn Zoe, Liv und Kaelan ihm immer wieder Gesellschaft geleistet hatten, grübelte er zu viel, wenn er alleine war.

Und das machte ihn verrückt.

Er konnte sich zwar nicht an alle Einzelheiten des Angriffs erinnern, aber seitdem quälten ihn immer wieder beunruhigende Bilder – und Gefühle.

Besonders im Schlaf.

Er musste keinen Master in Psychologie haben, um sich denken zu können, dass dieser beschissene Albtraum bloß eine ganz normale Reaktion seines Unterbewusstseins war, das versuchte, mit dem Geschehenen fertigzuwerden.

Die Berührung eines Schattenmars war tödlich.

Raik, einer der besten Freunde, die er je gehabt hatte, war daran gestorben und es galt als ein Wunder, dass er – Noah – es überlebt hatte. Doch als Cay trug er das Engelslicht in sich. Außerdem hatte Liv ihm mit den besonderen Fähigkeiten ihres Engelszeichens geholfen und seine Eltern hatten ihn nach Burgedal in die Kapelle zu Caya gebracht und so die Finsternis des Schattenmars aus ihm vertrieben. All dem verdankte er sein Leben.

Alles logisch.

Alles gut.

Trotzdem quälte ihn jedes Mal, wenn er einschlief, derselbe Albtraum und das machte ihn nervös. Rastlos. Unruhig.

Jedes Mal im Schlaf miterleben zu müssen wie –

Nein!

Entschieden öffnete er die Augen.

Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Es reichte, dass er sich mit diesen Gedanken herumplagte, wenn er schweißgebadet aus dem verfluchten Traum aufwachte.

Er musste hier raus. Zu den anderen.

Alles würde besser werden, wenn er an die frische Luft kam, nicht mehr seine vier Wände anstarrte und auf andere Gedanken kommen konnte.

Er trat hinaus auf den Flur.

Im Kloster war es still. Jeder ging längst seinen Arbeiten nach.

Langsam hinkte Noah den Rundgang entlang zur Treppe, die in die Eingangshalle hinunterführte. Sein Fuß schmerzte. Noch so ein ätzendes Andenken an die Attacke des Schattenmars.

Als er endlich unten ankam, waren seine Beine so zittrig, dass er sich einen Moment ans Treppengeländer lehnen musste. Schwindelig war ihm auch wieder und leichte Übelkeit rumorte in seinem Magen. Vermutlich wäre es vernünftig gewesen, in die Küche zu gehen, Marta um einen Tee zu bitten und ein paar Minuten auszuruhen, bevor er die anderen suchte. Er fürchtete allerdings, dass Marta ihn nicht gehen lassen würde, wenn sie glaubte, dass ihm dafür noch die Kräfte fehlten.

Also besser nichts riskieren.

Er wandte sich zur Eingangstür und trat hinaus auf den kleinen Vorplatz mit dem alten Ziehbrunnen. Die Vormittagssonne prickelte angenehm warm auf seiner Haut und aus den bunten Beeten rund um den Platz stiegen würzige Kräuterdüfte auf.

Oh Mann, es war so gut, wieder draußen zu sein …

Er blickte sich um. Die Wege zum Stadttor und zur Kapelle waren menschenleer, doch das Tor zum Stall stand offen und er wusste, dass seine Freunde sich um die Pferde kümmerten, seit ihr alter Stallbursche das Kloster hatte verlassen müssen.

Raik war tot!

Vier weitere Ritter der Garde ebenfalls!

Nur weil dieser Dreckskerl –

Noah zitterte.

Hass und Wut waren so plötzlich, so unbändig in ihm hochgekommen, dass er erst jetzt merkte, wie fest er seine Fäuste geballt hatte.

Shit.

Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken und er stützte sich keuchend am Brunnen ab.

Mann, komm wieder runter!

Karl war fort. Ignatius und die Garde hatten ihn aus Burgedal verbannt und er durfte die Stadt nie wieder betreten. Der Verräter hatte seine Strafe bekommen, auch wenn Noah sich nicht sicher war, ob er sie für angemessen hielt.

Er verdrängte den Gedanken an Karl und wartete noch einen Moment, bis er sich nicht mehr so schrecklich zittrig fühlte. Dann hinkte er langsam zum Stall hinüber.

Er hörte seine Freunde schon, bevor er das Gebäude erreichte. Das große Haupttor stand ein Stück offen und Aris Stimme drang zu ihm heraus.

»Nein, wir sagen Noah nichts. Du kennst ihn doch! Du weißt, wie anstrengend und stur er sein kann! Was, wenn er sich weigert, mit uns in die Weißen Berge zu reiten?«

Wie angewurzelt blieb Noah stehen.

»So ganz unrecht hat Ari nicht.« Zoes Stimme. »Denkt mal daran, wie er drauf war, als Mia und Ben ihn aus der Alten Welt hierhergeholt haben.«

»Das war aber was ganz anderes«, gab Kaelan zu bedenken. »Da wusste er noch nicht, wer er ist. Er war im Fieberwahn und mit der Situation völlig überfordert.«

»Und das ist jetzt anders?«, warf Ari sarkastisch ein. »Er hat als erster Mensch die Berührung eines Schattenmars überlebt. Keiner weiß, warum und –«

»Das stimmt so nicht«, fiel Liv ihm ins Wort. »Ben und Mia denken, es liegt an Noahs Engelslicht, dass er überlebt hat. Und Ignatius glaubt auch, dass Caya Noah beschützt hat.«

»Ja, aber er denkt auch, dass es noch eine andere Erklärung geben könnte«, gab Ari zurück. »Eine, bei der wir uns anscheinend fragen müssen, ob es gut war, dass Noah den Schattenmar überlebt hat!«

Es war, als hätte jemand das Blut in Noahs Adern gefrieren lassen. Es flimmerte vor seinen Augen, seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen und er stolperte zum Tor, um sich abzustützen. Mit einem Rums! krachte es gegen die Wand.

»Was zum–?« Zoe trat aus dem Stall. »Oh Shit!«

Sie eilte zu Noah, der sich abgewandt hatte und die Fliederbüsche, die neben der Stallwand wucherten, mit seinem Frühstück beglückte. Kaelan, Liv und Ari folgten ihr.

»Hey, wir wussten nicht, dass Mia dich heute schon rauslässt.« Kaelan fasste Noah an der Schulter und musterte ihn prüfend. »Was vielleicht auch keine so gute Idee war.«

Noah stieß Kaelans Hand fort und spuckte in den Flieder. »Was für einen Scheiß zieht ihr hier ab?«

Schuldbewusst biss Liv sich auf die Unterlippe. »Du hast gehört, worüber wir geredet haben?«

»Ja, allerdings! Und ich fand es zum Kotzen!« Er bedachte seine Freunde mit wutentbrannten Blicken. »Ihr habt Geheimnisse vor mir und denkt, dass es besser wäre, wenn der Schattenmar mich gekillt hätte?!«

Sofort schüttelte Zoe den Kopf. »Das hat keiner von uns gesagt.«

»Vielleicht nicht wortwörtlich, aber die Message kam trotzdem ziemlich deutlich rüber!«

Ari stöhnte entnervt auf. »Seht ihr? Das ist genau der Grund, warum ich ihm nichts sagen wollte. Er verdreht alles und zickt jetzt rum!«

»Ach ja?« Noah kochte vor Wut. Er stieß sich von der Stallwand ab und wollte einen gepfefferten Kommentar zurückgeben, doch wieder begann es, vor seinen Augen zu flimmern. Keuchend sackte er zurück gegen die Wand.

Zwei Hände packten ihn und gaben ihm Halt.

»Okay, ich würde sagen, hitzige Wortgefechte verschieben wir vorerst und du–«

»Lass mich los«, murmelte Noah unwirsch, schaffte es aber nicht, sich gegen Kaelan zu wehren. »Ich lass mir von dir nicht vorschreiben –«

»Ich will dir gar nichts vorschreiben. Aber du kannst dich kaum auf den Beinen halten. Und du hast ein paar Dinge gehört, die du in den falschen Hals bekommen hast. Also würde ich vorschlagen, wir suchen uns ein schattiges Plätzchen, du ruhst dich aus und wir klären das, okay?« Kaelan ließ ihn wieder los.

Noah schickte ihm einen finsteren Blick, widersprach aber nicht.

Zoe sah hoch zur Uhr des Glockenturms und seufzte. »So gerne ich beim Klären helfen würde, aber ich muss zu meiner Schicht.« Sie schloss Noah kurz in die Arme und strich ihm über den Rücken. »Kein Mensch denkt, dass du besser draufgegangen wärst, du Blödmann.« Sie ließ ihn los und sah zu den anderen. »Erklärt ihm, was Sache ist. Dass Raik nicht mehr bei uns ist, ist schlimm genug. Da will ich nicht auch noch blöden Streit, klar?«

Ari wandte sich ab.

Jedes Mal, wenn Raiks Name fiel, fühlte es sich an wie ein Messerstich.

Vinur tappte zu ihm und stupste seine Nase gegen Aris Hand. Ari kniete sich zu ihm, grub sein Gesicht in Vins Fell und streichelte den kleinen Wolf.

Dumpfe Kopfschmerzen pochten gegen seine Schläfen.

Er wollte hier weg.

Raus aus dem Kloster.

Allein sein.

Trainieren.

Seit Raiks Tod fühlte er sich noch rastloser als sonst. Er mochte nicht mit anderen reden und diskutieren oder zu viel nachdenken über was auch immer. Der einzige Ort, an dem im Moment alles halbwegs erträglich war, war der Übungsplatz der Garde. Dort war immer irgendjemand, der gerade trainierte. Schwerter schwingen half. Im Kampf brauchte er all seine Aufmerksamkeit für seinen Gegner. Es blieb kein Platz für andere Gedanken und er musste nichts anderes fühlen als die Muskeln in seinem Körper. Das war das Einzige, das gegen die ständige Unruhe half.

»Hey, kommst du mit?«

Kaelans Hand legte sich auf seine Schulter und Ari hob den Kopf. Er sah, wie Kaelan ihn musterte, und seufzte.

Er wollte nichts mit Noah klären müssen und hätte ihm das Gespräch, das sie belauscht hatten, lieber vorenthalten. Doch dafür war es zu spät. Und nach allem, was Noah durchgemacht hatte, durften sie ihn nicht hängen lassen.

Ari erhob sich und deutete auf ein Eisentor, das in die Klostergärten führte. »Geht schon vor.« Er warf einen kurzen Blick auf Noah. »Ich hol ihm Wasser.«

Kapitel 3

 

 

Als Ari den Klostergarten betrat, saßen die anderen drei im Schatten eines alten Maronenbaums. Er pflückte ein paar Pfefferminzblätter aus einem der Beete und ging zu Noah, der an den Stamm gelehnt dasaß und ziemlich käsig im Gesicht aussah.

»Hier.« Ari reichte ihm einen ledernen Wasserbeutel und drückte ihm die Pfefferminze in die Hand. »Aber trink langsam. Und dann kau die Blätter. Die helfen gegen Übelkeit.«

»Danke.« Noah trank ein paar kleine Schlucke und steckte sich die Blätter in den Mund. Ob sie wirklich gegen das flaue Gefühl in seinem Magen helfen konnten, würde sich zeigen müssen, aber zumindest vertrieben sie den widerlichen Geschmack in seinem Mund.

Müde lehnte er den Kopf gegen den Stamm. Der kurze Weg vom Stall hierher in den Garten war erschreckend anstrengend gewesen. Doch es war nicht nur die Schwäche, die für Übelkeit und dieses ätzende Gefühl in seinem Magen sorgte.

Er sah zu Ari, der sich ihm gegenüber im Schneidersitz hingehockt hatte und Vin streichelte. Vor fünf Tagen hatte sein Freund einen der wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren. Er sah blass aus und wirkte müde und übernächtigt. Gleichzeitig schien es ihm jedoch schwerzufallen, still zu sitzen, und seine Hände suchten ständig irgendeine Beschäftigung.

»Warum denkst du, dass es nicht gut war, dass ich den Schattenmar überlebt hab?«, fragte Noah leise.

Ari hielt inne, erwiderte seinen Blick und schüttelte den Kopf. »Das hab ich so nicht gesagt.«

»Wie dann?« Noah schaute von ihm zu Kaelan und Liv. »Mann, redet endlich mit mir! Ich will wissen, was hier los ist!«

»Schon gut«, beschwichtigte Kaelan. »Nach der Trauerfeier für Raik haben wir durch Zufall ein Gespräch zwischen unseren Eltern und Ignatius belauscht. Es ging darum, wie Septimus den Schattenmaren Befehle erteilen konnte und warum du die Berührung der Bestie überlebt hast, da ja beides bisher als unmöglich galt.«

»Das weiß ich«, sagte Noah ungeduldig. »Ben und Mia haben mir gesagt, dass das Engelslicht mich gerettet hat.«

Kaelan nickte. »Das stimmt mit Sicherheit auch. Wir haben alle gesehen, wie Caya in der Kapelle die Finsternis aus dir vertrieben hat.« Er warf einen ernsten Blick in die Runde. »Ich bin allerdings sehr dafür, dass wir uns auf keinen Fall auf den Schutz des Engelslichts verlassen, wenn wir das nächste Mal auf Schattenmare stoßen. Vielleicht können sie uns nicht sofort töten, aber auch ein schleichender Tod ist ein Tod und es gibt keine Garantie, dass wir jedes Mal rechtzeitig zu Caya kommen, um uns retten zu lassen.«

Noah verzog das Gesicht. »Glaub mir, beim nächsten Mal verzichte ich gerne darauf, mir von so einem Biest das Leben aussaugen zu lassen. Es dauert ewig, bis die Kräfte sich regenerieren.«

Ganz zu schweigen davon, wie fürchterlich es war, zu spüren, wie die Finsternis nach einem griff.

Kälte und Bosheit.

Gier, Hass und Machtsucht.

Er schauderte und merkte, dass Ari ihn seltsam ansah. Noah wich seinem Blick aus und betete, dass Ari ihn niemals danach fragte, was Raik gespürt hatte, als der Schattenmar ihm das Leben nahm. Er hoffte, dass es für Raik einfach zu schnell gegangen war und sein Freund nichts von dem hatte spüren müssen, womit er sich jetzt jede Nacht in seinem Albtraum herumschlagen musste.

Entschieden schob er den Gedanken daran von sich und wandte sich etwas viel Drängenderem zu.

»Das ist aber nicht alles, was ihr belauscht habt, oder?«

Liv schüttelte den Kopf. »Es war die Rede von einer Erin und dass sie die Wahrheit gesagt haben könnte. Und wenn das stimmt, dann könnte Konstantin anscheinend irgendwas Unverzeihliches getan haben.«

Noah runzelte die Stirn. »Wer ist Erin? Und was ist mit dem Unverzeihlichen gemeint?«

Kaelan hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wir kennen keine Erin. Und ein Mitglied der Garde ist sie auch nicht. Für die Ritter ist Zoe Expertin und sie sagt, es gibt keine Erin.«

»Warum habt ihr unsere Eltern nicht einfach gefragt?«, wollte Noah wissen.

»Haben wir«, antwortete Kaelan.

»Und?«

Kaelan schüttelte den Kopf. »Sie waren erschrocken und ziemlich sauer, dass wir gelauscht hatten. Und sie haben uns mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass wir nicht wissen müssen, wer Erin ist, und dass wir den Namen nie wieder erwähnen sollen.«

Noahs Stirnrunzeln wurde noch tiefer. »Warum?«

»Ich schätze, sie wollen jemanden schützen.«

»Ihr denkt, dass sie einer unserer Spione in Dakenhall ist?«

Liv nickte. »Das ist das Einzige, das Sinn macht. Je weniger Leute die Identität unserer Spitzel kennen, desto besser.«

»Und diese Erin hat irgendwas über Konstantins Machenschaften herausgefunden, das so krass ist, dass man es hier nicht glauben wollte, weil es unverzeihlich ist?«

Wieder nickte Liv. »Könnte hinkommen, oder?«

»Und was könnte das sein?«

»Wir haben keine Ahnung.« Kaelan schnaubte sarkastisch. »Aber einem Irren, der ein Portal zum Schattenreich baut und Bestien wie die Schattenmare auf Interria loslässt, ist wohl so gut wie alles zuzutrauen. Alleine das ist ja schon unverzeihlich. Wer weiß, auf welche kranken Ideen der Kerl noch kommt.«

»Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass er einen Weg gefunden hat, wie ihm die Schattenmare gehorchen.« Liv strich sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr.

Kaelan seufzte. »Ja, vielleicht. Obwohl ich das nicht glaube. Ignatius sagte, dass er dafür keine Erklärung hat, also geht es bei dem Unverzeihlichen wohl eher um etwas anderes.«

»Haben Ignatius und unsere Eltern dazu denn nichts gesagt?«, fragte Noah.

Kaelan schüttelte den Kopf. »Für sie war das Thema nach Erin schon durch. Sie wollten nicht, dass wir weiter nachbohren. Ich schätze, sie wollen nicht, dass wir uns über irgendwas Sorgen machen, an dem wir ohnehin nichts ändern können. Um Konstantin und seine Machenschaften kümmert sich die Garde. Unsere Aufgabe sind die Reisen zu den Steinen – und hoffentlich das Gewinnen von ein paar Verbündeten, die uns gegen Konstantin unterstützen.«

Noah wusste nicht, ob er sich damit zufrieden geben wollte, besonders, weil es eine Sache noch immer nicht erklärte. Er blickte wieder zu Ari. Der hatte aufgehört, Vin zu streicheln und rupfte jetzt stattdessen Grashalme aus der Wiese, die er in kleine Stückchen zerpflückte.

»Ich verstehe aber immer noch nicht, warum es nicht gut sein soll, dass ich die Berührung durch den Schattenmar überlebt hab.«

Schnaubend pfefferte Ari die Grasschnipsel fort. »Mann, wie oft denn noch? So hat das keiner gesagt! Ignatius meinte lediglich, dass wir ein Auge auf dich haben sollen, weil kein Mensch weiß, ob es ein Segen oder Fluch ist, dass du den Mist überlebt hast!«

Noah starrte ihn an und fühlte sich, als hätte ihm jemand ein Messer in den Magen gerammt.

»L-lediglich?!«, brachte er keuchend hervor.

»Ja, lediglich! Und jetzt interpretier da nicht wieder wer weiß was rein! Ignatius macht sich einfach bloß Sorgen, dass du wegen der ganzen Sache durchdrehen könntest!«

Das war ein zweiter Messerstich. Plus Umdrehen.

Verdammt, ahnte Ignatius irgendwas?

Wusste er von seinem Albtraum?

Noah wusste, dass Ben und Mia ein paar Mal mitbekommen hatten, wie er schweißgebadet aufgewacht war. In den ersten beiden Tagen waren seine Eltern kaum von seinem Bett gewichen, hatten aber nie gefragt, was er träumte, wenn er völlig fertig aus dem Schlaf gefahren war. Auch Liv und Kaelan hatten einmal mitbekommen, dass er schlecht träumte.

Ignatius etwa auch?

Wusste er dann mehr? Das Wissen des alten Mannes war schließlich immer wieder beeindruckend.

Was, wenn er ahnte, was in diesem ätzenden Traum passierte?

Noahs Mund fühlte sich plötzlich ganz ausgetrocknet an und er hatte Mühe, zu schlucken.

»Warum – warum sollte ich denn durchdrehen?«, krächzte er heiser.

Ungehalten sprang Ari auf. »Keine Ahnung! Vielleicht, weil du völlig durchgedreht bist, als Ben und Mia dich aus der Alten Welt hierher geholt haben? Und so einen Mist kannst du dir jetzt nicht noch mal leisten, klar? Wir müssen das hier hinbekommen! Wir müssen die verfluchten Lichtsteine holen, Caya erneuern und Konstantin ein für alle Mal besiegen! Verstanden? Ich werde nämlich nicht zulassen, dass Raik völlig umsonst gestorben ist!«

Wütende Tränen schimmerten in Aris Augen, doch bevor einer seiner Freunde etwas sagen konnte, wandte er sich um und rannte aus dem Klostergarten. Vin sprang auf und lief ihm nach.

Betroffen blickte Noah den beiden hinterher und für einen Moment vergaß er sein eigenes Gefühlschaos.

»Shit.«

Er sah zu Kaelan.

Der wischte sich niedergeschlagen über die Augen. »Yep.«

»Willst du ihm nicht nachlaufen?«

Kaelan hob die Schultern und schüttelte unglücklich den Kopf. »Das bringt nichts. Wenn er so drauf ist wie jetzt, will er allein sein und blockt alles ab.«

Liv legte ihm ihre Engelshand auf die Schulter. »Er braucht sicher einfach nur Zeit. Und ich wette, er läuft zum Übungsplatz der Garde und tobt sich da aus.«

Kaelan spürte, wie Liv ihr Licht in ihn sickern ließ und ihm Trost schenkte. Nicht zum ersten Mal. Die letzten Tage waren schrecklich gewesen. Ari war ruhelos, ungeduldig und immer wieder wütend. Es war schwer, mit anzusehen, wie sehr er unter dem Tod seines Bruders litt. Und es war unerträglich, nichts gegen seinen Schmerz tun zu können. Egal, was Kaelan auch versuchte, Ari stieß ihn fort.

»Er trainiert?«, fragte Noah.

»Bis er völlig k.o. ist.« Wieder fuhr Kaelan sich über die Augen.

Noah presste die Kiefer aufeinander und ein Weile herrschte Schweigen.

»Ich drehe nicht wieder durch«, sagte er dann leise. »Versprochen. Ich weiß, ich war anstrengend, als ich herkam, aber das war was anderes. Jetzt weiß ich, worum es geht, und ich will ganz sicher nicht, dass Konstantin gewinnt.« Er seufzte missmutig. »Ich hab keine Ahnung, wie schnell ich wieder fit bin, aber sobald Mia mir grünes Licht gibt, ziehen wir los, um den zweiten Stein zu holen, okay?«

Wenn Ablenken und Auspowern Ari halfen, half es ihm sicher auch. Und wenn er mit den anderen Andolas holte, konnte er beweisen, dass dieser beschissene Albtraum nicht die geringste Bedeutung hatte.

Kaelan sah zu ihm rüber. »Ich weiß, dass du nicht durchdrehst. Und Ari weiß das auch. Er ist im Moment nur –«

»Alles gut«, winkte Noah ab. »Du musst ihn nicht verteidigen. Ich kann ihn fühlen, schon vergessen? Ich weiß, was er gerade durchmacht. Es ist schon okay.«

Kaelan lächelte dankbar und nickte knapp.

Liv musterte Noah und fragte sich, ob ihm klar war, dass sie ihn genauso fühlen konnte. Kaelan mochte es nicht bemerkt haben. Er war selbst noch viel zu sehr vom Tod seines besten Freundes geschockt. Und er machte sich Sorgen um Ari. Doch ihr war nicht entgangen, dass Noah sich verändert hatte.

Klar, was er wegzustecken hatte, war nicht ohne. Immerhin wäre er fast gestorben. So was veränderte mit Sicherheit jeden.

Doch das war es nicht.

Noah fühlte sich plötzlich ähnlich an wie Ari. Als hätte er in seinem Inneren eine Mauer hochgezogen, hinter der er etwas verbarg. Vielleicht war es der Schock darüber, was geschehen war. Vielleicht war es das, was er gefühlt hatte, als die Finsternis in ihm gewesen war. Angeblich konnte er sich nicht daran erinnern – aber vielleicht wollte er es auch nur nicht?

In dem Fall konnte sie die Mauer in seinem Inneren gut verstehen. Um solche Erinnerungen hätte sie sicher auch eine gezogen. Sie hoffte nur, dass Noahs Mauer mit der Zeit stark genug wurde, um auch im Schlaf standzuhalten, denn die dunklen Schatten unter seinen Augen verrieten überdeutlich, dass sie das im Moment noch nicht tat.

Sie seufzte innerlich und fragte sich, wie viele Mauern jeder von ihnen am Ende in sich tragen würde. Wie hoch war der Preis, den sie zahlen mussten, um zwei Welten vor der Finsternis zu bewahren?

Okay, Schluss! Hör auf damit. Sonst bist am Ende du es, die durchdreht, und das kannst du dir nicht leisten. Nicht jetzt, wenn die Jungs schon alle kurz davor sind. Du bist der Kitt, der hier alles zusammenhalten soll. Also mach deinen verdammten Job!

Sie atmete tief durch, stand dann auf und klopfte sich vertrocknetes Gras von der Hose. »Trainieren wir auch? Ich kann jedes bisschen Übung gebrauchen.«

Und Kaelan jedes bisschen Ablenkung.

Er blickte zu ihr hoch und nickte. »Sicher.«

Seit dem Angriff von Septimus und seinen Schwarzen Reitern trainierten sie jeden Tag. Allerdings immer woanders und nicht mehr in dem kleinen Hof, in dem sie mit Raik trainiert hatten. Das fühlte sich falsch an.

Liv schaute sich um. Dieser Gartenhof hier war größer und es gab keine Rosenranken, sondern Wein und wilden Efeu. Sie mochte den Maronenbaum mit seiner ausladenden Krone und aus den Beeten entlang der Mauern stieg der Duft von Kräutern und Sommer. Vielleicht war das hier als Alternative gar nicht schlecht.

»Ich hole unsere Schwerter und die Schutzkleidung.«

Kapitel 4

 

 

Gut, dich wieder auf den Beinen zu sehen.« Ben stieg die Stufen ins Küchengewölbe hinab und klopfte Noah, der am Tisch saß, auf die Schulter. »Wie geht es dir?«

»So gut, dass Marta mich schon wieder zum Küchendienst einspannt.« Er deutete auf die Salatgurke, die er kleinschnitt.

»Ja, da kennt sie nichts«, lachte Ben.

Noah grinste. Er fühlte sich deutlich besser. Viel mehr als im Schatten zu sitzen und Liv und Kaelan beim Trainieren zuzusehen, hatte er zwar nicht gemacht, doch die frische Luft hatte gutgetan und alles war besser gewesen, als noch einen weiteren Tag in seinem Bett liegen zu müssen und die Decke anzustarren. Als Kaelan Liv eine Pause gegönnt hatte, hatten sie von Marta einen Picknickkorb organisiert und im Garten zu Mittag gegessen. Seitdem waren Schwindel und Übelkeit endlich Geschichte und Noah fühlte sich auch nicht mehr so fürchterlich schlapp.

»Du siehst schon deutlich besser aus.« Ben klopfte ihm noch einmal auf die Schulter und trat dann an einen ausrangierten Waschzuber, um seine Waffen abzulegen. »Wie lief dein Training?«, fragte er an Liv gewandt, die an der Spüle stand und zwei Salatköpfe wusch.

»Ganz okay, schätze ich.«

Kaelan schnaubte. »Ganz okay?! Mann, sei nicht immer so bescheiden! Du reißt dir total den Hintern auf und lernst unglaublich schnell.« Er trat neben sie und wusch ein paar Tomaten.

Quin hatte ebenfalls seine Waffen abgelegt. Er begrüßte Helen mit einem Kuss und fing sein kleines Töchterchen ein, das einen Heidenspaß daran hatte, Zwiebeln quer durch die Küche zu kullern und brabbelnd hinter ihnen her zu tapsen. Doch als ihr Daddy sie hochnahm und in die Luft reckte, quietschte sie begeistert und schlang ihre kleinen Ärmchen um seinen Hals.

»Wenn du Lust hast, komm doch nach dem Essen mit Ben und mir zum Übungsplatz«, schlug Quin vor. »Wir trainieren heute eine Gruppe Freiwillige. Du kannst uns zeigen, was du schon kannst, und gegen ein paar andere Leute antreten. Es ist wichtig, gegen möglichst viele verschiedene Gegner zu kämpfen, weil jeder einen anderen Stil hat und du so flexibel wirst.«

Zweifelnd sah Liv von ihm zu Ben. »Ich weiß nicht, ob ich dafür wirklich schon gut genug bin.«

Kaelan verdrehte die Augen. »Das bist du, glaub mir. Geh mit ihnen und trainiere mit den anderen. Das wirkt sicher Wunder für dein Selbstbewusstsein.«

Liv streckte ihm die Zunge raus. »Mit meinem Selbstbewusstsein ist alles in Ordnung.«

»Na, dann wirkt es hoffentlich Wunder gegen deine verdammte Bescheidenheit.« Er grinste und Liv verpasste ihm einen Tritt in den Hintern, als er die Tomaten nahm und zum Tisch hinüberging.

Sofort fuchtelte Marta warnend mit dem Zeigefinger in ihre Richtung. »Gewöhn dir das gar nicht erst an, junge Dame! Mädchen dürfen in meiner Küche genauso wenig treten wie Jungs, verstanden?«

Liv zog die Nase kraus. »Verstanden. Sorry, Marta.«

Kaelan setzte sich mit den Tomaten neben Noah und sah zu Mia, die in einem Mörser getrocknete Blüten und Blätter zu einem Pulver gerieben hatte, das sie nun in eine riesige bauchige Flasche gab, in der sich bereits eine braune Flüssigkeit befand.

»Du weißt schon, dass du für deine Hexenküche in der Alten Welt im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen gelandet wärst?« Er begann die Tomaten kleinzuschneiden.

»Einer der unzähligen Gründe, warum ich lieber hier in Interria lebe.« Mia rührte das Pulver unter und holte dann ein Tablett mit kleinen Phiolen von der Anrichte an den Tisch. Mit einer langen Pipette sog sie den Trank aus der Flasche und füllte ihn in die kleineren Gefäße um. Eins davon reichte sie Noah.

»Ist das wieder dieser widerliche Stärkungstrank?«

Mia nickte. »Kräuterblut.«

Noah betrachtete die dunkle Flüssigkeit angewidert. »Wie gut, dass das so gar nicht gruselig klingt. Es war ehrlich gesagt einfacher, das Zeug runterzuwürgen, als ich noch nicht wusste, wie es heißt.«

Mia lächelte. »In einer anderen Zusammensetzung und höheren Konzentration als der, die ich dir gebe, hilft der Trank Menschen, die einen hohen Blutverlust erlitten haben. Daher der Name. Aber keine Sorge, es ist kein echtes Blut drin. Nur Hibiskusblüten, Fenchel, Mohrrüben, Queckenwurzelstock, Schafgarbenkraut, Angelikawurzeln, Schachtelhalmkraut, Spitzwegerichblätter, Wacholderbeeren und Wegwartenwurzeln.«

Noah hob eine Augenbraue. »Kaelan hat recht. Scheiterhaufen. Auf direktem Weg. Außer Mohrrüben und Fenchel kenne ich nichts von dem Zeug.«

»Kein Problem. Wir können nach dem Essen gerne in meine Kräuterküche gehen und ich mache dich mit jeder Zutat persönlich bekannt.« Mia grinste vielsagend.

Noah verzog das Gesicht. »Oder ich trinke es einfach und halte den Mund.« Er stürzte den Trank hinunter.

Die Küchentür flog auf und Zoe sprang die Stufen hinunter. »Hey Leute! Wie war euer Tag? Gibt es irgendwelche spektakulären Neuigkeiten?«

»Nein, unsere Schicht war ziemlich ruhig.« Quin umarmte seine große Tochter und reichte ihr ihr Schwesterchen, weil Sunny sofort freudestrahlend zu zappeln begann, als sie Zoe sah.

»Hallo Sonnenschein.« Zoe kitzelte der Kleinen den Bauch und Sunny lachte ein gurgelndes Babylachen.

»Wie war deine Schicht?«, fragte Quin.

»Auch ziemlich ruhig.« Sie setzte sich mit Sunny zu den anderen an den Tisch und gab ihr ein Stück Gurke. »Die letzte Stunde waren wir auf dem Übungsplatz.« Sie sah zu ihrem Bruder. »Ari war da und hat Una herausgefordert.«

»Und?«

Zoe hob die Schultern. »Er war verdammt gut. Wie immer. Aber auch schon ziemlich erledigt. Keine Ahnung, wie lange er vorher schon trainiert hatte. Una hat ihn geschlagen und danach nach Hause geschickt. Ich dachte, er wäre hier.«

Marta goss die Kartoffeln ab. »Wenn der Junge heute wieder nicht zum Abendessen kommt –«

»Dann holt er sich später was, wenn er will«, meinte Mia gelassen. »Er weiß ja, wo die Speisekammern sind.« Sie räumte ihre Hexenküche vom Tisch, um Platz fürs Essen zu machen. »Lassen wir ihm einfach ein bisschen Zeit für sich, okay?«

Was Marta von dem Vorschlag hielt, teilte sie vor sich hin grummelnd nur den Kartoffeln mit, die sie jetzt zerstampfte.

Kaelan war trotzdem ganz ihrer Meinung. Hoffnungsvoll blickte er auf, als die Küchentür erneut geöffnet wurde, doch es war nicht Ari, sondern Ignatius, der die Stufen herunterkam.

»Oh, schön, dich wieder in unserer Mitte zu sehen«, sagte der alte Klostervorsteher erfreut, als er Noah erblickte.

»Ja, ich bin auch froh.« Noah gab sich Mühe, seine Stimme möglichst neutral klingen zu lassen, doch das fiel ihm nicht leicht. Einen Moment lang war er versucht, Ignatius zur Rede zu stellen, doch Ben ergriff das Wort.

»Wie lief die Besprechung?«

Ignatius setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Gut. Die Patrouillen sind aus den Bergen zurück. Keine Anzeichen von Schwarzen Reitern oder Schattenmaren und alle Zugangswege werden ab jetzt überwacht. Der Weg hinauf in die Weißen Berge ist damit gesichert.« Er warf einen kurzen Blick zu Noah und sah dann zu Mia. »Wenn du deine Zustimmung gibst, startet die zweite Reise in drei Tagen.«

Alle sahen den Klostervorsteher überrascht an.

»In drei Tagen schon?«, fragte Helen zweifelnd und verteilte Teller und Besteck.

Ignatius seufzte. »Die Zeit drängt leider.« Bedauernd blickte er zu Noah. »Wir würden dir gern mehr Zeit zur Erholung geben oder dir diese Reise ganz ersparen, aber du wirst für das Ritual gebraucht, deshalb –«

»Ich schaffe das schon«, fiel Noah ihm ins Wort und es gelang ihm nicht ganz, den Trotz aus seiner Stimme herauszuhalten. »Mir geht es heute schon viel besser. In drei Tagen die nächste Reise anzugehen, ist kein Problem.«

Ignatius betrachtete ihn noch einen Moment länger, dann blickte er wieder zu Mia. »Was sagst du dazu?«

Sie lächelte in Noahs Richtung und nickte. »Er kriegt das hin.«

Dankbar lächelte Noah zurück, doch bei Mias nächstem Satz war sein Lächeln ganz schnell wieder verschwunden.

»Außerdem sind Ben und ich ja dabei.«

»Was?!« Überrumpelt sah er zwischen seinen Eltern hin und her. »Ihr kommt als meine Babysitter mit?! Das ist nicht euer Ernst!«

Ben schüttelte den Kopf. »Das hat nichts mit Babysitten zu tun, Noah. Du bist noch geschwächt und mit deinem verletzten Arm kannst du nicht kämpfen. Außerdem ist Ari im Moment nicht er selbst. Nach Raiks Tod steht ihr alle noch neben euch. Es hat nichts damit zu tun, dass wir euch euren Job nicht zutrauen, aber wir gehen auch kein Risiko ein. Dafür seid ihr uns alle zu wichtig.«

»Aber Ignatius hat doch gerade gesagt, dass der Weg in die Weißen Berge sicher ist!«

»Mag sein. Aber wie gesagt, wir sind nicht bereit, auch nur das geringste Risiko einzugehen«, gab Ben zurück und sein Tonfall machte klar, dass über diesen Punkt nicht mit ihm zu diskutieren war. »Wir werden nicht noch einen von euch verlieren.«

Einen Moment lang herrschte Stille, nur Marta klapperte am Ofen mit Töpfen und Geschirr.

»Begleitest du uns auch?«, fragte Kaelan an seinen Vater gewandt.

Quin schüttelte den Kopf. »Ich habe vollstes Vertrauen in euch, Ben und Mia. Ich werde hier vom Tal aus die Wege sichern und mit der Garde dafür sorgen, dass euch niemand folgen kann.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Zoe.

Quin tauschte einen kurzen Blick mit Helen. Die seufzte, nickte aber.

»Du kannst mit deinem Bruder und deinen Freunden reiten und ihnen auf ihrer Reise zur Seite stehen«, sagte Quin. »Oder du bleibst hier im Tal, bewachst mit Una und Armand die Wege und sorgst so für die Sicherheit deiner Leute. Du bist alt genug und wir überlassen die Entscheidung dir.«

»Ich reite mit ihnen«, kam Zoes Antwort ohne zu zögern.

Helen seufzte erneut. »Warum wundert mich das jetzt nicht?« Sie sammelte die Zutaten für den Salat von Noah und Kaelan ein, wandte sich ab und gab Gurken und Tomaten auf der Anrichte in eine große Schüssel.

Zoe beugte sich zu ihrem Vater und umarmte ihn. »Danke, Dad.«

Er gab ihr einen Kuss auf ihren strubbeligen Haarschopf. »Ich bin unglaublich stolz auf dich«, sagte er liebevoll. Dann nahm er ihr Sunny ab und deutete zu Helen.

Zoe verstand. Sie trat zu ihrer Mutter und schlang die Arme um sie. »Danke, Mum.«

Tränen glitzerten in Helens Augen, als sie vom Salat abließ und ihre Tochter in ihre Arme zog. »Ich bin genauso stolz auf dich. Aber, beim Engel, passt gut auf euch auf. Denn Ben hat recht: Wir dürfen nicht noch einen von euch verlieren, verstanden?«

Zoe kämpfte mit dem Kloß in ihrem Hals, drückte sich fest an ihre Mum und nickte.

»Bis zum Aufbruch gibt es noch einiges vorzubereiten«, sagte Ignatius am Tisch. »Vor allem braucht ihr genügend Decken und warme Kleidung. Das Wetter in den Bergen ist unberechenbar und im Ewigen Eis wird es selbst jetzt im Sommer gefährlich kalt.«

Helen blinzelte rasch die Tränen fort und wischte sich über die Augen. »Die Kleidung habe ich fertig und dicke Decken sind bei Raiya und Amir bestellt. Die können wir übermorgen in der Webstube abholen.«

»Sehr gut.«

Marta brachte einen riesigen Topf mit Gulasch und zwei Schüsseln mit Stampfkartoffeln an den Tisch.

»Wie weit ist es denn bis zum zweiten Stein?«, fragte Liv zwischen zwei Bissen, als jeder sich vom Abendessen genommen hatte.

»Das kommt aufs Wetter an«, antwortete Ben. »Ich schätze mal vier bis fünf Tage.«

»Und wo genau müssen wir hin?«

»Der Palast der Winde liegt auf einem der höchsten Gipfel im Ewigen Eis der Weißen Berge«, antwortete Ignatius. »Der einzige Weg, der dort hinaufführt, ist für die Pferde zu steil und zu gefährlich. Ihr könnt daher nur die ersten beiden Tage reiten, bis zu Freunden, die in einem Tal oben in den Bergen eine Schaffarm betreiben. Von dort aus müsst ihr zu Fuß weiter.«

Na toll, dachte Liv. Ein steiler, gefährlicher, schweinekalter Fußmarsch.

Nicht unbedingt die Art von Reise, auf die sie besonders scharf war.

»Was genau sind eigentlich Sylphen?«

»Luftgeister«, erklärte Kaelan.

Wenig angetan verzog Liv das Gesicht. »Schon wieder Geister?«

Sie dachte mit nicht unwesentlicher Abneigung an die Zombienymphen im Todessumpf zurück. Eins der Biester hatte erst sie, dann Noah im Schwarzen See ertränken wollen. Das hielt ihre Begeisterung für eine weitere Begegnung mit Geistern egal welcher Art in sehr überschaubaren Grenzen.

Kaelan musste grinsen, weil ihm klar war, woran Liv dachte. »Keine Sorge. Die Sylphen sind nicht wie die Nymphen.«

»Sylphen sind Windgestalten«, übernahm Ignatius die Erklärung. »In der Regel sind sie unsichtbar und man spürt ihre Anwesenheit bloß so, wie man einen Luftzug spürt. Nur wenn sie wollen, dass man sie sieht, erscheinen sie wie Wesen aus feinem Nebel.«

»Hast du sie schon mal gesehen?«, fragte Liv.

Ignatius schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, leider nicht. Ich habe nur in alten Aufzeichnungen über sie gelesen. Ich bin gespannt, was ihr berichten könnt, wenn ihr von eurer Reise zurück seid. Und ich hoffe sehr, ihr könnt sie als Helfer im Kampf gegen Konstantin gewinnen. Sie wären unschätzbar wertvolle Verbündete.«

»Und wie sind diese Luftgeister so drauf?«, wollte Noah wissen. »Die Nymphen waren nämlich echt anstrengend.«

Ignatius lächelte. »Sylphen gelten als sehr intelligent und weise. Wenn ihr ihnen mit Respekt begegnet, werden sie euch sicher ebenfalls respektvoll behandeln.«

»Na, warten wir es ab«, meinte Noah wenig überzeugt. »Gibt es bei den Sylphen auch wieder so ein nettes kleines Sicherheitssystem wie den Schwarzen See bei den Nymphen?« Sein unfreiwilliges Bad in dem gruseligen Gewässer war ein Erlebnis, auf das er gerne verzichtet hätte – und es war nichts, das er in ähnlicher Form auf dem Weg zum zweiten Lichtstein wiederholen wollte.

Kaelan nickte. »Um zum Palast der Winde zu gelangen, müssen wir die Brücke der Weißen Schlucht überqueren.«

Mit einem Schlag wurde Liv ziemlich flau im Magen.

Brücke in Kombination mit Schlucht hörte sich nicht gut an.

»Will ich weitere Erklärungen zu dieser Brücke hören oder lieber nicht?«

Kaelan zog die Schultern hoch. »Eigentlich ist es gar keine richtige Brücke. Mehr ein schmaler Pfad, der über eine tiefe Schlucht führt.«

»Definiere tief.«

»Wie tief die Schlucht wirklich ist, weiß niemand. Laut Aufzeichnungen aber zumindest so tief, dass man den Grund nicht sehen kann.«

Liv ließ die Gabel voll Gulasch sinken, den ihr Magen gerade verweigerte. »Also definitiv zu tief.«

Kaelan schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Hey, wir werden schon nicht abstürzen. In den alten Aufzeichnungen heißt es, dass wir als Cays die Brücke gefahrlos überqueren können. Wenn ich den Sylphen zeige, dass ich Andolas bin, werden wir also mit Sicherheit problemlos passieren dürfen.«

»Na, das hat bei den Nymphen ja auch bombig funktioniert«, schnaubte Liv sarkastisch und beschloss, vorerst lieber für sich zu behalten, dass sie kein Fan von großen Höhen war – unabhängig davon, ob irgendwelche Windgestalten sie nun passieren lassen würden oder nicht.

Trotzig schob sie sich das Gulasch in den Mund.

Die Reise in die Weißen Berge konnte ja echt heiter werden.

Kapitel 5

 

 

Die Abenddämmerung senkte sich über das Kloster, als Kaelan durch den Innenhof lief. Er blieb kurz stehen, als er zu den Steinplatten kam, die neben zwei erloschenen Fackeln in der Mitte des Hofes in ein Kiesbett eingelassen waren. Hier hatten sie vor vier Tagen Raiks Körper dem Engelsfeuer übergeben – und seitdem war nichts mehr wie vorher.

Er blickte hoch zur Mauer, auf der sie Raiks Asche in den Wind freigelassen hatten, und sah einen dunklen Schatten auf der Brüstung sitzen.

Mit schwerem Herzen ging er zu einer Tür, hinter der schmale Stufen durch einen Hohlraum auf die Mauer führten. Vin begrüßte ihn am oberen Ende der Treppe und schnüffelte begeistert an den Päckchen in seiner Hand.

Kaelan streichelte dem Wolf liebevoll über den Kopf. »Ja, Kleiner, für dich ist auch was dabei.«

Er ging zu Ari, der rittlings auf der breiten Brüstung saß und ins dunkler werdende Tal hinabsah. In der Hand hielt er eine Flasche und Kaelan gab sich Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen.

»Hey.« Er lehnte sich neben seinem Freund gegen die Mauer.

Ari blickte kurz zu ihm, schaute dann aber wieder in die Ferne und nahm einen Schluck aus der Flasche. »Hey.«

»Ich hatte gehofft, dass du heute mal wieder zum Abendessen kommst.«

»Hab keinen Hunger.«

Kaelan legte eins der Päckchen neben ihn. »Da sind Käsebrote drin. Falls du doch noch Hunger bekommst. Ich wette, du hast seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«